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Alles nochmal?

von

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Prolog

AN: Die Geschichte beginnt nach dem Ende von Death Note und enthält somit womöglich Spoiler für den gesamten Manga/Anime.
 


 

Als Light auf den Treppenstufen lag und den stechenden Schmerz in seiner Brust spürte, wusste er, dass es endgültig vorbei war.

Jetzt war alles vorüber, und das, was ihn nun noch erwartete, war MU, das Nichts.
 

Er hatte Angst vor dem Tod und davor, dass nun sein Leben zu Ende gehen würde.

Er, der Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen, umgebracht oder ihren Tod angeordnet hatte, war selber nicht bereit zu sterben.

Und doch hatte er keine Wahl.

Light wusste, dass er eigentlich froh sein konnte, dass er nur ins Nichts gehen würde, und nicht in die Hölle, wo jemand, der so viele getötet hatte wie er, eigentlich hingehörte.

Wäre er ein Gott gewesen, dann wäre er nirgendwo hingegangen und nichts hätte ihn besiegen können.

Nein, er war kein Gott, dies machte ihm der unbeschreibliche Schmerz in der Brust unerbittlich klar.

Er war nur ein Mensch gewesen, ein Mensch, der nun sterben würde.
 

In seinem letzten Atemzug erblickte er plötzlich etwas.
 

Etwas, das er lange – viele Jahre – nicht gesehen hatte, und was ihm aber dennoch seltsam vertraut war.
 

Vor ihm auf der Treppe, die Hände in den Taschen, stand L.

L war das Letzte, was er in seinem Leben sehen sollte.
 

In dem Moment, als sein Blick auf den toten Detektiv fiel, tobten die verschiedensten Gedanken und Gefühle in dem sterbenden Massenmörder.
 

Als erstes traf ihn Unverständnis, warum sein Unterbewusstsein ihm in den letzten Augenblicken seines Lebens ausgerechnet seinen ehemaligen Erzfeind vor Augen führte.

Warum um alles in der Welt und von allen Menschen, die ihm jemals begegnet waren, sah er im Moment seines Todes ausgerechnet den Süßigkeiten-süchtigen Detektiv?

Gut, er hatte nicht erwartet, dass er in seinen letzten Sekunden an Misa oder gar Takada denken würde, da keine der beiden ihm je etwas bedeutet hatte und sie nur leicht manipulierbare Figuren in seinem Schachspiel gewesen waren - in seinem Schachspiel mit L und Ls Nachfolgern.
 

Gut, vermutlich machte es vielleicht doch Sinn, dass er in seinem letzten Atemzug Ryuzaki sah, schließlich gab es womöglich keine Person, an die Light so oft gedacht hatte wie ihn.

Es waren zwar nie positive Gedanken gewesen – er hatte schließlich immer nur daran gedacht, wie er ihn (und später dann seine Nachfolger) aus dem Weg räumen konnte – aber dennoch hatte die Intensivität seiner Gedanken, die er an den schlaflosen Widersacher gelenkt hatte, schon leicht an Besessenheit erinnert.
 

Auch kam Light die Ironie in den Sinn, die diese Szene hatte.

Light war das Letzte gewesen, was L gesehen hatte, bevor er für immer die Augen verschlossen hatte, jetzt war es L, der das Letzte war, was Light sehen sollte.
 

Das nannte man wohl ausgleichende Gerechtigkeit.
 

Der Anblick seines einstigen Feindes schoss mit der letzten Kraft, die sein Körper noch übrig hatte, eine Woge von Wut in ihm hoch.

Es spielte keine Rolle, dass diese Imagination nur ein Produkt seines eigenen Gehirns war, so wie L vor ihm - und vor allem über ihm – stand, hatte die Szene etwas Erniedrigendes für Light.

Es war, als würde Ryuzaki ihn verhöhnen, als wolle er es ihm heimzahlen, indem er ihm zeigte, dass er zwar von Light getötet worden war, aber er am Ende dennoch, durch seine Nachfolger, über ihn triumphierte.

Damals hatte Light mit seinem weiten Grinsen L gezeigt, dass er über ihn gesiegt hatte, jetzt konnte L sich rächen und seinen eigenen Sieg feiern.
 

Allerdings machte es ihn stutzig, dass auf Ls Gesicht weder Triumph noch Überlegenheit geschrieben standen.

Genaugenommen konnte man keinerlei Gefühlsregung in dem Gesicht des Toten erkennen, was daran lag, dass die Augen von seinen dichten, schwarzen Haaren verdeckt wurden und der Großteil seines Gesichts im Schatten lag.

Aus seinen Erinnerungen heraus, wusste Light, dass L sein Gesicht immer so versteckt hatte, wenn ihm etwas Ernsthaftes oder Bedrückendes durch den Kopf ging.

Welchen Grund hatte es, dass L im Angesicht seines Sieges gerade diese Gefühle empfinden sollte, anstelle von Überlegenheit und Rache?
 

Vermutlich lag es am Herzversagen und dem damit zusammenhängenden Sauerstoffmangel, dass sein Gehirn so ein unlogisches Vorstellungsbild produzierte.
 

Aber egal woran es lag, Ls fast schon traurige Erscheinung löste, ganz tief versteckt in seinem Innern und daher nur langsam durch die anderen Emotionen zum Vorschein kommend, ein weiteres Gefühl in ihm aus:
 

Ruhe.

Ls Anwesenheit (sei es auch nur in seinem Kopf) spendete ihm Trost und gab ihm eine friedliche Ruhe, die ihm unerklärlicherweise die Angst vor dem Tod ein wenig nahm.

Mit L fühlte er sich weniger allein.
 

Genaugenommen war Light immer allein gewesen, auch wenn er von Menschen, die ihn liebten, umgeben gewesen war.

Er war immer isoliert von ihnen gewesen, weil sie ihn nicht verstanden und er ihnen weit überlegen war.

Niemand war ihm ebenbürtig gewesen, niemand außer L.

Nur L war in der Lage gewesen, ihn direkt zu durchschauen und sein wahres Gesicht zu sehen.

Nur L war wirkliche „Gesellschaft“ gewesen.

Und somit war er, zum ersten Mal nach so vielen Jahren, endlich nicht mehr allein.
 

Im Moment seines Todes war er nicht einsam, denn L war ja da.

L, der bereits gestorben war, half ihm, die Angst vor dem eigenen Tod zu nehmen.
 

Und mit einer Ruhe, die er vermutlich vorher nie gehabt hatte, schloss er für immer die Augen und sein Bewusstsein verblasste im Nebel.
 

AN: Ich habe die Geschichte ursprünglich nur auf fanfiction.de veröffentlicht, wo ich mittlerweile 6 Kapitel habe. Auf Drängen einer Freundin habe ich dann aber doch beschlossen, es auch hier upzuloaden. Die restlichen 5 Kapitel (die alle etwas länger sind, als dieses hier) werde ich nacheinander alle paar Tage hier hochladen. Neue Updates werde ich dann demnächst immer auf beiden Seiten gleichzeitig machen.

Danke fürs Lesen!

MU

Es gab nichts mehr, das er wahrnahm, außer dem dicken, weißen Nebel, der ihn umgab und nichts anderes um ihn herum preisgab.
 

Light stand langsam auf und blickte sich um. Es war nichts zu sehen.
 

Er sah an sich hinunter.

Er hatte noch seinen Körper und er trug noch immer die selbe blutverschmierte Kleidung, in der er gestorben war.

Vorsichtig tastete er seinen Körper ab.

Die Schusswunden waren allesamt verschwunden und er verspürte auch keine Schmerzen mehr, weder von den Schüssen in seinem Oberkörper oder seiner Hand, noch in seiner Brust von dem Herzstillstand.
 

Wo war er hier? War es das MU?
 

„Ja, du hast recht, Light.“, hörte er plötzlich eine sehr bekannte Stimme hinter sich.

Geschockt drehte er sich um und wünschte sich, sich den Klang bloß eingebildet zu haben.

Tatsächlich sah er eine Gestalt durch den Nebel auf ihn zukommen, die, je näher sie kam und weniger Nebelschwaden sie verdeckten, langsam zu erkennen wurde.

Light seufzte schwer und schloss für einen Moment die Augen.

Er hatte gedacht, dass MU das Nichts wäre und dass es nichts geben würde.

Die Tatsache, dass Misa hier war, bedeutete dann wohl, dass er in der Hölle sein musste.
 

„Dies ist tatsächlich MU.“, sagte die Gothic-Lolita, als sie vor ihm stand. „Allerdings bist du noch nicht wirklich ins MU eingegangen, da du noch deinen Körper hast. Im MU wird jeder zu Nichts und verliert seinen Körper, sowie sein Bewusstsein.“

Entgeistert starrte Light seine ehemalige Verlobte an.

Was machte sie hier und warum wusste sie so viel über diesen Ort?

Sie wusste doch sonst auch nichts. Es machte einfach keinen Sinn.
 

„Warum bist du hier, Misa?“, fragte Light deshalb. „Wann bist du gestorben? Ich dachte, du bist in dem Hotelzimmer.“

„Oh, ich bin nicht Misa.“, antwortete Misa – oder vielmehr die Gestalt, die so aussah wie sie – und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Wer bist du dann?“, fragte Light ungeduldig, konnte aber nicht umhin erleichtert zu sein.

Wenn dieses Wesen nur Misas Aussehen, aber nicht ihr Wesen übernommen haben sollte, dann bestand die Chance, dass es um einiges intelligenter und sehr viel weniger nerv tötend war.

„Ich bin nur ein Botschafter.“, sagte die Misa-Gestalt und begann mit der linken Hand mit ihren Zöpfen zu spielen. „Naja, ich dachte, dass dieses Gespräch für dich vielleicht am angenehmsten ist, wenn du dabei mit deiner großen Liebe reden kannst.“

Der spöttische Tonfall, der die zweite Hälfte des Satzes durch triefte, verriet Light, dass dieser Botschafter sehr wohl über die Gefühle seines Gesprächspartners Bescheid wusste.
 

„Oder liegt dir vielleicht mehr an deiner anderen Freundin?“, fragte die Gestalt verschmitzt und plötzlich stand Takada vor ihm. Sie trug nichts, bis auf eine lange, weiße Decke, in der sie eingewickelt war.

„Ach nein, die hast du ja getötet.“, zischte Kiyomi und sah ihn für einen Moment mit feindselig blitzenden Augen an. „Ich kann mich auch in all die ganzen Menschen verwandeln, die du getötet hast, wenn du es sehen möchtest. Allerdings dürfte das wohl etwas zeitaufwändig werden, wenn du verstehst, was ich meine.“
 

Light schnaubte verächtlich.

Ach, von daher wehte also der Wind.

Das sollte nun wohl so eine „Du-hast-so-viel-Böses-getan-und-so-viele-Menschen-getötet,-deshalb-ist-MU-eigentlich-viel-zu-gut-für-dich“-Geschichte werden.
 

„Warum zeigst du mir nicht einfach deine wahre Gestalt, anstelle dich hinter anderen zu verstecken?“, fragte er deshalb nur, ohne auf ihre bissige Bemerkung einzugehen.

„Hm, meine wahre Gestalt wirst du niemals sehen und sie spielt auch keine Rolle.“, sagte die Takada-Doppelgängerin und warf ihm ein falsches Lächeln zu. „Abgesehen davon, ist es doch ziemlich ironisch, dass du jemanden beschuldigst, sich hinter irgendwas zu verstecken, Light Yagami. Du, der sich hinter allem versteckt hat, was ihm gerade in den Weg gekommen ist. Sei es nun ein Notizbuch, mit dem du Menschen töten kannst, ohne dir die Hände schmutzig zu machen; ein Shinigami, der aufgrund deiner Machenschaften dazu gezwungen ist, deinen Willen auszuführen und sich selbst dabei zu opfern; oder andere, vorher unschuldige Menschen, die du als Helfer oder ‚Ersatz-Kiras‘ einsetzen konntest.“

„Und du willst jetzt, dass ich dafür Rechenschaft ablege, habe ich recht?“, fragte Light mit betont langweiligem Unterklang in der Stimme.

Das Wesen lachte kurz freudlos auf.

„Oh nein, Light Yagami, mir ist es völlig egal, was du in deinen Lebzeiten getrieben hast.“, antwortete die Gestalt und lächelte nun auf eine Art und Weise, die wohl höflich wirken sollte, aber eher einen leicht belustigten Zug hatte. „Und ich bin auch nicht hier um dich zu bestrafen. Dies ist schließlich nicht die Hölle. Ich wollte eben lediglich die Tatsachen aufzählen.“
 

„Warum bist du dann hier?“, verlangte Light ungeduldig zu wissen.

Normalerweise, wäre er noch am Leben, hätte er seine Ungeduld versteckt und stattdessen seinen Charme offen spielen lassen, doch hier schien dies egal zu sein, er war tot und das Wesen würde sich höchstwahrscheinlich sowieso nicht von seinem Charme einwickeln lassen.

„Ich bin hier, weil ich dir ein Angebot unterbreiten soll.“, begann Takada. „Du hast die Wahl, ob du endgültig ins MU eingehen und zum Nichts werden willst, oder ob du eine zweite Lebenschance bekommst.“

„Wie großzügig.“, meinte Light abfällig. „Und, was verdanke ich diese große Ehre? Ich denke nicht, dass jeder Death Note Nutzer nochmals leben darf. Ist es, weil ich mehr Menschen umgebracht habe, als jeder andere vor mir?“

Die letzte Frage war von Spott und Ironie durchzogen.
 

„Ganz genau, Light Yagami. Genau deshalb.“, sagte das Wesen mit vollkommener Ernsthaftigkeit.

Light hob nur ungläubig eine Augenbraue.

Das musste ein Witz sein.

Es sei denn natürlich, er hatte die ganze Zeit über Recht gehabt und es war richtig gewesen, all diese Verbrecher zu töten.

Somit war es wohl klar, er sollte in die Welt nochmal zurückkehren und seine neue Welt endgültig verwirklichen.

Ein finsteres Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Er war also doch dazu bestimmt gewesen, zum Gott der neuen Welt zu werden.
 

Das Wesen jedoch rollte nur gelangweilt die Augen.
 

„Nein, es ist nicht so wie du denkst.“, sagte es und es schien fast, als würde es ein Gähnen unterdrücken. „Es liegt nicht daran, dass du deinen Plan weiterführen sollst.“
 

Light trat einen Schritt zurück und runzelte die Stirn.

„Kannst du meine Gedanken lesen?“, fragte er misstrauisch.

„Vielleicht. Vielleicht war aber der Blick in deinen Augen einfach zu eindeutig.“, sagte die Gestalt und machte eine lässige Handbewegung.
 

Und plötzlich hatte sich Takada in seinen Vater verwandelt.
 

Light starrte ihn nur mit aufgerissenen Augen ungläubig an.

Er sah noch genauso aus, wie an dem Tag als er gestorben war.
 

„Das ist…“, begann Light, als ihm wieder alles was sich damals abgespielt hatte in den Kopf kam.

