100 Assoziationen von Eldeen (100 Themen Herausforderung ~ Schreibzieher) ================================================================================ Kapitel 4: Bis ans Ende der Welt -------------------------------- Es war ein wundervoller Tag, der mit seinem strahlenden Sonnenschein und dem klaren, blauen Himmel die Bewohner des kleinen Dorfes aus ihren Häusern lockte. Fast wirkte es so, als wolle sich der Sommer, der seit einigen Tagen dem Herbst gewichen war, doch noch einmal von seiner schönsten Seite zeigen. Auch das angrenzende, tiefblaue Meer funkelte wie ein gewaltiger Edelstein und wiegte das kleine Fischerboot, das dort vertäut war, sacht hin und her. Die Erwachsenen ließen die Feldarbeit ruhen, genossen diesen warmen Tag vor ihren Häusern, wo sie über das Vieh und die Feldarbeit sprachen und den nahenden Winter und den damit verbundenen Hunger vergaßen. Die Mädchen saßen bei ihren Familien, sonnten sich und kicherten über die Jungen, die Krieger spielten und sich gegenseitig mit Holzstöcken durch das Dorf jagten. Nur ein Dorfbewohner schien mit dem Tag genauso wenig anfangen zu können wie mit allen anderen. Es war ein alter Mann, angeblich ein ehemaliger Seefahrer, aber niemand wusste es genau und wie es dann eben so war, machten die verschiedensten Gerüchte die Runde. Einige hielten ihn für einen Spion des Königs, andere für einen ausgedienten Soldaten, manche behaupteten sogar, er sei ein ehemaliger Pirat und die Tatsache, dass der Alte kaum mit den anderen sprach, immer mürrisch und wortkarg war und nicht einmal seinen Namen verraten hatte, bekräftigte das Gerede nur noch mehr. Eigentlich hätten die Dorfbewohner ihn nur zu gerne aus ihrem Dorf verjagt, aber da er abgeschieden in einer alten Hütte am Strand lebte, mit dem Fischen seinen Lebensunterhalt verdiente und seinen Fang gegen Brot oder Milch tauschte, gab es außer dem allgemeinen Misstrauen keinen Grund, um ihn zu verjagen. Auf den ersten Blick wirkte der Alte wie immer, saß wie jeden Tag auf einem großen Felsen im Sand unweit von seiner Hütte und starrte mit seinem kalten Blick hinaus auf das Meer. Das faltige Gesicht schien frei von jeglichen Gefühlen zu sein, war eingefallen und hart, fast so als gehöre es einem Toten. Seinen merkwürdigen, den Dorfbewohnern fremd anmutenden, dreieckigen Hut, der ausgefranst und verbeult war, hatte er dabei wie immer tief in die Stirn gezogen. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag anders sein würde als die anderen, denn der Alte konnte noch nicht ahnen, dass der heutige Tag der eine sein würde, auf den er sein ganzes Leben gewartet hatte und der nun alles verändern würde. Während der Alte auf das Meer starrte, schlich sich ein kleines Mädchen davon. Sie hatte es satt, ein Mädchen zu sein, das später heiraten, Kinder bekommen und dem Mann bei der Feldarbeit helfen würde. Sie wollte Abenteuer erleben, wie die Jungen, von denen manche fortgingen, um zur See zu fahren oder Soldaten des Königs zu werden. Mit pochendem Herzen hielt sie sich geduckt und lief hinter den Holzhäusern des Dorfes entlang in Richtung Strand, denn dort fand man manchmal hübsche Muscheln und besonders schöne konnte man bei fahrenden Händlern gegen Geschichten oder wertvolle Dinge eintauschen. Barfuß huschte sie durch das Gras – ihre Eltern waren arm und konnten sich wie jedes Jahr nichts weiter leisten als das Essen für den Winter – und außer Atem aber stolz über ihre Flucht erreichte das Mädchen schließlich den Strand. Sie breitete die Arme aus und lief durch den weichen Sand in Richtung Meer, um kichernd durch das knöcheltiefe Wasser zu laufen. Dass der Alte mit dem Hut sie dabei düster beäugte, bemerkte das Kind gar nicht erst. Arglos und beflügelt von dem kurzzeitigen Gefühl der Freiheit begann sie damit, den Sand nach Muscheln abzusuchen, wobei sie die Zeit und ihre Umgebung völlig vergaß. Der Alte hingegen beobachtete, wie sie sich langsam näherte und immer wieder stehen blieb, um im Sand nach etwas zu suchen. „Was willst du hier?