The Final Curtain Fall von ImSherlocked (BBC Sherlock) ================================================================================ Kapitel 1: Besuch ----------------- Kein Taxi war weit und breit zu sehen, zumindest kein freies und seit dem Fall „Eine Studie in Pink“ hatte John Watson nie wieder den wirklichen Drang verspürt, allein in ein Taxi zu steigen. Nicht aus Angst – Angst hatte er vor kaum etwas, er stieg deshalb nicht mehr in ein Taxi, weil ihn das mit seiner Vergangenheit verband und mit der wollte er abschließen. Das würde allein wegen seines Freundeskreises, seiner Arbeit und vor allem seiner Wohnung nicht funktionieren, aber er tat sein Bestes, zumindest so zu tun, als würde Sherlocks Selbstmord ihn nicht mehr berühren. Seine Therapie hatte er abgebrochen und Sherlocks Grab besuchte er auch nicht mehr. Es war unmöglich, er konnte einfach nicht tot sein, so ein genialer Kopf musste eine Möglichkeit gefunden haben, dem Tod wortwörtlich von der Schippe zu springen – jedoch war der Sprung nun schon mehr als ein Jahr her, inzwischen hätte sein ehemals bester Freund sich melden müssen, selbst wenn John in Gefahr gewesen wäre. Sonst hatte es den Detektiv auch nicht gestört, ihn in Gefahr zu bringen. Wieso ausgerechnet nun damit anfangen? John verstand es nicht und schüttelte energisch den Kopf um diesen Gedanken loszuwerden. Hatte Sherlock Holmes vielleicht doch so etwas wie ein Gewissen entwickelt und wollte ihn deshalb nicht kontaktieren? Aber dann war sein Gewissen irgendwie falsch gepolt, denn viel lieber hätte John seinen besten Freund und die Gefahr zurück. Sein Leben war zwar nicht langweilig, aber es fehlte etwas, das den Krankenhausaufenthalt würde aufpeppen können. Mal wieder ein spannender Mord, ein Serienkiller, ein kranker Psycho- oder Soziopath, der seine Spielchen trieb: das alles war besser und spannender, als in der Notaufnahme zu arbeiten, wobei spannender der falsche Ausdruck war. Es war schlicht mehr Adrenalin im Spiel, nach dem John sich verzehrte, schon immer verzehrt hatte. In den letzten Monaten hatte er feststellen müssen, dass er sich absichtlich in gefährliche Situationen begab. Es reichte schon, unbewaffnet nachts um drei durch Soho zu gehen, aber dann machte Mrs. Hudson sich noch mehr Sorgen, als sonst schon und ihr sowieso beanspruchtes Herz wollte er nicht noch mehr strapazieren. Die U-Bahn fuhr ratternd vor, die Menschen drängten sich zu dichten Trauben zusammen, denen John wegen seines schmerzenden Beins lieber auswich. Zu viele andere Menschen auf einem Haufen ertrug er kaum noch, er fühlte sich eingeengt und beobachtet. Kurz bevor die Türen sich schlossen, macht John einen großen Schritt in die überfüllte U-Bahn und hielt sich an einer Metallstange fest. Sein Bein brannte, schlimmer als es jemals zuvor gebrannt hatte, aber es würde keine Abhilfe schaffen, sich hinzusetzen, es würde nur helfen sich abzulenken. Momentan ein Ding der Unmöglichkeit. Die Bahn setzte sich in Bewegung und schaukelte durch die langen dunklen Tunnel, ab und zu fiel das Licht im Wagon aus oder die Bahn blieb stehen… alles Nebensächlichkeiten. Alles alte Paar Schuhe. Die Menschen um ihn herum waren viel interessanter. Zwar verstand er sich lange nicht wie Sherlock Holmes darauf, in und aus den Menschen zu lesen, doch er hatte gelernt, worauf er zu achten hatte. Neben ihm stand ein Student, der die Nacht nicht zu Hause verbracht hatte, neben diesem stand eine nahe Verwandte, die die Nacht