The Final Curtain Fall von ImSherlocked (BBC Sherlock) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Der Alltag hatte ihn wieder, ein neuer Alltag hatte ihn wieder. John Watson streifte sich die blutigen Gummihandschuhe von den Fingern und warf sie in den roten Plastiksack. Er starrte auf seine Hände und stieß einen langen Seufzer aus. Das Kind hatte es nicht geschafft, aber die Mutter hatte überlebt, nur zu welchem Preis, fragte er sich. Kein Ehemann, keine Angehörigen, keine vernünftige Versicherung, nur ihr eigenes Leben und das Kind hatte die junge Frau gehabt; und das hatte sie nun nicht mehr. Ein Psychologe musste sich dringend um sie kümmern und Molly würde eine neue Leiche auf den Tisch bekommen. Die Sanitäter schoben den abgedeckten Körper der Siebenjährigen an ihm vorbei, aus dem OP heraus und den Gang hinunter. John schüttelte den Kopf und wartete, bis auch die Mutter an ihm vorbeigeschoben wurde, die noch immer in Narkose lag und noch gar nicht wusste, dass ihre Tochter den Autounfall nicht überlebt hatte. Der Unfallchirurg griff sich seinen Gehstock, der wie üblich vor dem OP stand und humpelte dem Bett der Frau nach. Er konnte sie nicht allein aufwachen lassen – er hatte es nicht geschafft, das Leben ihrer Tochter zu retten, da war er es ihr schuldig, bei ihr zu sein, wenn sie die Nachricht bekam, das ihr eigenes Leben nun nie wieder so sein würde wie zuvor. Eine Schwester drückte ihm den Bericht in die Hand und eilte weiter, der nächste Krankenwagen fuhr vor der Tür vor, zwei Unfallsanitäter eilten mit einer Trage an ihm vorbei in den Schockraum, die Lampe über ihm flackerte, ein Kind schrie… das alles zog an ihm vorbei, ohne dass er sich rührte. Er mochte Stress, er sehnte sich nach Stress, aber nicht nach dieser Art von Stress. Nein. Er wollte durch London hetzen, nicht schlafen oder essen können und den ganzen Tag und die ganze Nacht auf Abruf sein und nicht fein säuberlich zugeteilten Schichten schieben, selbst wenn man auch während derer kaum etwas Essbares zu sich nehmen konnte. Er wollte keine weinenden Kinder, Eltern, Ehepartner, Verwandte sehen, keine hektischen Krankenschwestern, Ärzte, Psychologen… er wollte Sherlock Holmes wiederhaben, der nun schon seit mehr als einem Jahr tot war. Sein bester Freund war tot, sein bester Freund hatte sich vom Dach dieses Krankenhauses gestürzt, in dem er nun versuchte, Menschenleben zu retten. Er wollte keine sich immer wiederholenden Verletzungen sehen, keine Betrunkenen behandeln, keine Junkies zusammenflicken, keinen Suizidfällen den Magen auspumpen, keine grausamen Verletzungen von Messerstechereien, Bandenkriegen und Familienfeiern mehr vor sich auf dem Tisch haben – er wollte nicht die Opfer sehen, er wollte die Täter, die das alles verbrochen hatten fassen und einbuchten, sie überführen… nein, nicht er wollte sie selbst überführen, er wollte dabei sein, wenn Sherlock es auf seine einzigartige und faszinierende Weise tat, wie er alles genau beobachtete und „deduzierte“. John war Arzt geworden, aus dem Wunsch heraus, Menschen zu helfen. Doch inzwischen definierte er dieses „Helfen“ etwas anders. Seine Kollegen merkten davon nichts, sie sahen in ihm den kleingewachsenen sympathischen und immer freundlichen Militärarzt, der selbst bei einer Gasexplosion in einem Hochhaus noch ruhig blieb und dem auch bei einem Amoklauf in der Notaufnahme nicht das Zittern in den Händen bekam, doch befreundet war er aus gutem Grund mit niemandem der anderen Ärzte. Sie sollten nicht sehen, wie es ihm eigentlich ging, wie er sich verhielt, wenn er allein zu Hause in seinem Sessel saß und ja, vielleicht wollte er auch tatsächlich keine Freunde, sondern in seinem Selbstmitleid ertrinken und niemandem die Möglichkeit geben, ihn vor dem Ertrinken zu retten. Nur Molly konnte in etwa einschätzen, wie es ihm ging, dem Rest war es größtenteils egal, sie waren zu sehr auf sich fixiert. John atmete durch und betrat das Zimmer der jungen Frau, die nun absolut allein war auf dieser Welt war. Sie bewegte sich schon, atmete bereits allein, doch wirklich wach war sie noch immer nicht. Er zog sich einen Stuhl zu ihrem Bett, ließ sich darauf nieder, lehnte den Gehstock an sein Bein und legte die Patientenakte auf den Beitisch. Drei Stunden noch bis Schichtende. Kapitel 1: Besuch ----------------- Kein Taxi war weit und breit zu sehen, zumindest kein freies und seit dem Fall „Eine Studie in Pink“ hatte John Watson nie wieder den wirklichen Drang verspürt, allein in ein Taxi zu steigen. Nicht aus Angst – Angst hatte er vor kaum etwas, er stieg deshalb nicht mehr in ein Taxi, weil ihn das mit seiner Vergangenheit verband und mit der wollte er abschließen. Das würde allein wegen seines Freundeskreises, seiner Arbeit und vor allem seiner Wohnung nicht funktionieren, aber er tat sein Bestes, zumindest so zu tun, als würde Sherlocks Selbstmord ihn nicht mehr berühren. Seine Therapie hatte er abgebrochen und Sherlocks Grab besuchte er auch nicht mehr. Es war unmöglich, er konnte einfach nicht tot sein, so ein genialer Kopf musste eine Möglichkeit gefunden haben, dem Tod wortwörtlich von der Schippe zu springen – jedoch war der Sprung nun schon mehr als ein Jahr her, inzwischen hätte sein ehemals bester Freund sich melden müssen, selbst wenn John in Gefahr gewesen wäre. Sonst hatte es den Detektiv auch nicht gestört, ihn in Gefahr zu bringen. Wieso ausgerechnet nun damit anfangen? John verstand es nicht und schüttelte energisch den Kopf um diesen Gedanken loszuwerden. Hatte Sherlock Holmes vielleicht doch so etwas wie ein Gewissen entwickelt und wollte ihn deshalb nicht kontaktieren? Aber dann war sein Gewissen irgendwie falsch gepolt, denn viel lieber hätte John seinen besten Freund und die Gefahr zurück. Sein Leben war zwar nicht langweilig, aber es fehlte etwas, das den Krankenhausaufenthalt würde aufpeppen können. Mal wieder ein spannender Mord, ein Serienkiller, ein kranker Psycho- oder Soziopath, der seine Spielchen trieb: das alles war besser und spannender, als in der Notaufnahme zu arbeiten, wobei spannender der falsche Ausdruck war. Es war schlicht mehr Adrenalin im Spiel, nach dem John sich verzehrte, schon immer verzehrt hatte. In den letzten Monaten hatte er feststellen müssen, dass er sich absichtlich in gefährliche Situationen begab. Es reichte schon, unbewaffnet nachts um drei durch Soho zu gehen, aber dann machte Mrs. Hudson sich noch mehr Sorgen, als sonst schon und ihr sowieso beanspruchtes Herz wollte er nicht noch mehr strapazieren. Die U-Bahn fuhr ratternd vor, die Menschen drängten sich zu dichten Trauben zusammen, denen John wegen seines schmerzenden Beins lieber auswich. Zu viele andere Menschen auf einem Haufen ertrug er kaum noch, er fühlte sich eingeengt und beobachtet. Kurz bevor die Türen sich schlossen, macht John einen großen Schritt in die überfüllte U-Bahn und hielt sich an einer Metallstange fest. Sein Bein brannte, schlimmer als es jemals zuvor gebrannt hatte, aber es würde keine Abhilfe schaffen, sich hinzusetzen, es würde nur helfen sich abzulenken. Momentan ein Ding der Unmöglichkeit. Die Bahn setzte sich in Bewegung und schaukelte durch die langen dunklen Tunnel, ab und zu fiel das Licht im Wagon aus oder die Bahn blieb stehen… alles Nebensächlichkeiten. Alles alte Paar Schuhe. Die Menschen um ihn herum waren viel interessanter. Zwar verstand er sich lange nicht wie Sherlock Holmes darauf, in und aus den Menschen zu lesen, doch er hatte gelernt, worauf er zu achten hatte. Neben ihm stand ein Student, der die Nacht nicht zu Hause verbracht hatte, neben diesem stand eine nahe Verwandte, die die Nacht ebenfalls nicht zu Hause gewesen war. Auf dem Sitzplatz vor ihm hinter der Plexiglasscheibe saß eine alte Frau mit schlohweißem Haar, die eigentlich ein Kerl war… aber mehr vermochte er nicht zu deduzieren. Sherlock hätte die Lebensgeschichte eines jeden aufzählen können, John genügten die Oberflächlichkeiten schon, um sich noch einsamer zu fühlen. Mit der einen Hand in der Schlaufe, um sich festzuhalten und der anderen auf dem Stock, um sein Bein zu entlasten, musste er ein schreckliches Bild abgeben. Selbst die alte Dame, die offensichtlich selbst kaum laufen geschweige denn stehen konnte, sah ihn von ihrem Sitzplatz aus bemitleidend an. Bot er denn tatsächlich ein so trauriges Schauspiel? Ihm selbst fiel da schon nicht mehr auf, sein näheres Umfeld sagte nichts mehr dazu, aber wahrscheinlich sah er im Halbdunkeln der U-Bahn tatsächlich nicht wirklich gesund aus. John tippte auf Augenringe, Bartstoppeln und wirre Haare. Wie man als Arzt nach einer