Wie er ihn belogen hatte, wie er ihn ausgenutzt hatte, wie er selbst im Moment seines Todes versucht hat, ihn dazu zu bringen Mellos Namen noch in das Buch zu schreiben…
 

„Ja, das ist dein Vater.“, sagte die Gestalt mit der warmen Stimme von Soichiro Yagami. „Ihn hast du auch umgebracht… Naja, zumindest indirekt. Weißt du, was ich mich frage Light? Was wäre geschehen, wenn er an diesem Tag nicht erschossen worden wäre und er stattdessen Mellos Namen in das Notizbuch geschrieben hätte? Hätte er später noch lange weiter gelebt, wäre dies der Beweis gewesen, dass die Dreizehntageregel nicht echt gewesen wäre und du hättest Probleme bekommen.“

Sein Vater stoppte kurz und sah ihm dann mit ernster und fast trauriger und enttäuschter Miene in die Augen.

„Sag mir, mein Sohn, hättest du mich dann nach dreizehn Tagen getötet, nur damit keiner einen weiteren Verdacht hätte schöpfen können?“
 

„Hör auf so zu reden.“, knurrte Light mit zusammengebissenen Zähnen. „Du bist nicht er.“

Dann nahm sein Gesicht plötzlich einen entspannteren Ausdruck an und er lächelte kalt.

„Ja, das hätte ich getan.“, sagte er und keine wirkliche Gefühlsregung war in seinen Augen zu erkennen. „Ich hätte seinen Namen nach dreizehn Tagen in mein Death Note geschrieben und somit wäre dies gleichzeitig der Beweis gewesen, dass die Dreizehntageregel echt sein muss.“
 

„Das habe ich mir gedacht.“, meinte die Gestalt nur, zuckte mit den Schultern und schwieg.
 

Light, der noch immer nicht genau wusste, was all das sollte, wurde immer ungeduldiger.

„Hör auf mir dämliche Fragen zu stellen und dich dauernd in Leute zu verwandeln, die ich kenne.“, verlangte er. „Komm endlich zum Punkt und sag mir genau, warum du hier bist.“

„Ich soll aufhören damit?“, fragte das Wesen unschuldig. „Es macht mir aber Spaß.“

Light warf ‚seinem Vater‘ einen finsteren Blick zu.

„Na schön, ist ja schon gut.“, meinte der selbsternannte Botschafter und seufzte.
 

„Also, wie schon gesagt, liegt es tatsächlich genau daran, dass du so unglaublich viele Menschen getötet hast – egal, ob du ihre Namen nun mit der eigenen Hand ins Death Note geschrieben hast, oder ob du jemand anderen damit beauftragt hast – ihr Blut klebt an deinen Händen und wärst du nicht gewesen, wären sie nicht gestorben.“

„Jetzt klingt es plötzlich doch so, als sei es etwas Negatives.“, sagte Light und täuschte ein Gähnen vor.

„Im Prinzip ist es das auch. Indem du das Death Note gefunden, benutzt und versucht hast, die Welt unter deine Herrschaft zu bringen, hast du nicht nur dein eigenes Schicksal komplett geändert, sodass es fast schon ironische Ausmaße angenommen hat, sondern das Schicksal von fast jedem Menschen auf der gesamten Erde und somit auf die geplante Zukunft der Menschheit.“
 

Light lachte kalt und ohne, dass Humor darin lag.

„Mir ist klar, dass ich zu einem Teil die Welt verändert habe, das war schließlich auch mein Plan, aber zu behaupten, dass ich auf das Schicksal eines jeden Menschen Einfluss genommen hätte, ist einfach übertrieben. Das hätte ich gehabt, wenn ich geschafft hätte, meine perfekte Welt durchzusetzen.“, erwiderte Light und schüttelte den Kopf. „Und überhaupt, was heißt hier Schicksal und ‚geplante Zukunft‘? Willst du mir etwa sagen, dass das Schicksal jedes Menschen und der ganzen Welt vorherbestimmt ist?“
 

„Ganz genau.“, sagte Soichiro Yagami bzw. die Gestalt ruhig.
 

Light starrte sie mit großen Augen an.

„Und wer legt die Schicksale fest?“, verlangte er zu wissen.

„Das wirst du nie wirklich erfahren.“, erklärte Lights Vater mit einem verschmitzten Lächeln, das dieser zu Lebzeiten nie benutzt hätte. „Du kannst dir vorstellen, was immer du willst. Eine fremde Macht, Geister, sowas Ähnliches wie Gott, oder warum keine Lebensgötter? – Da du die Existenz von Todesgötter schließlich schon gesehen hast. Aber was auch immer es ist, sagen wir einfach, es sind Mächte, die über die Menschen und ihre Welt wachen und sich um ihre Zukunft kümmern.“
 

„Diese Macht scheint ja nicht besonders groß zu sein, wenn ein einfaches kleines Notizbuch es schafft, das gesamte Schicksal durcheinander zu bringen.“, meinte Light nur abfällig.

„Das Death Note entstammt, wie du sehr wohl weißt, nicht aus der Menschenwelt, sondern ist ein Element aus der Welt der Shinigami.“, erwiderte das Wesen. „Daher können die Mächte nicht darauf Einfluss nehmen und in dem Moment, in dem ein Shinigami oder das Death Note mit der Menschenwelt in Kontakt kommt, wird immer etwas in dem geplanten Lauf verändert.“
 

Das Wesen pausierte kurz, bevor es fortfuhr.

„Wie du sicher weißt, war dein Death Note nicht das erste, das in die Menschenwelt gelangt ist. Jedes Mal ist dabei das Schicksal einiger Menschen verändert worden. Sei es, dass sie früher gestorben sind, als es vorbestimmt war, oder dass diese gestorbenen Menschen eigentlich noch eine besondere, lebensprägende Rolle in ihrem Leben auf andere gespielt hätten. Allerdings beschränkten sich diese Veränderungen immer auf maximal hundert Leute und hatten keinen Effekt auf den Rest der Welt, weshalb es möglich war, diese Episoden zu übersehen und nichts deswegen zu unternehmen.“
 

Jetzt sah ihm die Gestalt genau in die Augen.

Light hatte Schwierigkeiten, ihrem Blick stand zu halten, was sehr selten vor kam.
 

„Du, Light Yagami, warst jedoch der erste, der vorsätzlich geplant hat, mit dem Death Note die Welt zu verändern und dem dies auch geglückt ist – wenn auch vielleicht anders, als du ursprünglich geplant hast. Und daher muss hierbei etwas unternommen werden.“

„Und das wäre?“, fragte Light mit Ungeduld in der Stimme.
 

Die Gestalt veränderte sich erneut.

Jetzt erblickte Light die weiße Figur Nears.

Light ballte die Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen.

„Was hast du denn?“, fragte der junge Albino mit unschuldiger Miene und wickelte eine weiße Haarsträhne um seinen Finger. „Hast du etwa ein Problem damit, die Person vor dir stehen zu sehen, die dich besiegt hat?“
 

Light schwieg.
 

„Oder willst du vielleicht deinen eigentlichen Gegenspieler sehen, gegen den du im Kopf auch nach seinem Tod noch weiter gekämpft hast?“

Und mit diesen Worten stand L vor Light, genau so, wie er ihn immer in Erinnerung gehabt hatte.

Die schwarzen Haare waren so verwuschelt und durcheinander wie eh und je, die eulengroßen, schwarz-grauen Augen waren weit aufgerissen und untermalt von den großen, dunklen Augenringen.

Er stand gebückt in seiner üblichen Kleidung, die er jeden Tag getragen hatte und starrte Light eindringlich an.
 

„Hallo Light.“, sagte er mit lockerem Tonfall und drückte seinen Daumennagel gegen seine Lippen, so als wolle er nachdenken.
 

Für einen Moment konnte Light nur starren.

Er sah so echt aus, so wirklich, genau wie L.

Viel wirklicher, als die durchsichtige Figur, die er im Moment seines Todes gesehen hatte und die sein Gehirn als Trugbild produziert haben musste.
 

Und doch war es nicht wirklich der an Schlaflosigkeit leidende Detektiv, den Light dort vor sich sah.

Er musste allerdings erst einige Male blinzeln und kurz den Kopf schütteln, um sich dies tatsächlich bewusst zu werden.
 

„Wolltest du mir nicht erklären, was ihr gegen mein ach-so- böses Eingreifen in das Schicksal zu tun gedenkt?“, fragte Light, nachdem er sich wieder gesammelt hatte und ärgerte sich, dass es nicht halb so gelangweilt und unbeeindruckt klang, wie er erhofft hatte.

„Ach, stimmt ja.“, sagte L und tat so, als wäre er soeben aus irgendwelchen tiefsinnigen Gedanken gerissen worden. „Naja, wie dem auch sei, es wurde jedenfalls beschlossen, alle Geschehnisse und alle Morde, die du begangen hast, ungeschehen zu machen.“
 

Light horchte interessiert auf.

„Ihr wollt die Zeit zurückdrehen auf bevor ich das Death Note gefunden habe?“, wollte er wissen und seine Augen weiteten sich.
 

Die L-Figur lächelte ihn zuversichtlich an.

„Ja, haargenau. Allerdings nicht nur zu der Zeit, kurz bevor du es gefunden hast, sondern noch ein paar Jahre davor.“

„Warum?“

„Ganz einfach,“, erklärte L und sah Light mit seinen schwarzen Augen dabei eindringlich an. „würde die Zeit nur auf kurz bevor du das Death Note findest, zurückgedreht werden, würde es nichts verändern. Da wir die Welt der Shinigamis nicht beeinflussen können, würde der Todesgott, dessen Death Note du damals gefunden hast, sein Notizbuch wieder an genau der selben Stelle fallen lassen und du würdest es erneut aufheben, wodurch die ganze Geschichte wiederholt würde. Daher muss die Zeit noch weiter zurück gedreht werden, sodass ein paar Veränderungen in der Menschenwelt vorgenommen werden können, die dazu führen könnten, dass du das Buch, das in der Menschenwelt landet, nicht bekommen wirst.“

„Was meinst du damit ‚Veränderungen durchführen‘?“, hakte Light nach.

„Es würde bedeuten, dass ein paar Schicksale so verändert würden, dass sie einen Einfluss auf deinen Aufenthaltsort und andere Begebenheiten hätten. Die Veränderung von ein paar wenigen Schicksalen ist ein geringer Preis, wenn man dafür das der Welt beibehalten kann. Somit würde die Wahrscheinlichkeit größer werden, dass du zu dem Zeitpunkt, an dem das Death Note schließlich auf die Schulwiese fallen wird, gar nicht dort anwesend bist, oder es zumindest nicht mehr so benutzen willst, wie du es in deinem vorherigen Leben getan hast.“
 

Lights Mundwinkel zuckten leicht.

Der Gedanke, dass er einen anderen Plan mit dem Death Note haben würde, war einfach absurd.

Egal, was in seinem Leben passieren würde, er war sich sicher, dass er, wenn er es mit siebzehn finden würde, immer das gleiche Ziel damit verfolgen würde.
 

Eine Sache wunderte ihn aber dennoch, als er über die Worte der Gestalt nachdachte.

„Das ist ja alles schön und gut.“, begann er und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Aber warum macht ihr das dann nicht einfach so. Warum erklärst du mir das alles und meintest, dass du mir die Wahl lassen willst? Wenn ihr wirklich der Meinung seid, dass ich das Schicksal der Welt verändert habe und, dass es wieder richtig gebogen würde, in dem ihr die Zeit zurückdreht und ein paar Kleinigkeiten ändert, warum fragt ihr mich dann überhaupt nach meiner Meinung?“
 

Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein großer, roter Lutscher in Ls Hand auf, den er sich sofort mit begeisterter Miene in den Mund steckte.

„Mm.. Weißt du Light,“, schmatzte er mit vollem Mund. „Wenn das so einfach wäre (schmatz), würde das tatsächlich so gemacht werden und du würdest dich jetzt schon wieder (schmatz) als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger wieder in deiner Welt befinden, aber mmh... so einfach ist es leider doch nicht.“

Er machte kurz eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er fortfuhr.

„Die Zeit zurückzudrehen ist ein komplizierter Vorgang und (schmatz), es ist leider auch nicht möglich alles in dieser Zeit zurückzudrehen und praktisch auf null zu setzen. (schmatz) Da du der Grund bist, kann alles (schmatz) zurückgedreht werden, nur du leider nicht.“
 

„Soll das heißen, alles wird wieder so wie früher, nur ich werde noch immer dreiundzwanzig sein, obwohl ich eigentlich ein Teenager sein müsste?“, fragte er ungläubig. „Ist das nicht ein bisschen auffällig für manche?“

„Nein, so ist es nicht.“, widersprach L. „Du wirst (schmatz) durchaus das Alter haben, welches du zu dem Zeitpunkt tatsächlich (schmatz) haben müsstest. Allerdings werden deine Erinnerungen nicht zurückgedreht werden können.“

„Das heißt, ich werde mich noch immer an mein vorheriges Leben erinnern können und auch alle Erinnerungen an das Death Note haben, obwohl ich es zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal berührt haben werde?“

„Korrekt.“
 

Light konnte das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte, nur schwerlich unterdrücken.

Das war ja perfekt.

Da alle in der Zeit zurückgedreht werden würden, würde das bedeuten, dass sie alle wieder genauso handeln und reagieren würden, wie zuvor.

Er könnte also alles vorhersehen und mit einplanen.

Er dachte an die wenigen Fehler, die im damals bei L und Near unterlaufen waren.

Diese Fehler würden ihm nun nicht mehr passieren.
 

Es war sogar noch besser.
 

Er kannte Nears Namen und konnte ihn sofort in das Death Note schreiben, bevor der kleine Junge überhaupt daran denken konnte, die Nachfolge Ls anzutreten.

Und vor allem kannte er Ls Namen.

Er hatte ihn in Rems Death Note stehen gesehen, als er es an sich genommen hatte.

Somit konnte er nun beide, Watari und L, töten, bevor sie überhaupt anfangen würden im Kira-Fall zu ermitteln.
 

Diesmal würde er sein Ziel, der Gott einer neuen Welt zu werden, wirklich erreichen können.
 

Diese höheren Mächte oder Götter, oder was auch immer sie waren, mussten wirklich ganz schön dumm sein, wenn sie da nicht selbst drauf gekommen waren.

Was immer sie sich ausgedacht hatten, um ihm vom Death Note fern zu halten, er würde einen Weg finden, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen und seinen Plan trotzdem in die Realität verwandeln zu können.

Anscheinend schienen sie seine Intelligenz und seine Gerissenheit deutlich unterschätzt zu haben.
 

„Ok, ich bin einverstanden. Dreht die Zeit zurück.“, sagte Light und setzte sein Pokergesicht ein, um seine Absichten nicht zu sehr zur Schau zu stellen und zu riskieren, dass sie es sich vielleicht noch um überlegten.

Falls die Gestalt seine Gedanken lesen konnte und wusste, was er vorhatte, ließ sie es sich nicht anmerken.

„Gut.“, sagte sie nur und Ls Gesicht lächelte ihn leicht an.
 

Dann jedoch wurde es ernst.

Der Detektiv nahm den Lutscher aus seinem Mund und blickte ihn mit den unnatürlich großen Augen eindringlich an.

„Du weißt, dass dies eine Chance für dich ist.“, sagte er.
 

Light nickte. Oh ja, und was für eine Chance!
 

„Wenn du sie ergreifst und es schaffst das Schicksal, das für dich eigentlich vorhergesehen war, zu erreichen, dann musst du nicht wieder hier hin zurück. Fängst du allerdings wieder an mit dem Death Note zu morden, so wirst du unweigerlich wieder im MU landen und du wirst dich im Nichts auflösen.“
 

Light nickte erneut.