ebenfalls nicht zu Hause gewesen war. Auf dem Sitzplatz vor ihm hinter der Plexiglasscheibe saß eine alte Frau mit schlohweißem Haar, die eigentlich ein Kerl war… aber mehr vermochte er nicht zu deduzieren. Sherlock hätte die Lebensgeschichte eines jeden aufzählen können, John genügten die Oberflächlichkeiten schon, um sich noch einsamer zu fühlen. Mit der einen Hand in der Schlaufe, um sich festzuhalten und der anderen auf dem Stock, um sein Bein zu entlasten, musste er ein schreckliches Bild abgeben. Selbst die alte Dame, die offensichtlich selbst kaum laufen geschweige denn stehen konnte, sah ihn von ihrem Sitzplatz aus bemitleidend an. Bot er denn tatsächlich ein so trauriges Schauspiel? Ihm selbst fiel da schon nicht mehr auf, sein näheres Umfeld sagte nichts mehr dazu, aber wahrscheinlich sah er im Halbdunkeln der U-Bahn tatsächlich nicht wirklich gesund aus. John tippte auf Augenringe, Bartstoppeln und wirre Haare. Wie man als Arzt nach einer achtzehn-Stunden-Schicht üblicherweise aussah. Die eingefallenen Wangen, der unruhige Blick, die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, die sich im letzten Jahr eingegraben hatte – das alles waren Aspekte, die ihm nicht auffielen, wenn er in den Spiegel blickte, sondern welche, an die er sich gewöhnt hatte ohne es mitzubekommen. Immer wieder hielt die Bahn, immer wieder stiegen Menschen zu oder aus, doch es wurde zusehends leerer. Dann war auch John an seinem Ziel angekommen. Er ließ die Schlaufe los und tat erneut einen großen Schritt auf den Bahnsteig der wenig besuchten und benutzten Station. Zwar wohnte er relativ zentral, die Anbindungen mit dem Bus waren einfacher und billiger und man musste nicht so lange durch die Nacht laufen, doch gerade darauf legte er es an. Laufen. Zwar schmerzte sein Bein dabei immer fürchterlich, aber diese Schmerzen hinderten ihn daran, viel nachzudenken und die kalte Abendluft, die ihn umfing als er die letzten Stufen hoch zur Straße, die verlassen lag, erklomm, klärte seine dennoch wirren Gedanken. Erfreut stellte er fest, dass nur eine nicht zu identifizierende Finsternis in seinem Kopf herrschte, die ihm auf die Sinne drückten und angenehm schläfrig machten. Normalerweise fühlte er sich selten müde und erschöpft, doch diese Nacht war eine der wenigen Nächte, in denen er sich sicher war, etwas Schlaf zu bekommen. Mrs. Hudson erwartete ihn bereits mit einer dünnen Strickjacke um die Schultern gewickelt vor der Tür und schaute ihn leicht verwirrt an. „Haben Sie Besuch für heute Abend erwartet, John?“, fragte sie besorgt und deutet zu den oberen Fenstern, hinter denen Licht brannte. In John keimte ein winziges Pflänzchen namens Hoffnung auf, aber das war unmöglich. Völlig konsterniert starrte er die alte Vermieterin an. Diese bemerkte anscheinend, was mit ihm los war und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Oberarm. „Es ist nicht er, John. Es ist eine junge Dame.“ Das Pflänzchen in seiner Brust verkümmerte sofort, bis nichts mehr übrig blieb als ein Häufchen grauer Asche. Er hatte sich keine Hoffnung machen wollen, aber unwillkürlich war es natürlich dennoch passiert. Fast schon wie ein Reflex, gegen den er einfach nichts unternehmen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ein brennendes Licht im ersten Stock die Anwesenheit eines Gastes Hoffnung ihn ihm schürte, aber allmählich gewöhnte er sich an die Enttäuschung. Die ersten Male war es wirklich schrecklich für ihn gewesen, die