Die Geflügelte Schlange - Schatten von Erzsebet (* * make love, not war * * - Teil 2) ================================================================================ 25. Der Mantel (jugendfrei) --------------------------- Merat hörte die Schreie einiger Männer, aber was sie aufschrecken ließ, waren die Schreie Amatis. Wachte denn Tabit nicht auf, ihren Schützling zu trösten? Merat bekleidete sich so rasch es in der Dunkelheit möglich war und rannte hinaus zu ihrer Tochter. Sie hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, einem Angriff oder einem Unfall, aber als sie in das düstere Zelt trat, mit rastlosen Händen endlich eine der Lampen entzündete, um sicher den Weg in den hinteren Zeltraum zu finden, lag dort Amati schreiend und mit Armen und Beinen wild strampelnd in ihrer Wiege, während Tabit daneben auf ihrem Lager ungerührt schlief. Kurz entschlossen nahm Merat ihre Tochter in die Arme, drückte sie fest an sich, wiegte sie hin und her, sprach beruhigend auf sie ein, doch Amati schrie weiter. "Tabit, die Kleine hat Hunger", ermahnte Merat die Amme, auch wenn das Geschrei eigentlich zu schrill für gewöhnlichen Hunger klang. Amati schien Schmerzen zu haben, aber die Amme reagierte nur mit einem Schnarcher, wachte nicht auf. Merat drückte ihre Tochter noch enger an sich. Sie konnte sie nicht stillen. Nachdem sie vor einem knappen halben Jahr die Amme für Amati in ihr Zelt geholt hatte, war ihre eigene Milch ausgeblieben. Und wo war Losat? Wie konnte sie bei dem Lärm, den Amati machte, weiterschlafen? Merat ging in den vorderen Zeltraum, in dem Losat ihr Lager hatte, doch auch ihre Dienerin schlief tief und fest. Resignierend zog Merat sich mit dem inzwischen vor Erschöpfung leiser gewordenen Säugling auf ihr eigenes Lager zurück, drückte Amati weiterhin an ihren Busen, und plötzlich kuschelte Amati sich mit dem Gesicht in Merats Halsbeuge, legte Nase und Mund an den bloßen Hals ihrer Mutter, dorthin wo Amemna sie nach ihrer Vereinigung so innig geküßt hatte, beruhigte sich schlagartig. Nach einer kurzen Weile schien sie sogar eingeschlafen zu sein, machte Nuckelgeräusche, als träume sie davon, gestillt zu werden. Vorsichtig stand Merat auf und legte ihre Tochter zurück in die Wiege. Sich nun ihrer eigenen Müdigkeit bewußt werdend, legte sie ihr Übergewand ab, setzte sich wieder auf ihr Lager. Wie hatte sie sich dem Leibwächter ihres Mannes nur so unbedenklich hingeben können? Wieso hatte Amemna ihn gewähren lassen? Wieso hatte Nefut sich nicht zurückgehalten? Sie waren alle wie einem fremden Willen unterworfen gewesen. Ob der Ostler einen Bann über ihren Gatten und am Abend dann über sie alle geworfen hatte, um ihnen seinen perversen Willen aufzuzwingen? Er war schon sehr mysteriös, dieser rothaarige Mann, allein wie durchdringend und wissend er sie angesehen hatte, als höre er Merats Gedanken über ihren Gatten. Vielleicht war er ein Zauberer oder Dämonenbeschwörer. Doch dann schüttelte Merat über ihre wirren Gedanken den Kopf. Soetwas gab es doch nur in Märchen. Aber sie mußte wissen, wieso Amemna zunächst die Scheidung gewollt, Merat dann aber trotzdem zu seinem Lager gerufen und zudem mit Nefut zusammengebracht hatte. Sie konnte mit diesen Fragen unmöglich bis zum nächsten Morgen warten, dann würde sie kein Auge schließen können. Leise stand Merat auf, legte wieder das Übergewand über die Schultern, den Schleier über die Haare und schlich aus dem Zelt. Es regnete und Merat legte den Weg zu Amemnas Zelt im Laufschritt zurück. Dort brannte nun wieder Licht, also war ihr Gatte noch wach. Sie