Nachtgeschrei von Schreiberchen (Wenn die Maske dich verfolgt) ================================================================================ Kapitel 2: #2# -------------- Kapitel 2 Blut geleckt Sie schrak hoch und atmete hastig ein, als hätte sie zuvor die Luft angehalten. Es war dunkel. Aber war es auch immer noch Nacht? Sie wusste es nicht und eigentlich war es ihr auch egal. Serafina hörte Schreie in ihrem Kopf hallen. Waren es nun ihre Eigenen oder nicht? Sie dachte über den Traum nach, den sie gehabt hatte, dann viel ihr der Traum ein, den sie zuvor geträumt hatte. Warum hatte sie in dieser kurzen Zeit zwei Träume hintereinander gehabt? Ging sowas überhaupt? Nun hörte sie ganz deutlich ihr Herz schlagen. Es pochte stark an ihren Brustkorb, als wolle es sich aus ihrem Körper befreien. Sie hielt es in ihrem Bett nicht mehr aus. Sie hatte Höllenangst. Dieses Lachen und diese Stimme, die gesagt hatte: "Lauf, wenn du kannst!" Das war doch nicht mehr normal, dachte sie sich. Naja, aber was war für sie denn überhaupt noch normal? Sie war ein einfaches kleines achtjähriges Mädchen, das keine richtigen Eltern hat und jetzt endlich adoptiert wurde. Aber statt sich darüber zu freuen, hatte sie Todesangst, noch länger in diesem gruseligen Schloss bei all diesen Verrückten zu sein. Aber da war ja auch noch Luca. Luca, ja den mochte sie. Er war nett zu ihr gewesen und behandelte sie gut. Es hatte sich gut angefühlt, als er ihren Kopf gestreichelt hatte. Es war beruhigend gewesen. Sie war noch ein Kind, sie brauchte sowas, fand sie. Serafina schob den Vorhang ihres Bettes zur Seite und stand auf. Der Boden war kalt unter ihren Füßen und es war immer noch dunkel. Sie konnte nicht viel erkennen, nur die Tür, die durch das Fenster vom Mond beschienen wurde. Auf dem Gang war der Boden genauso kalt und sie sah fast nichts. Luca hatte auf den Flur auf der anderen Seite gezeigt, als er ihr beschrieben hatte, wo sein Zimmer lag. Sie sah hinüber. An einer Wand brannte eine Kerze. War etwa noch jemand wach? Oder schon? Vielleicht war es ja auch Morgen und Igor streifte irgendwo durch die Gänge. Dieser Gedanke behagte Serafina so gar nicht. Was würde Igor ihr bloß antun, wenn er sie nachts im Gang erwischen würde? Die Erzieherinnen im Waisenhaus hatten ihr dafür immer Stubenarrest gegeben und man musste die Teller in der Küche spülen. Miss Sunshine hatte Serafina immer besonders gerne bestraft, wofür Serafina ihr immer noch böse war. Miss Sunshine tat zwar immer auf lieb, nett und freundlich, aber wenn man sie kannte, dann wusste man ganz genau, dass sie eine böse Hexe war. Jedenfalls war Serafina dieser Ansicht. Ängstlich, dass Igor sie erwischen könnte, lief sie schnell zu der Tür, die zu Lucas Zimmer führen musste – wenn seine Wegbeschreibung denn korrekt war. Sie hoffte inständig, dass Luca wach war, oder zumindest nicht sauer, wenn sie ihn weckte. Aber seine eigenen Worte waren ja gewesen, dass er immer Zeit hatte. Tag und Nacht. Zaghaft bewegte sie ihre Hand zur Tür. Sie wollte gerade klopfen, als die Tür aufging und sie stattdessen auf etwas Weiches traf. Es war Lucas Bauch. Er war komplett angezogen, als wolle er gerade zur Arbeit gehen. Zumindest wirkte er so. Verwundert sah er zu Serafina runter, die ihn verwirrt ansah. „Was machst du denn hier?“ fragte er und sah aus, als würde gerade etwas gewaltig schief gehen. „Du solltest schlafen.“ „Ich hab was Schlechtes geträumt.