Enttäuschung und die Einsamkeit übergroß, denn er konnte und wollte den Tod seines besten Freundes nicht akzeptieren, aber anscheinend war immer noch nicht genug Zeit vergangen, damit Sherlock sich ihm wieder zeigte oder – und John wollte den Gedanken gar nicht zulassen – sein bester Freund war tatsächlich tot. Einfach und unwiederbringlich. Ein Gedanke, der ihn straucheln ließ, psychisch, als auch physisch, als er die kleine Stufe zur Haustür hochstolperte und auf seinen Stock stützte. Die Erschöpfung der langen Schicht, der ständige Stress und seine Depressionen setzten ihm zu, aber an Urlaub oder Erholung war nicht zu denken, das würde alles nur noch schlimmer machen. Mrs. Hudson trat zur Seite, als John an ihr vorbei hinkte und schloss die Tür hinter ihm. Er sah ihr an, dass sie ihm tröstende Worte sagen wollte, doch sie blieb stumm und tat damit John einen großen Gefallen. „Hat sie gesagt, wer sie ist? Warum sie hier ist?“, fragte er und setzte sein schmerzendes Bein auf die unterste Stufe auf. Seine freie Hand umklammerte das Geländer, haltsuchend lehnte er sich an die Wand hinter sich. Die Müdigkeit forderte ihren Tribut, am liebsten hätte er sich in sein Bett gelegt und geschlafen. „Sie hat sich nicht vorgestellt, sondern nur nach Ihnen gefragt und dann sofort nach oben gestürmt. Seit zwei Stunden habe ich nichts mehr gehört…“ Seine Vermieterin war empört und besorgt, außerdem neugierig, dass erkannte John sofort. Es war ihr nicht zu verübeln. Aber wer war seine geheimnisvolle Besucherin, was wollte sie von ihm, ausgerechnet von ihm? Besuch von Fremden hatte er seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gehabt. „Vielen Dank Mrs. Hudson. Am besten Sie gehen bald schlafen, es ist schon halb zwei.“, verriet ihm ein schneller Blick auf sein Handy und ihre Augenringe. „Machen Sie sich keine Sorgen“, er versuchte ein aufmunterndes Lächeln zu Stande zu bringen, doch er ahnte, dass es ihm absolut nicht gelungen war. Unruhig nickte die alte Dame, löschte das Licht im Hausflur und schloss ihre Wohnungstür. John blickte die Treppe hinauf. Eine unbekannte Besucherin also, die um halb zwölf nachts in der Bakerstreet aufschlug, sich nicht vorstellte und seit zwei Stunden keinen Mucks von sich gegeben hatte? Der Stock blieb einsam an der Treppe zurück, während John Watson die Stufen erklomm und die Tür zu seiner Wohnung öffnete. Seine Gehhilfe hatte er schlicht vergessen. Diese unbekannte, geheimnisvolle Besucherin war nicht zu übersehen. Sie hatte es sich auf dem Ledersofa bequem gemacht – wohlgemerkt in liegender Position – und starrte an die Decke. Etwas verwundert betrat John seine Wohnung, zog seine Jacke aus und warf sie achtlos über einen Stuhl in der Nähe. Die Frau rührte sich nicht. Mit offenen Augen lag sie nur dort, ihr Atem ging so ruhig und gleichmäßig, als würde sie schlafen. John runzelte die Stirn. Er verstand den größeren Sinn dahinter nicht und bezweifelte sowieso, dass es so etwas wie einen größeren Sinn gab, doch irgendetwas, eine Eingebung aus der letzten Ecke seines Bewusstseins flüsterte ihm zu, auf der Hut zu sein. Ganz offensichtlich war sein Besuch nicht besonders gesprächig, so ließ er sie liegen, ging in die Küche und setzte Wasser für einen späten Tee auf. Sein Griff ging schon in Richtung Tasse, da entschied er sich um und nahm eine kleine Teekanne aus dem Regal neben dem Fenster. Diese Kanne hatte er das letzte Mal vor einem Jahr benutzt und Staub hatte sich auf dem weißen