betrat das Zelt, das Licht kam von Amemnas verdecktem Lager, und ihr Mann sprach leise mit jemandem, also hielt Merat inne. War Nefut auf Amemnas Lager zurückgekehrt? Im vorderen Teil des Zeltes lagen zwei schlafende Gestalten, eines war zweifelsfrei der rothaarige Ostler, die zweite war zu klein für einen Mann, aber es mochte der Knabe sein, den Merat am Vormittag kennengelernt hatte. Merat näherte sich lautlos den Decken um Amemnas Lager und hörte ihren Gatten sagen: "Was hat dich bewogen, dich mirr endlich su offenbarren?" Aber es war nicht Nefut, der ihm antwortete, sondern der Zweite der Wannim, auch wenn er etwas undeutlich sprach und seine Stimme rauher als am Tage klang, war sie doch unverkennbar. "Es war dein Duft an Nefut, der mich bewog, und der Ratschlag meiner Liebsten, endlich mit dir zu sprechen." Amemnas Duft, der auch Amati beruhigt hatte. Vielleicht war das die unirdische Zaubermacht Amemnas, die in Merat wider Willen so unbändige Lust geweckt hatte, als sie sein Treiben mit Nefut entdeckte, die sie alle wie im Rausch hatte handeln lassen. Sprachen die Geschichten der Alten nicht von dem unwiderstehlichen Duft der Unirdischen? Ein leises, sehr melodisches Lachen riß Merat aus ihren Gedanken, ein Lachen wie ein Lied. Der Zweite mußte der Sänger sein, Hamarem. "Sie möchte, daß ich mit ihrr das Lagerr teile?" fragte Amemna überrascht, aber offensichtlich geschmeichelt. Anscheinend war Merat ein Teil des Gespräches entgangen. "Was meinst denn du dasu?" "Sie ist eine Priesterin der Ama", erklärte Hamarem dann. "Wie kann ich ihr verwehren, auch mit anderen der Göttin zu huldigen, sobald sie wieder ihren Dienst an Ama aufnimmt?" An Amemna war außer seiner halben Wannim also auch noch eine Priesterin interessiert. Und vielleicht war es ja sogar die ganze Wannim, wenn es Eifersucht gewesen war, die aus Derhans Worten über das Beziehungsgeflecht gesprochen hatte. Natürlich, denn Amemnas Duft mußte auf alle wirken, die ihm nahe kamen. Aber wie hatte Hamarem nur so unangemessen entspannt klingen können? Wieso benutzte er die Bezeichung 'Liebste', obwohl er diese Priesterin der Ama wohl kaum für sich allein beanspruchen konnte? War er sich ihrer Zuneigung oder seiner eigenen ihr gegenüber jenseits aller anderen Gelüste so sicher? "Also erfleht sie in ihrer fruchtbaren Zeit von Hawat dein Kind", flüsterte Amemna in der Südländersprache, übersetzte dann die Worte für seinen Zweiten. "Anscheinend hast du vor einiger Zeit doch ebenfalls die Entscheidung getroffen, deine fruchtbaren Tage mit einem Mann zu verbringen", antwortete Hamarem leise. "Es ist Nefuts Kind, das in mirr wächst", stellte Amemna mit einem eigentümlichen Klang in der Stimme fest. Merat unterdrückte einen Aufschrei, erstarrte mit der Hand vor dem Mund. Ihr Gatte erwartete ein Kind von Nefut? Das konnte doch nicht sein! Merat schlich sich hinaus, lief rasch durch den Regen zurück zu ihrem eigenen Lager, legte sich zwischen die Decken. Sie umfaßte das Hawatamulett: "Hawat, gib mir Nefut", flüsterte sie. Noch immer fühlte sie seine so zärtlichen Berührungen. Wenn er erfuhr, daß Amemna seinen sehnlichsten Wunsch wahr machte, würde er Merat vielleicht nie wieder beiwohnen. Damit konnte sie nicht leben. Nefut war doch geradezu ein Bild von einem Mann. Amemna war zu schmal, zu bartlos, viel zu jünglingshaft, um wirklich ein Mann zu sein - und ganz offensichtlich viel zu sehr an Männern interessiert. Zugegeben, sie hatte vor etwa drei Jahren genauso unbedingt Amemna gewollt, hatte ihren Vater nach der Flucht aus Ma'ouwat mit Hilfe der Göttin