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Wings 3

von

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Prolog

Das schwache Mondlicht zeichnete die Dächer nur für ausdauernde Betrachter in milchige Konturen. Die Lichter in den Stuben und Schlafzimmern waren bereits alle erloschen. Sogar der Rauch, der am Tag stetig den Kamin der Schmiede verlässt, ist völlig vergangen. Viel zu Bedacht war der Meister in seinem Handwerk, als das er eine Glut unbewacht lassen würde. So war es ein Leichtes sich kaum gesehen vorwärts zu bewegen. Doch es waren nicht die Straßen, die sie nutzten. Dort unten konnte man sich nur schwer bewegen. Die Gassen waren zu schmal, die Pflastersteine zu rutschig von all dem, was sie sich über den Tag hinweg ergehen lassen mussten. So sprangen die beiden Schatten von Dach zu Dach. Nur einmal setzten sie ihre Füße auf den Schindeln auf, dann waren sie schon wieder fort und auf dem nächsten. Schnell waren sie, schneller als ein Mensch jemals sein konnte. Ihre Sprungkraft ähnelte denen von Katzen, aber noch nie hatte man in diesen Gefilden ein vergleichbar großes Tier gesehen, welches so einen Satz gemacht hatte. Fr wahr, es gab die Künstler, Gaukler und Reisende, die allerlei Dinge gesehen haben zu schienen und einen kleinen Teil davon mit sich brachten. Und dennoch, eine Raubkatze in einem viel zu engen Käfig, wo sollte sie schon hin? Jedoch gab es weitaus gefährlicheres, was diesen beiden Schatten Sorge bereitete und sie hofften, dass sie es abgehängt hatten. Als hätten sie sich abgesprochen hielten sie auf einem Dach im Schatten einer hoch gewachsenen Eiche inne und sahen zurück. Ihr Atem ging schwer und die Frau schluckte hart, um den klebrigen Geschmack aus ihrem Mund los zu werden.

„Ist es fort? flüsterte sie kurz darauf und warf dem Mann einen kurzen Seitenblick zu, den er nicht erwiderte. Er zuckte nur mit den Schultern. Anschließend sah er in die Richtung, in die sie als nächstes wollten. Wortlos sprang er weiter und erreichte das Ende des Dorfes. Dort lies er sich hinab fallen und lief in den angrenzenden Wald, dessen Dunkelheit ihn schnell verschluckte. Die Frau hingegen sprang mitten ins Geäst und suchte sich ihren weiteren Weg oben. Erst nach einer Weile hielten sie wieder an. Wieder sahen sie zurück. Die Stille um sie herum schien zäh in der Luft zu hängen.

Fast gleichzeitig begannen beide zu sprechen. Jedoch schienen sie nicht einer Meinung zu sein.

„Wir können nicht ewig davon laufen!“

„Wir bleiben erst einmal hier und ruhen uns kurz aus...“

Wütend zogen sich die Lippen der jungen Frau zu einem schmalen Strich zusammen. „Was soll das heißen: 'wir ruhen uns kurz aus'? Ich habe nicht die Absicht, weiter dieses Spiel zu spielen!“

