a d n U . r u t i t c e l f e r . s u t n e V von Rainblue (WB-Fanfic "Erosia" #1) ================================================================================ Kapitel 1: a d n U . r u t i t c e l f e r . s u t n e V -------------------------------------------------------- In Holz gefasst, zerbrechlich matt, Scherben aneinander gefügt. Die Oberfläche scheinbar glatt, Das Bild im Innern stetig lügt. Gegossen nicht, sondern geflickt, Aus Einzelteilen genäht und geschweißt. Zwischenwelt, in der die Uhr nicht tickt, In der die Zeit nicht heilt, noch reißt. Makellos, den Augen heißt, Dass er vom ersten Augenblicke ganz. Fliehe nicht, wenn du die Wahrheit weißt, Denn die Fugen füllt der Tränen Glanz Es war eine dieser Nächte gewesen. Naminé saß an ihrem Tisch und verteilte gedankenlos Farbe auf dem Papier, die nur in ihren Augen ein Bild ergab, um der Schlaflosigkeit entgegenzuwirken. Doch wie schon so oft, wühlte das Zeichnen sie nur zusätzlich auf, bis die Ruhe ganz aus ihren Gliedern wich. Sie konnte nicht jede Minute damit verbringen, Soras Erinnerungen zu rekonstruieren, das war – gerade für ihren Geist – zu viel des Guten. Ab einem bestimmten Punkt hielt ihr Bewusstsein dem nicht mehr stand und verlangte nach einer Pause. Darum diente das, was sie jetzt malte, lediglich dazu, den Gedankenstau aufzulösen. Nach wie vor erfolglos. Warum sie es dennoch jedes Mal tat, sobald der Gedanke an ihr Bett keine Sehnsucht hervorrief, konnte sie sich selbst nicht erklären. Es war beinahe ein Zwang. So als würde sie ein Puzzleteil suchen, ohne welches sie den Sinn des Gesamtbildes nicht verstand. Seufzend zog sie die Füße auf den Stuhl und umschloss mit den Armen ihre Knie, als ihr Blick auf den Eisstiel fiel, der zwischen ihren Stiften lag, als würde er dazugehören. Sie griff danach und fuhr mit geschlossenen Augen die leicht raue Oberfläche des Holzes nach, konzentrierte sich auf den Geschmack, der noch vor wenigen Stunden auf ihrer Zunge gelegen hatte. Und wieder einmal durchzuckte sie eine vage Ahnung, dieses illusionshafte Gefühl, die süßsaure Kühle schon einmal geschmeckt zu haben. Nicht hier in Twilight Town. Nicht seitdem sie „geboren“ war, sondern in einem Zeitfenster, das lange zurücklag, länger, als sie es sich vorstellen konnte. Wie ein Rufen in der Ferne, bei dem man vergebens nach der Quelle Ausschau hält. Sie hatte Soras Erinnerungen genauestens studiert, penibel auf einen Hinweis untersucht, die Möglichkeit dazu war immerhin Teil ihrer Pflicht. Aber hatte sie nicht auch nur eine Erklärung für den Nachklang des Meersalzeises gefunden. Sora hatte es nie probiert und Roxas‘ Erinnerungen machten einen anderen Bereich aus, auf den sie keinen Zugriff hatte. Woher also kam dieser Reiz? Sie öffnete die Augen wieder und betrachtete mit schief gelegtem Kopf den Stiel in ihrer Hand. Das Licht, das durch die Vorhänge drang, flackerte. Hier benötigte sie keine Lampe, um zu zeichnen, da es in Twilight Town auch nachts relativ hell blieb, wofür allerdings auch der Tag in ständiges Dämmerlicht getaucht war. Allmählich wurde sie die Stille leid. Mit einer einzigen Bewegung kam sie auf die bloßen Füße, ließ den Stiel zurück auf den Tisch fallen und ging hinüber zur Tür, um ins Bett zu gehen. Als sie ein leiser Windzug, der das Haar in ihrem Nacken anhob, innehalten ließ. Langsam warf sie einen Blick über die Schulter. Der kalkweiße