Porzellan gesammelt. Mit einem Trockentuch wurde die graue Schicht entfernt und Tee mit heißem Wasser eingefüllt. Zucker stellte er auf ein kleines Tablett, ebenso zwei Tassen, ein Kännchen Milch und als der Tee gezogen und die Teebeutel aus der Kanne gefischt waren, auch diese. Als John mit dem Tablett das Wohnzimmer betrat und es auf den niedrigen Wohnzimmertisch stellte, zeigte die junge Frau das erste Mal eine Regung. „Sie sollten sich eine Katze kaufen, Dr. Watson. Sonst frisst Sie die Einsamkeit noch auf…“ Ruckartig hatte sie sich aufgesetzt und starrte ihm direkt in die Augen. Vor Überraschung wich er zurück und landete in seinem Lieblingssessel. „Eine Katze?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Ich hatte mal eine Bulldogge, aber … aber was interessiert Sie, ob ich einsam bin oder nicht?!“ Die Frau schmunzelte nur, schloss die Augen und lehnte sich auf der Couch zurück. Dann fiel John noch eine ganz andere Sache auf. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Sie stellen die richtigen Fragen, Dr. Watson. Aber Sie übersehen die offensichtlichen Dinge, immerhin haben Sie ein Namensschild unten an der Klingel.“ John rutschte auf seinem Sitzkissen hin und her. Irgendwie kamen ihm diese Fragen bekannt vor. „Wer hat Sie geschickt?“, er war übermüdet, gereizt und ungeduldig. Außerdem behagte ihm die Situation überhaupt nicht. „Niemand hat mich geschickt. Ich suche jemanden.“ Durchdringend fixierte sie ihn mit graugrünen Augen, die dadurch ungewöhnlich fesselnd wirkte, dass die Iris nicht dunkel umrandet war. John wurde ganz anders. Nicht, weil er sich angezogen fühlte, das fühlte er sich schon lange nicht mehr von irgendjemandem, sondern weil er sich denken konnte, wen diese Frau suchte. „Sie waren länger nicht in London, beziehungsweise in England, oder?“, fragte er gegen und nippte an der Tasse Tee. Kurze Verwunderung zuckte über ihr Gesicht, sie hatte sich allerdings sofort wieder gefangen. „Nein, ich habe sechs Jahre in Los Angeles gelebt…“, sie fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenmähne und nahm sich dann ebenfalls Tee zur Hand. „Wieso fragen sie das?“ John schluckte schwer. Er wollte nicht darüber reden, wollte am liebsten diese Frau aus seiner Wohnung schmeißen und einfach nur schlafen gehen, aber irgendetwas war da, was das verhinderte. „Wie heißen Sie?“, er rutschte auf seinem Sessel nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. Sie zierte sich. „Sie scheinen mehr über mich zu wissen, als mir lieb ist, da können Sie mir wenigstens Ihren Namen verraten, oder?“, klang er schnippisch? Wahrscheinlich, denn sie zog eine Augenbraue hoch. „Wenn Sie erst schlafen wollen, Dr. Watson, dann kann ich das verstehen. Das Sofa ist sehr bequem… ich kann hier einige Stunden sitzen und warten.“ „Denken Sie wirklich, ich könnte jetzt schlafen? Mit Ihnen im Hinterkopf? Es sitzt eine mir wildfremde Frau in meiner Wohnung, die jemanden sucht – und ja, natürlich kann ich mir denken, wen Sie suchen – und ich soll schlafen gehen? Ich kann Ihnen auch direkt sagen, dass es ziemlich schwierig wird, ihn zu finden!“ Etwas zu heftig stellte er die Tasse zurück auf das Tablett, der Inhalt entleerte sich teilweise, schwappte über, wurde jedoch von der Serviette aufgesaugt. „Dieses Thema scheint Sie sehr aufzuwühlen, Dr. Watson“, stellte die Besucherin fest. Für einen kurzen Moment verlor John vollkommen die Fassung. „Natürlich wühlt mich dieses Thema auf und… amüsieren Sie sich über mich?