“ Sagte sie mit großen blauen Kulleraugen und strich sich mechanisch über ihr Handgelenk. Es war das Handgelenk, was in ihrem Traum durch jemanden Unbekanntes verletzt worden war. Luca setzte ein Lächeln auf und bat sie in sein Zimmer. Es war größer als das von Serafina. Die Möbel waren auch nicht so gothicmäßig, sondern hatten mehr was vom 18. Jahrhundert. Er hatte auch einen Schreibtisch mit Computer und einen Fernseher, der vor einem Sessel mit Fußhocker stand. Er schloss die Tür hinter Serafina, die sich noch umsah. Überall brannten Kerzen. „Setz dich.“ Sagte er und deutete auf den Sessel. Dann ging er an seine Kommode und zog die oberste Schublade auf. Serafina setzte sich in der Zwischenzeit. „Was hast du denn geträumt?“ wollte er wissen, während er in der Schublade wühlte, in der es klirrte. Wohlmöglich waren Gläser oder Flaschen darin, dachte Serafina. „Zuerst hab ich geträumt, dass Igor mich mit einem Steak verfolgt und lacht. Dann hab ich was Schlimmeres geträumt.“ Sie erzählte kurz, was sie geträumt hatte, dann kam Luca mit einem Glas, in dem sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand zu ihr und kniete sich neben den Sessel. „Ich bin mir sicher, dass das nur an der Aufregung lag.“ Meinte er und hielt ihr das Glas hin. „Das ist zur Beruhigung. Trink einfach.“ Sie schnupperte an dem Getränk. Es roch ein bisschen so wie das, was Rocca getrunken hatte. Serafina sah Luca fragend an. „Ist das Alkohol?“ im Waisenhaus hatten sie immer gesagt bekommen, dass Alkohol eine ganz üble Sache war. Selbst tranken die Erzieherinnen aber trotzdem manchmal den Alkohol, der in der Küche versteckt war. Das wussten die meisten Kinder des Waisenhauses, aber sie hatten natürlich nie was gesagt, weil sie befürchteten, sonst Ärger zu bekommen, da sie den Erzieherinnen hinterher spioniert hatten. „Nein, das ist nur sowas wie ein kleines Beruhigungsmittel. Keine Angst. Dann kannst du besser schlafen. Es ist ja schließlich erst drei Uhr.“ Er drückte ihr das Glas in die Hand und wartete, bis sie getrunken hatte. Ihre Augenlieder wurden sofort schwer und sie sank zurück. Luca griff nach ihrem Handgelenk und sah sich die Verletzung an, die gerade dabei war zu heilen. Er biss die Zähne fest zusammen und überlegte, während er die Verletzung genau musterte. Sie verschwand. Das letzte was Serafina spürte, war dass sie hochgehoben wurde. Rya klopfte an Serafina's Zimmertür und öffnete, ohne dass Serafina etwas davon mitbekam, denn sie schlief noch seelenruhig in ihrem Bett. Die Vorhänge waren nicht wieder zugezogen worden, aber jemand hatte sie sorgfältig zugedeckt. Rya trat näher und sah ausdruckslos auf sie herab. Die Sonne war dabei aufzugehen und die ersten Sonnenstrahlen schienen durch Serafina's Zimmerfenster. „Hey.“ Sagte Rya. Serafina bewegte sich nicht. „Du.“ Fügte Rya noch hinzu. Diesmal lauter und Serafina drehte sich zur Seite. „Se-ra-fi-na.“ „Mmm.“ War das einzige was Serafina dazu sagte. „Fiiiinaaaa.“ Rya stupste sie am Arm an. Serafina drehte sich wieder auf den Rücken. „Steh auf.“ Sie klang tonlos und es reichte auch nicht, um Serafina zu wecken, deswegen schnipste Rya ihr an die Nase. Wie erwartet riss Serafina die Augen auf und starrte ihr Gegenüber entsetzt an. „Du musst aufstehen. Es gibt Frühstück.