Raum lag still und unbewegt vor ihr, das Fenster war fest verschlossen und auch sonst gab es keine Lücken, durch die der Wind hätte dringen können. Für einen Moment presste Naminé die Augen zu und fuhr mit der Hand über ihre Stirn. Zu viel Müdigkeit, offenbar war sie schon halb in die Traumwelt übergetreten. Am Ende schlafwandelte sie womöglich noch! Kopfschüttelnd zog sie die Tür auf, öffnete die Augen und wäre vor Schreck fast aus dem Gleichgewicht geraten. Normalerweise sollte sich vor ihr ein schmaler Korridor befinden, der auf einer Seite vom Treppengeländer gesäumt wurde. Normalerweise sollte der Teppich unter ihren immer noch nackten Füßen sich schwer, samtig und verstaubt anfühlen. Und normalerweise erhob sich am Ende der Halle, ihr gegenüber, kein mannshoher Spiegel. Davon abgesehen, dass der Eingangsbereich nicht von einer Sekunde zur nächsten auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft sein konnte… Beinahe hätte sie aufgeschrien, als ihr Blick nach rechts und links schweifte und sie noch mehr von diesen Spiegeln entdeckte. Allesamt größer als sie selbst, mit dunklem Holz gerahmt. Und dahinter waren, wie sie nun erkannte, noch mehr davon. Beziehungsweise ersetzten sie einen Großteil der Wände. Der Raum bestand fast vollständig aus Spiegeln, während der Zwischenraum mit blendend weißem Marmor gefüllt war. Dass sie es ihr nicht sofort aufgefallen war, lag daran, dass es etwas gab, das sie sehr auffällig von sämtlichen Spiegeln, die Naminé bisher gesehen hatte, unterschied. Sie reflektierten nicht. Mindestens im Glas vor ihr hätte sie sich sehen müssen. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte in die kleine, mit unwirklich und doch vertraut steriler Luft gefüllte, Kammer und warf den Kopf herum, nur um festzustellen, dass auch keiner der anderen Spiegel ihr Bild zurückwarf. Handelte es sich hier um spezielles Glas? Künstlich hervorgerufen und so beschaffen, dass es nichts wiederspiegelte? Wenn ja, hatte sie nie davon gehört. Und das außer Acht gelassen, wies eine leise Stimme in ihrem Inneren – die zwar nicht ihr Gefühl sein konnte, aber dennoch vorhanden war – darauf hin, dass es nicht richtig war. Es erschien falsch, nichts außer silbrigem Glas zu sehen. Das war verkehrt, widernatürlich. Unheimlich. „Na, überrascht?“ Naminé zuckte zusammen und fuhr herum, ohne jemanden zu sehen. Wie im Reflex griff sie nach der Türklinke, doch ihre Hand bekam nur Luft zu fassen und als sie herumwirbelte, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass die Tür verschwunden war. Stattdessen starrte sie auf eine weitere Spiegelwand. „Du schaust in die falsche Richtung“, sagte die Stimme von eben amüsiert. Mit ihrem monotonen, tiefen und sanften Ton erinnerte sie sie an die von DiZ und ebenso wie bei ihm flackerte ein Beiklang daraus hervor, der alles andere als beruhigend war. „Ich bin hier“, fuhr er fort, „hier drüben.“ „Wer bist du?