MU war ein geringer Preis, wenn es hieß, dass er seine perfekte Welt erschaffen konnte.

Er fragte sich sowieso, wieso diese Mächte es zulassen konnten, dass es so viele Verbrechen und schlechte Menschen gab, wenn sie doch die Möglichkeiten hatten, allen Menschen ein Schicksal zu geben, dass keine kriminelle Tat zu ließ.
 

„Gut, also fängt es an.“, sagte L nur und steckte sich den Lutscher zurück in seinen Mund.

Bevor Light noch etwas sagen konnte, wurde es schwarz um ihn herum und er konnte nichts mehr sehen.
 


 

AN: Hm…ja… ich gebe zu, die Idee, Light nochmal leben zu lassen und eine zweite Chance zu geben, ist nicht besonders originell und das gab es mindestens schon hunderttausend Mal. Ich hoffe trotzdem, dass es so in der Form, wie ich es machen werde und geplant habe, trotzdem interessant wird. Ich hoffe auch, dass ich es hinbekomme, die Charaktere so IC zu machen, wie es der Plot eben zu lässt. Falls ihr also an einer Stelle denken solltet, dass sie sich absolut falsch verhalten, sagt mir bitte Bescheid.

Ach ja, und ich halte es für logisch, dass Light Ls Namen kennt. Ich weiß nicht, ob das jemals in der Canongeschichte erwähnt wurde (jedenfalls kann ich mich nicht mehr daran erinnern), aber er hatte ja schließlich Rems Death Note. Wieso hätte er NICHT mal reingucken sollen, um festzustellen, wie sein ärgster Widersacher nun geheißen hat?

Das gleiche Leben?

Als Light wieder etwas sehen konnte, stand er mitten in seinem alten Kinderzimmer und blickte sich lächelnd um.

Einen Moment lang musste er tief durchatmen und sich klar machen, dass er tatsächlich wieder am Leben war, und dass er wahrhaftig hier stand, in seinem alten Zimmer, das in den letzten Jahren seines Lebens nur noch als Abstellkammer gedient und voller Kisten gestanden hatte.

Die Kisten waren nun verschwunden und stattdessen sah alles wieder genauso aus, wie damals, bevor er ausgezogen war, um mit Misa zusammen zu ziehen (Die Erinnerung daran ließ ihn kurz innerlich erschaudern).

Allerdings sah es nicht ganz genauso aus.
 

Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass im Regal die Schulbücher für die Oberstufe fehlten und an ihrer Stelle Bücher der unteren Jahrgangsstufen platziert waren.

Ihn wunderte dies jedoch nicht, da er schließlich schon damit gerechnet hatte, jünger zu sein als zuvor.

Wo er schon mal dabei war, wie alt war er denn nun überhaupt?
 

Sein Blick fiel als erstes auf den Kalender, der an seiner Wand hing.

Die Seite, die aufgeschlagen war, zeigte den Monat April im Jahr 2000 an.

2000, das bedeutete, dass er jetzt gerade vierzehn Jahre alt war.

Das hieß wiederum, er würde noch etwas mehr als drei Jahre warten müssen, bis Ryuk das Death Note „ausversehen“ in die Menschenwelt fallen lassen würde.
 

Drei lange Jahre….
 

„Light!“, hörte er auf einmal seine Mutter von unten hoch rufen. „Musst du nicht langsam zur Schule?“

„Ja! Ich bin schon so gut wie unterwegs!“, antwortete er ihr wie aus Reflex und zuckte im selben Moment beim Hören seiner eigenen Stimme zusammen, die einen ungewohnten und irgendwie unangenehmen Klang hatte.

Das klang ganz nach…Urgh….Stimmbruch…. Na danke, dass er das jetzt auch nochmal erleben durfte.
 

Im Vertrauen darauf, dass er in seinem Ordnungswahn wie immer die Schultasche schon am Abend zuvor gepackt hatte, griff er einfach nach ihr und seiner Jacke und verließ das Zimmer.

„Bis später!“, rief er noch seiner Mutter und seiner Schwester, die am Frühstückstisch saßen, zu und machte sich auf den Weg.
 

Er wollte erst seinen altgewohnten Gang, die Straße runter in Richtung seiner alten Schule nehmen, stockte jedoch, als ihm ein etwas einfiel.

Er war vierzehn.

Das bedeutete gleichsam, dass er noch gar nicht in die Oberstufe ging, sondern in die Mittelschule musste.
 

Light seufzte und drehte sich um, um den richtigen Weg zu seiner „neuen“ Schule einzuschlagen.

Oh Gott, würde er den ganzen Mist etwa wieder durchnehmen müssen?
 

Als die Schule nach zehn Minuten in sein Blickfeld kam, überlegte er sich, ob er wirklich hingehen und diesen langweiligen Blödsinn ertragen sollte.

Was brachte es, sich dort abzuquälen, wenn er alles sowieso schon konnte (abgesehen davon, dass er es damals auch schon gekonnt hatte)?

Allerdings war Schwänzen leider ziemlich problematisch, da dies seinen sorgsam gepflegten Ruf als Musterschüler und perfekten Sohn schädigen würde.

Seine Abwesenheit würde nach spätestens einer Woche unangenehme Fragen aufwerfen und somit den ganzen Schein, für dessen Erhaltung er vorher so sorgsam gearbeitet hatte, zunichtemachen.

Anscheinend blieb ihm also nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und die großen Tore der Schule zu durchschreiten.
 

Er erinnerte sich noch gut daran, wo sich seine Klasse befand und wo sein Sitzplatz war und auf dem Weg dorthin begrüßte er diverse Freunde, auf die selbe Art, mit der er es damals immer gemacht hatte.

Er kannte noch alle ihre Namen, auch wenn es ihm eigentlich egal war, und sein höfliches Lächeln und seine lockeren Witze wirkten noch genauso ehrlich und freundlich wie früher und waren doch genauso falsch und oberflächlich, wie sie es auch in seiner früheren Existenz schon gewesen waren.
 

„Hey Light! Kommst du denn jetzt am Wochenende mit uns mit ins Kino?“, fragte einer seiner Freunde und winkte ihm zu.

„Ja, klar, warum nicht?“, antwortete er sofort, setzte sich an seinen Platz und hielt ein Augenrollen zurück.

Ganz toll, jetzt durfte er den Babysitter spielen für Kinder, die schon damals, als er im selben Alter gewesen war, intellektuell nicht auf seiner Stufe gestanden hatten.
 

Die erste Stunde begann mit Mathematik und als die Mathelehrerin begann irgendwelche Formeln an der Tafel zu notieren, musste Light ein Gähnen unterdrücken.

Quadratische Gleichungen…. Die hatte er früher auch schon gekonnt, bevor die Lehrerin sie erläutert hatte und jetzt musste er dieselbe kindliche Erklärung haargenau nochmal hören.

Dachte die Frau etwa, dass sie mit Dreijährigen reden würde?
 

Er schlug sein Schulheft auf und tat so, als würde er fleißig wie alle anderen mitschreiben.

Nach einiger Zeit kontrollierte er die Uhrzeit auf seinem Handy, wobei sein Blick beiläufig auf die Datumsanzeige fiel, die den 26.04.2000 anzeigte.

Er überschlug die Zeit kurz in seinem Kopf.

Es waren noch exakt 1311 Tage, bis er am 28.11.2003 das Death Note finden sollte.
 

Die Frage war nur, was er solange machen sollte, bis es endlich soweit war.

Er hatte definitiv nicht vor, die nächsten dreieinhalb Jahre mit dem selben langweiligen Schulalltag zu verschwenden, wie er schon in seinem vorherigen Leben gezwungen gewesen war.
 

Das Mädchen, das am Nachbartisch saß, schob ihm einen Zettel zu, als sich die Lehrerin wieder von der Klasse weggedreht hatte.

Light faltete den Zettel auseinander und las ihn gelangweilt.

Es war ein Liebesbrief, und zwar genau der gleiche, den Light damals schon erhalten hatte.

Er erkannte sogar den selben Rechtschreibfehler, bei dem sie ‚unbedingt‘ mit ‚d‘ am Ende geschrieben hatte und er erinnerte sich daran, dass er nach dem Erhalten dieses Briefes für ein paar Wochen mit ihr ausgegangen war.

Sie war zwar nicht besonders schlau oder interessant, sah aber dafür sehr gut aus und die anderen aus der Klasse hatten erwartet, dass er sich mit ihr treffen würde.

Somit hatte er, um den Anschein zu erhalten, normal zu sein, den Ansprüchen der anderen entsprochen.
 

Abgesehen davon, war in seinen Augen generell auch sonst kaum jemand schlau genug oder in irgendeiner Hinsicht interessant.

Wenn er genau darüber nachdachte, kam ihm dabei sogar nur eine einzige Person in den Sinn, die diesen Anforderungen gerecht wurde und die würde er erledigt haben, sobald er das Death Note wieder in seinen Besitz gebracht hatte.
 

Er spürte den abwartenden und erwartungsvollen Blick des Mädchens auf sich liegen und überlegte, wie er nun diesmal reagieren sollte.

Am einfachsten wäre es natürlich, einfach wieder ‚Ja‘ zu sagen und sich für ein paar Wochen mit ihr einzulassen, die Frage war nur, ob es sich lohnen würde.

Er dachte darüber nach, wie es damals mit ihr gewesen war und das erste, was ihm in den Sinn kam, waren Hello-Kitty-Aufkleber, Kinobesuche von lächerlichen Teenie-Komödien, die so dumm und einfallslos waren, dass man beim Vorspann schon Gefahr lief sämtliche Gehirnzellen abzutöten und so widerlich pinke Herzchen, mit denen sie, als sie ihn zuhause besucht hatte, seine Hefte zugekleistert hatte.
 

Nein, er würde in diesem Leben wohl einen anderen Weg einschlagen.

Wenn es sein musste, gab es hier schließlich noch genügend andere Mädchen, die er als „Alibi-Freundin“ benutzen konnte und die dafür töten würden, um mit ihm zusammen zu kommen.

Wow, verblüfft hob er eine Augenbraue, selbst in seinen eigenen Gedanken hatte das gerade arrogant geklungen – allerdings war es trotz allem die Wahrheit.
 

Die nächsten Stunden vergingen unerträglich langsam und Light wusste nicht, was schlimmer war: die unsäglich langweiligen Unterrichtsstunden, bei denen er wusste, dass er garantiert mehr über das Thema wusste, als der gerade unterrichtende Lehrer, oder die Pausen, in denen er glaubhaft so tun musste, als würde er sich mit seinen ‚Altersgenossen‘ bestens verstehen und wahnsinnig viel Spaß mit ihnen haben, während er im Kopf alle Primzahlen von 2 bis 99991 aufzählen musste, um nicht einzuschlafen bei spannenden Gesprächsthemen wie „Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen soll.“, „Meine Eltern sind ja sooooo gemein, weil mir nicht erlauben, dass ich mit vierzehn ein Zungenpiercing bekomme.“ und „Urgh, Kotoris neue Frisur sieht aus wie der Waschmob unserer Putzfrau.“
 

Als er sich auf dem Heimweg befand, wusste er, dass er das definitiv nicht die nächsten 1311 Tage wiederholen würde.

Was auch immer passieren würde, er würde einen Weg finden, diesem lächerlichen Schulkram zu entkommen, sonst würde er womöglich schon vor Langeweile sterben, bevor er überhaupt eine Chance hatte, das Death Note wieder aufzuheben.

Während Light darüber nachdachte, was er ändern konnte, um der Hölle des Schulalltags zu entkommen, rechnete er nicht damit, dass sich schon längst etwas ereignet hatte, was all seine Grübeleien nichtig machte.
 

Als er in seine Wohnstraße einbog, fielen ihm direkt die vielen Streifenwagen, die am Straßenrand standen und zum Teil sogar das Blaulicht eingeschaltet hatten und die Anzahl der Polizisten, die die Straße abzusichern schienen, auf.

Auch hatten sich einige Menschen an den Ecken versammelt um einen Blick zu erhaschen und miteinander zu tuscheln.
 

Mit gerunzelter Stirn ging er weiter und blickte sich um, um nach seinem Vater Ausschau zu halten.

Wenn es hier einen Einsatz gab, dann musste sicherlich auch Polizeichef Yagami anwesend sein.

Vielleicht hatte Light ja sogar Glück und er würde auch ein paar Einblicke in den Fall erhalten, der sich hier abgespielt haben musste und würde helfen dürfen, ihn zu lösen.

Er war damals zwar schon fünfzehn gewesen, als sein Vater ihm das erste Mal erlaubt hatte, sich mit den polizeilichen Akten zu befassen, doch vielleicht durfte er in diesem Leben schon etwas früher daran arbeiten.

Ein netter Gedanke war es jedenfalls und es würde ihm zumindest ein bisschen die Langeweile vertreiben, die ihn zu verschlucken drohte.
 

„Tut mir Leid, Junge, aber du darfst hier nicht weiter gehen. Hier ist alles abgesperrt.“, riss ihn einer der Polizisten aus seinen Gedanken und versperrte ihm den Weg.

„Aber ich wohne hier!“, widersprach Light und setzte sein ahnungsloses Unschulds-Gesicht auf. „Ich möchte nur nach Hause.“

„Das geht im Moment nicht, Kleiner.“ Der Beamte ließ sich nicht beirren und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Tatort muss abgesichert werden.“

Light beschloss das „Kleiner“ zu ignorieren und argumentierte weiter.

„Aber mein Vater ist der Einsatzleiter für diesen Fall.“, beharrte er. „Holen Sie ihn her und er wird mich weiterlassen.“

Natürlich konnte Light nicht mit Sicherheit wissen, ob sein Vater tatsächlich für diesen Einsatz zuständig war, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater bei einem Polizeieinsatz, der sich auch noch so kurz vor ihrer Haustür abspielte, nicht zugegen war.

Soichiro Yagami würde garantiert darauf bestehen, hier die Ermittlungen leiten zu dürfen.
 

„Light.“, hörte er plötzlich eine Stimme von weiter vorne, die ihm vertraut vor kam.
 

Als er Aizawa erblickte, der auf ihn zu kam, riss er kurz überrascht die Augen auf.

Mit der Afrofrisur und ohne den Bart, den er in den letzten Jahren des Kira-Falls getragen hatte, sah er wieder ganz ungewohnt aus.
 

„Hallo, Herr Aizawa.“, begann Light. „Wissen Sie, wo ich meinen Vater finden kann?“
 

Aizawa, der nun vor ihm stand, legte eine Hand auf Lights Schulter.

„Light, weißt du…. Ich….es ist so, dass…. Du musst jetzt….“, stammelte er, unschlüssig, was er eigentlich sagen wollte.

Er öffnete seinen Mund erneut, ohne dass diesmal jedoch ein Ton heraus kam und schloss ihn schließlich wieder.
 

Misstrauisch betrachtete Light den Polizisten.

Sein Gesicht schien sehr ernst und verkrampft und seine Augen, die Blickkontakt mit Lights Augen zu vermeiden wollen schienen, sahen leicht gerötet aus.
 

In Lights Kopf setzten sich die einzelnen Puzzleteile blitzschnell zusammen.
 

Großer Polizeieinsatz…. vor seiner Haustür…. Absperrungen…. gaffende Menschen (und waren das da vorne etwa Reporter?)…. Aizawa in Trauer….
 