“, raunte er schließlich, als sie in Hörweite war und keine Anstalten machte, umzukehren. Er mochte keine Kinder, sie waren laut, sie waren dreckig und sie hatten ebenso wenige Manieren wie ihre Eltern, die Bauerntrottel. „Verschwinde.“ Das Mädchen erstarrte und richtete ihren Blick auf den Alten, während sich der Griff um die zwei Muscheln, die sie gefunden hatte, verstärkte. Natürlich hatte auch sie gehört, was man sich über den Aussiedler erzählte, was man zu wissen glaubte, und sofort packte sie die Angst. Sie wollte wegrennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht und so blieb sie wie angewurzelt stehen, was den Alten nur noch zorniger machte, denn mühsam erhob er sich und entblößte dabei das furchtbare Holzbein, dass sich Anstelle seines linken Fußes befand. „Ich sagte, du sollst verschwinden!“, fuhr er sie an und machte ein paar humpelnde Schritte auf das Mädchen zu, das noch immer auf seinem Strand stand. „Was hast du hier überhaupt verloren?“ „I-ich…“, brachte sie schließlich ängstlich stotternd hervor und ihr gelang ein erster, unsicherer Schritt nach hinten, „ich… suche Muscheln. Ich… ich wollte Euch nicht stören!“ „Muscheln“, wiederholte der Mann und schob seinen Hut ein Stück zurück, um das Mädchen anzusehen. Sie war höchstens sechs oder sieben Jahre alt, klein und dünn für ihr Alter und schien tatsächlich etwas in ihren Händen zu halten. Eine alte Erinnerung kam dem Mann in den Sinn, die Erinnerung daran, wie er als kleiner Junge an schönen Tagen an einem anderen, weit entfernten Strand, ebenfalls Muscheln gesammelt hatte. Ohne es zu bemerkten griff er in eine Tasche seines Mantels und das Mädchen beobachtete, wie er einen Gegenstand hervor holte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie eine flache Muschel, die fast den gesamten Handteller des Mannes bedeckte. Sie wies tiefe Furchen auf und war gleichzeitig quer gestreift, ganz in warmen Orange- und Rottönen. Eine solche Muschel hatte das Mädchen noch nie zuvor gesehen. „Die ist wunderschön! Woher habt Ihr sie?“, entfuhr es ihr und erst jetzt bemerkte der Alte, dass er die Muschel in der Hand hatte. Er sah sie nachdenklich an, fuhr mit einem Finger eine der Rillen nach und erinnerte sich daran, wie er sie gefunden hatte. „Ja, das ist sie“, murmelte er und ließ sie wieder in die Tasche seiner Jacke gleiten, bevor er sich dem Kind zuwandte. „ Ich habe sie gefunden. Vor langer Zeit und weit entfernt.“ Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Der Aussiedler war tatsächlich nicht aus dieser Gegend, war herumgekommen und hatte vielleicht viel von der Welt gesehen – vielleicht kannte er Geschichten über fremde Länder oder Orte, Geschichten über Abenteuer! Dem Alten fiel sofort auf, dass die Angst des Kindes einem strahlenden Lächeln gewichen war und er warf ihr einen besonders düsteren Blick zu. „Warum siehst du mich so an?“ „Ihr wart in der Welt unterwegs!“, antwortete sie aufgeregt und sprach so schnell, dass sie sich dabei ein wenig verhaspelte. „Bitte erzählt mir davon! Was habt Ihr gesehen, wo seid Ihr gewesen?“ Der Alte seufzte schwer. Er hatte vieles gesehen und erlebt, hatte in seinem Leben als Seeräuber viele Dinge getan, die er diesem Mädchen nicht erzählen konnte, hatte Orte gesehen, die sie sich wahrscheinlich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte, aber sie war die Erste, die ihn danach fragte, die hören wollte, was er zu sagen hatte, und so kam ihm die Muschel wieder in den Sinn. „Ich bin alt und habe das meiste vergessen, was ich erlebt habe“, log er und drehte sich um, um sich wieder auf seinem Felsen niederzulassen, „doch ich weiß noch, wie ich die Muschel gefunden habe.