„Das sagtest du bereits. Aber selbst du weißt, dass das hier kein Spiel ist.“

„Du wagst es gab sie zischend wie eine Schlange zurück. Doch der Andere strafte sie mit Schweigen. „Hmpf!“ Ärgerlich verschränkte sie die Arme vor der Brust. Während ihrer unglücklichen Situation hatte sie schon mehr als einmal darüber nachgedacht, warum sie diesen Auftrag überhaupt angenommen hatte. Die Bezahlung hatte sie gelockt, genau wie ihren Partner, so glaubte sie zumindest. Ein anderer Grund kam für sie nicht in Frage. Und nun? Nun würden sie überhaupt nichts bekommen. Nachdenklich betrachtete sie den Mann dort unten am Boden, der sich vorsichtig der letzten Glassplitter entledigte. Sie waren so nah dran gewesen. Der Priester, denn sie hatten töten sollen, war nur noch einige Millimeter von der scharfen Klinge entfernt gewesen. Dann war es über sie herein gebrochen, wie die Heuschrecken Plage in den Testamenten der Christen. Erde hatte gebebt, die Mauern waren gefallen und ihre Beute geflüchtet. Dashiel hatte keinen Moment gezögert und sie, Amber, aus der Schusslinie gebracht. Es ging alles so schnell. Während Dashiel vorweg durch das bunte Kirchenfenster gesprungen war als wäre das Gitter ein Hauch von Nichts, war sie ihm in blinder Hast gefolgt. Die ganze Zeit hatte sie mit ihrem Blick verzweifelt an seinem Rücken gehangen, als er sagte, sie soll bloß nicht zurück sehen. Genauso wie Ferkel an den Zitzen der Sau. Dieser Vergleich schürte ihre Wut nur noch mehr. Sie war älter als er, hatte mehr Erfahrung und hatte sogar einen Krieg erlebt. Und dennoch war sie diejenige gewesen, die ihren Kopf verloren hatte. Warum hörte sie immer noch auf ihn?

„Es ist ja schön, dass du deine Ziele genau kennst, aber an diesem Auftrag sind zwei beteiligt!Die Frau sprang von dem Baum herunter und landete sanft wie eine Feder, obwohl der Ast, auf dem sie kurz zuvor noch ruhig gestanden hatte, mindestens zwei Längen über ihr war.

„Pff, nur weil man dich an meinen Rockzipfel gehängt hast, heißt das noch lange nicht, dass wir Partner sind war seine vernichtende Antwort auf ihre Worte. Es war ihm bewusst, mit welchem Temperament er sich da anlegte. Aber es scherte ihn nicht was sie oder sonst wer dachte.

„Deine Dreistigkeit wird dir schneller den Kopf kosten, als es dir lieb ist, Kleiner!Ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern gewesen. Unter anderen Umständen wäre er jetzt schon von deinem Hals getrennt.“

Dashiel sah auf. Ein Kampf in diesem Moment hätte zur Folge gehabt, dass beide Ihre Umgebung aus den Augen verloren hätten. Ihr Gegner könnte sie töten, ohne dass sie es bemerkten. Die gereizte Stimmung machte nur deutlich in welcher Gefahr sie sich befanden. Nach kurzem Zögern ergriff der Mann wieder das Wort. „Wir müssen noch eine Weile unsere Runden drehen und ihn von unserer Fährte abbringen, ehe wir zurück kehren. Die Brut in diesem Moment zu gefährden, wäre ein Schlag, denn wir nicht noch einmal verkraften.“

Amber ballte die Hände zu Fäusten. Als ob sie das nicht selbst wüsste. Aber wohin wollte er? Was würde es davon abhalten sie zu jagen? In letzter Zeit war ihre Zahl so schnell dezimiert worden, dass kaum noch kampferprobte Krieger und Kriegerinnen übrig geblieben waren. Die Opfer hatten nicht einmal die letzte Zuflucht einsetzen können, um ihren Geist zu bewahren. Und so blieb die Antwort auf ihre Fragen ungeklärt: Warum jagte man sie? Gesehen hatte ihn noch niemand, zumindest keiner, der noch lebte. Auch sie selbst hatte beim Angriff in der Kirche den Angreifer nicht ausmachen können.

„Ruh dich noch etwas aus, Amber. Ich werde die erste Wache übernehmen. Sobald die Sonne aufgeht werden wir weiter reisen.“
 