“, ohne es zu wollen war er laut geworden, hatte sich verkrampft und wurde sofort eines Besseren belehrt, denn der altbekannte Schmerz fuhr ihm vom Becken abseits durch sein rechtes Bein. Gezwungenermaßen und auch eher unfreiwillig fiel er zurück in die Kissen, die unter der plötzlichen Belastung laut ächzten. Die junge Frau nahm sein Verhalten stumm hin und das machte ihn nur noch wütender. Wieso erdreistete sie sich, das zu tun? Dort ruhig zu sitzen, ihren Tee zu schlürfen und ab und zu amüsiert zu lächeln. Mitleid hätte er verstanden, aber nicht so ein Grinsen. „Ich sehe, Sie haben sehr an ihm gehangen, Dr. Watson. Mehr als gut war vielleicht? Er hat sich nie etwas aus Freunden gemacht müssen Sie wissen…“ Schweigend blieb der ehemalige Soldat sitzen und starrte auf den verschütteten Tee vor sich. Es war klar, worum es in diesem wirren Gespräch ging. Es ging um Sherlock Holmes, seinen letztes Jahr verstorbenen Mitbewohner und besten Freund. Offensichtlich war, dass sie ihn gekannt haben musste, sonst hätte sie nicht nach ihm gesucht und wäre nicht auf dieser Couch gelandet. Offensichtlich war auch, dass sie Sherlock schon länger gekannt hatte als er und dass sie seine Karriere und sein Privatleben verfolgt hatte. Nur anscheinend in den letzten sechs Jahren nicht mehr oder zumindest seit mehr als einem Jahr nicht mehr, sonst hätte sie erst gar nicht an die Tür von Dr. John Watson geklingelt. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sie sehr wohl wusste, dass Sherlock Holmes tot war. Und genau das machte ihn derart wütend. Wollte sie sich nur einen Spaß erlauben und ihn aufziehen? Ergötzte sie sich an seinem Leid? John atmete tief durch und entspannte sich wieder. Sich nun aufzuregen würde ihn nur unnötige Kraft kosten und ihn nicht weiterbringen. „Sie haben mir immer noch nicht Ihren Namen genannt.“ Die junge Frau schmunzelte. „Namen sind so bedeutungslos, Dr. Watson. Ich kann ihnen meinen Namen nennen, aber Sie werden nichts damit anfangen können. Sie könnten nicht einmal sicher sein, dass es wirklich mein Name ist und ich Sie stattdessen nur an der Nase herumführe…“ Er runzelte die Stirn. „Nun, ich habe den Eindruck, dass Sie schon dabei sind, mich an der Nase herumzuführen. Wieso das Kunststück nicht vollenden und mir irgendeinen Namen nennen?“ „Oh, Sie sind gut.“, flüsterte sie anerkennend. „Wenn Sie mir sagen, weshalb ich versuche, Sie an der Nase herumzuführen, nenne ich Ihnen meinen Namen. Meinen momentanen Namen.“ Darüber musste John nicht lange nachdenken. Allein seine noch immer brodelnde Wut half ihm, die Gründe klar zu formulieren. „Sie kennen Sherlock Holmes länger, als ich ihn gekannt habe und laut Ihrer Äußerung auch besser, doch haben Sie sich wahrscheinlich von ihm abgewandt… ich tippe auf Überforderung oder weil er Sie zutiefst verletzt hat.“, dafür hatte er keine Anhaltspunkte, aber er wusste, wie Sherlock mit anderen Menschen umgegangen war – besonders mit Frauen. „Außerdem sagen mir zwar Ihre Haare, Ihre Kleidung und Ihr Verhalten, dass Sie eine längere Reise hinter sich haben sollten, doch da Sie, wie Sie selbst sagen, aus Los Angeles angereist sind, muss das länger her sein, als Sie mich glauben lassen wollen. Sie haben noch eine leichte Bräune, doch keine scharfen Kanten mehr dabei, die Bräune ist also bereits fast vergangen. Da wir Februar haben, sind Sie mindestens seit Silvester wieder in England. Er vor kurzem ging außerdem Sherlock Holmes‘ Geschichte aus dem letzten Jahr erneut durch die Zeitungen, Sie müssen als wissen, dass er seit einem Jahr tot ist, können in also nicht hier suchen, sondern haben sich das nur aus Vorwand genommen, um entweder in die Wohnung zu kommen oder mit mir zu reden, doch ich gebe zu, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was genau Sie dazu geleitet hat, heute hierherzukommen und mich meines Schlafes zu berauben. Allerdings weiß ich, dass Sie nicht so unwissend sind, wie Sie vorgeben zu sein.