schließlich erfolgreich dazu bewegen können, sie mit ihrem Ziehbruder zu verheiraten, aber genau genommen hatte sie angesichts fehlender Erfahrungen damals doch keine vernünftige Entscheidung treffen können. Ihr Vater hatte ihrer südländischen Ziehmutter nur gestattet, Merat nach dem Reifen zur Frau in die Pflege des Körpers und die Schaffung günstiger Umstände für eine Empfängnis einzuweisen, alle anderen der Fünfhundert Künste oder gar der Besuch des Hawattempels für eine regelrechte Ausbildung waren barbarischer Unfug und das Verderben junger Osheyfrauen für Murhan gewesen. Es mußte schon damals Amemnas Duft gewesen sein, der in Merat diese Gelüste nach Amemna geweckt hatte, doch nun wußte sie, wie ein erfahrener Mann den Liebesakt vollzog. Nefut war mit Sicherheit der Mann, der sie glücklich machen konnte, denn mit einem wahrhaften Oshey würde sie auch nicht allenthalben über die Grenzen diskutieren müssen, die die Gebote der Weisen und Heiligen zogen. Sie hätte niemals diesen Barbaren von den Westlichen Inseln heiraten dürfen, egal wie viel unirdisches Blut er in sich haben mochte. * Erst als sie erwachte, merkte Merat, daß sie trotz ihrer Aufgewühltheit eingeschlafen war. Ihre ersten Gedanken galten Amati, denn über das verhaltene Schnarchen Tabits war nichts von dem Säugling zu hören. Doch, ein leises Atemgeräusch, die Kleine schlief offenbar ruhig und fest. Dann schwelgte Merat wieder in der Erinnerung an die Vereinigung mit Nefut in der vergangenen Nacht, noch immer schien sie ihn in sich zu spüren und sie merkte, daß ihr ganzer Körper noch nach ihrer und der Männer Lust roch. Also rief sie Losat, ihr Waschwasser zu bringen. Losat kam nicht. Es war doch schon hell! Schlief sie etwa immer noch? Merat stand auf und ging in den vorderen Teil des Zeltes, berührte ihre schlafende Dienerin an der Schulter, rüttelte sie. Mit offensichtlichen Schwierigkeiten kämpfte Losat sich aus dem tiefen Schlaf. "Ich entschuldige mich", beeilte sie sich nach einem Moment der Desorientierung zu versichern, erhob sich von ihrem Lager. "Was wünscht ihr, Herrin?" "Hast du in der Nacht nichts davon gehört, wie Amati geschrien hat?" fragte Merat. Der vergangene Tag war doch für ihre Frauen nicht anstrengender gewesen, als die Tage der Reise von den Zelten der Darashy bis nach Tetraos. Losat schüttelte den Kopf. "Nein Herrin, ich habe nichts gehört." Dabei war Losat gewöhnlich als Erste wach, hatte schon das Frühstück vorbereitet, bevor sie ihre Herrin und Tabit weckte. "Bring mir Waschwasser, Losat", befahl Merat und kehrte zurück zu ihrem Lager. Sie mußte an ihren Verdacht den Ostler betreffend denken. Hatte er vielleicht am Vorabend einen Schlafzauber auf ihre Frauen gewirkt, oder vielleicht eher heimlich ein Schlafmittel verabreicht, damit sie nichts von dem nächtlichen Treiben mitbekamen? Vorsichtshalber würde sie in Zukunft einen Bogen um ihn machen. Als Losat ihrer Herrin die Waschschüssel mit Wasser füllte, erzählte sie: "Die Männer üben schon vor den Zelten." Merats Herz machte einen Sprung. "Alle?" fragte sie und versuchte, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen, während sie damit begann, sich zu reinigen. "Nein, aber euer Gemahl und der große Mann, außerdem Derhan und sein Vertrauter... Oremar ist sein Name, glaube ich", gab Losat zur Antwort, während sie ihrer Herrin frische Kleidungsstücke zurechtlegte, außerdem ihren Schmuck. Merat beeilte sich, sich anzukleiden. "Weck Tabit auf und bereite dann das Frühstück. Ich will meinem Mann zusehen", sagte sie und ging in den Eingangsbereich des Zeltes. Zwischen