Wie reagierte ein normaler, mitfühlender, vierzehnjähriger Junge in so einer Situation nochmal?

Haargenau!
 

Angstvoll weitete er die Augen und sah den Kollegen seines Vaters mit dem besten Erschrocken-sein-Gesicht, das er hatte, an.

„Ist…ist mit meiner Familie alles in Ordnung?“, fragte er und war positiv überrascht, wie brüchig und verzweifelt er doch klang. „Es geht doch allen gut, oder?“
 

Aizawa räusperte sich und wich einem Blickkontakt weiterhin aus.

„Es fällt mir schwer das zu sagen, Light.“, brachte er schließlich mit belegter Stimme hervor. „Aber es ist so, dass… Also es gab eine Geiselnahme und…“
 

„Sind sie verletzt? Wo sind sie?“, rief Light und gratulierte sich selbst zu der Panik, die seine Stimme durchzog.
 

Aizawa senkte den Blick nun vollkommen zu Boden.

Er schien zu überlegen, wie er es Light am besten erklären sollte.
 

Light jedoch konnte sich schon denken, was die schreckliche Nachricht beinhalten würde.

Er hatte längst begonnen zu verstehen und den Sinn dahinter zu erkennen.
 

Das Wesen, das ihm im MU begegnet war, hatte schließlich gesagt, dass das Schicksal von einigen wenigen Menschen verändert werden würde, damit man bewirken konnte, dass Light zu dem bestimmten Zeitpunkt in drei Jahren nicht so leicht in die Nähe des Death Notes kommen konnte.

Er ärgerte sich ein wenig, dass er nicht schon früher daran gedacht hatte.

Der Grund, warum Light hier zur Schule ging, war, dass seine Familie hier lebte.

Wenn er also von hier verschwinden sollte, musste man seine Familie somit entweder dazu bringen umzuziehen, oder man sorgte dafür, dass Light anders gezwungen war, wegzugehen, in dem man sie umbrachte und Light entweder in ein weit entferntes Waisenhaus gesteckt wurde oder man ihn zu fremden Adoptionseltern brachte.
 

Trotzdem war es ein bisschen enttäuschend, dass diese Mächte tatsächlich zu glauben schienen, ein einfacher Ortswechsel würde reichen, um ihn vom Death Note fern zu halten.

Als ob es mit siebzehn Jahren nicht ein Leichtes für ihn werden würde, sich einfach einen Tag lang davon zu stehlen und wieder hier hin zurück zu fahren.

Selbst wenn er sich zu dieser Zeit im Ausland befinden würde, was unwahrscheinlich war, so würde er doch keine Probleme haben, dafür zurück nach Japan zu fliegen.
 

„Light, vielleicht solltest du mit zu dem Wagen dort drüben kommen und dich erst einmal hin setzten.“, versuchte Aizawa hilflos die Situation besser in den Griff zu bekommen.

Dem Polizisten schien es sichtlich schwer zu fallen, die schlechte Botschaft zu übermitteln.
 

„Ich will mich nicht setzen!“, widersprach Light mit hysterischer Stimme. „Ich will wissen, was mit meiner Familie ist! Ich will mit meinem Vater reden.“

Normalerweise hätte er niemals einen so aufbrausenden und kreischenden Ton benutzt, aber nun war er der Teenager, der einfach nur Angst um seine Eltern hatte.
 

Bei Aizawa schien dieser Ton jedenfalls auch zu wirken, da er es nun plötzlich doch schaffte, Light in die Augen zusehen, während er einmal tief durchatmete.

„Es tut mir ja so leid.“, sagte er schließlich und seine Stimme war ein wenig fester als zuvor, seine Augen schienen jedoch erneut anzufangen zu wässern. „Aber deine Eltern und deine Schwester… sie sind leider bei der Geiselnahme getötet worden.“
 

Light ließ diese endgültige Nachricht für den Bruchteil einer Sekunde auf sich wirken, bevor er anfing, die Rolle zu spielen, die alle von ihm erwarteten….
 


 

Er saß auf dem Rücksitz eines Polizeiautos und starrte mit leerem Blick auf die vorbeiziehenden Bäume und Häuser, als sie in Richtung seines neuen Heimes fuhren, das sich am Rande der Kanto-Region befinden sollte.
 

Es war nun fünf Tage her, dass er gestorben, zurückgekehrt und seine Familie getötet worden war.
 

Nachdem Aizawa ihm von der Tragödie erzählt hatte, hatte Light alle Register gezogen, die in Sache „Trauerzeigen“ möglich waren.

Zuerst hatte er den Kopf geschüttelt und es geleugnet.

Er hatte Aizawa einen Lügner genannt und ihn angeschrien.

Als dann noch andere Polizisten dazu kommen mussten, um Aizawas Worte zu bestätigen, hatte er das Gesicht in den Händen vergraben und angefangen geräuschvoll zu weinen.

Bei der Erinnerung daran, musste Light aufpassen, nicht angewidert sein Gesicht zu verziehen, da man ihn im Rückspiegel sehen konnte.

Gott, war das demütigend gewesen, als er sich auf den Boden legen und schreien musste.
 

Aber ausnahmslos alle hatten ihm geglaubt.
 

Alle dachten, sie hätten einen verzweifelten Jugendlichen vor sich, dessen Welt soeben zu einem Trümmerhaufen zusammengebrochen war.

Alle hatten Mitleid gehabt mit dem armen Jungen, der nun niemanden mehr hatte und hilflos war.
 

Als nächstes hatte man ihn zu der Polizeipsychologin gebracht, wo er das Trauerspiel mit dem Namen „Der arme, kleine, einsame Junge“ ein weiteres Mal vorspielen durfte.

Sie hatte ihm diverse Fragen bezüglich seiner Familie und seines Gemütszustandes gestellt und ihn dabei mit Keksen und heißer Schokolade abgefüllt.

Da er, außer einer im Altersheim lebenden und an Demenz leidenden Großmutter, keine lebenden Verwandten mehr hatte, wurde von den Kollegen seines Vaters beschlossen, dass Light die nächsten Tage bis zu der Beerdigung bei einem von ihnen wohnen sollte, bevor er ins Waisenhaus geschickt werden würde.

Weil Aizawa im Moment ein schreiendes Kleinkind zuhause hatte, erklärte sich Ide dazu bereit, Light für die paar Tage Unterschlupf zu gewährleisten.
 

In diesen Tagen hatte er, wenn er nicht gerade von Ides nerviger Freundin mit Eis vollgestopft wurde (Warum, zum Teufel, wollte keiner begreifen, dass er Süßigkeiten hasste?), Zeit, sich über seine mögliche Zukunft, aber auch seine Familie Gedanken zu machen.
 

Sollte er sich schuldig fühlen, weil er keine richtige Trauer verspürte, wenn er an sie dachte?

Der Tod seines Vaters war immerhin nichts Neues für ihn.

Das hatte er schließlich schon einmal mitgemacht und auch dabei war er mitverantwortlich gewesen.

War er diesmal wieder Schuld?
 

Wenn er es vor sich selber verleugnen wollte, konnte er behaupten, es sei die Schuld des Verbrechers gewesen.

Das sagten ja schließlich auch alle anderen.
 

Ein Mann hatte sich an Soichiro Yagami rächen wollen, weil dieser ihn wegen Raubmord überführt und für zwanzig Jahre ins Gefängnis hatte stecken lassen.

Dieser Mann war zu dem Haus der Yagamis gefahren und hatte die sich dort befindende Frau und Tochter des Polizisten als Geisel genommen um ihn in die Falle zu locken.

Als sich Lights Vater freiwillig hatte ausliefern wollen, um sein Leben gegen das der anderen beiden zu tauschen, nicht wissend, dass der Entführer sie schon längst getötet hatte, war er seinem eigenen Tod direkt in die Arme gelaufen.

Nach dem Dreifachmord, hatte der Mann wohl noch einen Fluchtversuch unternommen, war aber nach kurzer Zeit festgenommen worden und saß nun in Haft, wo er auf seine Verurteilung warten durfte.
 

Aber Light wusste, dass dieser Mann nicht den Racheakt unternommen hätte, wenn es nicht für die Veränderung von Lights Aufenthaltsort nötig gewesen wäre.

Also ja, indirekt war er ganz eindeutig schuld.
 

Also wieso verging er dann nicht vor Schuldgefühlen und Reue?

Gut, er hatte nie auch nur einen Funken Reue oder Wehmut verspürt für die Morde, die er mit dem Death Note ausgeführt hatte, aber diesmal war es seine ganze Familie!

Diesmal war es seine kleine Schwester, die noch ein Kind gewesen war!
 

Aber trotzdem bescherte es ihm weder schlaflose Nächte noch Albträume.
 

Dass seine Familie gestorben war, tat ihm…. leid.

Er hatte nicht gewollt, dass ihr Leben frühzeitig auf so grausame Weise beendet wird und er hätte eine andere Alternative bevorzugt.
 

Aber er trauerte nicht.
 

Er konnte keine Trauer oder Verzweiflung in sich entdecken, egal wie tief er auch danach suchte.
 

Und er überlegte sich, ob es vielleicht genau die Art war, wie ein Gott beschaffen sein musste.

Ein Gott konnte nicht bei manchen Menschen eine Ausnahme machen und mehr für sie sorgen als für andere.

Ein Gott musste allen Menschen gleich gegenüber stehen und gerecht sein.

Somit war er wirklich der perfekte Gott, denn ohne emotionale Bindungen zu irgendeinem menschlichen Wesen, konnte er seine Urteile absolut neutral und gerecht fällen.
 

Ein Gott musste über den weltlichen Dingen stehen.
 

Ein Gott musste allerdings NICHT in einem landschulheimähnlichen Zimmer mit fünf anderen Personen schlafen!
 

Das war jedenfalls sein Gedanke, als er den Raum betrat, der von nun an sein neues Zimmer darstellen sollte und auf drei, auf die Zimmerecken verteilte, Etagenbetten starrte.

Eine Kinderbetreuerin mit Überbiss und Bärchenpullover zeigte ihm freudestrahlend sein neues Bett und wo er seine Sachen unterbringen konnte, während Light sich zusammenreißen musste, um nicht schreiend davon zu laufen und von nun an als Straßenkind auf Parkbänken schlafen durfte.
 

Zu sechst in einem Zimmer? Zu sechst?
 

In was für einem Waisenhaus war er denn hier gelandet?

Das war Japan, eine der führenden Industrienationen und kein Drittewelt-Land.
 

Er atmete tief ein, als sein vierjähriger Zimmernachbar ihm ein breites Grinsen schenkte und ein mit brauner Pampe (er wollte lieber nicht wissen, was das war) beschmiertes Spielauto überreichen wollte, und versuchte sich innerlich zu beruhigen.
 

Noch 1306 Tage…
 

Noch.... 1306… Tage…
 


 


 

Danke fürs Lesen und bis zum nächsten Mal^^

Wendungen

Noch 1297 Tage.
 

„Bitte nehmt eure Bücher vom Tisch, ihr wisst genau, dass wir jetzt eine Vergleichsarbeit schreiben.“, mahnte der Lehrer mit strenger Miene und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
 

In der Klasse war ein lautes Murren zu hören, als die meisten Schüler ihre Hefte und andere Notizen in ihre Schultaschen steckten.

Light unterdrückte ein Gähnen und sah gelangweilt aus dem Fenster.

Das Leistungsniveau in dieser Klasse war sogar noch deutlich unter dem seiner alten Schule.

Er fragte sich, warum sie hier überhaupt an den landesweiten Vergleichsarbeiten teilnahmen, da sie definitiv im unteren Viertel auf der Skala landen würden.

Das hieß… jetzt, wo er da war, sah es sicher anders aus.

Es bestand keinen Zweifel, dass er den Durchschnitt seiner Klasse beträchtlich anheben würde.
 

Die Aufgaben waren wirklich kinderleicht und Light konnte sich nicht entscheiden, ob er Verachtung oder Mitleid mit seinen vor Verzweiflung stöhnenden und schon bei der ersten Aufgabe aufgebenden Mitschülern haben sollte.

Light schaffte es, alle Aufgaben in einem Viertel der angegebenen Zeit zu lösen, und das auch nur, weil er nach jeder Aufgabe aus Langeweile in seinem Kopf das Ergebnis in verschiedene Sprachen übersetzte.
 

„Boah, war das schwer.“, sagte einer der Jungs, mit denen er sich schon am ersten Tag angefreundet hatte und seufzte schwer, als sie in die Pause gingen. „Ich glaube ich konnte nur die Hälfte der Aufgaben wirklich richtig lösen.“
 

„Ja, es war wirklich nicht ganz leicht.“, stimmte Light ihm mit freundlich lockerem Ton zu. „Die meisten gingen, aber gerade bei Aufgabe sechs musste ich ziemlich lange überlegen…“ …überlegen, ob die Aufgabe nicht viel eher in die Grundschule gehörte.
 

„Man, ich beneide dich wirklich. Du bist so klug.“, sagte der Junge anerkennend und sah Light bewundernd an.
 

„Ach, das ist doch gar nichts. Wenn du möchtest, helfe ich dir. Dann wirst du auch bald besser.“, meinte Light und folgte dem Jungen auf den Schulhof.
 

Oh Gott, bitte sag ‚Nein‘!
 

„Hm, mal sehen. Ein bisschen Nachhilfe wäre vielleicht ganz gut. Danke.“
 

Verdammt!
 

„Kein Problem. Sag mir einfach, wann du Zeit hast. Aber wahrscheinlich ist es besser, wenn wir bei dir lernen.“ Light tat so, als würde er nachdenken. „Du weißt ja, im Waisenhaus geht das sicher nicht so gut.“

Vielleicht konnte er wenigstens durch diese Zeitverschwendung – anders konnte man Nachhilfe mit diesem unfähigen Kind nicht nennen – einige Stunden außerhalb der Hölle, die sich Waisenhaus in Gestalt seines Waisenhauses manifestiert hatte, gewinnen.

Denn das war es, was dieser Ort war: eine laute, stinkende, kinderverseuchte, dreckige Hölle, die jegliches schauspielerisches Talent, das er besaß, erforderte, damit er trotz dieser unakzeptablen Verhältnisse seine Fassade aufrecht erhalten konnte, ein netter, offener, hilfsbereiter und charmanter Junge zu sein.
 

Nach anderthalb Wochen in dieser Vorhölle, war er zu der Vermutung gekommen, dass alles, was ihm im MU erzählt worden war – also das ganze du-hast-das-Schicksal-der-Welt-geändert-deshalb-müssen-wir-die-Zeit-zurückdrehen-Blablabla – nur ein Vorwand gewesen war, weil sie eine Möglichkeit gesucht hatten, ihn doch noch irgendwie zu ewigen Qualen verdammen zu können.

Er konnte nicht in die Hölle, da jeder, der das Death Note benutzt hatte, ins MU kam, also erschufen sie ein Szenario in der Menschenwelt, das Lights eigenen, persönlichen Hölle gleichkam.
 

Sie sorgten dafür, dass er unter konstanter Langeweile stand.
 

In seinem früheren Leben schon hatte er nur diesen ehrgeizigen Plan, mit dem Death Note die Welt zu verändern, verfolgt, weil er sich zu sehr gelangweilt hatte.