“, stieß sie hervor, während sie mit dem Kopf der Richtung folgte, wo sie ihn vermutete. Ihr Blick fiel direkt auf einen der Standspiegel und dieses Mal erkannte sie eine Gestalt, die aus der Ferne näher kam. Nur dass sie tatsächlich aus dem Glas kam, denn als Naminé impulshaft nach rechts sah, wurde ihr bewusst, dass sie nach wie vor allein in dem Zimmer stand. Sie verengte die Augen und schließlich war er nahe genug gekommen, dass sie ihn erkennen konnte. Wie in einem schlechten Film rieb sie sich die Lider und schüttelte den Kopf hin und her. Ein viereckiger Kasten, aus ebenso matt glänzendem Holz wie die Rahmen, kam mit behäbigen Schritten auf sie zu. Als er genau vor ihr und hinter der Scheibe zum Stehen kam, konnte sie zudem eine Krone auf seinem „Kopf“ entdecken und Worte, die in das Holz auf seiner Vorderseite geritzt und mit goldener Farbe übermalt worden waren. Besser gesagt auf seinem Rahmen, denn er war genauso aufgebaut wie die Spiegel um sie herum. Mit dem Unterschied, dass er Beine hatte und seine Mitte von einer geschlossenen Flügeltür verborgen wurde. Ganz oben, unterhalb der Krone, konnte sie das Wort F a l s e lesen. Und unten, parallel dazu, das Wort T r u t h… „Ich denke, dass du es längst weißt, aber es kann sicher nicht schaden, dein Gedächtnis aufzufrischen“, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage einzugehen. Sie war so gebannt von seinem Anblick gewesen, dass ihr erst jetzt begreiflich wurde, was da eigentlich zu ihr sprach. Ein Herzloser konnte das nicht sein und auch kein Niemand. Aber was dann? Und wie war er hierhergekommen oder… wie war sie überhaupt hergekommen? Nur knapp widerstand sie dem Verlangen, sich in den Arm zu zwicken. Denn für einen Traum wirkte es viel zu real. „Ein Spiegel reflektiert Materie“, vernahm sie seine melodische Stimme, so als würde sie aus jeder Ecke des Raumes zugleich kommen. „Jetzt solltest du eigentlich in der Lage sein, es zu begreifen.“ Seine letzten Worte trugen einen gewissen Spot ins sich und Naminé krampfte sich unwillkürlich der Magen zusammen. Sie brachte keinen Laut heraus und nach kurzem Schweigen fuhr der merkwürdige Kasten fort. Dabei neigte er seinen Körper so, dass sie das Wort auf der linken Seite des Rahmens entziffern konnte; P r e s e n t. „Es bedeutet, dass du wahrhaftig nichts bist. Sieh her…“ Unvermittelt sprang er auf sie zu, wobei sich die Oberfläche des Spiegels wellte, als bestünde sie aus Wasser. Naminé wich einen Schritt zurück und im nächsten Moment stand der sprechende Kasten neben ihr. Wobei sie ihn, im Gegensatz zu sich selbst, weiterhin im Spiegel sah. „Dein Körper ist hier, nicht wahr?“, wandte er sich an sie, wartete jedoch keine Reaktion ab und wies auf den Spiegel, durch den er eben gesprungen war. „Und trotzdem hast du keine Materie. Siehst du? Sieh hin!“ Sie gehorchte, nur um genauso wenig zu erkennen, wie schon zuvor. Ihre Hände zogen sich zu Fäusten zusammen. „Das wusste ich längst…“, flüsterte sie bitteren Tonfalls. Sie wusste nicht, was hier gespielt wurde, warum er sie so bloßstellte, als wäre sie das Objekt einer ungekannten Rache. Und trotzdem ließ sie sich einschüchtern, gab keine Widerrede. Warum? Womöglich bildete sie es sich nur ein, aber mit jeder Minute, die sie in diesem abstrakten Spiegelkabinett verbrachte, desto mehr schrumpfte ihr Wille zur Gegenwehr in sich zusammen. Wobei das Schlimmste daran war, dass ihr dieses Empfinden quälend und beißend vertraut vorkam. Du warst zu schwach, um Widerworte zu geben. Der Kasten lachte leise und gönnerhaft, mit dieser Nuance, die ihre Fäuste dazu brachte, sich noch weiter zu verkrampfen, bis ein scharfer Schmerz durch ihren Arm jagte. „Nun sei nicht gleich enttäuscht. Mag sein, dass du nicht in diesen Spiegeln erscheinst, aber…“ Er senkte die Stimme, als würde er ihr ein unschätzbar wertvolles Geheimnis anvertrauen. „Aber es gibt da einen Spiegel, der dir zeigen kann, wer du wirklich bist.