den Zelten, auf dem grasbewachsenen Boden, machten Nefut und Amemna die Schwertübungen, die Merat von ihrem Vater bekannt waren. Auch Derhan und Oremar machten mit, aber ihre Bewegungen sahen weniger geläufig aus, als hätten sie diese Übungen noch nicht verinnerlicht. Nefut dagegen, mit entblößtem Oberkörper, so daß das Spiel seiner Muskeln unter der schweißglänzenden Haut zu sehen war, bot trotz der Narben auf seinem Rücken einen wahrhaft bezaubernden Anblick. Merat mußte sich zwingen, den Blick von ihm auf ihren Gatten zu richten, wenn sie hörte, daß Losat in ihrer Nähe wirtschaftete. Schließlich bemerkte Nefut ihren Blick, erwiderte ihn, jedoch ohne die Wärme, auf die Merat nach der vergangenen Nacht gehofft hatte, und sie senkte beschämt die Augen. Vielleicht mußte sie ihm einfach sagen, wie sie für ihn fühlte, denn ihre Reaktion auf die Entdeckung seiner Identität mochte er falsch aufgenommen haben. Wie hatte sie nur jemals auf den Gedanken kommen können, ihn töten lassen zu wollen? Ihre Mutter mochte sich ihm wirklich freiwillig hingegeben haben, wenn Nefut in seiner Jugend auch nur halb so verführerisch gewesen war. Schließlich kündigte Amemna einen Aufklärungsritt an und die Männer verschwanden in ihrem Zelt, um sich bereit zu machen. Merat wies ihre Dienerin an, Nefut für eine kurze Unterredung zu ihr zu bitten, dann ging sie,um ihren Schmuck anzulegen. * Als sie nach den goldenen Ohrgehängen griff, die Amemna ihr zur Geburt Amatis gefertigt hatte, hielt sie einen Moment inne und betrachtete die filigranen Schmuckstücke, je drei ineinander verflochtene Granatapfelblüten, die nach der Lehre der Schriften männliches Begehren, weibliches Verlangen und die Zuneigung zum eigenen Kind symbolisierten. Sie waren beide mit der geflügelten Schlange gekennzeichnet, die Amemnas Schmiedesymbol war. Er hatte gesagt, er würde sie über alles lieben und hatte ihr doch nicht einmal ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter einen Scheidebrief geschickt. Amemna war unirdischen Ursprungs, sein Aussehen ließ keinen anderen Schluß zu. Es war äußerst schmeichelhaft gewesen, Amemnas Interesse wecken zu können, aber Merat wußte nun, daß sie mit einem Menschen, einem wahrhaften Mann ihr Leben teilen wollte. Und Nefut ging es offensichtlich ähnlich. Er mußte doch einsehen, daß Merat wie geschaffen für ihn war, insbesondere da sie doch angeblich ihrer Mutter so ähnlich sah, für deren Gunst Nefut sogar die Verbannung aus dem Stamm auf sich genommen hatte. Und als Kindern verschiedener Frauen stand ihrer Verbindung auch nach den Geboten der Weisen und Heiligen nichts im Weg. Aber nun wollte Amemna Nefut an sich binden, indem er in seinem widernatürlichen Körper ein Kind von Merats Halbbruder wachsen ließ. Merat ging wieder in den vorderen Bereich des Zeltes und sah noch, daß Losat mit Nefut sprach, dann kam die Dienerin wieder zu Merats Zelt, während Nefut zunächst nur hinüberschaute, den Tarra'kt noch in der Hand. Losat wollte ihrer Herrin einen Brief überreichen doch Merat winkte ab. "Leg ihn auf mein Lager", befahl sie, um weiter Nefut zu beobachten. Nefut legte das bunte Tuch über die Schulter und kam zum Zelt, hielt vor dem Eingang noch einmal inne, betrat es dann aber, so daß Merat sich an seine Brust schmiegen, ihn küssen konnte. Aber Nefut versuchte, Distanz zu halten. Wollte er ihr überaus beglückendes Beisammensein am Vorabend nicht mehr wahrhaben? Merat wies darauf hin, daß sie so gut wie geschieden war, aber das änderte seine ablehnende Haltung nicht. "Du willst eine wirkliche Frau. Gib es doch