“ Müde schlurfte Rya aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Serafina kam als letzte ins Esszimmer. Sie hatte sich eines der neuen Kleider angezogen. Sie gähnte und setzte sich auf ihren Platz. Charlette hatte ihren Kopf auf beiden Händen abgestützt und hing über einer Müslischüssel. Rocca rührte träge in einem Kaffee herum und Rya spielte mit einem Nintendo DS. Was sie spielte, konnte Serafina wieder nicht sehen, aber es war ihr auch egal. Sie war zu müde, um über irgendwas nachzudenken und nahm sich ein Toast von einem Teller. Sie merkte nicht, dass das Essen diesmal ganz normal und lecker roch. Luca saß neben ihr und war der einzige, der ausgeschlafen wirkte. Er bestrich sein Toast gerade mit etwas Rotem, das er aus einem Glas genommen hatte. Es war wohl Erdbeermarmelade, vermutete Serafina. Es roch aber anders als Erdbeermarmelade und als sie nach dem Glas greifen wollte, schob Luca es weg und meinte: „Da ist Alkohol drin, also nimm das lieber nicht.“ Schulterzuckend nahm Serafina das Nutella Glas. Die Tür flog auf, aber es war nicht die Tür zur Küche. Serafina hatte schon gedacht, dass es Igor war, aber herein kam ein vollkommen fremder Mann. Er war kreideweis, wie Charlette und hatte gelbliche Augen, jedenfalls sah es so aus, denn er trug eine getönte Brille mit runden Gläsern. Seine Haare waren etwas länger und rabenschwarz. Er trug einen langen schwarzen Mantel, darunter ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Ob das wohl der Professor war? Eher nicht, denn es schien niemanden zu interessieren, dass dieser Mann gerade das Zimmer betreten hatte. Niemanden, außer Serafina, die ihn anstarrte, als hätte sie noch nie einen Mann gesehen. Sein Blick blieb auf Serafina haften. Seine Mundwinkel huschten kurz nach oben, dann setzte er sich an den Kopf des Tisches, wobei er „Guten Morgen.“ In einem Akzent sagte, den Serafina nicht kannte. Russisch oder irgendwie asiatisch war es jedenfalls nicht. Aber es klang nach Europa. „Morgen.“ Murmelten die drei Mädchen. „Du bist dann wohl Serafina, richtig?“ fragte er diese und sie nickte nur, weil sie Angst hatte, mit diesem gruseligen Mann zu reden. „Wie schön…“ grinste er fies und klaute Rocca den Kaffee, die nichts dazu sagte, sondern einfach in der Luft weiterrührte, bis der Mann ihr auch den Löffel wegzog und ihr stattdessen ein Toaste in die Hand drückte. „Serafina, das ist Dr. von Dunkeltal, du kannst ihn aber auch einfach Tiberius nennen. Das ist ihm so ziemlich egal.“ Meinte Luca und griff nach der Zeitung, die neben ihm auf dem Tisch lag. „Ja, du kannst mich Tiberius nennen. Das ist mir so ziemlich egal.“ Sagte eben dieser grinsend mit den Ellbogen auf dem Tisch und schlürfte den Kaffee. Rocca kaute in der Zwischenzeit auf dem Toast herum. „Ich bin euer Privatlehrer.“ Er klang auch mit diesem abgehackten Akzent schleppend und irgendwie, als hätte er ein Mittel genommen, damit seine Stimme leicht quietschte, was ihn gruselig wirken ließ. „Der Unterricht in dieser Woche muss aber leider ausfallen, weil ich einige wichtige Termine habe. Also habt ihr solange Zeit euch besser kennenzulernen.“ Die drei Mädchen horchten auf. Dass sie eine Woche frei hatten, schien sie zu interessieren. Serafina stellte unterdessen fest, dass Tiberius‘ Stimme gar nicht zu ihm passte. Rya grinste breit und spielte weiter. Sie dachte wohl, dass sie dann mehr Zeit zum Spielen hatte. Charlette war jedoch entsetzt. „Aber was soll ich denn in der Zeit machen?“ „Ist mir egal, aber halt dich vom Klassenraum fern.“ Mahnte er sie. Rocca war zu sehr mit ihrem Toast beschäftigt, um sich mit ihrem Lehrer zu unterhalten. Es wirkte, als hätte sie Kopfschmerzen. „Rya, kannst du dich nach dem Frühstück bitte mit Serafina beschäftigen?