“ „Catherine Northawk“, erwiderte sie, ohne auch nur zu blinzeln. „Ich bin beeindruckt, Dr. Watson. Sie scheinen tatsächlich von ihm gelernt zu haben.“ Zufrieden lehnte sie sich zurück und musterte ihn interessiert. Nun wusste er zwar ihren Namen, aber das half ihm aktuell nicht weiter, doch sie fuhr fort. „Ich weiß tatsächlich, dass Sherlock Holmes vor mehr als einem Jahr gestorben ist und genau deshalb bin ich hier. Ich bin relativ gut über die Umstände seines Todes informiert und außerdem nicht der Meinung, dass er tot ist.“ John hatte jetzt einiges erwartet, aber nicht so eine Äußerung. „Sie kommen also her, um halb zwölf nachts, warten dann sogar noch zwei Stunden, um mir das mitzuteilen? Und was denken Sie, soll ich dagegen machen? Ich habe ihn fallen sehen, ich habe seinen blutüberströmten, leblosen Körper am Boden liegen sehen, ich habe sogar seinen Puls genommen. Und ja, natürlich kann ich mir nicht vorstellen, dass es so einfach sein soll, Sherlock Holmes zu töten, ich habe aber auch keine Anhaltspunkte für das Gegenteil.“ Erneut regte sich etwas in Johns Brust. War das Pflänzchen namens Hoffnung doch noch nicht ganz verdorrt? Anscheinend nicht. „Und weshalb genau sind Sie jetzt hier? Ich kann ihnen sicherlich nicht helfen, Sherlock wiederzufinden. Wenn er nicht gefunden werden will, will er nicht gefunden werden.“ Sein normalerweise schmerzendes Bein fühlte sich im Augenblick vollkommen normal und vor allem schmerzfrei an. Die Erlösung war ihm deutlich anzusehen und wieder war er erstaunt darüber, wie sehr der Kopf den Körper regierte. „Oh, ich verfolge Sherlock Holmes nun schon seit meiner Rückkehr nach England, die übrigens kurz vor Weihnachten war, an diesem Punkte hatten Sie erstaunlicherweise Recht, Dr. Watson.“ Catherine Northawk lächelte schlicht und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Zwei Monate haben ausgereicht um herauszufinden, dass er sehr wohl noch lebt und ich habe inzwischen sogar Beweise dafür sammeln können…“ „Sie haben WAS bitte?“, entfuhr es John, der nicht mehr an sich halten konnte, „das sagen Sie mir erst jetzt? Erst JETZT?!“ Ebenso perplex starrte die Frau ihn an. „Natürlich. Ich musste mich doch erst davon überzeugen, dass Sie ihn auch noch immer finden wollen und auch noch immer an ihn glauben!“ „Was für Beweise?!“, warf John wieder ein, der sich vollkommen über den Tisch gezogen fühlte. Um nun schon zwei Uhr nachts saß irgendeine Frau vor ihm auf der Couch, schlürfte genüsslich ihre Tasse Tee leer und behauptete, Sherlock würde noch leben und es gäbe sogar Beweise dafür. Irgendetwas sagte John, dass das einfach nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. „Diese Beweise kann ich Ihnen noch nicht geben und außerdem muss das ganze unter höchster Geheimhaltung vor sich gehen. Wenn die Öffentlichkeit zu früh davon erfährt, gibt es noch mehr Probleme als ohnehin schon.“ „Und wofür brauchen Sie meine Hilfe, Miss Northawk?