achtzehn-Stunden-Schicht üblicherweise aussah. Die eingefallenen Wangen, der unruhige Blick, die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, die sich im letzten Jahr eingegraben hatte – das alles waren Aspekte, die ihm nicht auffielen, wenn er in den Spiegel blickte, sondern welche, an die er sich gewöhnt hatte ohne es mitzubekommen. Immer wieder hielt die Bahn, immer wieder stiegen Menschen zu oder aus, doch es wurde zusehends leerer. Dann war auch John an seinem Ziel angekommen. Er ließ die Schlaufe los und tat erneut einen großen Schritt auf den Bahnsteig der wenig besuchten und benutzten Station. Zwar wohnte er relativ zentral, die Anbindungen mit dem Bus waren einfacher und billiger und man musste nicht so lange durch die Nacht laufen, doch gerade darauf legte er es an. Laufen. Zwar schmerzte sein Bein dabei immer fürchterlich, aber diese Schmerzen hinderten ihn daran, viel nachzudenken und die kalte Abendluft, die ihn umfing als er die letzten Stufen hoch zur Straße, die verlassen lag, erklomm, klärte seine dennoch wirren Gedanken. Erfreut stellte er fest, dass nur eine nicht zu identifizierende Finsternis in seinem Kopf herrschte, die ihm auf die Sinne drückten und angenehm schläfrig machten. Normalerweise fühlte er sich selten müde und erschöpft, doch diese Nacht war eine der wenigen Nächte, in denen er sich sicher war, etwas Schlaf zu bekommen. Mrs. Hudson erwartete ihn bereits mit einer dünnen Strickjacke um die Schultern gewickelt vor der Tür und schaute ihn leicht verwirrt an. „Haben Sie Besuch für heute Abend erwartet, John?“, fragte sie besorgt und deutet zu den oberen Fenstern, hinter denen Licht brannte. In John keimte ein winziges Pflänzchen namens Hoffnung auf, aber das war unmöglich. Völlig konsterniert starrte er die alte Vermieterin an. Diese bemerkte anscheinend, was mit ihm los war und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Oberarm. „Es ist nicht er, John. Es ist eine junge Dame.“ Das Pflänzchen in seiner Brust verkümmerte sofort, bis nichts mehr übrig blieb als ein Häufchen grauer Asche. Er hatte sich keine Hoffnung machen wollen, aber unwillkürlich war es natürlich dennoch passiert. Fast schon wie ein Reflex, gegen den er einfach nichts unternehmen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ein brennendes Licht im ersten Stock die Anwesenheit eines Gastes Hoffnung ihn ihm schürte, aber allmählich gewöhnte er sich an die Enttäuschung. Die ersten Male war es wirklich schrecklich für ihn gewesen, die Enttäuschung und die Einsamkeit übergroß, denn er konnte und wollte den Tod seines besten Freundes nicht akzeptieren, aber anscheinend war immer noch nicht genug Zeit vergangen, damit Sherlock sich ihm wieder zeigte oder – und John wollte den Gedanken gar nicht zulassen – sein bester Freund war tatsächlich tot. Einfach und unwiederbringlich. Ein Gedanke, der ihn straucheln ließ, psychisch, als auch physisch, als er die kleine Stufe zur Haustür hochstolperte und auf seinen Stock stützte. Die Erschöpfung der langen Schicht, der ständige Stress und seine Depressionen setzten ihm zu, aber an Urlaub oder Erholung war nicht zu denken, das würde alles nur noch schlimmer machen. Mrs. Hudson trat zur Seite, als John an ihr vorbei hinkte und schloss die Tür hinter ihm. Er sah ihr an, dass sie ihm tröstende Worte sagen wollte, doch sie blieb stumm und tat damit John einen großen Gefallen. „Hat sie gesagt, wer sie ist? Warum sie hier ist?“, fragte er und setzte sein schmerzendes Bein auf die unterste Stufe auf. Seine freie Hand umklammerte das Geländer, haltsuchend lehnte er sich an die Wand hinter sich. Die Müdigkeit forderte ihren Tribut, am liebsten hätte er sich in sein Bett gelegt und geschlafen. „Sie hat sich nicht vorgestellt, sondern nur nach Ihnen gefragt und dann sofort nach oben gestürmt. Seit zwei Stunden habe ich nichts mehr gehört…“ Seine Vermieterin war empört und besorgt, außerdem neugierig, dass erkannte John sofort. Es war ihr nicht zu verübeln. Aber wer war seine geheimnisvolle Besucherin, was wollte sie von ihm, ausgerechnet von ihm? Besuch von Fremden hatte er seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gehabt. „Vielen Dank Mrs. Hudson. Am besten Sie gehen bald schlafen, es ist schon halb zwei.“, verriet ihm ein schneller Blick auf sein Handy und ihre Augenringe. „Machen Sie sich keine Sorgen“, er versuchte ein aufmunterndes Lächeln zu Stande zu bringen, doch er ahnte, dass es ihm absolut nicht gelungen war. Unruhig nickte die alte Dame, löschte das Licht im Hausflur und schloss ihre Wohnungstür. John blickte die Treppe hinauf. Eine unbekannte Besucherin also, die um halb zwölf nachts in der Bakerstreet aufschlug, sich nicht vorstellte und seit zwei Stunden keinen Mucks von sich gegeben hatte? Der Stock blieb einsam an der Treppe zurück, während John Watson die Stufen erklomm und die Tür zu seiner Wohnung öffnete. Seine Gehhilfe hatte er schlicht vergessen. Diese unbekannte, geheimnisvolle Besucherin war nicht zu übersehen. Sie hatte es sich auf dem Ledersofa bequem gemacht – wohlgemerkt in liegender Position – und starrte an die Decke. Etwas verwundert betrat John seine Wohnung, zog seine Jacke aus und warf sie achtlos über einen Stuhl in der Nähe. Die Frau rührte sich nicht. Mit offenen Augen lag sie nur dort, ihr Atem ging so ruhig und gleichmäßig, als würde sie schlafen. John runzelte die Stirn. Er verstand den größeren Sinn dahinter nicht und bezweifelte sowieso, dass es so etwas wie einen größeren Sinn gab, doch irgendetwas, eine Eingebung aus der letzten Ecke seines Bewusstseins flüsterte ihm zu, auf der Hut zu sein. Ganz offensichtlich war sein Besuch nicht besonders gesprächig, so ließ er sie liegen, ging in die Küche und setzte Wasser für einen späten Tee auf. Sein Griff ging schon in Richtung Tasse, da entschied er sich um und nahm eine kleine Teekanne aus dem Regal neben dem Fenster. Diese Kanne hatte er das letzte Mal vor einem Jahr benutzt und Staub hatte sich auf dem weißen Porzellan gesammelt. Mit einem Trockentuch wurde die graue Schicht entfernt und Tee mit heißem Wasser eingefüllt. Zucker stellte er auf ein kleines Tablett, ebenso zwei Tassen, ein Kännchen Milch und als der Tee gezogen und die Teebeutel aus der Kanne gefischt waren, auch diese. Als John mit dem Tablett das Wohnzimmer betrat und es auf den niedrigen Wohnzimmertisch stellte, zeigte die junge Frau das erste Mal eine Regung. „Sie sollten sich eine Katze kaufen, Dr. Watson. Sonst frisst Sie die Einsamkeit noch auf…“ Ruckartig hatte sie sich aufgesetzt und starrte ihm direkt in die Augen. Vor Überraschung wich er zurück und landete in seinem Lieblingssessel. „Eine Katze?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Ich hatte mal eine Bulldogge, aber … aber was interessiert Sie, ob ich einsam bin oder nicht?!“ Die Frau schmunzelte nur, schloss die Augen und lehnte sich auf der Couch zurück. Dann fiel John noch eine ganz andere Sache auf. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Sie stellen die richtigen Fragen, Dr. Watson. Aber Sie übersehen die offensichtlichen Dinge, immerhin haben Sie ein Namensschild unten an der Klingel.“ John rutschte auf seinem Sitzkissen hin und her. Irgendwie kamen ihm diese Fragen bekannt vor. „Wer hat Sie geschickt?“, er war übermüdet, gereizt und ungeduldig. Außerdem behagte ihm die Situation überhaupt nicht. „Niemand hat mich geschickt. Ich suche jemanden.“ Durchdringend fixierte sie ihn mit graugrünen Augen, die dadurch ungewöhnlich fesselnd wirkte, dass die Iris nicht dunkel umrandet war. John wurde ganz anders. Nicht, weil er sich angezogen fühlte, das fühlte er sich schon lange nicht mehr von irgendjemandem, sondern weil er sich denken konnte, wen diese Frau suchte. „Sie waren länger nicht in London, beziehungsweise in England, oder?“, fragte er gegen und nippte an der Tasse Tee. Kurze Verwunderung zuckte über ihr Gesicht, sie hatte sich allerdings sofort wieder gefangen. „Nein, ich habe sechs Jahre in Los Angeles gelebt…“, sie fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenmähne und nahm sich dann ebenfalls Tee zur Hand. „Wieso fragen sie das?“ John schluckte schwer. Er wollte nicht darüber reden, wollte am liebsten diese Frau aus seiner Wohnung schmeißen und einfach nur schlafen gehen, aber irgendetwas war da, was das verhinderte. „Wie heißen Sie?“, er rutschte auf seinem Sessel nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. Sie zierte sich. „Sie scheinen mehr über mich zu wissen, als mir lieb ist, da können Sie mir wenigstens Ihren Namen verraten, oder?