“ fragte Luca und blätterte eine Zeitungsseite um. Dort war ein Bild von einem Mann zu sehen, dessen Herz rausgerissen war. Luca klappte die Zeitung zu und legte sie weg. Er wartete noch auf eine Antwort von Rya. „Hast du mich gehört?“ „Ja. Sie kann mit WOW spielen.“ Meinte Rya müde und stand auf. Sie hatte nichts gegessen und wartete, dass Serafina das letzte Stück Toast runterschluckte. Sie gingen ins Wohnzimmer, als Serafina fertig war. Rya holte einen weiteren Controller aus einem Schrank. Ihrer lag auf dem Sofa, wo sie ihn liegenlassen hatte. Beim Spielen redete Rya ein wenig mit Serafina, die das Spiel nicht unbedingt mochte, aber nichts sagen wollte, weil sie nicht beabsichtigte, dass Rya das falsch verstand. Rya erzählte in kurzen und knappen Sätzen, dass sie schon im Schloss gewohnt hatte, als sie noch ein Baby war. Sie sagte auch, dass sie Igor nicht leiden konnte und der Unterricht bei Tiberius einigermaßen interessant war. Sie war aber auch erst seit einem Jahr in seinem Unterricht. Sie erzählte auch ein paar Dinge über Charlette und Rocca. Zum Beispiel, dass Charlette von Luca auf der Straße gefunden worden war. Sie war übel zugerichtete gewesen. Rocca trank seit zwei Jahren literweise Alkohol und war sowas wie die Assistentin von Tiberius, da sie schon seit Jahren in seinen Unterricht ging und anscheinend schon den ganzen Stoff beherrschte. Serafina nahm das einfach so hin. Sie hatte ja keine Ahnung, dass man mit sechzehn noch nicht den ganzen Stoff beherrschen konnte. Sie selbst war ja auch erst acht. Nach dem Mittagessen, das auch gut schmeckte und nicht irgendwie übel roch, wollte Rya an ihrem Highscore in WOW arbeiten, wobei sie Serafina nicht gebrauchen konnte. Serafina setzte sich also einfach daneben und sah zu, bis die Tür zur Bar aufging und Rocca hereinkam. „Hey, hat jemand Lust auf Poker?“ Rya winkte ab und deutete auf den Fernseher. Roccas Blick viel auf Serafina. „Kannst du Pokern?“ Serafina schüttelte den Kopf. „Blöde Frage…naja, komm, ich bring ‘s dir bei.“ Sie nickte in Richtung Bar. Serafina stand auf und folgte ihr. Sie setzten sich an den runden Pokertisch und Rocca begann die Karten und die Chips auszuteilen, wobei sie Serafina alles erklärte. Als Serafina es begriffen hatte, spielten sie. Serafina war aber nicht besonders gut. Rocca gewann – sogar ziemlich schnell, das lag aber daran, dass Serafina gerade das erste Mal gespielt hatte. „Noch eine Runde?“ fragte sie und mischte die Karten neu. Serafina nickte. „Willst du was trinken?“ „Aber keinen Alkohol.“ Sagte Serafina vorsichtshalber, als Rocca aufstand und zur Bar ging. Sie lachte. „Keine Angst, du bekommst von mir schon keinen harten Stoff.“ Sie beugte sich über die Theke und zog eine Flasche hervor. „Wir haben auch Kirschlimo.“ Sie nahm ein Glas und schüttete Serafina etwas von der rötlichen Kirschlimo ein. Sie stellte der Achtjährigen das Glas auf den Tisch und setzte sich wieder. Auch sie erzählte Serafina ein paar Sachen, fragte aber auch einiges, während sie spielten und Rocca wieder gewann. Die Woche verging schneller, als Serafina gedacht hatte. Sie hatten sich alle besser kennengelernt. Sogar mit Charlette hatte sie sich ein paarmal unterhalten. Jetzt fand sie sie auch nicht mehr so gruselig wie anfangs. Die Mädchen waren alle ganz nett und Igor hatte sie zwischendurch immer nur beim Abendessen gesehen. Das reichte ihr auch wirklich. Das Abendessen roch aber immer noch komisch und ihre schlechten Träume hörten auch nicht auf. Inzwischen wachte sie aber nicht mehr einfach so in der Nacht auf. Sie schlief