Wenige Worte waren es, die zwischen ihnen standen. Sie liefen lautlos, versuchten keine Spuren zu hinterlassen, die ihnen ihr Leben kosten konnten. Noch immer wussten die Beiden nicht, was sie jagte. Aber es jagte so etwas wie sie und machte auch keinen Halt vor Menschen. Nur eins wussten sie, so ein ungebändigter Geist, der musste von irgendwoher gesteuert werden. Sie sahen Flüsse uns Seen, ließen Quellen hinter sich. Wälder und Berge reihten sich aneinander, wie durch ein Gewebe fest ineinander verankert. Am liebsten reisten sie in Dunkelheit, in dem Glauben, dass ihr Gegner ebenso Probleme damit haben würde, wie sie selbst. Und hinter diesem Versuch steckte die alles umfassende Hoffnung das Vieh los zu werden und wohlbehalten irgendwann nach Hause zu kommen. Fast niemandem war es bisher gelungen, nur wenige Überlebende konnten von einem Angriff berichten. Angst, genau das fühlten sie, bei dem Gedanken, einfach hier draußen zu sterben ohne ihrem Zuhause Lebwohl gesagt zu haben. Nur dieses Gefühl konnte ein lebendiges Wesen zu seinem äußersten Treiben, konnte ihn Hunger und Durst vergessen machen und seinen Körper nicht ruhen lassen. Sie waren bereits seit Tagen unterwegs. Ihre Glieder schmerzten durch die ständige Tortur. Gewiss, sie konnten mehr aushalten als ein Mensch, aber sie waren deswegen noch lange nicht unsterblich.

Der Wind wehte Dashiel die Haare ins Gesicht als er endlich den steinernen Hügel der Ebene erklommen hatte. Sein Atem ging schwer, sein eingefallenen Gesichtszüge warfen dunkle Schatten über seine bleche Haut, als er sich herum drehte und in den Sonnenuntergang blickte. Niemand war hinter ihnen. Kein einziges Mal hatte etwas sie angegriffen. Der Mann holte kurz Luft und hielt dann den Atem an. Seine Partnerin tat es ihm gleich und versuchte kein einziges Geräusch zu verursachen. So standen sie dort oben, gut sichtbar für einen Angriff und lauschten. Es war ihnen bewusst, dass sie so schnell gesehen werden konnten. Jedoch konnte man von hier auch alles überwachen. Näher in ihrem Gefilde zu sein, war zudem ein Vorteil, den sie nur ungern durch enge Bäume und ein niedrige Senke eintauschten.

„Nichts...bracht Amber schließlich das Schweigen. Dashiel wartete noch einen Moment länger und atmete dann gierig ein und aus.

„Wir können zurück. Mit diesen Worten drehte er sich wieder herum und ging weiter in die Richtung, in die sie zuvor vorgehabt hatten zu gehen. Der Wind wurde stärker und blies dem Mann nun mit einem gewaltigen Stoß in den Rücken. Stoff riss, schwarze Federn stoben durch die Luft und schon trugen ihn seine Schwingen davon.

Zwischen den einzelnen Etappen machten sie immer nur kurz Rast. Der Gedanke bald wieder Zuhause zu sein, verlieh ihnen neue Kraft. Und umso näher sie kamen, desto weniger Wörter wurden zwischen ihnen beiden gewechselt. Was hatten sie sonst schon gemein? Bis auf diesen Auftrag eigentlich nichts. In unausgesprochener Manier beließen sie es bei diesem flüchtigen Treffen der Seelen und versuchten erst gar nicht sich näher kennen zu lernen. Sobald sie zurück waren, würden Amber und Dashiel sowieso nichts mehr miteinander zu tun haben. Dies dachte zumindest die Frau. Der Geflügelte hingegen war sich sicher, sie würden sich noch öfter über den Weg laufen, nicht nur, weil es mittlerweile weniger von ihrer Rasse gab. Nein, hin und wieder würde man den Kopf in den Straßen heben und plötzlich in die Augen des Anderen blicken. Vielleicht ohne Gegenreaktion, aber was konnte er erwarten? In dieser Zeit waren sie alle noch immer nicht dazu bereit sich zusammen zu schließen und den Bund, der alle verband, zu erneuern. Er hingegen wäre sehr dafür.