“, klang er schnippisch? Wahrscheinlich, denn sie zog eine Augenbraue hoch. „Wenn Sie erst schlafen wollen, Dr. Watson, dann kann ich das verstehen. Das Sofa ist sehr bequem… ich kann hier einige Stunden sitzen und warten.“ „Denken Sie wirklich, ich könnte jetzt schlafen? Mit Ihnen im Hinterkopf? Es sitzt eine mir wildfremde Frau in meiner Wohnung, die jemanden sucht – und ja, natürlich kann ich mir denken, wen Sie suchen – und ich soll schlafen gehen? Ich kann Ihnen auch direkt sagen, dass es ziemlich schwierig wird, ihn zu finden!“ Etwas zu heftig stellte er die Tasse zurück auf das Tablett, der Inhalt entleerte sich teilweise, schwappte über, wurde jedoch von der Serviette aufgesaugt. „Dieses Thema scheint Sie sehr aufzuwühlen, Dr. Watson“, stellte die Besucherin fest. Für einen kurzen Moment verlor John vollkommen die Fassung. „Natürlich wühlt mich dieses Thema auf und… amüsieren Sie sich über mich?“, ohne es zu wollen war er laut geworden, hatte sich verkrampft und wurde sofort eines Besseren belehrt, denn der altbekannte Schmerz fuhr ihm vom Becken abseits durch sein rechtes Bein. Gezwungenermaßen und auch eher unfreiwillig fiel er zurück in die Kissen, die unter der plötzlichen Belastung laut ächzten. Die junge Frau nahm sein Verhalten stumm hin und das machte ihn nur noch wütender. Wieso erdreistete sie sich, das zu tun? Dort ruhig zu sitzen, ihren Tee zu schlürfen und ab und zu amüsiert zu lächeln. Mitleid hätte er verstanden, aber nicht so ein Grinsen. „Ich sehe, Sie haben sehr an ihm gehangen, Dr. Watson. Mehr als gut war vielleicht? Er hat sich nie etwas aus Freunden gemacht müssen Sie wissen…“ Schweigend blieb der ehemalige Soldat sitzen und starrte auf den verschütteten Tee vor sich. Es war klar, worum es in diesem wirren Gespräch ging. Es ging um Sherlock Holmes, seinen letztes Jahr verstorbenen Mitbewohner und besten Freund. Offensichtlich war, dass sie ihn gekannt haben musste, sonst hätte sie nicht nach ihm gesucht und wäre nicht auf dieser Couch gelandet. Offensichtlich war auch, dass sie Sherlock schon länger gekannt hatte als er und dass sie seine Karriere und sein Privatleben verfolgt hatte. Nur anscheinend in den letzten sechs Jahren nicht mehr oder zumindest seit mehr als einem Jahr nicht mehr, sonst hätte sie erst gar nicht an die Tür von Dr. John Watson geklingelt. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sie sehr wohl wusste, dass Sherlock Holmes tot war. Und genau das machte ihn derart wütend. Wollte sie sich nur einen Spaß erlauben und ihn aufziehen? Ergötzte sie sich an seinem Leid? John atmete tief durch und entspannte sich wieder. Sich nun aufzuregen würde ihn nur unnötige Kraft kosten und ihn nicht weiterbringen. „Sie haben mir immer noch nicht Ihren Namen genannt.“ Die junge Frau schmunzelte. „Namen sind so bedeutungslos, Dr. Watson. Ich kann ihnen meinen Namen nennen, aber Sie werden nichts damit anfangen können. Sie könnten nicht einmal sicher sein, dass es wirklich mein Name ist und ich Sie stattdessen nur an der Nase herumführe…“ Er runzelte die Stirn. „Nun, ich habe den Eindruck, dass Sie schon dabei sind, mich an der Nase herumzuführen. Wieso das Kunststück nicht vollenden und mir irgendeinen Namen nennen?“ „Oh, Sie sind gut.“, flüsterte sie anerkennend. „Wenn Sie mir sagen, weshalb ich versuche, Sie an der Nase herumzuführen, nenne ich Ihnen meinen Namen. Meinen momentanen Namen.“ Darüber musste John nicht lange nachdenken. Allein seine noch immer brodelnde Wut half ihm, die Gründe klar zu formulieren. „Sie kennen Sherlock Holmes länger, als ich ihn gekannt habe und laut Ihrer Äußerung auch besser, doch haben Sie sich wahrscheinlich von ihm abgewandt… ich tippe auf Überforderung oder weil er Sie zutiefst verletzt hat.“, dafür hatte er keine Anhaltspunkte, aber er wusste, wie Sherlock mit anderen Menschen umgegangen war – besonders mit Frauen. „Außerdem sagen mir zwar Ihre Haare, Ihre Kleidung und Ihr Verhalten, dass Sie eine längere Reise hinter sich haben sollten, doch da Sie, wie Sie selbst sagen, aus Los Angeles angereist sind, muss das länger her sein, als Sie mich glauben lassen wollen. Sie haben noch eine leichte Bräune, doch keine scharfen Kanten mehr dabei, die Bräune ist also bereits fast vergangen. Da wir Februar haben, sind Sie mindestens seit Silvester wieder in England. Er vor kurzem ging außerdem Sherlock Holmes‘ Geschichte aus dem letzten Jahr erneut durch die Zeitungen, Sie müssen als wissen, dass er seit einem Jahr tot ist, können in also nicht hier suchen, sondern haben sich das nur aus Vorwand genommen, um entweder in die Wohnung zu kommen oder mit mir zu reden, doch ich gebe zu, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was genau Sie dazu geleitet hat, heute hierherzukommen und mich meines Schlafes zu berauben. Allerdings weiß ich, dass Sie nicht so unwissend sind, wie Sie vorgeben zu sein.“ „Catherine Northawk“, erwiderte sie, ohne auch nur zu blinzeln. „Ich bin beeindruckt, Dr. Watson. Sie scheinen tatsächlich von ihm gelernt zu haben.“ Zufrieden lehnte sie sich zurück und musterte ihn interessiert. Nun wusste er zwar ihren Namen, aber das half ihm aktuell nicht weiter, doch sie fuhr fort. „Ich weiß tatsächlich, dass Sherlock Holmes vor mehr als einem Jahr gestorben ist und genau deshalb bin ich hier. Ich bin relativ gut über die Umstände seines Todes informiert und außerdem nicht der Meinung, dass er tot ist.“ John hatte jetzt einiges erwartet, aber nicht so eine Äußerung. „Sie kommen also her, um halb zwölf nachts, warten dann sogar noch zwei Stunden, um mir das mitzuteilen? Und was denken Sie, soll ich dagegen machen? Ich habe ihn fallen sehen, ich habe seinen blutüberströmten, leblosen Körper am Boden liegen sehen, ich habe sogar seinen Puls genommen. Und ja, natürlich kann ich mir nicht vorstellen, dass es so einfach sein soll, Sherlock Holmes zu töten, ich habe aber auch keine Anhaltspunkte für das Gegenteil.“ Erneut regte sich etwas in Johns Brust. War das Pflänzchen namens Hoffnung doch noch nicht ganz verdorrt? Anscheinend nicht. „Und weshalb genau sind Sie jetzt hier? Ich kann ihnen sicherlich nicht helfen, Sherlock wiederzufinden. Wenn er nicht gefunden werden will, will er nicht gefunden werden.“ Sein normalerweise schmerzendes Bein fühlte sich im Augenblick vollkommen normal und vor allem schmerzfrei an. Die Erlösung war ihm deutlich anzusehen und wieder war er erstaunt darüber, wie sehr der Kopf den Körper regierte. „Oh, ich verfolge Sherlock Holmes nun schon seit meiner Rückkehr nach England, die übrigens kurz vor Weihnachten war, an diesem Punkte hatten Sie erstaunlicherweise Recht, Dr. Watson.“ Catherine Northawk lächelte schlicht und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Zwei Monate haben ausgereicht um herauszufinden, dass er sehr wohl noch lebt und ich habe inzwischen sogar Beweise dafür sammeln können…“ „Sie haben WAS bitte?“, entfuhr es John, der nicht mehr an sich halten konnte, „das sagen Sie mir erst jetzt? Erst JETZT?!“ Ebenso perplex starrte die Frau ihn an. „Natürlich. Ich musste mich doch erst davon überzeugen, dass Sie ihn auch noch immer finden wollen und auch noch immer an ihn glauben!“ „Was für Beweise?!“, warf John wieder ein, der sich vollkommen über den Tisch gezogen fühlte. Um nun schon zwei Uhr nachts saß irgendeine Frau vor ihm auf der Couch, schlürfte genüsslich ihre Tasse Tee leer und behauptete, Sherlock würde noch leben und es gäbe sogar Beweise dafür. Irgendetwas sagte John, dass das einfach nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. „Diese Beweise kann ich Ihnen noch nicht geben und außerdem muss das ganze unter höchster Geheimhaltung vor sich gehen. Wenn die Öffentlichkeit zu früh davon erfährt, gibt es noch mehr Probleme als ohnehin schon.“ „Und wofür brauchen Sie meine Hilfe, Miss Northawk?“, es war eine winzige Hoffnung und John hatte sich spontan entschieden diesem Fünkchen Hoffnung eine Chance zu geben. Lieber wurde er noch einmal mehr enttäuscht, als es nicht versucht zu haben. Das würde aber der letzte Versuch sein, schwor er feierlich bei sich selbst. „Ich brauche Sie für Sherlock Holmes. Sie sind der Mensch dem er auf dieser Welt am meisten vertraut und auch zutraut.“ „Und woher meinen Sie, das zu wissen? Was gibt Ihnen die Sicherheit, das zu sagen? Zu behaupten?“ Sie seufzte leise. „Ich wiederhole mich nur äußerst ungern, aber ich kenne Sherlock Holmes schon sehr viel länger, als Sie es tun und ich kann mit Gewissheit behaupten, dass es sich so verhält. Er hat niemals mit jemandem ZUSAMMEN gearbeitet. Er hat immer nur arbeiten lassen, sich am liebsten aber auf seine eigenen Fähigkeiten berufen. Der Öffentlichkeit konnte ich nun aber sehr wohl entnehmen, dass Sie für ihn zu Tatorten gefahren sind und selbst teilweise zur Aufklärung einiger Fälle beigetragen haben. Das war Faulheit seinerseits – natürlich, das lässt sich nicht bestreiten, aber auch absolutes Vertrauen. Nutzen Sie das und wir werden ihn gemeinsam finden.