immer schon, bevor die Uhr zwölf schlug. Besagte Uhr hatte sie auch gefunden. Charlette hatte sie ihr gezeigt, als sie versuchen wollte, unerlaubt ins Klassenzimmer zu gelangen. Die Uhr stand der Tür des Klassenzimmers gegenüber. Das Klassenzimmer befand sich in einem anderen Flur um ersten Stock. Man musste durch den Gang, wo auch Lucas Zimmer war gehen, und dann links abbiegen, schon sah man die Uhr an der Wand stehen. Charlette hatte es nicht geschafft, ins Klassenzimmer einzubrechen. Sie hatte es sogar mit einem Dietrich versucht. Die Tür musste von innen verriegelt sein. Serafina hatte sie gefragt, was es in dem Klassenzimmer so interessantes gab. Die Antwort darauf bekam sie prompt: „Da drin gibt’s was Leckeres.“ Serafina hatte nicht weiter gefragt. Vielleicht meinte Charlette damit Süßigkeiten, die Tiberius verteilte. Möglich war es ja. Die Grundschullehrerin von Serafina hatte ihren Schülern immer Gummibärchen gegeben, wenn sie irgendwas gut gemacht hatten. Charlette weckte Serafina am Montagmorgen. Sie war super gelaunt und fast gar nicht müde. Sie freute sich wohl riesig darauf, endlich wieder ins Klassenzimmer zu dürfen. Nach dem Frühstück dauerte es aber noch eine Stunde, bis der Unterricht anfing. Während sie im Wohnzimmer fernsahen und darauf warteten, dass sie die Uhr neun schlagen hörten, erzählte Charlette, dass Morgens nur der theoretische Unterricht war und Abends, wenn es dunkel war, der Praktische. Damit konnte Serafina zwar nicht wirklich etwas anfangen, aber sie hatte auch mit dem Gedanken zu kämpfen, dass sie abends noch Unterricht hatten. Rocca erzählte dazu, dass es schade war, dass sie nur einmal in der Woche praktischen Unterricht hatten. Serafina nahm sich vor, Tiberius zu fragen, was der Unterschied zwischen praktisch und theoretisch war. Tiberius holte die Mädchen aus dem Wohnzimmer ab. Sie folgten ihm ins Klassenzimmer. Charlette war ganz begeistert und setzte sich auf ihren Platz, der gleich neben einem großen Kühlschrank stand. Der Kühlschrank war zugesperrt und Ketten lagen drum herum. Serafina fragte sich, was wohl drin war. Rya und Rocca setzten sich auf ihre Plätze, ohne sich groß für den Raum zu begeistern. Nur Serafina blieb im Türrahmen stehen und durchforstete den Raum mit ihrem Blick. Er war nicht so, wie sie sich den Klassenraum vorgestellt hatte – bei weitem nicht. Neben dem Kühlschrank gab es noch einige andere Merkwürdigkeiten. Über dem Lehrtisch hingen vier Ketten mit Eisenschellen für Gelenke, oder was auch immer man damit festkettete. Sie hingen in Abständen an der Decke. Auf der Tafel waren ein paar Worte wie Stichpunkte geschrieben: kaltblütig, grausam, leidenschaftlich und wild. Serafina hatte nicht den Hauch einer Ahnung was das heißen wollte. Sie sah sich weiter um. An der Rückwand des Klassenzimmers standen Metallschränke und eine Ablage mit eingelassenem Waschbecken. Der graue geflieste Fußboden hatte einen großen dunklen Flecken, genau vor dem Lehrerpult. Daneben waren ebenfalls dunkle Sprenkel. Die Wände waren mit Metall bedeckt. Metall war gut abwaschbar, das wusste Serafina. Sie ging ein paar Schritte und setzte sich dann auf den freien Platz zwischen Rya und Charlette. Sie sah zur Tür, die Tiberius gerade schloss. Rechts neben der Tür stand ein Metallregal mit mindestens zehn Einmachgläsern, in denen jeweils etwas anderes schwamm. Bei dem Anblick wurde Serafina fast schlecht. Sie glaubte, einen Finger erkannt zu haben. In einer Kiste im selben Regal, lagen verschiedene Laborinstrumente. Tiberius trat hinter das Pult und bückte sich, als er wieder auftauchte, hielt er ein, mit einem schwarzen Tuch verdecktes, Quadrat in den Händen. Er stellte das Quadrat auf den Tisch und sah in die Klasse, die nur aus den vier Mädchen bestand. „Rya, Charlette, ihr habt Glück. Da wir einen Neuzugang bei uns haben, werden wir den praktischen Teil auf jetzt verlegen.