Der Berg erhob sich in all seiner Pracht hinter den Bäumen und ihre Flügel schienen sich zu verselbstständigen, als sie die letzte Kraft dafür einsetzten ihre Schläge zu beschleunigen. Allmählich aber bestimmt nahmen sie an Höhe zu, hatten sie den Eingang ja auf der anderen Seite. Vergleichsweise schmal stand diese Gebirgskette zwischen zwei Wäldern und besaß nur zwei Eingänge. Den einen konnte man vom Süden her erreichen und befand sich am Boden. Der Andere war eine Öffnung in der Decke. Groß genug für mehrere Seelenwanderer, die gleichzeitig hinaus wollten. Die Behausungen innerhalb des Berges waren unterschiedlich. Einige hatten ihre Häuser am Boden, andere in den Fels gehauene und mit Teppich ausgelegten kleineren Höhlen. Es gab wiederum auch erhöhte Häuser, Nestern in Bäumen gleich.

Ihre Schatten waren tief unter ihnen, als sie den größten Teil des Gebirges hinter sich ließen und der Eingang immer näher kam. In einem Bogen ließen sie sich kurz davor schräg fallen und flogen eilig von oben hindurch. Amber nahm sofort Abstand von ihm und wählte ihren Weg weiter Rechts durch die Streben, die den blauen Kristall in der Mitte der Höhle hielten. Die Türme an den Seiten der Höhle beherbergten die Feuer, die niemals gelöscht wurden. An regnerischen Tagen wurde mattes Licht durch ein Spiegelsystem in die Mitte befördert, wo er durch den Kristall wiederum verbreitet wurde. In der Nacht wurde ihr Zuhause ebenfalls beleuchtet. Weniger als am Tag und in einem bläulichen Licht, aber dennoch gut genug, um nicht bei ausbleibendem Mond durch die Straßen zu tappen, wie blinde, gerade geborene Hunde.

Dashiel sah nach rechts. Amber war bereits soweit von ihm fort geflogen, dass er ihre Freude, endlich wieder daheim zu sein, nur erahnen konnte. Er sah wieder nach vorn und visierte sein eigenes Ziel an. Er verminderte seine Geschwindigkeit und landete vorsichtig vor seinem eigenen Haus, welches sich am Boden befand. Unbewusst hielt er den Atem an und lauschte. Die Zeit schien still zu stehen während er auf irgendetwas wartete. 'Ruhig, Herz', sprach er sich innerlich zu. Keine Sekunde später hörte er das vertraue Klappern von Geschirr und Holz. Mit einem Lächeln schob er den Vorhang, der als Tür diente beiseite und trat ein. Seine Schritte waren lautlos, doch er ließ den Stoff so schnell wieder los, sodass dieser mit einem flappenden Geräusch gegen den Türrahmen schlug. Das geschäftige Klappern erstarb. Die Frau drehte sich hastig herum. Mit einer Hand stützte sie sich an der Spüle ab. Ihr gewölbter Leib strafte ihrer Geschwindigkeit Lügen. Die Angst wich Überraschung und schließlich Freude. Mit noch tropfenden Händen vom Abwasch eilte sie auf Dashiel zu, der ihr nur zu gern entgegen kam und sie in die Arme schloss. Einen Moment war es ruhig, dann erfüllte Schluchzen die Luft. Sanft strich der Mann über ihr kastanienbraunes Haar und sog gierig ihren Duft ein. Gerade als sie genügend Luft hatte, um etwas zu sagen, kam er ihr zuvor, indem er mit seinen Fingern über ihre Wange streichelte und sie unter ihr Kinn schob. Kurz darauf hob er ihr Gesicht sanft an und küsste sie. Er war wieder da, das war alles was zählte.
 

Viel Zeit blieb ihnen nicht in Zweisamkeit. Sie kamen ihn holen. Vier waren es, ausgestattet mit der Rüstung der Leibwache. Egal wo man sie sah, ihre schneeweißen Schwingen waren immer in ihrer vollen Pracht zu sehen. Dashiel hingegen hielt seine Schwingen, genau wie seine Geliebte, versteckt. Er bevorzugte diese Art, wenn er am Boden ging. Denn genau diesen Weg würden sie wählen, damit niemand mitbekam, dass man ihn zu den Ältesten brachte. Seine blauen Augen sahen unerschrocken den Männern entgegen, die sich vor und hinter des Eingangs drängten. Er hatte sich noch nicht einmal umgezogen, dennoch erhob er sich von der Sitzgelegenheit und löste seine Hand von der seiner Frau. Ohne einen weiteren Blick schritt er auf seine Eskorte zu und durch den schmalen Pfad hindurch, den sie zwischen sich schufen. Unwirsch stumpte ihn einer der Männer mit dem Schaft seines Speeres.