“ Sie wusste nicht wieso, aber unmittelbar glitt ihr Blick hinüber zur anderen Seite seines Rahmens, wo sich das Wort F u t u r e abzeichnete, ehe sie sich ihm ganz zuwandte. Was kannst du schon wissen, wenn du hier in deiner kleinen heilen Welt sitzt und vor dem verschließt, was da draußen ist? „Wer ich wirklich… bin?“ Eigentlich kannte sie die Antwort bereits und doch… da lag etwas in seiner Ausdrucksweise, das ihr zu verstehen gab, dass er etwas anderes meinte. Etwas, wovon sie noch nicht wusste. Und auf einmal war die Neugierde, der Durst nach Wahrheit, so groß, dass sie einen erwartungsvollen Schritt auf ihn zumachte. „Bist du sicher?“, fragte er und seine Stimme wurde eine Spur rauer, sodass sie der von DiZ fast glich. Vielleicht war es aber auch nur ihre eigene Wahrnehmung, die es ihren Ohren Glauben machte. „Manchmal sind die Menschen besser dran, wenn sie die Wahrheit nicht kennen.“ Aber Naminés Entscheidung war längst gefallen. Bisher hatte niemand ihr gegenüber von vorneherein mit offenen Karten gespielt. Sie war lange genug mit vagen Erklärungen, Trugbildern und falschen Versprechen abgespeist wurden. Vertrauen hatte sich schnell als ein Fremdwort herausgestellt. Und darum sollte diese Wirklichkeit ihr allein gehören, wenigstens die eine. „In Ordnung, wenn du es wünschst“, flüsterte der Kasten und nahm etwas Abstand, bevor sich die Flügeltüren auf seinem Bauch langsam aufschoben. „Dies ist die Form deines wahren Ichs.“ Im ersten Augenblick war sie geblendet und musste mehrfach blinzeln. Aber es war kein Licht gewesen, sondern nur das helle Weiß des Raumes, in den sie blickte. Das Schloss des Entfallens, schoss es ihr sofort durch den Kopf. Diese Innenarchitektur würde sie immer wiedererkennen. Erst als sie wieder klar sehen konnte, wurde sie der Person gewahr, die vor ihr aufragte und ohne ihr Zutun, fiel ihre Kinnlade nach unten. „Roxa…“, setzte sie verwirrt an, verstummte jedoch jäh. Nein. Das war nicht Roxas. Er sah ihm so unfassbar ähnlich, dass man sie für Zwillinge halten konnte, aber der Junge vor ihr hatte etwas kindlichere Züge und hellere Augen – fast wie eine unschuldigere Version von ihm – ansonsten glich er ihm aufs Haar. Von der Kleidung abgesehen, auf die sie sowieso nur unterschwellig achtete. Sein Mund stand offen und die Augenbrauen waren verwundert gehoben, als faszinierte und befremdete ihn ihr Anblick. Und als er die Hand nach ihr ausstreckte, tat Naminé dasselbe, bis sich ihre Fingerspitzen berührten. Aber etwas stimmte nicht daran. Es fühlte sich kalt an, hart und als sie ihre Handflächen aneinanderpressten, fiel der Groschen. Denn anstelle von warmer, weicher Haut lag ihre Hand auf kühlem Glas. Das Glas des Spiegels. Sie sprang zurück, als hätte sie sich verbrannt und der Junge spiegelte ihre Reaktion synchron. Weil es nicht der Junge war. Sondern sie selbst. Ihr Spiegelbild. Beziehungsweise ihr wahres Ich. Verstört wandte sie den Blick ab. Nur um ihn gleich darauf wiederzusehen. Überall. Plötzlich zeigten all die Spiegel, die sie umgaben, doch eine Reflektion. Den Jungen. Zu allen Seiten, sogar an der Decke, erkannte sie seine weit aufgerissenen Augen und konnte nicht begreifen, dass es ihre waren. „Was habe ich dir gesagt?“, rief der sprechende Spiegel ihr lachend zu. „Du hättest nein sagen sollen, richtig?