“ Schweigend nahm John die Worte entgegen. Fest stand, dass seine Besucherin ganz ausgezeichnet um den heißen Brei herumreden konnte. „Ich habe Ihnen zwei konkrete Fragen gestellt. Natürlich bin ich von Ihren Worten angetan, aber eben diese Fragen beantworten Sie nicht. Ich möchte die Beweise sehen, sonst kann ich Ihnen nicht vertrauen. Und ich möchte wissen, welchen Platz ich bei Ihrer Planung einnehmen werde und ich möchte außerdem, dass wir dieses Gespräch erst in ein paar Tagen weiterführen.“ Gezeichnet von der Müdigkeit und Erschöpfung, außerdem von den ganzen neuen Informationen, fühlte er sich beinahe etwas betrunken und auf keinen Fall mehr klar bei Sinnen. „Natürlich. Ich werde Sie in drei Tagen noch einmal aufsuchen und dann lege ich Ihnen Beweise vor und Sie sagen zu oder ab.“ John sah seiner Besucherin deutlich ihre Selbstsicherheit an. Natürlich würde er zusagen, aber so einfach war er nicht zu bekommen. Außerdem, was wenn das alles nur ein Trick war, den Moriarty ihn noch aus seinem Grab geschickt hatte? Was war, wenn er wieder blind in eine Falle tappte? Nein! Das würde auf keinen Fall noch einmal passieren. Einmal in einer Semtex-Weste gesteckt zu haben, reichte für ein ganzes Leben und weit mehr als das. Nach Adrenalin sehnte er sich, aber an seinem Leben hing er auch. „Dann gönne ich Ihnen jetzt etwas ihres wohlverdienten Schlafes und lasse Sie in Ruhe. Soweit ich informiert bin, haben Sie morgen auch wieder Spätschicht, Sie werden also mit Sicherheit acht bis zehn Stunden Schlaf finden.“ Vollkommen perplex öffnete John seinen Mund schon zu einem „Woher…?“, doch er schluckte es im letzten Moment wieder herunter. Er wunderte sich nicht mehr über Leute, die mit Sherlock zu tun haben. Das hatte er sich abgewöhnt. „Schön, dass Sie meinen Dienstplan im Kopf haben. Und falls Sie auch noch Einfluss darauf haben sollten, ich hätte lieber die Frühschichten.“, scherzte er mit sehr viel Sarkasmus in der Stimme und stand auf. Sein Bein schmerzte nicht. Auch seine Besucherin erhob sich, ging zur Tür und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. „Frühschichten? Soso…“ Mehr kam nicht mehr. Sie eilte ins dunkle Treppenhaus und war verschwunden. Als John ans Fenster hastete, sah er nur noch, wie ein Taxi wegfuhr, in dem Catherine Northawk hoffentlich saß. Kapitel 2: Mycroft ------------------ John Watson waren von seiner nächtlichen Besucherin Catherine Northawk also tatsächlich drei Tage Zeit gegeben worden, um nachzudenken. Als er früh am Morgen des nächsten Tages aufstand, weil ihm wirre Träume keine Ruhe gelassen hatten, in denen größtenteils Sherlock vorgekommen war, hatte er jedoch absolut keine Lust, nachzudenken. Seine Entscheidung war schon in der Nacht gefallen. Er benötigte die Zeit jedoch dringend, um Informationen über die junge Frau einzuholen. Mrs. Hudson war wie jeden Morgen so nett, ihm eine Kleinigkeit zum Frühstück zu machen. Nicht, weil er selbst keine Lebensmittel hatte oder in der Küche kein Platz war – nein. Mit angelernter militärischer Ordnung hatte er inzwischen die gesamte Wohnung etwas aufgeräumt und Sherlocks gesamten Chemiebaukasten in dessen altem Schlafzimmer verstaut, welches er seitdem nicht mehr betreten hatte, höchstens um zu lüften oder noch einige weitere Sachen aus seinem ständigen Blickfeld zu verbannen. Mrs. Hudson bereitete ihm jeden Morgen etwas Frühstück, um ihm den Alltag zu erleichtern. Eigentlich war es ihm unangenehm, dass sie deshalb Aufwand hatte, doch mit keinem Argument ließ sie sich davon abbringen. Nicht einmal ein kleiner Hungerstreik konnte ihre Überzeugung ins Wanken bringen, er bräuchte diese kleine Aufmerksamkeit. So schnappte er sich seinen Laptop und setzt sich damit an den Küchentisch, auf dem eine Kanne mit Tee und ein Teller mit Toast, gebratenen Würstchen und einem Spiegelei lag. Er schmunzelte. Jeden Morgen hatte sie etwas anderes für ihn. Abwechslung war schön, aber selbst er konnte auf gegrillten und geräucherten grünen Hering zum Frühstück verzichten. Mit einem leisen Gähnen klappte er seinen Laptop auf und gab das Passwort ein, das er seit mehr als einem Jahr nicht mehr hatte ändern müssen und startete Google. Das war immer der erste Punkt, an dem er persönlich startete, etwas über jemanden herauszufinden. Und da sie ihm offensichtlich ihren richten Namen verraten hatte, würde es nicht schwierig werden, etwas herauszufinden. Dachte er. Schnell wurde John jedoch eines Besseren belehrt. Über eine Catherine Northawk war so gut wie nichts zu finden. Kein Facebook-Account, keine Fotos, auf denen sie zu sehen war, keine Firma, bei der sie angestellt war, nicht einmal ihre Telefonnummer oder Adresse war im Register zu finden. Wenn sie ehrlich gewesen war und ihm ihren richtigen Namen verraten hatte, musste sie unter einem anderen in London leben. Nicht einmal eine Hochzeitsanzeige oder dergleichen war in einem der Onlinearchive der unzähligen Zeitungen zu finden. Gar nichts. Und John war sich sicher gewesen, dass eine Persönlichkeit, wie Catherine Northawk sie darstellte, zumindest mit einem Fuß in der Öffentlichkeit stand. Jedoch weit gefehlt. Sie hatte ihm Zeit gegeben. Drei Tage Zeit gegeben. Sie kannte ihn und Sherlock Holmes, wusste, dass er ihr Angebot schon längst angenommen hätte, selbst wenn sie ihn in der Nacht zuvor vor die Wahl gestellt hätte. Sie ging also wahrscheinlich davon aus, dass er sich erkundigte und hatte ihm dafür die Zeit gelassen. „Wo bin ich da nur hineingeraten?“, murmelte er leise vor sich hin und trank den letzten Schluck seines Tees. Mrs. Hudson hatte seine Lieblingssorte gekocht. John lächelte. Was wäre er nur ohne sie? Wahrscheinlich noch depressiver, als er sowieso schon war, vielleicht wäre er ohne sie und ihre Fürsorge auch schon längst aus der Bakerstreet oder ganz aus London weggezogen. Wie hatte es passieren können, dass der Tod oder der Scheintod, aber auf jeden Fall der Verlust eines Menschen ihn in so ein tiefes Loch hatte fallen lassen? John dachte zurück an die Zeit in Afghanistan, an die Zeit, in der er glaubte, er gäbe nichts, was ihn jemals zu Boden ziehen könnte? Damals war sein bester und ältester Freund gestorben, erschossen, den letzten Atemzug hatte er in den Armen des Militärarztes getan. John hatte Angst gehabt, in der Nacht nicht schlafen zu können, von Albträumen verfolgt zu werden, man hatte ihm Schlafmittel für die Zeit angeboten, Heimaturlaub, eine Psychotherapie… er hatte alle Angebote ausgeschlagen, sich auf sein Feldbett gelegt und in kaum einer Nacht zuvor so gut geschlafen wie in dieser. Letzten Endes war sein bester Freund aus Kindertagen ein Soldat wie jeder andere gewesen, der sein Leben im Namen des Vaterlandes gelassen hatte. Einer von vielen, in einem Sarg aus Presspappe. Zu Hause, mit einer frischen Schussverletzung hatte ihn der Krieg wieder eingeholt – zu Hause im „ruhigen“ London sehnte er sich nach Abenteuer und Adrenalin, durchwachten Nächten, Schusswechseln – Schützengräben… nachts, wenn er schlief, hatte er das alles gesehen, hatte auch die vielen Gesichter der toten Soldaten gesehen, doch sie berührten ihn nicht. Sterben gehörte zum Krieg dazu: er selbst wäre auch fast einer dieser namenlosen Männer geworden, nur bei ihm wäre der Sarg wahrscheinlich aus richtigem Holz gewesen… wieso wurden tote Offiziere nach ihrem Ableben mehr geehrt, als normale gefallene Soldaten? Jeder seiner damaligen Einheit hätte einen teuren Sarg mehr verdient als jeder der anderen Offiziere. Sie alle waren Menschen gewesen. Gleichberechtigte, und wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens im Tod. Aber so war es immer. Ein Mensch starb und andere Menschen maßten sich an, über den Verstorbenen urteilen zu können, denn er hatte ja nicht mehr die Chance, sich zu beschweren. So war es in Afghanistan und so war es auch hier in London und überall sonst auf der Welt. Dieser Gedanke, dass Menschenleben der Gesellschaft nichts wert waren, wenn die Menschen nicht berühmt oder bedeutend gewesen waren, und dass er selbst ebenfalls so dachte – das hatte ihn nach seiner Rückkehr viel häufiger beschäftigt, als die Gedanken an Attentate und Tretminen. Mit einem lauten Klappern stellte er die Tasse zurück auf die zugehörige Untertasse und ließ seinen Blick schweifen. Der