„Ruhig, Brauner!“ Er warf dem Mann einen finsteren Seitenblick zu.

„Vorwärts!“

Dashiels Augenbrauen zogen sich zusammen, während er sich mit der Zunge über die obere Reihe seiner Zähne fuhr. Sie sollten es nur noch einmal wagen, aber das würden sie nicht. Sie waren mit ihrem Auftrag genauso wenig zufrieden, wie er selbst. Es ging nur darum Antworten und Informationen zu beschaffen, warum sich also die Finger schmutzig machen bei einer Arbeit, die jeder für unter seiner Würde hielt?

Ihr Weg führte hinauf in die höheren Bezirke, dort, wo die Gassen schmal wurden, weil sie ein Feind nie in Massen durchqueren sollte. Die Banner ihres Clans hingen matt an den Stangen, ein Zeichen dafür, dass die Tore der Höhle geschlossen waren. Für Dashiel hingegen, war es nur ein weiteres Zeichen, dass die Obersten tatenlos dabei zusahen, wie ihr Volk unterging. Das große Gebäude war länger, als es breit war und die großen Eichentüren konnten einfachen Angriffen problemlos standhalten. Natürlich musste dieser erst einmal die Wachen beseitigen, die überall aufgestellt waren. Erst, als sie ganz nah waren klopften die Herren Türwächter mit ihren Speeren auf den Boden und gaben so das Zeichen zum öffnen der großen Eingangspforte. Dahinter war es stockdunkel. Doch als Dashiel weiter gehen wollte, verschränkten sie die Waffen vor ihm. Ruhig wartete er ab, obwohl er innerlich kochte. In den unteren Bezirken mangelte es an allem und hier floß der Reichtum im Überfluss. Die Konkubinen, die sich elegant aus dem Schatten schälten, waren in kostbare Stoffe gehüllt. Ihre Gesichter waren schmal, jedoch keineswegs ausgezehrt. Sie achteten sehr auf sich und ihr Äußeres, aber ihre Blicke waren stumpf und müde. Dashiel selbst war diese Situation erst nach etlichen Besuchen aufgefallen. Sie waren Künstlerinnen ihres Faches. Sie konnten verführen, ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund stellen und wahrscheinlich sogar Schmerz verstecken. So dachte Dashiel zumindest, während er stur gerade aussah, als sie ihn nach Waffen durchsuchten. Schließlich banden sie ihm für jeden Arm ein Amulett um, damit er zum einen seine Magie nicht verwenden und Notfalls so auch gestoppt werden konnte. Sein stummer Blick betrachtete kurz diese veraltete Technik und wusste bereits, wie man sie los werden konnte, hatte er doch selbst bei der Herstellung zugesehen. Im geheimen natürlich, aber seinem Blick war damals nichts entgangen, was nötig war, um die Schwachstelle dieser Amulette herauszufinden. Er hatte oft genug gesehen, wie die Versuchskaninchen für dieses Spielzeug gelitten hatten. Schnell schüttelte er die Bilder ab, die von seinem Inneren Besitz ergriffen hatten. Niemand hier wusste davon und er würde sein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Nichts würde ihn daran hindern können.