“, es war eine winzige Hoffnung und John hatte sich spontan entschieden diesem Fünkchen Hoffnung eine Chance zu geben. Lieber wurde er noch einmal mehr enttäuscht, als es nicht versucht zu haben. Das würde aber der letzte Versuch sein, schwor er feierlich bei sich selbst. „Ich brauche Sie für Sherlock Holmes. Sie sind der Mensch dem er auf dieser Welt am meisten vertraut und auch zutraut.“ „Und woher meinen Sie, das zu wissen? Was gibt Ihnen die Sicherheit, das zu sagen? Zu behaupten?“ Sie seufzte leise. „Ich wiederhole mich nur äußerst ungern, aber ich kenne Sherlock Holmes schon sehr viel länger, als Sie es tun und ich kann mit Gewissheit behaupten, dass es sich so verhält. Er hat niemals mit jemandem ZUSAMMEN gearbeitet. Er hat immer nur arbeiten lassen, sich am liebsten aber auf seine eigenen Fähigkeiten berufen. Der Öffentlichkeit konnte ich nun aber sehr wohl entnehmen, dass Sie für ihn zu Tatorten gefahren sind und selbst teilweise zur Aufklärung einiger Fälle beigetragen haben. Das war Faulheit seinerseits – natürlich, das lässt sich nicht bestreiten, aber auch absolutes Vertrauen. Nutzen Sie das und wir werden ihn gemeinsam finden.“ Schweigend nahm John die Worte entgegen. Fest stand, dass seine Besucherin ganz ausgezeichnet um den heißen Brei herumreden konnte. „Ich habe Ihnen zwei konkrete Fragen gestellt. Natürlich bin ich von Ihren Worten angetan, aber eben diese Fragen beantworten Sie nicht. Ich möchte die Beweise sehen, sonst kann ich Ihnen nicht vertrauen. Und ich möchte wissen, welchen Platz ich bei Ihrer Planung einnehmen werde und ich möchte außerdem, dass wir dieses Gespräch erst in ein paar Tagen weiterführen.“ Gezeichnet von der Müdigkeit und Erschöpfung, außerdem von den ganzen neuen Informationen, fühlte er sich beinahe etwas betrunken und auf keinen Fall mehr klar bei Sinnen. „Natürlich. Ich werde Sie in drei Tagen noch einmal aufsuchen und dann lege ich Ihnen Beweise vor und Sie sagen zu oder ab.“ John sah seiner Besucherin deutlich ihre Selbstsicherheit an. Natürlich würde er zusagen, aber so einfach war er nicht zu bekommen. Außerdem, was wenn das alles nur ein Trick war, den Moriarty ihn noch aus seinem Grab geschickt hatte? Was war, wenn er wieder blind in eine Falle tappte? Nein! Das würde auf keinen Fall noch einmal passieren. Einmal in einer Semtex-Weste gesteckt zu haben, reichte für ein ganzes Leben und weit mehr als das. Nach Adrenalin sehnte er sich, aber an seinem Leben hing er auch. „Dann gönne ich Ihnen jetzt etwas ihres wohlverdienten Schlafes und lasse Sie in Ruhe. Soweit ich informiert bin, haben Sie morgen auch wieder Spätschicht, Sie werden also mit Sicherheit acht bis zehn Stunden Schlaf finden.“ Vollkommen perplex öffnete John seinen Mund schon zu einem „Woher…?“, doch er schluckte es im letzten Moment wieder herunter. Er wunderte sich nicht mehr über Leute, die mit Sherlock zu tun haben. Das hatte er sich abgewöhnt. „Schön, dass Sie meinen Dienstplan im Kopf haben. Und falls Sie auch noch Einfluss darauf haben sollten, ich hätte lieber die Frühschichten.“, scherzte er mit sehr viel Sarkasmus in der Stimme und stand auf. Sein Bein schmerzte nicht. Auch seine Besucherin erhob sich, ging zur Tür und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. „Frühschichten? Soso…“ Mehr kam nicht mehr. Sie eilte ins dunkle Treppenhaus und war verschwunden. Als John ans Fenster hastete, sah er nur noch, wie ein Taxi wegfuhr, in dem Catherine Northawk hoffentlich saß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)