“ Das Mädchen trat einige Schritte näher und ließ sich im Sand nieder, während sie mit Spannung erwartete, was der Alte mit seiner rauen Stimme zu sagen hatte. „Diese Muschel ist nicht mehr und nicht weniger als der Schlüssel zum Glück“, begann er dann seine Erzählung und das Mädchen bekam große Augen. „Bis ans Ende der Welt bin ich gereist, um sie zu finden, bis ans Ende der Welt… Als ich ein junger Mann war, kam mir zu Ohren, dass es eine Insel geben soll, die sich irgendwo in einem entlegenen Winkel des Ozeans befindet, fernab von den Städten und Häfen. Eine Insel, die so weit entfernt ist, dass sie noch niemand gefunden hat, so weit, dass sie niemand je finden wird. Eine Insel am Ende der Welt. Und auf jeder Insel, so erzählte man sich, befand sich der größte Schatz, den man sich vorstellen konnte. Nicht etwa Gold oder Edelsteine, nein, das Glück selbst sollte auf jener Insel liegen! Man sagte, die Götter selbst hätten es dort versteckt, um sicherzugehen, dass die Menschen es niemals finden und ihr Leben lang danach suchen würden. Aber ich… ich wollte diese Insel finden, mehr als alles andere. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dran war an dieser Geschichte, ich wollte das Glück finden und dafür… dafür nahm ich mir vor sogar bis ans Ende der Welt zu fahren. Und so machte ich mich auf den Weg – zunächst als Schiffsjunge, später als Kapitän meines eigenen Schiffs. Ich suchte und suchte, aber es gelang mir nicht, die Insel zu finden, doch ich hatte es mir in den Kopf gesetzt und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann bringt man mich nicht so schnell davon ab. Irgendwann geriet ich mit meinem Schiff in einen schrecklichen Sturm und wir liefen auf ein Riff. Das Schiff zerbrach, als sei es nichts weiter als Papier und als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf einer Insel, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich sah auf meinen Kompass, aber der zeigte mir nichts an, spielte verrückt und ließ mich im Stich, also begann ich, die Umgebung zu erkunden und sah die ungewöhnlichsten Pflanzen und Tiere, als sei ich in einer anderen Welt. Und nachdem ich die kleine Insel umrundet hatte, wurde mir klar, wo ich mich befand – ich hatte die Insel gefunden, nach der ich mein Leben lang gesucht hatte! Jene eine Insel, auf der sich das Glück selbst verbergen sollte, die vor mir niemand entdeckt hatte. Ich konnte es kaum glauben, aber ich war am Ziel meiner Suche angelangt, am Ende der Welt, dort, wo das Glück versteckt liegt. Ich begann, danach zu suchen und fand in der Mitte der Insel einen großen Stein, der einem natürlichen Altar glich und eine Aufschrift trug. ‚Jeder begehrt das Glück, doch um es zu finden, benötigt man mehr als einen Schlüssel. Jeder begehrt das Glück, doch um es zu finden, muss man wissen, was das Glück ist.‘ Auf dem Stein fand ich die Muschel, aber gleichzeitig begriff ich, was geschehen war. Ich hatte lange Jahre meines Lebens damit verbracht, nach dieser Insel zu suchen in dem Glauben, ich fände dort das Glück. Stattdessen fand ich den Schlüssel, aber nicht das Glück selbst. Es ist, als hätte man mir den Schlüssel zu der Truhe mit allen Schätzen der Welt gegeben, den ich nun in den Händen halte und der dennoch nutzlos ist, solange ich nicht weiß, wo sich die Truhe befindet. Ich bin ans Ende der Welt gesegelt, um das Glück zu finden und fand stattdessen die Verzweiflung. Ich fand den Schlüssel, nicht aber den Schatz.