Wehmütig dachte der Mann an seine schwangere Frau, als sich hinter ihm die großen Türen wieder verschlossen und ihre Schatten mit der Dunkelheit des Raumes eins werden ließen. Aus reiner Vorsichtsmaßnahme zählte er seine Schritte und versuchte in dieser durchdringenden Finsternis nicht das Zeitgefühl zu verlieren. Der Duft von allerlei Aromen stieg ihm in die Nase. Süßliche, bittere und ekelerregende Gerüche bildeten eine Wand und umhüllten ihn. Dashiel wurde das Atmen schwer, es war noch schlimmer als beim letzten Mal. Nur noch ein paar Schritte und das schwache Licht der Kerzen genügte, damit seine Augen wieder etwas wahrnahmen. Doch ihm wäre es lieber gewesen, wenn es dunkel geblieben wäre. Mit einer Mischung aus Abscheu und Widerwillen senkte er seitlich den Blick. Er hörte das Stöhnen, das Rascheln von Stoff, das Ausatmen der Ältesten beim Akt und nach dem Ziehen an den Pfeifen. Er schmeckte den in der Luft liegenden Schweiß und Liebessaft förmlich auf der Zunge. Vielleicht war es klüger die Sache schnell hinter sich zu bringen.

Mit diesem Gedanken sah er auf und versuchte so etwas harmloses wie den dünnen Stoff, der über Stangen geworfen worden war zu fixieren. Darunter saßen sie, drei alte Männer, nicht schön und ansehnlich, auf Decken und Kissen gebettet. Überall lagen ihre Konkubinen verstreut. Sogar die Beiden, die ihn hergebracht hatten, reihten sich wieder bei den anderen ein. Der Älteste, Xavier, der rechts außen sah, sog genüßlich an der Wasserpfeife und betrachtete seine Kollegen. Der Eine hatte eine junges Mädchen an den Handgelenken gepackt und lies sie auf sich reiten. Sie mochte noch nicht einmal 15 Winter gesehen haben, dennoch war sie hier. Der Andere, ganz außen, strengte sich hingegen doch etwas mehr an und umschloss mit seinen fettigen Händen die Hüften der Blondhaarigen, die vor ihm auf allen Vieren das Gesicht bei jedem Stoß schmerzhaft verzog. Waren also nicht einmal sie so abgehärtet, oder es fehlten die Drogen, die sie gefügig machten.

„Nun, Dashiel, du bist also dem Angriff entkommen?“

Mit aller Kraft musste der junge Mann sich zwingen dem Ältesten in die Augen zu sehen. Nur kurz nahm er aus den Augenwinkeln etwas war, was seinen Atem stocken ließ. Nun konnte er nicht anders, als einen Blick auf den Mittleren zu werfen, an dessen Schenkel das Blut hinab floss. Als das Mädchen schwer atmend aufhörte sich zu bewegen, packte der mit Beulen übersähte ihre Hüften, presste sie enger an sich und bewegte sie weiter, ohne auf ihre Schmerzensschreie zu achten.

Dashiel musste hier raus, so schnell wie möglich, bevor er sich vergaß.

„Ja“, antwortete er also schnell. „Ich habe den Angreifer leider nicht zu Gesicht bekommen.“ Lass mich gehen, fügte er innerlich flehend hinzu. Ich ertrage das hier nicht!

„Wie seid ihr ihm entkommen?“

„Nur eine schnelle Flucht und ein langer Weg als Ablenkung konnten dem Genüge tun.“

„Als ob das nicht schon andere versucht hätten...“ Seine Stimme klang rauh durch den Rauch, mit dem er immer wieder gierig seine Lungen füllte. „Wie also, habt ihr es geschafft lebend zurück zu kehren!“ Mit einem wülstigen Finger wies der Alte auf Dashiel.

„... Ich weiß es nicht“, gab Dashiel schließlich von sich. Fast gleichzeitig schrie das junge Mädchen erneut. Wut kochte in ihm hoch. Kaum kontrollierbar zitterten seine Arme. Es dauerte noch einen Moment ehe sein Gegenüber den Kopf zurück zog und mit einer Handbewegung das störende Objekt entfernen ließ. Unsanft wurde das Kind vom Schoß des Ältesten gerissen und fort geschleppt. Erschrocken sah Dashiel ihnen hinterher. Körperlich völlig entkräftet schrie sie dennoch aus vollem Halse, ehe ihre Hilferufe abrupt erstarben.