-Gut, auch weil er sehr tiefgehende und möglicherweise streitbare Moral- und Ethikvorstellungen hatte… und weil er vielleicht ein winziges Bisschen unter Größenwahn litt, wie er sich bei objektiver und nüchterner Betrachtung durchaus selber eingestehen musste. – Aber das spielte keine Rolle!
 

Der wichtigste Faktor war bei all seinem Handeln die Langeweile gewesen.

Es gab nichts, was er mehr hasste und was sein Gehirn mehr verabscheute, als keine Herausforderung zu haben.

Und genau das war es, was er hier nun tagtäglich ertragen durfte: die Langeweile aus seinem alten Leben, nur noch potenziert mit Hundert.
 

Und um es noch weiter zu verschlimmern, war die Umgebung, in die man ihn jetzt verpflanzt hatte, absolut inakzeptabel.

Zu sechst in einem Zimmer… niemals wirklich Ruhe um ihn herum… und gebrauchte Schulbücher.

Gebrauchte!

Wer weiß, was seine Vorbesitzer alles mit ihnen gemacht hatten.

Was sollte als nächstes kommen? Gebrauchte Kleidung?
 

In dem folgenden Monat schien sich seine Lage weder zu bessern, noch konnte er sich an seine neue Lebenssituation gewöhnen.
 

Etwa vier Mal stand er kurz davor, den ersten Death Note-losen Mord zu verüben.

Diese Kinder waren nicht nur laut und unhöflich, nein, sie tatschten auch noch ständig seine Sachen an mit ihren dreckigen, kleinen Händen, sodass er bereits zwei Mal schon mit einem fleckigen und verknitterten Hemd hatte in die Schule gehen müssen.
 

Das musste man sich mal vorstellen!
 

Light Yagami, der beinahe ausnahmslos Anzüge oder Hemden getragen hatte und dessen restliche Kleidung ansonsten auch immer perfekt gereinigt, gebügelt und teuer war (es sei denn, er trug gerade ein altes Kapuzen-Sweatshirt um Raye Penber aufzulauern), war gezwungen gewesen mit dreckiger Kleidung unter Menschen zu gehen!

Die Blagen hatten nur Glück gehabt, dass ein direkter Mord in dem Moment zu riskant gewesen wäre, da er keine Möglichkeit gehabt hätte, die Spuren zu beseitigen…
 

Wenn er sich gerade nicht in der Schule oder der Bibliothek (dem einzigen halbwegs ruhigen Ort, den er hier gefunden hatte) aufhielt, lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett, starrte an die Decke und plante seine zukünftige Weltherrschaft.

Diesmal würde alles besser verlaufen als beim ersten Mal, da er sehr viel mehr Zeit hatte, alles durchzuplanen und für jede Eventualität gewappnet sein konnte.
 

Er gähnte und verdrehte genervt die Augen, als zwei der Jungs, mit denen er sich das Zimmer teilen musste, hereingestürmt kamen.

Er zog es vor sie nicht zu beachten und ließ seine Augen über die braunen und gelblichen Flecken auf der Tapete über ihn gleiten, wobei er jedoch vorsichtig vermied, sich Gedanken zu machen, wie die Flecken dorthin gekommen sein konnten.

Von draußen ertönte Kindergeschrei und die beiden zwölfjährigen Jungen kramten laut in einer Kiste nach irgendwelchen Spielsachen, die sie mit nach draußen nehmen wollten.

Er konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen, als die Tür erneut aufging.

Bald würde das ganze Waisenhaus in seinem Zimmer stehen.
 

„Light?“, hörte er zu seiner Überraschung eine Frauenstimme sagen und blickte zur Seite.

Eine der Betreuerinnen stand in der Tür und sah ihn abwartend an.
 

„Was ist los?“, fragte er, halb genervt, dass es jemand wagte, seine Planungen zu unterbrechen, halb froh, dass diese Eintönigkeit für einen Augenblick unterbrochen wurde.
 

„Du sollst ins Büro des Heimleiters kommen.“, sagte die junge Frau und lächelte ihn freundlich aber anteilslos an. „Da ist jemand, der dich sehen will.“

Jetzt war Light ganz wach und setzte sich schnell auf.
 

Wer konnte es sein, der ihn sehen wollte?

Light fiel niemanden ein, der einen Grund haben könnte, ihn zu besuchen.

Vielleicht waren es ein paar „Freunde“ aus seiner alten Schule, aber die hätten ihm dies vorher in einer Mail mitgeteilt oder ihn angerufen.

Vielleicht war es auch einer der ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters.

Allerdings war es nun mitten in der Woche und sie mussten sicher arbeiten.

Wer auch immer es war, es war unter Garantie interessanter, als weiterhin in dem Zimmer zu versauern.
 

Ohne weiter zu zögern stand Light somit auf und ging an der Betreuerin vorbei zum Zimmer des Heimleiters.
 

Unterwegs kamen ihm gefühlte dreidutzend lärmende Kinder entgegen, und Light musste daran denken, dass er noch ganze vier Jahre hatte, bis er endlich volljährig sein würde und dieses Haus legal verlassen konnte.
 

Wäre Light ein verträumtes und naives Durchschnittswaisenkind gewesen, so hätte er in dem Moment, da er die Türklinke des Büros runter drückte, angefangen sich vorzustellen, dass sich hinter der dicken Holztür ein verschollener, reicher Verwandter befand, der gekommen war, um ihn aus diesem traurigen Loch zu erretten und in eine große, prunkvolle Villa zu bringen.

Doch Light war weder naiv, noch war er in seinem Kopf eigentlich noch ein Kind, und somit wusste er, dass so etwas nicht möglich war – abgesehen davon, träumte er von nichts, außer dem Death Note und die Vorstellung, dass Ryuk im Büro des Heimleiters auf ihn wartete, war so lächerlich, dass er es fast schon komisch fand.

Nein, er wusste, dass sich hinter dieser Tür etwas anderes befinden würde, als er sie aufstieß.
 

Trotzdem war er überrascht, als er sah, wer dort neben dem Leiter stand und ihm freundlich zu nickte.
 

Es war ein Gesicht, dass er Jahre nicht mehr gesehen hatte, und das ihn erst einmal wie eine Salzsäule erstarren ließ.
 

Watari
 

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann aber doch dagegen, da er den Namen des alten Mannes eigentlich noch nicht wissen durfte.
 

„Light, gut, dass du so schnell gekommen bist.“, sagte der Heimleiter und deutete Light an, hinter sich die Tür zuzumachen.
 

Lights Gedanken begannen sich aufgeregt umher zudrehen.

Sein Herz begann vor Erwartung schneller zu schlagen und seine Hände waren feucht, als er die Türe leise schloss. (Wieso er so aufgeregt war, konnte er selber allerdings auch nicht erklären)
 

Watari war hier.

Da, wo Watari war, konnte auch L nicht weit sein.

Hieß das, dass L sich auch in der Näher befinden musste?

Unwillkürlich blickte er sich weiter im Zimmer um, so als erwartete er, dass sich L in irgendeiner Ecke versteckt haben musste.

Als er bemerkte, was er tat, stoppte er sofort und dachte weiter nach.
 

Würde Light es gestattet sein, L zu sehen?
 

Aber warum war Watari hier?

Gab es einen Fall, den L lösen musste?

Wieso wollte Watari Light dann sehen?

Verdächtigte L etwa, dass Light mit dem Death- Nein! Das war ausgeschlossen, es gab noch kein Death Note in dieser Welt und selbst wenn, dann hatte Light noch rein gar nichts damit zu tun.
 

Als Light sich wieder zu Watari und dem Heimleiter umdrehte, verriet sein Gesicht nichts von seinen inneren Gedankengängen.
 

„Hallo Light, es freut mich dich kennenzulernen.“, sagte Watari mit ehrlicher Höflichkeit und Wärme und streckte ihm eine Hand entgegen.

Oh, der arme, alte Mann wusste noch nicht, dass Light einmal sein Tod gewesen war und es eines Tages wieder werden würde.
 

„Mein Name ist Quillish Wammy.“, sagte er in dem Moment, indem Light sie annahm.

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Light mitten im Händeschütteln erneut – allerdings nur so kurz, dass Watari es höchstwahrscheinlich nicht bemerkte.
 

Quillish Wammy, das war der Name, der in Rems Death Note gestanden hatte.

Wieso stellte sich Watari nicht unter seinem Decknamen, sondern mit seinem richtigen Namen vor?

Das konnte nur bedeuten, dass er nicht wegen einem von Ls Fällen hier war, sonst hätte er niemals seine wahre Identität preis gegeben.
 

In seinem Kopf rasten die Gedanken, als seine Synapsen die möglichen Zusammenhänge miteinander verbanden.
 

Watari… Wammy….Wammys Haus…Light!
 

Eigentlich gab es nur eine logische Konsequenz daraus und Light musste sich bemühen um nicht schon vorzeitig ein triumphierendes Grinsen auszustrahlen.
 

„Setz dich bitte, Light.“, sagte der Heimleiter und nickte zu einem der Stühle vor dem Bürotisch.
 

Light gehorchte und beobachtete die beiden Männer währenddessen eingehend, um weitere Zeichen zu entdecken, die seinen Verdacht bestätigen konnten.
 

„Also Light,“, begann der noch nicht ganz ergraute und kräftig gebaute Mann, der sich nun ebenfalls gesetzt hatte und während dem Sprechen in irgendwelchen Akten, die vor ihm lagen, herum blätterte. Daneben, auf dem Rand des Schreibtisches konnte Light die Bestenliste erkennen, die vor einer halben Woche die landesweiten Platzierungen des letzten Vergleichstest bekanntgegeben hatte und auf der Lights Name wie sonst auch immer an erster Stelle stand. „Mr. Wammy ist der Leiter eines Waisenhauses in Großbritannien. Dieses Waisenhaus ist besonders darauf spezialisiert hochbegabte Kinder aufzunehmen und sie bestmöglich zu fördern. Nun ist es so, dass wir mit einem außerordentlich hohen Intelligenzquotienten, wie du ihn hast, überfordert sind und dich niemals so fördern könnten, wie du es brauchen würdest. Mr. Wammys Organisation ist allerdings auf dich aufmerksam geworden durch deine hohen Landesplatzierungen und hat daher Interesse für dich angedeutet.“
 

Watari räusperte sich und ergriff nun selber das Wort.

„Deine Lehrer haben mir berichtet, dass sie denken, du wärst mit sämtlichem Schulstoff unterfordert und nicht nur deinen Altersgenossen, sondern auch sämtlichen Oberschülern weit überlegen.“, sagte er mit seiner ruhigen Art. „In unserem Waisenhaus würdest du genau passend zu deinen Fähigkeiten gefördert werden können. Du wärst mit Gleichgesinnten zusammen und hättest die Möglichkeit dein Potential komplett auszuschöpfen. Wenn du mit nach England kommen würdest, dann könntest du – besonders mit deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten – in deinem Leben noch sehr viel erreichen.“
 

Ja, zum Beispiel könnte ich alle Namen von allen möglichen Nachfolgern Ls herausbekommen und sie mit meinem Death Note aus dem Weg räumen.
 

„Ok.“, antwortete Light sofort, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu überlegen.

Vielleicht fiel seine Antwort zu schnell und wirkte ein wenig verdächtig, aber er konnte es nicht erwarten, endlich aus diesem Rattenloch raus zu kommen.
 

„Willst du nicht lieber noch einmal ein bisschen darüber nachdenken?“, fragte Watari vorsichtig. „Es ist schließlich sehr weit weg von deinem Heimatland. Und wenn du einmal in unserem Waisenhaus aufgenommen bist, dann kannst du nicht mehr so einfach zurück in ein Japanisches wechseln.“
 

„Nein, das ist kein Problem für mich.“, meinte Light und schüttelte den Kopf. „Ich bin mir ganz sicher. Ich habe hier alles verloren, was mir wichtig ist und ich denke, dass mir eine Herausforderung gut tun würde.“

Der zweite Teil des letzten Satzes war noch nicht einmal wirklich gelogen.

Er war sich sicher, dass das Waisenhaus in Großbritannien ihm mehr Herausforderung bieten würde, als irgendeines, das er hier finden konnte und vielleicht würde sogar auch etwas von dieser unerträglichen Langeweile dabei verloren gehen.

Auch wenn er wieder in einem Waisenhaus festsitzen würde, es würde zumindest ein Waisenhaus sein, das ihm Unterhaltung bieten konnte

Wie eintönig konnte ein Waisenhaus schon sein, das jemanden wie L hervorgebracht hatte?
 

Es gab so viele Gründe, warum es sich lohnen würde, dorthin zu gehen.

Wammys Haus war das Waisenhaus, in dem L gelebt hatte und in dem seine Nachfolger aufwuchsen.

Vielleicht würde er sogar L dort sehen können.

Immerhin gehörte es Watari. Die Chancen waren also sehr hoch, dass L selber auch häufig in das Waisenhaus zurückkehrte.
 

„Na schön…“, meinte Watari noch immer ein wenig zögerlich.
 

„Wann kann ich abreisen?“, fragte Light begierig.
 

„Wenn du dir wirklich ganz sicher bist, dann können wir den Flug morgen Vormittag nehmen.“, antwortete Watari. „Vorher müssen noch ein paar Formalitäten geklärt werden, aber die werde ich bis dahin auch erledigt haben. Du solltest bis dann all deine Sachen gepackt und dich von deinen Freunden verabschiedet haben. Es ist unwahrscheinlich, dass du jemals wieder zu diesem Waisenhaus zurückkehren wirst. Jedenfalls nicht, bevor du volljährig bist.“
 

Light ließ ein verächtliches Schnauben aus, das glücklicherweise weder von dem Heimleiter noch von Watari zu bemerkt werden schien.

Als ob er jemals wieder hier hin zurückkehren würde… nur in seinen Albträumen.
 

Das Packen stellte kein Problem für ihn dar und war schnell erledigt.

Die „Freunde“, die er hier gemacht hatte, waren ihm etwa so wichtig wie der Dreck unter seinen Schuhen.

Er sah somit keine Dringlichkeit darin, sich von ihnen zu verabschieden.
 

So verbrachte Light den restlichen Nachmittag an dem PC und suchte im Internet nach allen Informationen, die er über Wammys Haus finden konnte.

Doch, wie er erwartet hatte, fand er kaum etwas, das über das Wissen, welches er ohnehin schon hatte, hinaus ging.
 

Der Flug am nächsten Morgen mit Watari verlief relativ ereignislos.

Während des langen Fluges (Light hatte sich glücklicherweise mehrere Bücher mitgenommen) sprach der alte Mann kaum etwas, sondern schien die meiste Zeit in seinem Erste-Klasse-Sitz zu schlafen.

Anscheinend war er einen Großteil der Nacht damit beschäftigt gewesen, die nötigen Papiere, die Light für die Ausreise brauchte, zu besorgen und hatte jetzt einiges an Schlaf nachzuholen.
 

Light fragte sich allerdings, wann genau er endlich in das vermeintliche Geheimnis über L und seine Nachfolgschaft eingeweiht werden sollte.

Eigentlich konnte er ja noch gar nichts über die Besonderheit des Waisenhauses wissen und Watari hatte L mit noch keiner Silbe erwähnt gehabt.

Allerdings waren sie auch nie so richtig unter sich gewesen und solche Informationen waren vermutlich zu vertraulich, um sie im Flugzeug zu enthüllen.
 