“ Sagte Tiberius grinsend und tätschelte das schwarze Quadrat. „Haben wir dann diese Woche keine abendliche Praxis?“ fragte Rocca entrüstet. „Oh doch, meine Kleine, schon heute Abend.“ Er kicherte schief. Roccas Miene erhellte sich schlagartig, genau wie die von Charlette. Rya ließ das einfach nur kalt und Serafina verstand es nicht. Sie hob die Hand. „Ja, meine Kleine?“ „Was ist der Unterschied zwischen praktisch und theoretisch?“ sie hatte sich ja vorgenommen, das zu fragen. Tiberius lehnte sich ein Stück vor. „Hat dir das etwas noch niemand erklärt, meine Kleine?“ er grinste breit und zeigte seine strahlendweißen Zähne. Alle hatten strahlendweiße Zähne, das war Serafina schon aufgefallen. Sie schüttelte den Kopf und sah Tiberius mit großen Augen an, der mit den langen Zeigefingern aufeinander tippte und seine Lippen zu einem schmalen Spalt zusammenpresste, bevor er sagte: „Praktisch ist der Unterricht, wenn man etwas tut, wie zum Beispiel einen Frosch sezieren oder eine Maus oder etwas Ähnliches. Theoretisch ist der Unterricht, wenn du nur dasitzt und mir zuhörst oder mitschreibst. Beides ist auch möglich. Verstehst du das, meine Kleine?“ Serafina nickte. „Warum haben wir abends praktischen Unterricht?“ wollte sie dann wissen. Tiberius dachte kurz darüber nach, wie er es am besten formulieren sollte. „Abends, wenn es dunkel ist, sind die meisten Leute zuhause, aber wer sich noch auf der Straße rumtreibt, ist selbst schuld, wenn wir ihn für unseren Unterricht gebrauchen. Verstehst du das, meine Kleine?“ Serafina nickte, obwohl sie eigentlich nichts davon verstand. „Nun gut. Ich habe hier etwas vorbereitet.“ Er zog das Tuch von dem Quadrat. Es war ein Käfig und in dem Käfig schlief eine Fledermaus, die am oberen Gitter hing. Serafina machte noch größere Augen. Sie hatte Fledermäuse bisher nur auf Bildern gesehen. „Wir werden das arme Ding doch nicht etwas sezieren, oder?“ fragte Rocca. „Nein, meine Kleine, sie dient nur zur Demonstration – Charlette, wärst du so freundlich, den Kühlschrank zu öffnen?“ sofort sprang Charlette auf, holte den Dietrich aus ihrer Rocktasche und begann an dem Schloss rumzufummeln. „Charlette, der Schlüssel hängt an der Wand.“ Sagte Tiberius kopfschüttelnd und deutete auf den Schlüssel neben dem Kühlschrank. Als der Kühlschrank geöffnet war, kamen einige beschriftete Schubladen zum Vorschein. „Welche Sorte?“ fragte Charlette und sah so aus, als hätte sie seit Tagen Heißhunger auf Schokoladenkuchen, nur nie einen bekommen. „0-negativ.“ Sagte Tiberius monoton. Serafina sah gespannt zu. 0-negativ hatte sie schon mal gehört. Sie dachte kurz nach, denn es dauerte ein bisschen bis, Charlette das Richtige aus der dritten Schublade geholt hatte. Ja, es war eine Blutgruppe. Die Blutgruppe, die dieses Mädchen gehabt hatte, das ins Krankenhaus gebracht werden musste, nachdem Serafina ihr die Pulsader am Handgelenk aufgeschlitzt hatte. Rya starrte das an, was Charlette jetzt in der Hand hielt. Es war ein Plastikbeutel mit rotem Inhalt. Blut. Rya sah anders aus als sonst. Durstiger. Rocca warf einen Blick auf den Blutbeutel und wandte sich unbekümmert wieder der Fledermaus zu. Charlette gab den Beutel Tiberius. Auch sie sah ein bisschen anders aus. Ihre Augen waren schwarz und nicht mehr grün oder rot. Serafina versuchte sich so vorzubeugen, dass sie Ryas Augen sehen konnte, aber es ging nicht. Tiberius öffnete den Käfig und holte die Fledermaus heraus. Den Blutbeutel hielt er mit zwei Fingern fest. „Serafina, schau jetzt besser gut zu. Es ist wichtig.