“ Sein Gelächter wurde lauter, nahezu schrill. „Liege ich richtig, Naminé?“ Als er ihren Namen in den Mund nahm, durchschoss ein lähmendes Gefühl ihre Beine, wodurch sie nachgaben und Naminé steif auf dem blanken Boden zusammenbrach. Ist das richtig, Naminé? Seine Stimme hörte sich nicht länger wie die von DiZ an. Die rissige Tönung hatte sich abgelöst, stattdessen klang sie nun exakt wie die von Marluxia. Wie unter Druck stierte sie geradeaus, mitten in die angstvoll geweiteten Augen ihres Spiegelbildes. Sie hatte erwartet, Kairi zu sehen oder eventuell sogar Sora. Doch das widersprach allem, was sie für Realität gehalten, beziehungsweise was man ihr als diese verkauft hatte. Hatte man ihr etwas verschwiegen? Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn ein verdächtiges Schimmern erschien in den Spiegelaugen. Wie ferngesteuert streckte sie die Hand nach vorne, erinnerte sich kurz bevor sie darauf traf wieder daran, dass es nur ein Abbild war, als ihre Fingerspitzen unverhofft durch das Glas fassten. Es begann sich zu wellen wie schon vorhin bei dem sprechenden Spiegel, ihre Berührung ließ Wasserkreise auf der Oberfläche entstehen. Dann schloss sich plötzlich eine andere Hand um ihr Gelenk und zog sie behutsam vorwärts. Sie kam wieder auf die Beine und ließ sich führen, bis ihr ganzer Körper ins Glas eintauchte. Das Licht wurde binnen Sekunden so stark, dass sie die Augen zukneifen musste, während das Ziehen nachließ und sie lautlos und sanft gegen etwas Warmes stieß. Weicher Stoff schmiegte sich an ihre Wange, irgendwo darunter pochte es beständig und Naminé ließ die Augen geschlossen. Zwei Arme hatten sich um ihren zitternden Körper geschlossen, ganz sacht nur, wie die Flügel eines Vogels um sein Junges. Sie musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer sie da im Arm hielt, aber tief in ihrem Verstand begann sich eine Lücke zu schließen. „Es ist als wärst du von einer Lüge zu einer anderen gelaufen“, flüsterte der Junge in ihr Haar. Sein Atem ging flach und bebte, als würde er frieren. Dabei erschien ihr sein Körper so warm. „Ich kenne dieses Gefühl.“ Seine Stimme brach und Naminé hob zögerlich die Arme, ohne ihre Augen aufzuschlagen und umfasste ihn ebenso zaghaft wie er sie. Augenblicklich entspannte er sich etwas und sie verstand. Er gab ihr seine Wärme. Sie gab ihm ihre. „Aber keine Falschheit der Welt macht auch dich zu einer Lüge. Lebst und atmest du nicht? Ist da nicht irgendetwas in dir, das widerspricht und kämpft?“ Auch die geschlossenen Lider konnten nicht verhindern, dass eine nasse Linie an ihrer Wange hinabfloss. Sie konnte ebenso wenig sagen, woher die Tränen kamen wie sie am Laufen hindern. „Ein Bild auf kaltem Glas kann dir nicht sagen, wer du bist. Du hast einen wachen Blick und so viel mehr Güte, als jene, die nur dem Spiegel glauben.“ Obwohl sich seine Sätze eindeutig an sie richteten, kam es ihr so vor, als würde jedes Wort von ihrem Inneren zurückgeworfen und durch sie auch für ihn verständlich werden. Waren es gar die Tränen, die die eigentliche Bedeutung nach außen brachten? „Die Wahrheit ist formbar und veränderbar, genauso wie die Lüge. Vertraue auf das Bild, das du tief in dir von dir selbst hast – du kannst es nicht sehen, aber es ist da und das weißt du auch.