In Großbritannien angekommen, brachte Watari Light, zu seiner Überraschung, nicht zu den parkenden Autos, sondern an den Taxihaltestand, wo er einem Taxifahrer, der ihn zu kennen schien, Geld überreichte und ein paar Worte mit ihm wechselte, woraufhin der Taxifahrer zustimmend nickte.
 

„Ich werde dich jetzt verlassen müssen, Light.“, sagte Watari und reichte ihm zum Abschluss die Hand. „Ich muss jetzt weiter, weil ich woanders von jemandem erwartet werde. Das Taxi wird dich zu deinem neuen Zuhause bringen. Dort ist man bereits auf deine Ankunft vorbereitet und du wirst erwartet. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

Mit diesen Worten verabschiedete sich Watari von Light und während der Taxifahrer ihm half, seine Koffer zu verstauen, verschwand der alte Mann wieder in der Eingangshalle des Flughafens.
 

Light war es im Grunde egal, ob es nun Watari war, der ihn zu Wammys Haus bringen sollte, oder ein Taxifahrer.
 

Er musste schmunzeln, als das Taxi den Flughafen verließ und er daran dachte, wie Watari gesagt hatte, dass „jemand“ den alten Mann erwartete.

Ganz zweifellos war dieser jemand ein gewisser Detektiv, der ohne seinen „Aufpasser“ meist ziemlich hilflos war.

Vermutlich litt das zuckersüchtige Genie mittlerweile unter schlimmsten Entzugserscheinungen, weil er nicht in der Lage war, sich seinen „Stoff“ selbstständig zu besorgen.
 

Die Autofahrt dauerte fast anderthalb Stunden und während Light nach draußen sah und Bäume und Felder an sich vorbeiziehen ließ, konnte er nicht umhin, eine innere Unruhe in sich zu spüren.
 

Auch wenn seine kühle und gelassene Mimik es niemals verraten würde, so war er doch aufgeregt, jetzt tatsächlich den Ort zu sehen, der L zu L gemacht hatte.
 

Er hatte keine genaue Vorstellung davon, wie das Hochbegabtenheim wohl aussehen mochte, und das, was er sah, als das Taxi sich von der Straße entfernte und einen Privatweg hoch auf ein großes Anwesen fuhr, ließ ihm für einen Augenblick den Mund offen stehen.
 

Es hatte absolut nichts mit dem schäbigen Waisenhaus gemein, das Light bisher kennengelernt hatte.
 

Es sah generell nicht so aus, wie man sich ein Waisenhaus vorstellte, sondern wirkte eher wie eines dieser alten, aber gut erhaltenen, englischen Herrenhäuser.

Umsäumt war es von einem weiten, gut gepflegten Rasen und hinter dem Haus verbargen hohe und üppige Bäume verschiedener Arten den Blick nach hinten, sodass Light nur rätseln konnte, wie weit das Grundstück in Wahrheit noch verlief und was sich dahinter alles verbarg.

Ein Spielplatz vielleicht?

Oder ein kleiner Wald?

Auf jeden Fall schien dieser Ort genügend Platz zur vollen Entfaltungsfreiheit aller Kinder zu bieten.
 

Das Eisentor, welches das Anwesen versperrte, öffnete sich automatisch, als das Taxi langsam heran fuhr, sodass der Wagen bis auf den großen Platz vor dem Haus fahren konnte.

Light war sehr dankbar für die Hilfe des Taxifahrers beim Ausladen und Reintransportieren der Koffer.
 

Auch die Eingangshalle war beeindruckend und während Light das Bild an der Decke bewunderte, bemerkte er nicht, dass er mit seinem Koffer gegen jemanden prallte, der gerade um die Ecke gerannt kam.
 

„Au! Pass doch auf!“, sagte die kleine, schmale, schwarzgekleidete Gestalt mit blonden, etwa kinnlangen Haaren, die mit allen Vieren auf dem Steinboden gelandet war.
 

„Das tut mir leid. Ich habe dich nicht gesehen.“
 

Mit besorgtem Gesicht beugte Light sich herunter um ihr wieder aufzuhelfen.

Es kam sicherlich nicht gut an, in den ersten fünf Minuten seiner Ankunft kleine Mädchen umzuwerfen und da er mit dem Gedanken spielte, hier tatsächlich bis zu Zurückerlangen des Death Notes zu bleiben, wollte er lieber seinen üblichen, positiven Ruf beibehalten.

Sofort hielt er ihr eine Hand hin.
 

Das Mädchen – es mochte wohl so zwischen zehn und zwölf Jahren alt gewesen sein – funkelte ihn mit eisigen blauen Augen an und schlug, mit mehr Kraft, als er es für möglich gehalten hätte, seine Hand weg.
 

„Ich brauche deine Hilfe nicht.“, sagte sie und Light hatte das nagende Gefühl, dass ihm irgendetwas an diesem Gesicht bekannt vor kam.

Und als sie aufstand und sich mit wütender Miene den nichtvorhandenen Staub von der Kleidung klopfte, da wurde ihm bewusst, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: als Kinderzeichnung von einem von Ls Nachfolgern.
 

Mello.

Mihael Keehl.
 

Das ..ähem…Mädchen…, das vor ihm stand, war die Kinderversion des Mannes, der in seinem früheren Leben für den Tod seines Vaters verantwortlich gewesen war – oder zumindest so viel Verantwortung dafür hatte, wie Light selber.
 

„Was starrst du mich so an?“, fragte Mello so scharf, wie es seine Kinderstimme zuließ und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Bist du dumm, oder so? Das hier ist ein Heim für intelligente Kinder.“
 

Light blickte stumm und fast schon belustigt runter auf die kleine Gestalt, die ihm gerade mal bis zur Taille reichte und ihn kampflustig anfunkelte.

Oh ja, da haben wir unser zukünftiges Mafiamitglied, dachte Light und überlegte, ob er Mello aus Spaß noch ein bisschen provozieren sollte, oder ob es klüger wäre, ihn zu beschwichtigen.

Doch diese Entscheidung wurde ihm von einem verärgert aussehenden älteren Mann, der eine der Treppen hinab stürmte, abgenommen.
 

„Mello!“, rief dieser und schüttelte in Verzweiflung den Kopf. „Du hattest doch Zimmerarrest dafür, dass du in der Küche Salz in die Zuckertöpfe gekippt hattest und wir den gesamten Nachtisch wegschmeißen mussten. Warum bist du noch hier draußen?“
 

Mellos Blick wurde noch eisiger als zuvor – falls das überhaupt möglich war.

„Mir war aber langweilig.“, sagte er mit quengelndem Tonfall, ohne sich zu dem Mann umzudrehen.
 

„Geh sofort zurück auf dein Zimmer, oder wir werden den Putzdienst, den du zur Strafe bekommen hast, noch um eine Woche verlängern.“
 

„Aber Ma…“
 

„Keine Widerrede!“
 

„Hmpf…“
 

Mello schnaubte und murmelte irgendetwas Unverständliches, bei dem Light sich sicher war, dass sich um einige Schimpf- und Fluchwörter handelte.

Doch zum Erstaunen des Japaners widersprach der blonde Junge nicht, sondern machte tatsächlich auf dem Absatz kehrt, um – wie es schien- in sein Zimmer zurück zu kehren.

Bevor er dies jedoch tat, funkelte er Light noch einmal herausfordernd und frech an und streckte ihm die Zunge raus.
 

Light lächelte finster, als er dem kleinen Blondschopf nachsah.

Hab nur deinen Spaß jetzt, Mello. Jetzt, da ich endlich auch dein Gesicht in Wirklichkeit gesehen habe, kann ich dich mit dem Death Note töten. Dein Name wird der dritte sein, den ich aufschreibe.

Direkt nach L und Near.
 

Light lenkte seine Aufmerksamkeit genauer auf den Mann, der mittlerweile vor ihm stand.

Er hatte eine Brille, ein von Falten zerknittertes Gesicht, graue Haare und schien vom Alter her in etwa mit Watari vergleichbar zu sein, allerdings hatte sein Gesicht viel strengere Züge und die großväterliche Wärme, die Watari ausstrahlte wurde durch eine kaltwirkende Distanz ersetzt.
 

„Hallo Light.“, sagte er, und obwohl er sich wohl darum bemühte freundlich und herzlich zu wirken, so konnte er eine gewisse Grimmigkeit, die auf ihm lag, nicht ganz abwerfen. „Ich bin Roger und leite das Waisenhaus in Mr. Wammys Abwesenheit.“
 

„Freut mich Sie kennenzulernen.“, sagte Light mit seiner üblichen Höflichkeit.
 

„Es gibt einiges zu klären am Anfang, weshalb es am besten wäre, wenn du mit in mein Büro kämest.“, meinte Roger.

Light blickte zögernd auf seine Koffer, die noch immer aufgestapelt mitten in der Eingangshalle standen, was Roger zu bemerken schien, da er als nächstes sagte: „Mach dir wegen deinen Sachen keine Sorge. Während wir oben sind und noch ein paar Dinge erledigen, werden sie schon in dein neues Zimmer getragen, damit du dich darum später nicht mehr kümmern musst.“
 

Das Büro befand sich im zweiten Stock und auf dem Weg dahin fiel Light positiv auf, dass das unerträglich laute Geschrei und Gepolter seines vorherigen Waisenhauses fehlte.

Natürlich war noch immer Kinderlachen zu hören und ab und an liefen ihnen ein paar Kinder entgegen, die Fangen spielten, doch es war um einiges angenehmer, als alles, was er bisher erleben musste.

Offensichtlich war es hier auf jeden Fall so, dass viel mehr Platz im Verhältnis zu der Anzahl der Kinder herrschte und zumindest nicht alle so zusammengepfercht waren, wie er es bisher erlebt hatte.

Konnte er sogar darauf hoffen, sein eigenes Zimmer zu erhalten?
 

Rogers Büro war ein relativ großer Raum, mit zwei großen Fenstern zu beiden Seiten des dunkelholzigen Schreibtisches.

Hinter dem Schreibtisch war ein Regal, welches vollgestellt war mit Büchern und Akten.
 

„Also Light.“, begann Roger, als sich beide gesetzt hatten. „Dein vollständiger Name ist LightYagami, du bist geboren am 28. Februar 1986. Vater Soichiro Yagami, Mutter Sachiko Yagami und Schwester Sayu Yagami sind alle bei einem Geiseldrama ums Leben gekommen. Außer einer, alten, kranken Großmutter, die sich in einem Altenheim befindet, hast du keine lebenden Verwandten mehr.“

Light nickte, während Roger weiter seine Akte studierte.

„Seit Jahren bist du bei den landesweiten Prüfungsvergleichen immer auf Platz eins in Japan.“

Seine Augen musterten Light kurz interessiert und Light fühlte den Drang, erneut zu nicken.

„Hast du irgendwelche Stärken dabei?“
 

„Ich bin eigentlich überall gut.“, meinte Light und zuckte mit den Schultern. „Aber ich denke am besten bin ich bei allem, was logisches Denken beansprucht.“
 

Jetzt war es Roger der nickte.

Die Antwort schien ihm zu gefallen und es herrschte eine kurze Pause, in der er zu überlegen schien, wie er nun fortfahren sollte.
 

„Hast du schon mal etwas von L gehört?“, fragte er schließlich und Light lächelte innerlich.
 

Na endlich.

Darauf hatte er jetzt lange genug gewartet.
 

Natürlich hatte er sich schon vorher überlegt, in wie weit er auf so eine Frage reagieren sollte.

Selbstverständlich kannte er L – JETZT.
 

Damals hatte er von L aber das erste Mal etwas gehört, als dieser ihn in der Fernsehübertragung herausgefordert hatte.

Hätte Light zu dem Zeitpunkt schon gewusst, wer L war und zu was er fähig war, so hätte Light niemals so unüberlegt gehandelt und Lind L. Tailor vor der gesamten Öffentlichkeit hingerichtet.
 

Natürlich konnte er immer noch behaupten, er hätte in den Dateien seines Vaters etwas über L gelesen, doch er wusste nicht, in wie weit sein Vater vor dem Kirafall überhaupt schon einmal mit L zusammengearbeitet hatte und da L vermutlich Akten darüber besaß, wann, mit wem und an welchem Fall er schon mal gearbeitet hatte, war die Gefahr zu groß, dass die Lüge auffallen würde.
 

Also setzte Light sein ahnungsloses, unwissendes Gesicht auf.

„Meinen Sie L als Buchstabe? Selbstverständlich kann ich lateinische Buchstaben lesen. Das lernt jedes Kind in Japan.“, sagte er mit gespielter Entrüstung und blickte Roger mit großen, braunen Augen an.
 

Roger seufzte –anscheinend hatte er gehofft sich ein paar Erklärungen sparen zu können.

Mit nicht besonders glücklichem Ausdruck erklärte er Light alles, was dieser eigentlich schon wusste.
 

„Und wir sind jetzt hier, damit irgendwann einer der Nachfolger von diesem L wird?“, fasste Light am Ende der Erklärung zusammen.
 

„Genau.“, bestätigte Roger. „Zumindest einer, oder vielleicht auch zwei – das hängt davon ab, wie lange L und sein Nachfolger jeweils leben-“ (Light zog eine Augenbraue hoch. Erzählte der Mann das Selbe etwa auch kleinen Kindern? Das konnte für einige doch ziemlich erschreckend klingen.) „kann später den Titel von L übernehmen. Der Rest wird später, je nach den eigenen Interessen und Fähigkeiten, in die Wirtschaft, Wissenschaft oder ins Rechtssystem gehen und im Normalfall dort Kariere machen.“
 

Gut, immerhin bieten sie denen, die es nicht schaffen, L zu werden, eine alternative Möglichkeit an, dachte Light – nicht, dass er sie brauchen würde.

Seine Zukunft war bereits vorbestimmt „Gott der neuen Welt“ zu werden.
 

„Wir führen regelmäßige Tests durch, die sich teilweise aber von den bekannten Schultests unterscheiden, um zu sehen auf welchem Stand sich der einzelne gerade befindet und wie weit er sich entwickelt hat. Wenn man wirklich das Ziel hat, Ls Nachfolger zu werden, ist allerdings fast alles, was er hier macht, ein Wettbewerb, da nur die allerbesten eine Chance haben werden, als engere Auswahl für den Titel in Frage zu kommen.“
 

Okay… so viel zum bilderbuchartigen Paradies-Waisenhaus.
 

Manche Kinder mussten sicher ziemlich paranoid drauf sein, wenn sie wirklich L werden wollten, da es unter Garantie nicht alle aushielten ständig dem Konkurrenzkampf ausgeliefert zu sein.
 

„Eine weitere Sache ist, dass alle Kinder, die in Wammys Haus kommen, einen Decknamen annehmen, den sie von nun an immer benutzen sollen, um ihre wahre Identität zu schützen. Alle Kinder leben von nun an unter diesem Namen, außer die beiden Höchstplatzierten in der Rangfolge um Ls Nachfolge.“
 

„Und wie werden die genannt?“, fragte Light neugierig.
 

„A und B.“, antwortete Roger knapp und Light konnte sich ein erstauntes Gesicht nicht verkneifen.
 

Kein Wunder, dass L immer so emotionslos und gleichgültig gewirkt hatte.

Wie sollte man sich denn sonst entwickeln, wenn man als Kind schon so instrumentalisiert wurde?
 