„Du wirst es suchen und uns Informationen oder seinen Kopf liefern!“ Mit diesen Wortern, die keinen Widerspruch duldeten, griff er nach der Hand einer Rothaarigen, die ihm im Rausch am Bein gestreichelt hatte. Der Mantel, der bereits am Anfang nur locker um seine Schultern und über sein Geschlecht gelegen hatte, rutschte fast lautlos zur Seite, als sich die junge Frau unnötiger Weise daran machte, der Lust und Steifheit nachzuhelfen. Als wäre sein Gemächt nicht schon jetzt ein geschwollener Fahnenmast gewesen.

Ohne eine weitere Sekunde zu vergeuden machte Dashiel auf dem Absatz kehrt und eilte in strammen Schritt zurück. Im Geiste zählte er mit und rief schließlich „Macht das Tor auf!“. Ungeduldig schlüpfte er durch den schmalen Spalt und stolperte beinahe die wenigen Stufen hinab, die zu diesem Grauen geführt hatten.
 

Sie wartete. Keinen einzigen Moment war sie fähig an etwas anderes als an Dashiel zu denken. Jeder wusste, was die Ältesten hinter diesen Gemäuern taten, die sie seit Jahren nicht verlassen hatten. Doch zum Glück gab es nicht viele, die es leibhaftig miterleben mussten. Fera hielt unentwegt den Eingang im Blick und sprang sofort auf, als sich ihr Geliebter plötzlich zeigte. Er wankte und war leichenblass, doch scheinbar nicht verwundet. Doch sank er beinahe sofort auf die Knie, kaum er hatte er die Sicherheit seines eigenen Hauses erreicht. Fera eilte so schnell zu ihm, wie es ihr möglich war. Sie wollte sich gerade mühevoll zu ihm herunter knien, als er ihre Hand packte und sie mit Hilfe der anderen, die er an ihren Rücken legte, zu sich zog. Sein Gesicht lag flach auf ihrem Bauch und er versuchte das Grauen abzuschütteln, welches ihn nicht losließ. Dashiel lauschte schließlich mit ruhigen Atemzügen. Er spürte den Tritt seines Kindes und atmete erleichtert aus. Er konnte nicht aufhalten, was dort oben geschah, egal wie sehr er es wollte. Noch führten die drei Ältesten das Volk und hatten es vor dem sicheren Untergang bewahrt. Man würde ihre Taten noch eine Weile durchgehen lassen, doch er, Dashiel, würde um keinen Preis der Welt jetzt losziehen und womöglich die Geburt seines eigenen Kindes verpassen. Vielleicht konnte er seine Reise noch so lange hinauszögern, wie seine Frau und das Kind in ihrem Leib brauchten. Er musste hier sein, koste es, was es wolle. So kniete er schweigend vor ihr und hielt ihren Blick fest, der mehr als tausend Worte zu sagen vermochte.
 

Fera musste Stunden warten, ehe sie den genauen Plan der Ältesten erfuhr. Wütend schlug sie mit der Hand auf den Holztisch vor sich und drehte sich wie eine Furie herum, um sich irgendeine nützliche Arbeit zu suchen.

„Haben die denn überhaupt keine Ahnung! Reicht es nicht, dass sie andere auf dem Gewissen haben! Warum du?!“ Feras Stimme zitterte und ihre zuletzt gestellte Frage, hatte nur ungern ihre Kehle verlassen wollen.