“ Gespannt starrte Serafina auf die Szenerie, die sich ihr bot. Die Fledermaus erwachte und schnupperte an dem Beutel, dann öffnete sie das kleine Schnäutzchen und ließ vier messerscharfe Zähne wachsen, die sie in den Beutel schlug und dann zügig an dem Beutel nuckelte. Charlette stand immer noch da. Sie bleckte sich ihre spitzen Zähne und sah hungrig zu, wie die Fledermaus das Blut trank. Rya krallte mit silbernen Fingernägeln auf den Tisch. Es kratzte, aber niemand beschwerte sich. Rocca war gelangweilt und starrte Löcher in die Luft. Hatte sie das etwas schon mal gesehen? Serafina war sich nicht ganz sicher, ob das wirklich Unterricht war, aber wie sie so der Fledermaus zusah und ein paar Tropfen von dem Blut auf den Tisch tropften, bekam sie plötzlich Durst. Instinktiv leckte sie sich über die Lippen und bemerkte dabei, dass ihre Eckzähne merkwürdig spitz waren. Tiberius sah sie ganz genau an. Ihm schien aufgefallen zu sein, was Serafina tat. Er grinste wieder breit. „Und, Serafina, willst du auch einen Schluck?“ jetzt sahen sie alle an. Auch Rya, ihre Augen waren ebenfalls schwarz, wie die von Charlette. Es lag an dem Blut, da war sie sich sicher. Sie schüttelte langsam den Kopf. Der Beutel war nun lehr und Tiberius legte ihn auf dem Tisch ab. Die Fledermaus steckte er zurück in den Käfig. Stattdessen nahm er etwas anderes unter dem Tisch hervor. Einen Handspiegel. Er ging auf Serafina zu und hielt ihr den Rücken des Spiegels vor. „Bitte sei nicht zu geschockt.“ Grinste er und drehte den Spiegel um. Serafina sah nun sich selbst, jedenfalls glaubte sie es. Das musste schließlich sie sein, auch wenn sie rabenschwarze Augen hatte und zwei Spitze zähne an beiden Mundwinkeln herausguckten. Sie öffnete den Mund. Es waren vier. Vier spitze Zähne. Zwei oben und zwei unten. Sie war sprachlos. Wortlos trat Rocca neben sie. Sie hielt einen weiteren Blutbeutel in der Hand. 0-negativ stand drauf. Tiberius nahm ihn entgegen und hielt ihn dann Serafina vor die Nase. Sie roch das Blut, auch wenn es in dem verschweißten Plastikbeutel war. Es roch lecker. Sie wollte es trinken. „Willst du einen Schluck, meine Kleine?“ Tiberius schwenkte den Beutel leicht hin und her. Serafina verfolgte das Blut mit den Augen. Sie sträubte sich. Ihr Gefühl sagte Ja, aber ihr Verstand sagte ganz deutlich Nein. Ihr Verstand setzte nur für einen Moment aus, dann war es zu spät. Das Blut floss über ihr Kinn und tropfte auf den Tisch. Charlette und Rya starrten mit gierigen Blicken darauf. Serafina sah sich immer noch im Spiegel. Ihre Augen waren rot, wie die von Charlette, als sie sie das erste Mal gesehen hatte. Serafina konnte gerade nicht daran denken, dass es eigentlich total ekelhaft und gruselig war, was sie da tat, das Blut schmeckte einfach zu gut. Viel zu gut. Als der Beutel lehr war, nahm Tiberius, zufrieden mit seiner neuen Schülerin, das Plastik und den Spiegel weg. Serafina leckte sich das Blut, das danebengegangen war, von den Lippen und dem Kinn, jedenfalls soweit sie kam. Sie spürte, dass sie mehr wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)