Wunsch nach dem Schlachtfeld, zu dem her sich immer wieder zurückgesehnt hatte, seit seine Füße englischen Boden betreten hatten, war von Sherlock Holmes erfüllt worden, denn dieser Mann war wie eine Naturgewalt über jegliches Verbrechen, jede Ungerechtigkeit hinweggefegt und hatte sie bekämpft, wohl wissend, niemals auch nur ein winziges Zeichen von Dankbarkeit bekommen zu können. Doch er hatte es nicht gebraucht, sich damit begnügt, seine Langeweile zu vertreiben – und John hatte dieser Naturgewalt und diesem Schlachtfeld nicht widerstehen können. Sherlock Holmes mit dem Krieg in Afghanistan gleichzusetzen war zwar moralisch verwerflich und nicht die richtige Ausdrucksweise, doch für John war es genau so gewesen. Sherlock bedeutete Krieg – meistens kein so offensichtlicher, aber oft genug. Und während im nahen Osten anonyme Menschen gestorben waren, war hier in London der Mensch gestorben, der für John all das bedeutet hatte, was Afghanistan gewesen war. Krieg, Gewalt, Abenteuer, Nervenkitzel. Dieser Mann hatte ihn fasziniert, in seinen Bann gezogen, vollkommen gefesselt und auf objektiver Ebene mehr als einmal abgestoßen und angewidert. Das machte Sherlock Holmes für John zu so einem bewundernswerten Menschen und Abenteuer, und kein Mensch, nicht einmal sein ehemals bester Freund Dan nahm diesen Stellenwert ein. Nach dem Krieg war da etwas, jemand gewesen, der ihn aufgefangen, ihn gebraucht hatte. Nach Sherlocks Tod hatte John versucht, in seiner Arbeit dieses vor dem Fall schützende Netz zu finden, doch das Netz wies große Löcher vor, durch die er zu fallen drohte und die Seile des Netzes waren dünn und würden ihn nicht ewig tragen. Häufig hatte er von Sherlock geträumt, viel häufiger von ihm, als von Afghanistan und er war mit einem Lächeln aufgewacht. Jedes Mal. Bis ihm schlagartig wieder bewusst wurde, dass auch Sherlock vergangen war. Wirklich glauben wollen, hatte er es selbstverständlich niemals, doch es war Teil seines Alltags geworden, allein zu sein und von den Menschen wegen seiner anfänglich offenen „pro-Sherlock“-Stellung belächelt zu werden. Nach außen hin hatte er schnell aufgegeben, doch er war noch lange kein komplett gebrochener Mann. Einen Soldaten warf so schnell nichts aus der Bahn. Sherlock würde schon zurückkommen. Und dann war da der Besuch am vergangenen Abend gewesen. Für den Pessimisten in ihm war es tatsächlich schwer zu glauben gewesen, doch der Optimist freute sich schon ein Loch in den Bauch und John war gewillt, nach einem Jahr endlich einmal wieder auf den Optimisten zu hören. Er würde herausfinden, ob Sherlock tatsächlich noch lebte, wie Catherine Northawk behauptete, doch dafür musste er etwas über sie herausfinden. Das Internet half nicht weiter und Sherlock war nicht da, um zu deduzieren. John selbst hatte zwar die Grundzüge dessen verstanden, worauf er zu achten hatte, aber die Dame schien durchaus intelligent und vorbereitet gewesen. Grübeln half John also auch nicht weiter und in die Offensive konnte er ihr gegenüber nicht gehen, weil er keinen Schimmer hatte, wie er sie kontaktieren sollte. Übrig blieb nur eine Möglichkeit: Er würde nach mehr als einem Jahr Mycroft Holmes wieder begegnen. Er würde auf den Mann treffen, der Sherlock ans Messer geliefert hatte, der Moriarty mit allen nötigen und unnötigen Informationen gefüttert hatte, um diesen in die Knie zu zwingen. John machte nicht nur Moriarty für Sherlocks Selbstmord verantwortlich, sondern auch Mycroft. Und die Öffentlichkeit, dass sie sich wirklich von einem einzigen Zeitungsartikel blenden ließ und nicht erkannte… erkennen konnte. Doch da schoss ihm ein Wort durch den Kopf, das Sherlock häufig für Menschen solcher Art verwendet hatte. Idioten. Es waren alles Idioten und die Masse war noch dümmer, als das Individuum, weil sie sensationsgeil, hysterisch und leichtgläubig war. John fuhr sich durchs Gesicht und schüttelte den Kopf. Der Gang zu Mycroft würde ein schwieriger werden und es war nicht ausgeschlossen, dass er ihm Worte an Kopf werfen würde, die nicht förderlich für seine Suche nach Catherine Northawk waren… aber die Angelegenheit war für ihn von größter Wichtigkeit, ließ sich kaum aufschieben („drei Tage, John, du hast nur drei Tage“). Und im Übrigen war er sich ziemlich sicher, dass Mycroft durch seine ganzen Kameras immer noch ein Auge auf die 221B Bakerstreet hatte. Dementsprechend hatte er sich der Wahrscheinlichkeit nach auch schon Informationen über seinen Besuch eingeholt, an die John niemals gekommen wäre, ohne dafür inhaftiert zu werden. Verziehen hatte er Mycroft noch lange nicht und selbst wenn Sherlock nicht tot war, würde er das nie, aber er hatte etwas gegen ihn in der Hand, und da Mycroft durchaus ein Gewissen besaß, würde er alles bekommen, was er verlangte, wenn er nur schlimm und heruntergewirtschaftet genug aussah. Ein Blick in den Spiegel am Morgen hatte John verraten, dass er mit seinem mitleiderregenden Gesamtzustand auf jeden Fall an Mycrofts Gewissen kratzen konnte. Die Bartstoppeln hatte der sonst so reinliche Soldat stehen lassen, an den Augenringen konnte er eh nichts ändern, selbst wenn er gewollt hätte. Würde das Genie Mycroft Johns Masche durchschauen? Wahrscheinlich – aber den Versuch war es wert. John musste nicht mehr länger überlegen, sondern stand auf, griff zielstrebig nach seiner Jacke, die immer noch dort lag, wo er sie vor weniger als acht Stunden abgelegt hatte, zog sie sich über und schaute sich nur noch nach seinem Stock um, den er für gewöhnlich immer mit sich nahm, wenn er die Wohnung verließ. Das Humpeln ohne schmerzendes Bein zu simulieren würde schwierig sein, doch er hatte schließlich Erfahrung. Und da es psychosomatisch bedingt war, konnte man so etwas schließlich ab und zu schlicht vergessen. Da die Gehhilfe nicht in der Wohnung zu finden war, musste sie noch immer unten um Flur an der Wand lehnen und tatsächlich. Mrs. Hudson hatte sie ihm noch nicht hinterher geräumt, sondern unberührt an ihrem Platz gelassen, damit John sie schneller wiederfinden konnte. Mit schnellen Schritten war er im unteren Flur angelangt, nahm seinen Stock zur Hand und „humpelte“ hinaus auf die Straße. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach zehn Uhr war – für Mycroft gewöhnlich die Zeit, sich im Diogenesclub aufzuhalten. Mit U-Bahn und Bus ziemlich schwierig zu erreichen… Das erste Mal nach mehr als einem Jahr stellte John sich an den Straßenrand und rief sich ein Taxi, das ihn hoffentlich auf dem schnellsten Weg dahin brachte, wo er unbedingt hin wollte – hin musste. Einige Stunden hatte er bis zu seinem Schichtbeginn noch und die sollten nicht ungenutzt bleiben. Das erste Taxi, das vorbeifuhr, war besetzt, doch schon das zweite hielt direkt vor ihm und er stieg mehr oder weniger elegant ein. Der Fahrer beachtete ihn nicht weiter, sondern nahm das Ziel entgegen und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Der Verkehr war dicht, und dennoch stieg John eine viertel Stunde später am anderen Ende der Innenstadt schon wieder aus dem Fahrzeug aus und bezahlte den Fahrer. Noch ein Grund, aus dem er mit seinem Oyster-Ticket lieber Bus oder U-Bahn fuhr – es war als Einzelperson sehr viel billiger, auch wenn es mit mehr Laufen verbunden war. John legte den Kopf in den Nacken und schaute an dem großen weißen Gebäude aus der Vorkriegszeit empor. Sein Atem ging regelmäßig, sein Bein schmerzte nicht. Er war also aufgeregt, es hielt sich jedoch in Grenzen. Ohne zu zögern stieg er humpelnd die wenigen Stufen zur ebenfalls weißen Eingangstür empor und betrat sofort den großen Saal. Einige ältere Herren mit weißen Schopf und weißem Bart waren anwesend, jedoch stach kein weitaus jüngerer Mann aus der Masse hervor, Mycroft hatte sich also wahrscheinlich in sein „Privatzimmer“ zurückgezogen. John konnte abermals nur spekulieren, wie wichtig Mycroft Holmes für die britische Regierung tatsächlich war, wenn nicht einmal alt eingesessene Minister über solch ein privates Arbeitszimmer in einem öffentlichen Club verfügten. Misstrauisch beäugten ihn einige der älteren Herren und John machte sich schleunigst auf den Weg, den er relativ gut kannte. Nach rechts unter dem Durchgang hindurch, erneut nach rechts, die Treppe hoch und bis ans Ende des Ganges. Dann stand man vor Mycrofts „Leseraum“. Nicht unbedingt sachte klopfte er an und wartete die Antwort gar nicht ab, sondern öffnete die Tür schwungvoll. Am Schreibtisch saß Mycroft Holmes und war gerade im Begriff, einige Bücher ordentlich zu stapeln. Was Ordnungssinn anging, hätten die Brüder unterschiedlicher nicht sein können, wobei John davon ausging, dass beide die gleiche Ordnung im Kopf hatten, sie aber unterschiedlich nach außen trugen. „John!