“ Nun spürte sie es ganz deutlich. Das Echo in ihrem Brustkorb, dem eine neue Träne folgte. Sie versuchte sich enger an ihn zu drücken, aber es war als würde ihn eine unsichtbare Hülle ummanteln. Unsichtbar und hart und undurchdringbar wie Glas… „Es begleitet dich überallhin. Lass dich von ihm leiten und nicht von dem, was der Spiegel dir vorhält.“ Zwei letzte Tränen, auf die eine so dichte Stille folgte, dass Naminé glaubte, sie auf dem Boden zerspringen zu hören. Eine Weile standen sie noch da, eng umschlungen und trotzdem distanziert, bis sie langsam die schweren Lider hob. Und direkt in ein einzelnes grell orangefarbenes Auge blickte. Du würdest lieber sterben als die Kraft zu nutzen? Unvermittelt blitzte vor ihr ein Gesicht auf und gab dem Auge damit für den Bruchteil einer Sekunde lang einen Besitzer. Doch die Erscheinung erlosch zu schnell wieder, als dass sie sie hätte identifizieren können. Zumal unmittelbar danach eine Lawine von Erinnerungen über sie hinwegrollte und mit sich riss. Keine konkreten Bilder, Wörter oder Farben – lediglich Gefühle. Der Großteil davon mit Leid und erstickender Angst gefüllt. Es waren so viele, dass Naminé keine von ihnen länger zu fassen bekam und doch konnte sie bei jedem Bruchstück die eine immer gleiche Empfindung vernehmen. Es gab keinen Namen dafür, aber sie konnte es bis ins Letzte verstehen. Weil es ihr genauso ergangen war und auch jetzt noch ging. Abrupt zerfiel der Erinnerungssturm wieder und vor ihrem – vielleicht geistigen, vielleicht körperlichen – Auge materialisierte sich erneut die glühende und doch kalte Iris, ihr abfälliger Blick unverwandt auf sie gerichtet. Es war jetzt vollkommen dunkel um sich herum geworden und der Körper des Jungen, an den sie sich immer noch lehnte, schwand zusehends, bis ihre Arme nur noch Luft umfingen hielten. Zögerlich ließ sie sie sinken, ohne sich von dem Auge zu lösen. Kaum ruhten ihre Hände wieder schlaff neben ihrem Körper, zuckte um den winzigen Punkt von neuem eine Gestalt auf und dieses Mal war sie Naminé durchaus bekannt. Nur ein Auge, das andere von einem roten Verband verdeckt, so wie auch der Rest seines Gesichtes. Aber ein winziges Detail stimmte nicht. Und sie erkannte es, bevor die Furcht sie zu überwältigen und auf die Knie zu zwingen drohte. Rund um die Iris herum war es nicht weiß, sondern tiefrot. So als wäre es von Blut getränkt. „Ich bin erstaunt“, hörte sie da die sonore Stimme des Spiegels und auf einmal lichtete sich die Dunkelheit um sie herum. Nur wenige Atemzüge später stand sie wieder in der verspiegelten Kammer, ihr gegenüber der hölzerne Körper mit den weit offen stehenden Flügeltüren. Sein Inneres reflektierte nicht länger, dafür war die Scheibe in der rechten oberen Ecke gebrochen, grobe Risse verliefen in Zickzacklinien über das sonst noch makellose Glas. Im Zentrum der Fugen hatte sich ein großes Stück herausgelöst – und aus eben jenem Loch glotzte ihr das penetrante Augen entgegen, genauso schneidend und starr wie die Scherben ringsum. „Die meisten ertragen den Anblick ihrer wahren Gestalt nicht. Verlieren den Verstand.“ Er lachte und es dröhnte aus jedem Winkel des Zimmers, wie ein Echo, von dem man wusste, dass es keines war. „Obwohl du keine Materie hast, bist du mehr als all die anderen, die bislang in mich hineinsahen.