“ Das Mädchen hatte aufmerksam gelauscht und war fasziniert von der Erzählung des Alten, aber sie wusste, dass man ihn getäuscht hatte. Sie wusste zwar nicht, warum das so war, aber sie wusste es mit einer absoluten Sicherheit, die sie selbst ein wenig überraschte. „Meine Mama hat mir früher oft eine Geschichte erzählt, eine Geschichte über das Glück“, sagte sie und grub ihre Zehen in den Sand. „Einst waren alle Menschen glücklich, aber irgendwann beschloss eine große Königin, ihnen das Glück zu nehmen, damit sie härter arbeiten und immer danach streben würden. Aber sie sollten es niemals finden und es niemals erreichen, sodass sie überlegte, wohin sie das Glück bringen sollte, damit es für immer verbogen blieb. Und schließlich, nachdem sie die entlegensten Orte bereist hatte, hatte sie eine Idee. Sie versteckte das Glück in den Menschen selbst, im Wissen, dass die Menschen es immer suchen würden, überall auf der Welt, aber dass niemand auf die Idee kommen würde, es in sich selbst zu suchen.“ Der Alte starrte das Kind verblüfft an. Natürlich war das nur eine Geschichte, eine alte Legende oder Erzählung, aber er hatte sie noch nie gehört und auch wenn sie nicht plausibel erschien, hatte sie eine seltsame Wirkung auf ihn. Was, wenn das Mädchen recht hatte? Wenn das Glück wirklich nicht gefunden werden konnte, weil jeder es bereits besaß? Er holte die Muschel erneut hervor. „Ich glaube, die Muschel ist der Schlüssel zum Glück“, fuhr das Kind unbeirrt fort. „Ihr seid bis ans Ende der Welt gefahren, um sie zu finden, Ihr seid der einzige, der das vollbracht hat und das muss Euch sicherlich mit Stolz erfüllen!“ Bevor der Alte antworten konnte, erklangen ängstliche Rufe und das Mädchen erkannte die Stimme seiner Mutter. „Vielen Dank für die Geschichte“, bemerkte es noch, während es hastig aufstand und mit einem Lächeln im Laufschritt verschwand. Der Alte blieb alleine zurück und starrte die Muschel an. Das Mädchen hatte erkannt, was ihm verborgen geblieben war. Die Muschel war tatsächlich der Schlüssel zum Glück, aber während er sein restliches Leben damit verbracht hatte, den zugehörigen Schatz zu suchen, hatte er nicht bemerkt, dass er ihn bereits gefunden hatte. Sein Blick glitt zu seinem kleinen Fischerboot, das am Strand vertäut war. Am nächsten Morgen, der noch immer schön aber deutlich kühler war, schlich sich das Mädchen erneut davon in Richtung Strand, denn es hatte die geheime Hoffnung, dass der Alte ihr eine weitere Geschichte erzählen würde. Als sie den Strand aber erreichte, saß niemand auf dem Felsen. Zögernd ging sie näher und betrat vorsichtig die heruntergekommene Hütte, doch auch die war leer, sodass sie ratlos und betrübt wieder nach draußen trat. Suchend blickte sie den Strand entlang und stellte fest, dass sogar das kleine Fischerbott verschwunden war. Stattdessen bemerkte sie etwas auf dem Stein, auf dem der Alte jeden Tag gesessen hatte und sie näherte sich dem Felsen, bis sie das Objekt erkennen konnte. Es war die Muschel, über die sie am Vortag gesprochen hatten. Verwirrt griff das Mädchen danach und nahm den Schlüssel zum Glück an sich, während sie sich fragte, wohin der Alte gegangen war. Dieser befand sich in seinem kleinen Fischerboot bereits auf hoher See, weit draußen, fernab vom Land. Jahrelang hatte er sich gewünscht, das Glück zu finden, um den Schlüssel benutzen zu können, resigniert hatte er sich irgendwann an Land begeben, hatte sich in der Nähe des Dorfes niedergelassen und nun, da er endlich erfahren hatte, wo das Glück lag, war es völlig anders, als er es sich vorgestellt hatte. Verschwendet hatte er sie, Jahre und Jahre seines Lebens. Aber nun, da das Mädchen ihm die alte Geschichte erzählt hatte, würde er es besser machen und die verbliebene Zeit nutzen, so, wie er am glücklichsten war. Er würde auf den Ozean hinaus segeln, auch wenn er nicht wusste, wie weit ihn das kleine Fischerboot tragen würde. Vielleicht bis ans Ende der Welt, vielleicht auch nicht, aber diese Richtung war ein guter Anfang und seit Jahren stahl sich das erste Lächeln auf das Gesicht des alten Mannes, während er seinen Hut tiefer in die Stirn zog und sich mit seinem kleinen Boot auf ein letztes Abenteuer begab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)