“, kam es von dem anderen Mann. „Ich hätte Sie etwas später erwartet. Es freut mich, Sie zu sehen. Ihrem Bein geht es ausgezeichnet, wie ich sehe!“ Natürlich! Natürlich hatte er es durchschaut. Wofür hatte John diese umständliche Krücke überhaupt mitgenommen? Außerdem wurde er bereits erwartet, was hieß, dass Mycroft Bescheid wusste. So weit, so offensichtlich. „Setzen Sie sich doch. Etwas Tee?“, fragte Mycroft höflich lächelnd und deutete auf einen Teewagen nahe der Tür, der, wie John sich ziemlich sicher war, eben noch nicht dort gestanden hatte. Aber es wunderte ihn rein gar nichts mehr, abgesehen von Mycrofts übertriebener Gute-Laune-Fassade, die er immer dann aufsetzte, wenn etwas im Gange war, das von großer Bedeutung, aber geheim war, oder wenn ihn etwas bedrückte. Waren das vielleicht die ersten Anzeichen? Ganz offensichtlich wusste Mycroft also tatsächlich mehr- Was dieses „mehr“ war, galt es nun herauszufinden. Darin war John nie besonders gut gewesen, er war eher der direkte, impulsive Typ, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es wenig Sinn machen würde, Mycroft nun erneut eine Moralpredigt halten zu wollen und ihn möglicherweise noch zu verärgern. Um ihn vorerst in Sicherheit zu wiegen, warf er einen schnellen Blick zum Teewagen. „Ja, bitte, danke“. John lehnte seine Krücke an den schweren Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl davor. Abermals kam er sich vor, als wäre er wie ein unartiger Schüler beim Rektor gelandet und hatte eine ernste Unterhaltung vor sich. Mycroft kehrte ihm den Rücken und kam kurze Zeit später mit zwei Tassen Tee zurück, stellte diese auf den Schreibtisch und ließ sich dahinter nieder. John nickte dankend und nahm die Tasse zur Hand. „Weshalb haben Sie mich erwartet?“, fragte er dann ohne Vorwarnung. Mycroft schmunzelte nur, ging nicht weiter auf die Frage ein. „Ich muss es heute kurz machen, John. Mit steht nachher noch ein offizieller Staatsempfang bevor.“, er lächelte und starrte auf den Grund seiner Teetasse. „Gestern war eine junge Frau bei Ihnen, mit deren Erscheinung Sie nichts anfangen können. Sie heißt offiziell Catherine Northawk, ist mit diesem Namen aber ein unbeschriebenes Blatt. Einige ihrer Künstlernamen geben da mehr Auskunft…“, er zog ein Blatt Papier unter seiner braunen Schreibtischunterlage hervor und strich sorgsam darüber. „Sie lassen die Wohnung immer noch beschatten“, stellte John resigniert fest. Er hatte doch irgendwie gehofft, dass das wenigstens ein Ende gefunden hatte, aber wie hatte er nur so töricht sein können? Mycroft lachte nur leise. „Genau wegen solcher Vorfalle wie gestern Abend beobachte ich Sie ständig.“, er schob John die Liste über den Schreibtisch und legte sie so, dass dieser sie lesen konnte. Einige Namen von den neun Stück insgesamt waren ihm und der Presse durchaus bekannt. „Eine Nicole Godehard spielt nächste Woche am National Theater… Sie ist Schauspielerin?“, fragte er verdutzt und zugleich tief bestürzt. Was, wenn das gestern Abend alles nur gespielt war? Dann machte sie sich offensichtlich doch einen Scherz daraus, ihn damit zu quälen. „Exakt John, sie ist Schauspielerin. Eine sehr überzeugende Schauspielerin, die sich an namhaften Theatern in den USA einen beziehungsweise einige Namen gemacht hat. Nun ist sie zurück in England und scheinbar ein großer Sherlock-Holmes-Fanatiker. Wie sie unter einem dieser neun Namen vor gut zwei Wochen bei einem kleinen Interview für die SUN verlauten ließ, glaubt sie an das Weiter- und Überleben meines Bruders, was wie ich zu meinem Bedauern sagen muss, von mir persönlich mehrmals überprüft wurde. Sein Ableben ist bewiesen, DNS kann nicht lügen, aber es scheint, Sherlock hat sich so sehr in die Köpfe mancher Menschen gebrannt, dass sie einfach nicht aufgeben können. Auch Catherine Northawk hängt ganz offensichtlich dieser Illusion nach…“, er trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Schreibtisch. John gab währenddessen keinen Laut von sich. Nicht nur Catherine Northawk glaubte an Sherlocks Überleben, auch er selbst glaubte weiterhin fest daran. „Und was wollen Sie mir damit jetzt sagen?“, fragte John und versuchte, eine feste Stimme vorzutäuschen, doch es misslang ihm. Mycroft beobachtete ihn eine Weile, bevor er fortfuhr. „John, Sherlock ist tot. Ich weiß, dass Sie sehr an ihm gehangen haben und er auch an Ihnen, aber nun müssen Sie endlich nach vorn blicken. Suchen Sie sich eine neue Wohnung und eine Freundin und leben Sie ihr Leben endlich normaler weiter.“ Nur war „normal“ für John noch nie ein Begriff gewesen. Welcher promovierte und herausragende Arzt verpflichtete sich schon und verschwand über eine Zeit von mehreren Jahren nach Afghanistan und konnte erst durch eine bleibende Störung davon abgehalten werden, dorthin zurückzugehen? Hätte man ihn nicht inzwischen mit viel Ehre und Pomp entlassen, wäre er nach Sherlocks Tod wahrscheinlich wieder in den nächsten Flieger gestiegen. „Und was diese ominöse Frau angeht… sie hat einen ausgewachsenen Spieltrieb, was bedeutet, dass sie gerne mit anderen Menschen spielt. Das macht sie nicht, weil ein böser Wille dahintersteckt, sie macht es einfach aus Neugierde und Naivität. Sherlock war schon immer ihr Gegenstück und mit diesem Verlust kann sie nicht umgehen. Also sucht sie sich jemanden, der auf ihrer Seite ist, um sich besser zu fühlen. Sie hat Sie gefunden und Sie sind sofort darauf eingegangen, John.“ Mit ihm wurde also tatsächlich nur gespielt. Alles war Theater gewesen. Fassungslos starrte er Mycroft an. Dieser blickte eher teilnahmslos und erhob sich. „Ich kann Ihnen nur raten, sich von ihr fernzuhalten. Und jetzt sollten Sie auch gehen, Ihre Schicht beginnt schon bald und ich glaube, Sie wollten noch einiges einkaufen?“ Mycroft schritt zur Tür. John starrte noch immer auf dessen nun leeren Stuhl. Das alles hier ging viel zu schnell. Und so langsam kam das altbekannte Gefühl auf, dass alle Menschen um ihn herum mehr wussten, als er selbst, zum Teil auch über sein eigenes Leben. Dass er noch hatte einkaufen wollen, war ihm vollkommen entfallen. Stumm erhob er sich, griff nach seinem Stock und schritt zur Tür. Vor Mycroft blieb er ein letztes Mal stehen, wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf. Er war immer noch überrascht und fassungslos. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch unsicherer an, als sonst. „Wenn Sie ihre Stimme wiedergefunden haben, John, können Sie mich gern in den nächsten Tagen anrufen, ich werde nur noch telefonisch erreichbar sein.“ John runzelte leicht wütend die Stirn. „Wieso sollte ich Sie anrufen wollen?“ „Danke der Nachfrage, ich fahre eine Weile nach Südengland, es wird sicherlich kein entspannter Urlaub, aber es wird Urlaub.“ Große Fragezeichen waberten vor Johns innerem Auge herum, doch Mycroft fuhr fort. „Catherine wird nicht einfach aufgeben. Ich möchte, dass Sie mich auf dem Laufenden halten.“ „Ich Sie… was? Wieso sollte ich?“ Mycroft lachte leise. „Das werden Sie sicherlich bald erfahren, Dr. Watson. Guten Tag.“ Als John endlich wieder unten vor dem Haus stand, fühlte er sich nicht besser oder schlauer, als zuvor. Im Gegenteil. Was um alles in der Welt war das alles? Diese komische Frau, die offensichtlich nur ihre Spielchen spielte, Mycrofts komisches Verhalten und dessen „Urlaub“ in Südengland. John schüttelte den Kopf, ging zu einer etwas befahreneren Straße und rief sich dort ein Taxi. Seine Uhr verriet ihm, dass er gerade noch genügend Zeit hatte, einkaufen zu gehen, bevor seine Abendschicht begann. Als er spät nachts beladen mit zwei Tesco-Einkaufstüten zurück in die Bakerstreet kam, brannten keine Lichter in den Fenstern und auch Mrs. Hudson war schon zu Bett gegangen, denn die Vorgänge waren zugezogen. Leise schloss er die Tür auf und ging die Treppe hinauf, trat dabei wie üblich nicht auf die knarrende Stufe und räumte oben angekommen zuerst die Lebensmittel in den Kühlschrank, der auch nach einem Jahr den leichten Leichengeruch noch nicht wieder verloren hatte. Danach betrat er noch einmal das Wohnzimmer, um nach dem Rechten zu sehen, doch er stockte, als er das dortige Chaos entdeckte. Alle Papiere und Gegenstände, die auf dem Tisch gelegen hatten, waren zu Boden gefegt worden und auf dem Tisch steckte aufrecht ein spitzes Messer im Holz, durchbohrte dabei einen zusammengefalteten Zettel. Als John einige Schritte näher trat, erkannte er das Spitzmesser vom Kaminsims. Nichts war gesucht oder entwendet worden, nur diese