“ Naminé schauderte auf eine ihr unbekannte Art, denn der letzte Satz klang wider derer, die er zuvor geäußert hatte, weder spottend noch ironisch und fliehend. Sondern ehrlich. Doch das nächste Lachen wusch ihn wieder fort. Schwungvoller als sie es ihm zugetraut hätte, drehte er sich um und war mit einem Sprung wieder in den Spiegel eingetaucht. Allerdings gelang es ihr dabei einen Blick auf seine Rückseite zu erhaschen und dort in nachtblauen Lettern M i r r o r o f T r u t h zu lesen. Dann wichen die silbernen Oberflächen und das Weiß um sie herum endlosem Schwarz. Am nächsten Morgen, während DiZ noch schlief und Riku wieder mal wer-weiß-wo herumwanderte, schlich sich Naminé hinunter in den Keller. Doch anstatt wie üblich zu Soras Kapsel zu gehen, blieb sie im Vorraum mit dem riesigen Computer stehen, dessen zahlreiche Bildschirme Tag und Nacht blinkten und zirpten wie eigenständige Lebewesen. Ihr Körper agierte beinahe von selbst. Tippte unbeirrt das Passwort ein, – welches sich allein aufgrund der zahllosen Eisstiele am Boden leicht erschließen ließ – fand mühelos, so als hätte sie das hier schon mal hundert Mal getan, die erforderlichen Daten und begriff auf Anhieb, wie sie sich selbst auf ihr eigenes Datenselbst projizieren konnte, um im vollen Bewusstsein mit ihm sprechen zu können. Im Nu hatte sie seinen Aufenthalt herausgefunden, beobachte auf dem Gitternetz der Stadt, wie sich der kleine rote Punkt allmählich dem Zentrum näherte. Für einige Sekunden schloss sie die Augen, ihr Finger schwebte knapp über dem notwendigen Knopf in der Luft. Sie atmete, spürte wie der Sauerstoff ihre Lungen verließ und neuer hineinströmte. Obwohl du keine Materie hast, bist du mehr als all die anderen, die bislang in mich hineinsahen. Sie schlug die Augen auf, ihr Finger fiel herab und augenblicklich gefror alles, bis auf ihn… und sie, als sie ein Blinzeln später vor ihm in Twilight Town stand. ____________________________________________________ Dass ich mir Mirror Man rauspicken würde, stand eigentlich schon fest, als ich die ersten Kriterien des WBs überflog. Ich hatte schon den Wunsch, etwas über ihn zu schreiben, als ich ihn in GHS das erste Mal sah, leider hat er nur einen einzigen direkten Auftritt während der ersten Staffel. Der GHS-Charakter war also eindeutig, fehlte nur noch ein passender Gast – was wiederum schwierig war. Normalerweise wäre Xemnas die erste Wahl gewesen, – aber das wäre er bei nahezu allen – was jedoch wegen „Surreal“ nicht ging. Letztendlich gab es zwei Faktoren, die mich dazu brachten, Naminé auszulosen. Erstens der Floh, den mir Raku mehr oder minder ins Ohr gesetzt hat (bezüglich Naminé und Ventus), und zweitens eine Cutscene aus KH 2. Ich wollte die Szenen mit Naminé durchschauen, um mir ihr Verhalten nochmal vor Augen zu führen, als ich bei der Stelle, in der DiZ Riku – welcher da noch in „Ansems“ Gestalt herumläuft – nach seinem Namen fragt. Kurz bevor er sich abwendet, um zu lachen, wirft er ihm einen Blick zu, bei dem ich unvermittelt an Mirror Man’s Auge denken musste. Auch wenn die Ähnlichkeit zwischen DiZ und Mirror Man im OS allein durch Naminés Wahrnehmung verursacht wird, ist der Schlussteil aus dieser Entdeckung entstanden. Was die Verbindung zwischen Naminé und Ven angeht, möchte ich mich eigentlich nicht äußern. Die Theorie ist vage und gerade deshalb sollte es jeder für sich selbst interpretieren. (Falls jemand sehr neugierig ist, darf aber natürlich gefragt werden) Ich hoffe, es hat gefallen und vielen Dank fürs Lesen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)