„Alle Kinder können sich ihren Decknamen selber aussuchen. Allerdings sollte es der Übersichtshalber ein Name sein, der den selben Anfangsbuchstaben hat wie der echte Vorname.“, meinte Roger und faltete seine Hände zusammen. „Falls du also einen Wunsch dazu hast, darfst du diesen gerne äußern.“
 

Light dachte kurz nach und musste sich ein Grinsen verkneifen, als er an einen bestimmten Namen dachte, den er als Decknamen haben konnte.

Es wäre so schön ironisch und makaber und keiner außer ihm würde die Bedeutung und Geschichte hinter diesem Namen kennen.

Er wusste, dass es eigentlich dumm und kindisch war, ausgerechnet diesen Namen zu wählen.

Auch war es ein wenig riskant, da ja immer die Chance bestand, dass er seinen alten Plan tatsächlich wieder verfolgen konnte und die Öffentlichkeit genau wie früher drauf reagierte und ihm wieder den selben Namen gab.
 

Doch trotz aller logischen Gegenargumente, überwog in dem Moment seine Arroganz, die ihm sagte, dass dies ihm ein Gefühl von Überlegenheit verschaffen würde.

Außerdem würde er sowieso alle Mitglieder des Wammy Hauses, und somit alle, die ihn unter diesem Namen kennen würden, töten, sobald er das Death Note hatte.

Somit spielte es eigentlich keine Rolle, ob sie ihn jetzt schon so nannten.

Sie würden alle tot sein, bevor die Menschen auch nur anfingen, sich einen Namen für ihn auszudenken.
 

„Kira.“, sagte er also mit fester Stimme.
 

„Kira?“, fragte Roger verwundert. „Das fängt aber nicht mit einem L an, so wie Light.“
 

Light schüttelte entschieden den Kopf.
 

„Ich will Kira heißen, oder ich nehme keinen Decknamen an.“, bestand er stur. „K kommt direkt nach L im Alphabet und es ist doch eigentlich ganz egal, ob man nun den gleichen Anfangsbuchstaben hat oder nicht. Genau genommen ist es sogar ziemlich riskant so. Wenn jemand ihr System durchschaut hat, dann weiß er ganz leicht, welche Namen er schon mal alles ausschließen kann, wenn er versucht die wahre Identität eines der Waisenkinder herauszufinden.“
 

Roger seufzte, hob die Brille leicht an und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.
 

„Na schön.“, sagte er schließlich.
 

Er klang nicht gerade glücklich dabei, aber anscheinend schien er in einem Waisenhaus voller hochintelligenter Kinder täglich so viele Diskussionen und Argumente hören zu müssen, dass er ihnen, wenn es möglich war, lieber aus dem Weg ging.
 

„Also heißt du ab jetzt Kira.“, sagte er und trug diesen Namen in seinen Akten ein.
 

Anschließend öffnete er eine Schreibtischschublade und holte zwei Papiere heraus, die er Light reichte.
 

„Das eine ist dein neuer Stundenplan. Er ist erst einmal nur vorläufig und wird sich vermutlich noch ändern, wenn wir genau herausgefunden haben, auf welchem Stand du dich gerade befindest.“, erklärte der alte Mann. „Darunter befindet sich ein Lageplan des Waisenhauses, der dir am Anfang helfen soll die einzelnen Veranstaltungsräume besser zu finden. Ich denke, bei deiner Intelligenz wirst du ihn dir sicher schnell eingeprägt haben.“
 

Light betrachtete seinen ziemlich voll aussehenden Stundenplan.

Naja, immerhin würde er genug zu tun haben, was bedeutete, dass er sich weniger langweilen würde.
 

„Damit wäre eigentlich das wichtigste soweit geklärt. Hast du noch Fragen mein Junge?“
 

„Können wir L auch treffen?“, fragte Light sofort.
 

Roger seufzte.

„L ist darauf angewiesen, seine Identität noch besser zu verbergen als ihr.“, begann er. „Selbst im Waisenhaus kann er sich nicht ganz frei preis geben. Es ist möglich, dass du, falls du in die engere Wahl für seine Nachfolge kommen solltest, vielleicht einmal die Gelegenheit haben wirst, ihn zu treffen. Aber ich kann dir leider nichts versprechen. Manche Kinder hier leben schon seit vielen Jahren unter diesem Dach und haben L weder unter seiner wahren Identität, noch unter irgendeinem Decknamen kennengelernt.“
 

Light versuchte, sich seine Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen.

Es wäre interessant gewesen, den kauzigen Detektiv noch einmal zu treffen, bevor er ihn das zweite Mal töten würde.
 

„Also dann, bleibt wohl nichts mehr, außer dich zu deinem Zimmer zu bringen und dich mit deinem neuen Mitbewohner bekannt zu machen.“, sagte Roger und stand auf.
 

Light tat es ihm gleich und runzelte die Stirn.

Mist, also konnte er ein Einzelzimmer doch vergessen.

Allerdings war ein Mitbewohner immer noch um Klassen besser, als gleich fünf nervige, laute Bettnachbarn, von denen mindestens einer nachts nicht schlafen konnte und den Rest deshalb störte.

Sein Schlafrhythmus war komplett zerstört worden durch die letzten Wochen.

Es war nicht so schlimm, in der Zeit, in der er an L gekettet gewesen war (damals hatte er fast drei Monate gebraucht um wieder zu seinen alten Schlafgewohnheiten zurückzufinden), aber dennoch ärgerlich genug.

Und wie es aussah, musste Light sich nun mit einem Mitbewohner zufrieden geben, was im Vergleich definitiv noch erträglich war.

Ein wenig neugierig darauf, mit welchem hochbegabten Kind Light wohl von nun an sein Zimmer teilen würde, folgte er Roger durch die Gänge des Heimes.
 

Hätte er gewusst, wer auf ihn warten würde, so wäre er Roger möglicherweise nicht so zuversichtlich hinterher gelaufen…
 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen und bis zum nächsten Mal!^^

Mitbewohner

Roger blieb mitten in einem Gang vor einer der Türen stehen und klopfte an.

Als keine Antwort kam, seufzte der Aufseher und drückte die Türklinke herunter.

Langsam öffnete sich die Tür, die zu Lights neuem Zimmer führte, und er blickte neugierig in sein neues Reich.
 

Das Zimmer schien weder besonders groß, noch klein zu sein und war eher spärlich eingerichtet.

An der Wand standen zwei Betten, von denen eines unberührt und frisch gemacht aussah, während die Decken und Laken des anderen verknittert und zusammengeknautscht am Fußende lagen, so als wäre jemand aufgestanden und hätte anschließend nicht daran gedacht, sein Bett zu machen.
 

Light zog unwillkürlich die Nase kraus.

Na toll, er würde also mit einem unordentlichen Chaoten zusammen leben dürfen.

Als ob die Monate, die er an L gekettet gewesen war, nicht schon schlimm genug gewesen wären…

Mit einem Schaudern dachte er an all die auf dem Boden herumliegende Kleidung und Kekskrümel im Bett zurück.
 

An der hinteren Wand, an der große Fenster, die den Blick auf eine weite Spielwiese und einer großen Buche direkt vor der Glasscheibe freigaben, angebracht waren, standen zwei Schreibtische.

Und über einen der beiden Schreibtische saß eine vornübergebeugte Gestalt, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, sodass nur der weiße Pulli und der schwarze, wuschelige Haarschopf zu sehen waren.
 

schwarzer Haarschopf….weißer Pulli….
 

Light blieb wie erstarrt stehen und war unfähig sich zu rühren.

Er hielt für einen Augenblick die Luft an, als er die Figur fassungslos anstarrte und er für den Bruchteil einer Sekunde nicht mehr in der Lage war, einen richtigen Gedanken zu fassen.

Sein Mund wurde trocken und die Hände wurden feucht, während er noch immer hilflos zu verarbeiten versuchte, was er dort sah.

Dieser Anblick war ihm so vertraut, als hätte er es gestern erst gesehen, auch wenn es in Wirklichkeit mehrere Jahre gewesen waren. (Wenn man die Begegnung im MU nicht mitzählte.)

Wäre er nicht so überzeugt von seinem Verstand gewesen, so hätte er vermutet gehabt, dass dieser ihm einen Streich spielte.
 

Das konnte doch nicht sein, dass er ausgerechnet mit ihm ein Zimmer teilen würde.

Er war doch kein Waisenkind mehr.
 

Light verstand für einen Moment überhaupt nichts mehr –ein Gefühl, mit dem er absolut nicht vertraut war und welches ihn unangenehm hilflos ließ.
 

Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich die Gestalt um und Light hatte das Gefühl endlich wieder durchatmen zu können.
 

Das war nicht L.
 

Obwohl der Großteil der Gesichtszüge identisch mit dem des Detektivs war, konnte er trotzdem leichte Unterschiede erkennen.

Sein Gesicht war ein wenig runder, seine Lippen hatten eine etwas andere Form und seine Nase war nicht ganz so spitz.

Doch der größte Unterschied waren seine Augen.

Auch wenn sie beinahe genauso dunkelgrau waren wie Ls, so lag darin doch etwas Irres, fast schon Wahnsinniges, das Light einen kurzen Schauer über den Rücken jagte.
 

„Hallo B.“, sagte Roger mit etwas streng klingendem Tonfall. „Das hier ist Kira, dein neuer Mitbewohner.“
 

Bs Mund verzog sich zu einer grinsenden Grimasse, doch anstelle Light dabei länger ins Gesicht zu sehen, wanderten seine Augen auf einen Punkt kurz über seinem Kopf.
 

Light runzelte die Stirn und blickte nach oben, ob dort vielleicht eine Fliege oder etwas Ähnliches über seinem Kopf herumschwirrte, doch es war nichts zu sehen.

Hatte der Kerl irgendwelche Persönlichkeitsprobleme und konnte Menschen nicht ins Gesicht gucken?

Wäre ja nicht der Erste in diesem Waisenhaus, der gleichzeitig auch reif für die Irrenanstalt war.
 

„Hi.“, sagte Light mit so viel Charme, wie er in seiner Irritation und seinen abfälligen Gedanken gerade aufbringen konnte, und streckte dem L-Doppelgänger die Hand entgegen. „Freut mich dich kennenzulernen.“ Immer schön freundlich sein, sodass alle denken, dass du auf ihrer Seite stehst.
 

Jetzt blickte B ihm direkt ins Gesicht und sah ihn prüfend an, als er die Hand entgegen nahm.

Light hatte allerdings das Gefühl, dass er nur auf das Händeschütteln einging, weil er wusste, dass Roger dies erwartete und nicht aus seiner eigenen Höflichkeit heraus.

Möglicherweise war er einfach genauso darum bemüht einen guten äußeren Schein zu bewahren, wie Light es war.
 

„Ich erwarte, dass du dich bei deinem neuen Mitbewohner besser aufführst und dass sich ein Verhalten wie das letzte Mal nicht wiederholen wird.“, sagte Roger scharf.
 

„Sicher.“, sagte B und zu Lights Erleichterung klang seine Stimme auch anders als die von L.

Er wusste noch nicht einmal, warum er froh war, dass sie anders klang, aber irgendetwas in ihm schien den Drang zu haben, alles, was anders war als an L, hervorzuheben, um zu verdeutlichen, dass dies auf keinen Fall L sein konnte.
 

„Also gut. Kira, ich gehe dann wieder.“, wandte sich Roger an Light. „Wenn du noch irgendwelche Fragen hast, kannst du dich an B wenden oder an einen der Betreuer in diesem Waisenhaus. Wenn es Probleme gibt, ich bin in meinem Büro.“

Mit diesen Worten verschwand er und schloss die Tür hinter sich.
 

Light blickte sich ein wenig im Zimmer um.

Seine Koffer waren bereits hochgebracht und standen vor einem Kleiderschrank, von dem Light annahm, dass er für ihn gedacht war.
 

„Und du bist also der Zweitplatzierte?“, fragte er, als er begann den ersten Koffer auszuräumen.
 

„Hmh.“, bejahte B und warf sich selber auf das ungemachte Bett. „Ich hab vorher mit A zusammen gewohnt, aber… wir haben uns nicht so gut verstanden.“

Der letzte Teil klang so, als hätte B eigentlich etwas anderes sagen wollen.

Light ging aber nicht weiter darauf ein.
 

Die Tatsache, dass B so aussah, wie er aussah, machte Light zwei Dinge deutlich: erstens: B musste L schon einmal gesehen habe und zweitens: B war noch mehr von L besessen als Light.

Denn dass er ein wenig von L besessen war, das musste Light wohl oder übel zugeben.

Wieso sonst würde er dauernd an seinen ärgsten Widersacher denken müssen und alle mit ihm vergleichen?

Verdammt, er war das Letzte gewesen, was er vor seinem Tod gesehen hatte. Wenn das nicht besessen war, dann wusste er auch nicht weiter.
 

Allerdings galt seine größere Besessenheit dem Death Note und dem Plan, sein ursprüngliches Ziel einer perfekten Welt doch noch zu erreichen.
 

Er konnte B allerdings nicht fragen, wann ihm L begegnet war, da er sich somit verdächtig machen würde, weil er eigentlich gar nicht wissen durfte, wie L aussah.
 

Aber vielleicht konnte er die Frage etwas subtiler stellen.
 

„Und wir trainieren jetzt also alle dafür, eines Tages Ls Nachfolger zu werden.“, begann er langsam und beobachtete B dabei aus den Augenwinkeln heraus. „Aber ich finde, dafür, dass das jetzt unser Hauptlebensinhalt sein soll, wissen wir viel zu wenig über ihn. Ich würde ihn ja zu gerne mal treffen.“
 

B erwiderte nichts darauf, also redete Light weiter.
 

„Hast du ihn schon mal getroffen?“
 

B zuckte mit den Schultern.

„Nein.“, sagte er. „Richtig getroffen hat ihn noch keiner von Wammys Kindern.“
 

Light unterdrückte ein Zähneknirschen.

Ich weiß, dass du lügst, du Mistkerl. Du musst ihn getroffen haben.
 

„Wenn du sagst, dass ihn noch keiner „richtig getroffen“ hat, was meinst du dann damit? Kann man ihn auch „nicht-richtig“ treffen?“
 

„Manchmal kommen von L geschickte Inspekteure vorbei, die sich den Stand der Kinder und des Waisenhauses ansehen sollen. Es gehen dabei immer Gerüchte um, dass L selber manchmal auch unter ihnen ist. Das heißt, es ist durchaus möglich, dass man ihn schon gesehen hat, man kann es aber nicht mit Gewissheit sagen.“, meinte B.
 

‚Doch B, du kannst es sogar ganz genau mit Gewissheit sagen, dachte Light und verengte die Augen zu Schlitzen. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dein gesamtes Aussehen veränderst um wie jemand auszusehen, von dem du nur vermutest, dass er L sein könnte. Nein, du musst einen Weg gefunden haben um es mit Sicherheit sagen zu können.
 

Was genau das für ein Weg gewesen sein sollte, konnte Light allerdings noch nicht sagen und dies ärgerte ihn gewaltig.
 

B streckte sich und stand auf.
 

„Ich klaue mir mal ein Glas Erdbeermarmelade aus der Küche.“, meinte die L-Kopie lässig und ging zur Tür. „Bis später, kleiner Light.“
 

Light erstarrte, als er seinen eigenen Namen hörte.