Nachricht war so drapiert worden, dass er sie nicht übersehen konnte. Es brauchte nicht viel Kraft, um das Messer aus dem Holz zu ziehen. Als John den Zettel entfaltete, waberte ihm ein undeutlicher Duft von Rosenblüten entgegen, ähnlich des Parfums, das Catherine Northawk getragen hatte, wenn nicht sogar das gleiche. In feiner schräger Handschrift stand auf dem Zettel eine kurze Botschaft geschrieben. “Unter gegebenen Umständen ist es nicht möglich, Sie noch einmal aufzusuchen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass Mycroft Holmes lügt, was Sherlock betrifft. Glauben Sie ihm kein Wort! Anbei liegt eine Zugfahrkarte ab Paddington, nach Brighton. Der Zug fährt morgen um 11:23h, ich werde Sie am Zielbahnhof erwarte. Ihr Arbeitgeber gewährt ihnen unbefristeten Urlaub. Und ich kann Ihnen versichern, dass Sie Sherlock innerhalb kürzester Zeit wiedersehen werden. Vertrauen Sie mir, Dr. Watson? Es könnte gefährlich werden. Catherine Northawk“ Kapitel 3: Zugfahrt nach Brighton --------------------------------- Nachdem John sich vergewissert hatte, dass er tatsächlich auf unbestimmte Zeit beurlaubt war – und zwar bezahlten Urlaub wohlgemerkt – hatte er am nächsten Morgen die wichtigsten Sachen kurzentschlossen in einen kleinen Koffer geschmissen und Mrs. Hudson eine Nachricht geschrieben, weil diese um kurz nach zehn Uhr morgens nicht mehr zugegen gewesen war. Und so stand er nun da, mit Sack und Pack am Bahnhof Paddington und wartete auf seinen Zug nach Brighton, der um 11:20h ankommen sollte. Natürlich zweifelte er an der Person Catherine Northawk, zumal sie Schauspielerin war und er sie absolut nicht einschätzen konnte, andererseits hatte er die Zugfahrkarte nach Sussex geschenkt bekommen und unbefristet bezahlten Urlaub. Selbst, wenn diese ganze Sache mit Sherlocks angeblicher Spur nur ein bösartiger Scherz war, stand einer kleinen selbstverschriebenen Erholungskur nichts mehr im Weg. Er würde schon bald an den Punkt der Resignation kommen, sich nicht mehr so in seine Arbeit stürzen wie das ganze vorherige Jahr und vielleicht sogar langsam wieder eigene Interessen entwickeln. Was hatte Donovan gleich noch vorgeschlagen? Angeln? Das ließe sich mit Gewissheit irgendwie einrichten, obwohl er bezweifelte, dass ihm das aufregend genug war. Vielleicht Bungeejumping oder Fallschirmspringen? Hatte er beim Militär immer einmal machen wollen, doch war er nicht groß genug gewesen. John warf einen schnellen Blick auf die Uhr, zwanzig nach elf. Und tatsächlich – der Zug rollte pünktlich ein. Der würde ihn also Sherlock näher bringen? Leises, ungläubiges und zynisches Gelächter verließ seine Lippen. Ein kleiner Teil seines selbst tadelte ihn, wie er nur so doof und leichtgläubig sein konnte? Sherlock war tot, er hatte ihn selbst tot dort liegen sehen! Aber es war eben Sherlock Holmes – der hellste Kopf seit Jahrzehnten, mindestens. Er hatte das Genie Moriarty dazu bringen können, sich selbst zu erschießen, da hatte er doch auch seinen Tod vortäuschen können, oder? John zuckte mit den Schultern, eine Geste der Unbeholfenheit, dann griff er sich seinen Koffer und betrat das Abteil der ersten Klasse. Sogar ein ganzes Abteil hatte er für sich allein! Irgendjemand hatte keine Kosten gescheut. Mycroft konnte es nicht gewesen sein, der wollte ihn ganz offensichtlich dumm in der Bakerstreet wissen und nicht auf der Suche nach seinem besten Freund Da fiel John plötzlich auf – woher hatte Mycroft überhaupt gewusst, über WAS Catherine Northawk und er gesprochen hatten? Wenn er die Straße mit Kameras überwachen ließ, konnte er nur wissen, dass sie ihn besucht hatte. Wanzen? Nein, soweit würde selbst Mycroft nicht gehen. Oder doch? Hatte er die junge Frau danach unter Druck gesetzt? Schließlich hatte er nur noch die schriftliche Nachricht bekommen, sie hatte ihn aus ungeklärten Gründen also nicht mehr in London besuchen können, in Brighton würde sie ihn aber am Bahnhof erwarten? John war verwirrt und während der Zug losratterte, starrte er grübelnd aus dem Fenster. Er war kein Genie wie Sherlock. Er war zwar keineswegs dumm, er hatte immerhin Medizin studiert, einen Doktortitel und den Offiziersrang – aber ihm fehlte die Gabe, Dinge in einen logischen Zusammenhang zu bringen und zu beobachten. Die Zugfahrt war keine besonders lange, er rechnete mit zwei Stunden und dennoch verging die Zeit nur kriechend. Alle fünf Minuten warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und jedes Mal war er erschrocken und enttäuscht, dass nur fünf Minuten vergangen waren, obwohl die Landschaft an ihm vorbeiflog. Was würde dort sein in Brighton? Wenn er Glück hatte, stand Catherine Northawk tatsächlich am Bahnhof. Und dann? Würde er die Beweise für Sherlocks Überleben bekommen oder hatte sie mit ihm sich tatsächlich einen üblen Scherz erlaubt und war gar nicht dort, wo er sie erwartete? Wie würde er sich fühlen und was würde er machen, wenn er in Brighton aus dem Zug stieg und dort keine Frau mit schwarzen, langen, lockigen Haaren und hellen grau-grünen Augen stand? Wenn er wie bestellt und nicht abgeholt – was dann zutreffen würde – dort auf dem Bahnsteig warten würde, ohne eine Ahnung zu haben, wohin er sollte? Was er unternehmen könnte, um doch noch an diese ominösen Beweise zu kommen? Mycroft anrufen? Mycroft, der ihn in London wissen wollte, möglichst weit entfernt von Catherine Northawk? Wenn ihre Geschichte wirklich zutraf…. Warum wollte Mycroft nicht, dass John erneut auf Sherlock traf? Mycroft hatte einen übertriebenen Beschützerinstinkt, sowohl Sherlock als auch John gegenüber, aber wie schlimm war dann die Lage, in der sie sich alle befanden? Johns Bein kribbelte, wie immer, wenn er aufgeregt und nervös war. Es hatte keinen Sinn, Spekulationen darüber anzustellen, was in Brighton geschehen würde, denn aller Planung zum Trotz war noch nie etwas so gelaufen, wie es beabsichtigt gewesen war. Wieso sollte er sich also unnötig Gedanken machen, wenn es hinterher sowieso wieder nicht so kommen würde, wie es eigentlich strickt logisch gewesen wäre? Vor Sherlocks Zeit war er selten in solche Situationen des Improvisierens gekommen. Ab und zu während des Studiums, weil er für eine Klausur nicht genug gelernt, ein Seminar nicht gründlich genug ausgearbeitet hatte. Aber diese Improvisationen waren nicht entscheidend über Leben und Tod. Selbst auf dem „Schlachtfeld“ in Afghanistan waren Behandlungen von Soldaten noch weniger improvisiert als sein gesamter Alltag mit Sherlock gewesen war. Aber er hatte in dieser Zeit auf jeden Fall gelernt, mit dem Unmöglichen rechnen zu müssen, wenn er nicht einen überaschenden Herzstillstandes sterben wollte. Der Kopf im Kühlschrank, der serbische Säbel unter einem der Sessel, die unzähligen Schüsse mitten in der Nacht, verrückte Verbrecher mit Sprengstoffwesten und dutzenden von Scharfschützen auf einem Haufen… sowas erlebte kein normaler Mensch und ein Soldat auch nur teilweise. John hatte sich immer darüber aufgeregt, hatte oft mit Sherlock diskutiert, hatte seinen Mitbewohner deshalb verflucht… inzwischen vermisste er nichts mehr als leere Milchflaschen und all die chemischen Gerätschaften auf dem Küchentisch. Und mit dem nahen „vielleicht-Wiedersehen“ vor Augen, auf das er natürlich hoffte, vermisste er das alles nur noch mehr. Und dennoch war er nicht übermäßig aufgedreht. Nervös natürlich, aber die Nervosität überstieg das Normalmaß zu keinem Zeitpunkt. Brighton… wieso Brighton? Wieso Südengland? Mycroft machte Urlaub und Südengland, das hatte er schließlich selbst am Vortag erzählt, aber wieso hielt sich seine geheimnisvolle Besucherin dann auch dort auf? Es kam John schon fast so vor, als verband Mycroft, Sherlock und Catherine etwas, das tiefer ging als lediglich eine flüchtige Bekanntschaft. Es war nicht nur so, dass sie über Sherlock gesprochen hatte, als würde sie ihn schon mehr als ein Jahrzehnt kennen, auch Mycroft hatte über Catherine so gesprochen. Wie Sherlock zu der Situation stand, wusste John selbstverständlich nicht – wie auch. Tote konnten nicht mehr sprechen. Aber was war dieses offensichtliche Geheimnis, dass Mycroft und Catherine teilten? Waren sie womöglich über Nacht gemeinsam nach Brighton gefahren? Es hatte eher so geklungen, als hätte Mycroft Catherine gegen ihren Willen aus London entfernt und ebenfalls hierher gebracht. Anscheinend, weil sie mit John in Kontakt getreten war. Also war doch Gefahr im Verzug und er sollte es – wie üblich – gar nicht mitbekommen. Aber dieses Mal war es anders, dieses Mal würde er am Brennpunkt der Gefahr sein. Und er würde einen der beiden zur Rede stellen. Ein Wagen mit Tee und Kaffee wurde an seinem Abteil vorbeigeschoben, doch er ignorierte ihn komplett. Er wollte nur noch ankommen, nicht mehr und nicht weniger. Und dann war es endlich soweit. Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen im Hauptbahnhof von Brighton. Viele Menschen stiegen nicht aus und auch das erwartungsvolle Publikum auf dem Bahnsteig fiel nicht unbedingt üppig aus. Nun war die Frage aller Fragen, war Catherine Northawk unter den wenigen, die auf dem Bahnsteig standen? Als John den ersten Schritt auf Brightoner Erde setzte, blickte er sich aufmerksam um, konnte die junge Frau auf den ersten Blick jedoch nicht ausmachen. Doch schließlich war sie Schauspielerin, konnte sich gut verkleiden und anpassen und tauchte ohne Probleme in die Menge ein. John stellte seinen Koffer an einen der Pfeiler, die das Dach trugen und zog sich seine Jacke über. Sie würde ihn abholen, da war er sich absolut sicher. Doch wie lange wollte er warten, bevor er aufgab? Dreißig Minuten? Zwei Stunden? Ein paar Tage? Im Ernstfall nahm er sich ein Zimmer im Hotel gegenüber und beobachtete von dort ganz genau. Allerdings schien es so, dass es dazu nicht kommen würde. Eine junge Frau erschien auf dem Bahnsteig, mit einer durch und durch platinblonden Hochsteckfrisur und einem äußerst teuren Outfit. Ihre dunkelbraunen Augen sahen sich suchend und unschuldig um, doch ihre ganz spezielle Art verriet Catherine Northawk hinter der Fassade, die mehr als überzeugend gespielt war. Und auch ihre schauspielerische Leistung in dieser improvisierten Szene zeugte von Können. Sie entdeckte John und stürmte sich ihm vor Freude gleichzeitig schreiend und weinend in die Arme. „George, da bist du ja endlich! Ich warte schon so lange auf die Rückkehr meines Lieblingsbruders!“ Anscheinend hatte sie sich tarnen müssen, um ihn aufzusuchen. Dennoch hatte sie schlecht recherchiert. Hätte sie sich wie Harry verkleidet, wäre die Szene weit weniger kurios abgelaufen. „Moira, meine Liebe!“, erwiderte er fröhlich und schloss die um einen guten halben Kopf größere Frau ebenfalls in die Arme. Natürlich hatte er sofort reagiert, er war schließlich nicht auf den Kopf gefallen, aber so gut schauspielern konnte er trotz seiner langen Erfahrung mit Situationen, in die Sherlock ihn gebracht hatte, immer noch nicht. Er würde wahrscheinlich auch nie richtig gut darin werden. Flüchtig warf er Catherine einen fragenden Blick zu, diese ignoriert das aber gekonnt und dirigierte ihn vom Bahnsteig herunter zu einem ziemlich neu erscheinenden silbernen Mercedes. John hatte sich gerade noch sein Gepäck schnappen können, anscheinend hatte die junge Frau es mehr als eilig, mit ihm von diesem Ort weg zu kommen. In dem Wagen saß niemand, deshalb setzte er sich mit seiner Reisetasche auf den Beifahrersitz und wartete, bis Catherine kurze Zeit später ebenfalls eingestiegen war und die Tür ins Schloss fiel. Ohne weiter zu zögern bestätige sie die Zündung und ließ den Wagen aus der Parklücke auf die nicht besonders stark befahrene Straße rollen. Sie schwieg und wirkte relativ gehetzt, schaute häufiger in den Rückspiegel, als nötig gewesen wäre. Zielsicher für sie aus Brighton hinaus auf eine einsame Landstraße und schwieg weiterhin unablässig. Auch John sagte nichts, wollte ihre offensichtliche Konzentration nicht stören, doch hielt er es vor Nervosität kaum aus. Was sollte das alles? Waren sie in Gefahr, durften nicht entdeckt werden? Irgendwie erinnerte ihn diese Autofahrt an die unzähligen, die er mit Mycroft bzw. Anthea über sich hatte ergehen lassen müssen, nur saß er dieses eine Mal nicht hinten. Doch irgendwie kam das Gefühl in ihm auf, dass Mycroft trotzdem etwas mit dieser ganzen Situation zu tun hatte. Zu merkwürdig waren die Begebenheiten, zu einsam die Straße, auf der sie fuhren. Eine halbe Stunde fuhren sie über eine Landstraße, da tauchten einige Häuser plötzlich aus der grünen Landschaft auf. Wahrscheinlich lag vor ihnen das Dorf, in das Catherine wollte… hoffentlich wollte, denn er hatte Hunger trotz der Nervosität, die ihm auf sein sonst aufgeschlossenes Gemüt drückte. Seine „Fahrerin“ hatte indes immer noch kein weiteres Wort von sich gegeben, doch ihre Nervosität hatte sich ein bisschen gelegt, sie wurden von keinem Auto verfolgt. Andere Technologien waren jedoch nicht ausgeschlossen. Jeder Wagen verfügte inzwischen über GPS und anderen Kram und bei Mycrofts Kontrollzwang würde ihn absolut nichts mehr überraschen. Sie bogen ab auf einen holprigen Kopfsteinpflasterweg, der scheinbar um das Dorf herumführte und parkten vor einem kleinen aber ordentlich aussehenden Gasthof am Rande der winzigen Ortschaft, deren Namen John nicht kannte. Catherine stellte zwar den Motor ab, machte aber keine Anstalten auszusteigen, stattdessen schaute sie ihn nur an, nachdenklich. „Ich habe Ihnen ein Zimmer in „The Yellow Cow“ gebucht, dort können Sie vorerst unterkommen. Es gibt einige Dinge, die dringlichst geklärt werden müssen und die meine volle Aufmerksamkeit verlangen.“ „Ja, aber…“, warf John ein, doch er kam nicht weiter. „Bitte unterbrechen Sie mich nicht, es ist wichtig und es muss schnell gehen. Verlassen Sie den Gasthof unter keinen Umständen, außer ich hole Sie persönlich ab!“ Das sagte sie mit so viel Nachdruck, dass John nur stumm nickte. „Ich weiß noch nicht genau, wann ich Sie abhole, aber es wird nicht länger als drei Tage dauern. Der Wirt wird sich um Sie kümmern und Ihnen alles besorgen, was sie benötigen, aber verlassen Sie den Gasthof nicht!“, wiederholte sie sich und sah unauffällig aus dem Fenster. „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, alle Ihre Fragen werden beantwortet werden, das verspreche ich, aber noch geht es nicht. Vielleicht werden Sie Besuch bekommen, öffnen Sie keinem Unbekannte Menschen Ihre Zimmertür!“, sprach sie deutlich und schaute ihm ernst in die Augen. „Es steht einige auf dem Spiel, Dr. Watson, ruinieren Sie es nicht.“ Damit startete sie den Motor wieder, ein Zeichen für ihn, auszusteigen, was er auch tat und direkt und ohne sich noch einmal umzusehen in den Gasthof ging. Erst als die Tür hinter ihm in Schloss fiel, hörte er den Mercedes draußen wegfahren. Nun stand er, Dr. John Watson, also dort, in einem tatsächlich sehr gemütlich eingerichteten Gasthaus irgendwo in der Pampa und war, wie immer, vollkommen ahnungslos und dem ausgeliefert, das um ihn herum geschah. Nicht den Hauch einer Vermutung hatte er, was im Stillen vor sich ging, aber dass es mit Gefahr zu tun hatte, das war ihm durchaus bewusst. Nicht umsonst hatte Catherine Northawk ihn bis hierher gefahren und ihm so etwas wie Hausarrest erteilt, an den er sich wohl oder übel halten würde. Er war nie davon ausgegangen, dass es einfach werden würde, erneut auf Sherlock zu treffen, doch er hätte sich darauf einstellen müssen. Aber immerhin eines war gewiss. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sherlock tatsächlich noch lebte, wuchs mit jeder kuriosen Situation, in die John unabsichtlich hineinschlitterte. Der Wirt, ein Mann Anfang vierzig mit sportlicher Figur kam auf ihn zu und drückte ihm kommentarlos einen Schlüssel in die Hand, ehe er zu einem Tisch mit Gästen eilte und deren Bestellung aufnahm. Zimmer Nummer 23, aus der Zahl zu schließen als im zweiten Stock. John ging zu einer Treppe, die nach oben führte und Essensgeruch schlug ihm entgegen, sein Magen knurrte erneut. Hoffentlich konnte ihm das Essen auch auf sein Zimmer gebracht werden, sonderliche Lust auf Gesellschaft im Gastraum empfand er keine. Eigentlich konnte sie ihm heute alle nur noch gestohlen bleiben. Das Zimmer befand sich tatsächlich im zweiten Stock, mit Blick nach hinten auf eine wirklich wunderschöne südenglische Landschaft, der er trotz seiner Laune noch etwas abgewinnen konnte. Die Hügel hoben und senkten sich sanft und waren noch mit sattem Grün bewuchert, einige Kühe und Schafe waren auch zu erkennen, jedoch in weiter Ferne. Auch sein Zimmer gefiel ihm, hier würde es nicht unmöglich sein, drei Tage zu verbringen, ohne, dass ihm die Decke auf den Kopf fiel. Ein großes altmodisches Bett stand an der Wand zum Badezimmer gegenüber des Fensters, neben dem Fenster stand ein großer Schreibtisch, darauf ein Fernsehgerät und an der freien Wand neben der Tür zwei Sessel mit einem Regal vollgestopft mit Büchern, das sich unter der Last bereits bedenklich bog. Die nächsten drei Tage würde John also mit fernsehen und lesen verbringen und dem Versuch, sich möglichst wenig Sorgen zu machen. Ließ sich einrichten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)