„Mein kleiner Vogel, du solltest dich nicht so sehr aufregen...“ Seine tiefe Stimme stimmte sie ruhiger. Jeder andere hätte diese Worte sagen können und sie wäre wie eine Furie auf ihn losgegangen. Nur Dashiel wusste den richtigen Ton zu wählen. Wie froh war sie damals gewesen, als er sie gewählt hatte. So viele hatten von ihm geschwärmt, hatten seine Hand gewollt, in die sie ihre eigene kleine Welt legen konnten. Fera selbst hatte ihn auch gemocht, dennoch war ihr Anstand mit in die Wiege gelegt worden. Egal wie oft er umringt war, sobald sie in der Nähe war, fand sein Blick sie sofort. Sie kannten sich von Kindesbeinen an, wenn man das so sagen konnte. Niemand wusste, wer seine Eltern waren. Während eines Gewitters war einfach ein Junge vor den Toren ihres Hortes aufgetaucht. Sein Körper sah vielleicht aus, wie der eines 6 jährigen, doch sein Geist war viel älter als das. Obwohl das Kind nicht redete, konnte man die Magie der Seelenwanderung noch spüren. Fera hingegen war hier groß geworden. Ihr Vater war ein Sterblicher gewesen, gewählt von ihrer Mutter, deren Geist sie mit allen Einzelheiten in sich trägt. Neben ihren Flügeln, waren dies die nützlichsten Eigenschaften ihrer Rasse – den Geist von einem Körper zum anderen zu übertragen. Ihr Wissen würde so nie verloren gehen, wenn sie ihre alte, irdische Hülle aufgaben und in das neue Gefäß schlüpften. Auch ihre magischen Fähigkeiten konnten sie so bewusst mit sich führen. Gerne ersparte man sich die ersten Jahre und ließ die Hülle sofort um ein paar Jahre reifen, hatte man ja schon irgendwann einmal dieses Stadium vollends abgeschlossen und hinter sich gelassen.

Dashiel war es schließlich, der die Stille und ihre Gedanken brach. „Ich werde es so lange wie möglich hinauszögern.“

Mit einem knappen Nicken ergriff sie den Lappen und spülte weiter das Geschirr. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wangen. Fera beglückwünschte es, dass man nur vom Fenster über dem Wasserbecken aus, diese kleine Perle sehen konnte.

„Lass uns zu Bett gehen“, sprach der Mann ernst und stand auf. Fera nahm diese Worte als Befehl hin, auch wenn er ihr nie etwas befehlen würde. Sie ließ den Abwasch, wo er war und folgte ihm in den nächsten Raum nachdem sie die Kerzen gelöscht hatte. Ihr Schlafzimmer war nicht sehr groß, doch es hatte genügend Platz für ein Doppelbett, einen Schrank und eine Kommode. Die Teppiche, die links und rechts an den Seiten der Schlafgelegenheit lagen, führten sich am Fußende zusammen und zu einem angrenzenden Bad. Dashiel half Fera beim ausziehen ihres Kleides und legte sich zu ihr, als auch er seine Kleidung vollends abgestreift und die restlichen Lichter gelöscht hatte. Die junge Frau genoss die Wärme ihres Gefährten und rutschte auf dem Rücken näher zu ihm heran.

In seinen Armen schlief sie ein. Doch Dashiel benötige heute etwas länger und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Hier lag das Geheimnis, was alle begierig erfahren wollten. Dort waren die Worte, die sie sich nur unter vier Augen gesagt hatten. Fera war sein Schatz, sein ein und alles. Sein Licht und auch seine Dunkelheit. Sie hatten getan, was derzeit niemand tat und dennoch hatten sie es niemals auch nur für eine Sekunde bereut. Und obwohl Fera so gut wie alles über ihn wusste, gab es immer noch Kleinigkeiten, die sie nicht einmal zu erahnen vermochte. Sie hatte es in Kauf genommen, immerhin waren sie dazu bestimmt irgendwann eins zu sein. Dann würde sie es wissen, auch wenn es dann nichts mehr nützen würde. Dashiel bewunderte seine Frau jeden Tag für ihren Mut und ihr Vertrauen, welches sie ihm entgegen brachte. Einmal mehr beschloss er, alles in seiner Macht stehende zu tun. Er hoffte nur, dass genug von ihm übrig bleiben würde, um sein unausgesprochenes Versprechen zu halten.

Der Mond tauchte gerade hinter den Wolken auf und warf sein milchiges Licht in den Kristall weit über ihnen, der darauf hin sein eigenes, blaues Licht hinab sandte. Doch Dashiel sah es schon nicht mehr, denn auch er war endlich eingeschlafen.



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