Mit weitaufgerissenen Augen starrte er den anderen Teenager an, der ihm ein leicht irre wirkendes Grinsen zuwarf und anschließend, zufrieden mit der geschockten Reaktion, die er bekommen hatte, pfeifend das Zimmer verließ.
 

Hatte der Bastard etwa in seinen Akten rumgeschnüffelt?

Anscheinend schien die Geheimhaltung der Identität hier doch nicht so gut zu funktionieren, wie es geplant war.

Vermutlich hätte er früher hier sogar, wenn er nur gründlich danach gesucht hätte, Ls wahren Namen herausfinden können.
 

Plötzlich erstarrte Light geschockt und ließ den Stapel Hemden, den er in der Hand hatte, auf den Boden fallen.
 

B hatte ihm als aller erstes, nachdem er sein Gesicht gestreift hatte, auf die Stelle kurz über seinem Kopf hingesehen.
 

Über seinem Kopf…
 

Genauso hatte es doch immer ausgesehen, wenn Misa einen Namen mit ihren Shinigami Augen gelesen hatte.
 

Konnte es möglich sein, dass dieser B auch die Augen besaß?

Damit würde zumindest auch erklärt werden können, wie B so genau wissen konnte, welcher der Inspektoren L war.

Wenn er seinen Namen lesen konnte, dann war es zu offensichtlich.

Nur ein kompletter Vollidiot würde nicht darauf kommen, dass es sich bei „L Lawliet“ um L, den Detektiv, handeln musste.
 

Aber wenn er Shinigami Augen besaß, dann bedeutete dies gleichzeitig auch, dass er den Handel mit einem Shinigami abgeschlossen haben musste.

Und das bedeutete wiederrum, dass er in der Lage sein musste diesen Shinigami zu sehen und das funktionierte nur, wenn er ein Death Note besessen hatte.

Genaugenommen musste er es sogar jetzt noch besitzen, da er mit der Aufgabe des Death Notes auch die Augen wieder verlieren würde.
 

Lights Herz schlug schneller.
 

Aber war das überhaupt möglich?

Konnte dieser Junge hier ein Death Note besitzen?
 

Es stimmte schon, dass Ryuk gesagt hatte, es sei nicht das erste Mal gewesen, dass ein Death Note in die Menschenwelt gelangt sein, doch Light hatte angenommen, dass dies schon sehr viele, vielleicht sogar hunderte Jahre her gewesen sein musste.

Ryuk hatte es damals nur aus Langeweile getan, weil die Shinigamis in seiner Welt zu träge geworden waren.

War es möglich, dass es einem anderen Shinigami vielleicht genauso ging, oder war es möglicherweise sogar Ryuk selber?
 

Nein, Letzteres war ausgeschlossen.

Ryuk hätte das Death Note nicht bei ihm damals fallen lassen, wenn er schon so kurz vorher die Erlebnisse in der Menschenwelt gehabt hätte und es war ausgeschlossen, dass sich diese Tatsache durch das Zurückdrehen der Zeit änderte.

Das Wesen hatte damals selbst gesagt, dass alle Veränderungen des Schicksals nur in der Menschenwelt vorgenommen werden können, in der Shinigamiwelt würde jedoch alles genauso ablaufen, wie bisher.

Das bedeutete, Ryuk würde das Notizbuch zu genau der gleichen Zeit wie damals und an exakt derselben Stelle fallen lassen.
 

Also musste es ein anderer Shinigami sein.
 

B hatte gesagt, dass er sich Erdbeermarmelade holen würde.

Aber welcher normale Mensch aß schon pure Marmelade?

War es möglich, dass Bs Shinigami süchtig nach Erdbeermarmelade war, so wie Ryuk es nach Äpfeln gewesen war?

Auszuschließen war es jedenfalls nicht.
 

Light spürte, wie seine Hände zu kribbeln begannen und sich sein Atem immer mehr beschleunigte.
 

Ein Death Note…
 

War es möglich, dass er gar nicht mehr dreieinhalb Jahre warten musste, bis er seinen Plan weiter ausführen konnte?
 

B hatte es bestimmt hier irgendwo versteckt.

Allerdings musste er vorsichtig sein, wenn B der Zweite in der Rangfolge war, dann war es sehr wahrscheinlich, dass seine Intelligenz beinahe an Lights eigene heranreichte.

Und Light hatte sehr extreme Vorsichtsmaßnahmen unternommen um zu verhindern, dass irgendjemand das Buch finden konnte.

Es war also nur vernünftig anzunehmen, dass B ähnliche Vorkehrungen getroffen hatte.
 

Trotzdem…. Es würde ja nicht schaden sich einfach mal die Sachen anzusehen, die sein neuer Mitbewohner ganz offen in seinen Schränken, Regalen und Schubladen hatte.
 

Fürs erste würde es ja schon reichen, wenn er irgendwo auch nur ein kleines Stück Papier des Notizbuches finden würde.

Wenn er das berührte, konnte er wenigstens den Shinigami sehen.

Vielleicht konnte er den dann dazu bestechen, dass dieser ihm verriet, wo sich das Death Note befand.

Im Shinigami-Ausnutzen und -Hintergehen hatte Light ja schon einige Übung und dieser neue Shinigami war mit Sicherheit genauso dumm wie alle anderen.
 

Selbst, wenn die Bestechung fehlschlagen sollte, hatte Light noch eine weitere Idee.

Er würde einfach in Rogers Akten nach Bs richtigen Namen suchen, den dann auf das Papierstück schreiben und dazu noch notieren, dass B vor seinem Tod das Buch aus seinem Versteck holt und es Light übergibt.

Ja, das wäre einfach.
 

Aber zuallererst musste Light das Death Note oder zumindest etwas Papier davon finden.
 

Seine Hemden lagen vergessen auf dem Boden, als er aufgeregt über sie hinweg schritt und als erstes auf Bs vollgestelltes Regal zu ging.
 

Es war unwahrscheinlich, dass das Notizbuch so offen dort zu finden war, aber man konnte ja nie wissen.
 

Während er die Reihen und Hefte einzeln durchging achtete er auf folgende Sachen:

Erstens: er lauschte angestrengt, ob sich irgendwelche Schritte auf dem Gang näherten, da er keine Ahnung hatte, wie lange Bs Marmeladen-Klau-Aktion dauern würde und er auf keinen Fall schon am ersten Tag von ihm beim Rumschnüffeln in seinen Sachen erwischt werden wollte – vor allem nicht, wenn er tatsächlich ein Death Note besaß und seinen Namen kannte.

Zweitens: er nahm wirklich jedes der Bücher und Hefte in die Hand und blätterte sie kurz durch, da es ja sein konnte, dass B das Notizbuch in einem anderen Einband getarnt hatte.

Drittens: er stellte alles wieder haargenau so hin, wie es vorher gestanden hatte.

Viertens: er stellte sicher, dass er auch jedes herumliegende Blattpapier wenigstens mit dem Finger mal berührt hatte, damit er, falls es zu dem Death Note gehört hatte, hinterher den Shinigami sehen konnte.
 

Als das Regal abgearbeitet war und noch immer keine verräterischen Fußstapfen auf dem Gang zu hören waren, wandte er sich einer Holzkiste zu, die neben Bs (Messie-)Bett stand.

Er öffnete sie und zu seiner Überraschung fand er darin nichts außer leeren, ausgewaschenen (wenigstens etwas – Light hätte auf dem Flur übernachtet, bevor er in einem Zimmer geschlafen hätte, in dem wer-weiß-wie-viele-Jahre alte, dreckige Marmelade verschimmelte) Marmeladengläser.
 

Er nahm eines heraus und sah auf das Etikett.

Erdbeermarmelade

Eine ganze Kiste voller leerer Erdbeermarmeladengläsern.
 

Es musste einfach ein erdbeermarmeladesüchtiger Shinigami sein.

Es konnte einfach keine andere Erklärung für das geben.

Kein menschliches Wesen konnte diese widerliche rote Pampe so massenhaft verzehren.

Light wollte sich zumindest nicht vorstellen, dass so etwas möglich war.

Die Zahnarztkosten mussten ja astronomisch hoch sein.
 

Als nächstes ging er zum Schreibtisch und zog die unverschlossene Schublade auf.
 

Falls dieser B ähnliche Gedankengänge wie Light hatte, dann war das Death Note hier irgendwo.
 

Die Schublade war nicht besonders voll und enthielt nichts außer ein paar stumpfen Stiften und einem kleinen Pappschächtelchen.

Er tastete den Boden ab, kam aber schnell zu dem enttäuschenden Entschluss, dass sich dort kein doppelter Boden befinden konnte.
 

B musste also eine andere Idee gehabt haben.
 

Lights Blick fiel auf die kleine Schachtel und er nahm sie vorsichtig in die Hand.

Es war eine Packung mit farbigen Kontaktlinsen.

Mit gerunzelter Stirn öffnete Light sie und holte eine der Linsen heraus.
 

Die Färbung der Linsen war dunkelgrau, fast schwarz.

Das war zumindest die Erklärung dafür, warum Bs Augen beinahe dieselbe Farbe hatten wie Ls.
 

Seufzend legte er das Paket zurück in die Schublade und schloss sie wieder.

Keine Sekunde zu früh, da er in dem Augenblick schlürfende Schritte auf dem Gang bemerkte.
 

Schnell hastete er zurück zu seinen Sachen und begann seine Hemden aufzuheben.

Er legte sie gerade ordentlich gefaltet und aufgestapelt in den Schrank, als sich die Tür öffnete und B wieder herein kam.
 

Unauffällig beobachtete Light aus den Augenwinkeln, ob er nicht vielleicht auch einen Shinigami hinter dem Teenager her schweben sehen konnte.

Doch B schien allein gewesen zu sein.

Enttäuscht räumte Light seine Hosen in den Schrank.

Unter all den Zetteln, die er berührt hatte, war also kein Stück vom Death Note dabei gewesen.
 

Wo konnte diese billige Kopie es sonst noch versteckt haben?
 

Vielleicht war ein Stück des Death Notes in seinem Portemonnaie, dort hatte Light ja auch immer einen Fetzen aufbewahrt, für den Fall, dass er es dringend einmal brauchen sollte (bevor er das geniale Uhrenersteck hatte, natürlich).
 

Er würde einfach immer weiter suchen müssen, sobald B irgendwie außer Sichtweite war.

Und solange er keine Erfolge erzielen konnte, war es unbedingt notwendig, dass er sich so unverdächtig wie möglich verhielt.
 

„Weißt du,“, begann B nach einigen Minuten des Schweigens, in denen Light sich weiterhin um seine Kleidung gekümmert und B gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte. „ich hatte eigentlich gedacht, dass du mich als erstes, wenn ich wieder hier bin, danach fragen würdest, woher ich deinen richtigen Namen kenne, Kira.“
 

Scheiße!
 

„Du hast in meinen Akten rumgeschnüffelt, stimmt‘s?“, fragte er und bemühte sich dabei, so ruhig wie möglich zu klingen.
 

B zuckte nur die Schultern.
 

„Vielleicht.Vielleicht auch nicht.“, meinte er und setzte sich auf sein Bett.
 

Als Light seine Socken einsortierte, sah er, wie B sich auf sein Bett nieder ließ und unter seinem weißen Pulli ein Glas mit rotleuchtendem Inhalt hervor holte.

Aufmerksam wartete er ab, was nun passieren würde.

Würde er seinen Shinigami nun etwa füttern?

Aber wie wollte er das bitte schön machen, wenn Light mitten im Raum war und zusehen konnte?
 

Ruhig drehte B das volle Glas auf und steckte den Finger hinein.

Light verzog angewidert das Gesicht, schaffte es jedoch schnell wieder, seine alte Maske aufzusetzen.

Trotzdem… konnte der Kerl keinen Löffel benutzen, wie normale Menschen?
 

Und dann…
 

Steckte er den Finger gerade etwa tatsächlich in den Mund und leckte genüsslich die zuckrige Pampe ab?
 

Es verlangte einiges von Lights Schauspielvermögen ab, sein Gesicht unberührt und unverändert zulassen anhand dieses unhygienischen Anblicks, der sich ihm bot.

B steckte doch tatsächlich den schon abgeleckten und von seinem Speichel überzogenen Finger zurück in die Marmelade.
 

Ihgitt!
 

Wer sollte denn das noch essen?

Jetzt war die fruchtige Substanz ja voll von Bs Keimen und Bakterien….
 

B schien dies jedoch nicht zu stören. Unbedacht löffelte er einen Finger nach dem anderen mit Marmelade heraus und steckte ihn in den Mund.

Dabei tropfte tatsächlich etwas von dem klebrigen Zeug von seinem Finger runter auf das weiße Bettlaken, was die L-Kopie jedoch nicht zu bemerken schien.
 

Light machte eine mentale Notiz, an all seinen Sachen Vorhängeschlösser anzubringen, da er auf keinen Fall zulassen konnte, dass klebrige Marmeladenfinger seine kostbaren Sachen befleckten.
 

Gott, reichte es nicht schon, dass B wie L aussah, musste er jetzt auch noch seine unvorteilhaften Essensgewohnheiten nachmachen?

Das war ja genau wie diese aneinander geketteten Monate damals, nur dass diesmal die Handschellen fehlten.

Wenigstens hatte L früher keine Marmelade gegessen, jedenfalls konnte sich Light daran erinnern und Lights Erinnerungsvermögen war fehlerlos.
 

Merkwürdig war es allerdings schon, dass B die Marmelade selber aß.

War sie nicht für den Shinigami bestimmt gewesen?
 

„Ich glaube, es ist unhöflich andere beim Essen so anzustarren.“, bemerkte B plötzlich und Light schreckte aus seinen Gedanken auf.
 

„Entschuldige, ich...“, begann er, ohne so recht zu wissen, was er eigentlich sagen wollte.
 

„Oder willst du auch etwas? Hier.“ B hielt Light das halbleere Marmeladenglas entgegen.
 

Für einen Moment starrte Light die unheilige Mischung aus süßem Klebstoff und Speichel fassungslos und mit einem Ausdruck von absolutem Horror auf dem Gesicht an.
 

Meinte er wirklich er würde….?... Nachdem er seinen Finger?.... Urgh….
 

„Äh, nein danke.“, sagte Light und bemühte sich um das höflichste Lächeln, das er aufbringen konnte. „Der Tag war so aufregend für mich, da habe ich irgendwie einfach keinen richtigen Hunger. Vielleicht ein anderes Mal.“ …wenn die Hölle zufriert.
 

„Dann eben nicht.“, murmelte B und widmete sich selber wieder dem süßen Brotaufstrich.
 

Light atmete tief durch und nahm sich ein Buch aus seiner Tasche.

Er musste das Death Note so schnell wie möglich finden, soviel stand fest.

Vorsichtig setzte er sich auf sein noch ordentlich gemachtes Bett und bemühte sich, dabei die Decke nicht zu sehr zu verknittern.
 

Er würde einfach jede Minute, in der B nicht im Zimmer war, dafür nutzen, das Notizbuch zu suchen und danach, falls der Teenager es doch irgendwo anders versteckt haben sollte, würde er das gesamte Waisenhaus und das dazugehörige Grundstück durchkämmen.

Irgendwo musste es sich schließlich befinden, da war er sich sicher.
 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen und bis zum nächsten Mal^^



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