zu, denn du wünscht dir ein Kind", erinnerte sie Nefut also. Wenn sie eine Chance bei ihm haben wollte, durfte er niemals erfahren, daß er auf dem besten Wege war, diesen Wunsch von Amemna erfüllt zu bekommen. "Das wird dir Amemna nie geben können", behauptete sie also wider besseres Wissen. "Er hat als Mann unsere Tochter gezeugt, und jeder Mensch ist nur eines von beiden, Mann oder Frau, egal wie viel unirdisches Blut er in sich haben mag, egal wie er aussehen mag." Merat sah an Nefuts Miene, daß er insgeheim wohl dieselben Gedanken hegte, also setzte sie nach: "Sieh es ein: bei aller Liebe, die du für ihn empfinden magst, wird dir das nicht zu einem Sohn verhelfen. Ich jedoch...", aber sie mußte gar nicht weitersprechen, denn Amati machte gerade mit einigen Lauten auf sich aufmerksam. Trotzdem blieb Nefut auf Distanz, brachte seine Verbannung zur Sprache. Natürlich konnten sie nicht in die Wüste, und schon gar nicht in die Zelte der Darashy zurückkehren, aber das mußten sie doch gar nicht, wenn sie einander hatten. "Mit dir wäre jeder Ort wie die wahrhaftigen Gärten der Freude", versicherte Merat ihm. Tatsächlich schien sie sein Herz langsam zu erweichen. Zärtlich nahm Nefut ihre Hände, sah ihr so tief in die Augen, daß es Merat vor Begierde erschaudern ließ. "Merat, ich empfinde so viel mehr für Amemna als für dich. Du bist begehrenswert, meine schöne Prinzessin und dein Anliegen ehrt mich, aber ich glaube nicht, daß meine Gefühle für dich dafür ausreichen." Dabei hatte Merat das Gefühl, daß er nun nach Argumenten suchte, sich selbst die Zuneigung - oder zumindest das Begehren - seiner Halbschwester gegenüber zu gestatten. Merat schmiegte sich an ihn, ließ ihren Körper für sich sprechen. Und er beugte sich zu ihr herunter, um sie lange und verheißungsvoll zu küssen. Dann rief Derhan ihn von draußen und Nefut ging, aber es lag Bedauern in seinem Abschiedsblick. Merat sah ihm mit schmerzendem Herzen nach, dann ging sie zu ihrem Lager und schaute sich den Brief an, den Losat für sie entgegen genommen hatte. Das Schreiben war an Merat Darashy adressiert, und als sie das Wachssiegel erbrach, standen dort nur wenige Zeilen in einer sauberen, geradezu vornehm wirkenden Handschrift. "Geehrte Prinzessin, ich habe die Person, die ihr suchtet, ausfindig machen können. Ich werde jeden Brief oder andere Botschaft, die ihr mir für diese Person anvertrauen wollt, getreulich befördern. Stets zu euren Diensten, Derhan." Also wußte Derhan nun ebenfalls, daß Nefut ihr Bruder war, und damit ein Verwandter des Fürsten der Darashy. Aber wußte er auch, daß Merat es inzwischen ebenfalls bekannt war? Und ahnte Amemna überhaupt etwas davon? Jetzt, da sie es selber wußte, war die Ähnlichkeit Nefuts mit ihrem gemeinsamen Vater für Merat augenfällig, aber bis dahin hatte sie es nur für das typische Aussehen eines Osheykriegers gehalten. Warum sollte Amemna es in dieser Hinsicht anders gehen? Merat betete, daß es ihr gelingen sollte, Abstand zwischen ihrem Gatten und Nefut zu schaffen. Noch wußte Nefut offensichtlich nichts von der Schwangerschaft und während des Erkundungsrittes würde Amemna es sicher nicht erwähnen. Danach mußte Merat nur Amemna oder Nefut mit Beschlag belegen um ein ungestörtes Gespräch der beiden zu verhindern. Und außerdem würde sie Derhan mit einem vorgeblich von Murhan Darashy stammenden Brief zu Nefut schicken, in dem er alles vergab und seinen Erstgeborenen in die Zelte zurückrief. Der Weg zu den Zelten der Darashy war lang und wenn sie erst einmal Amemna und seinen verführerischen Duft hinter sich ließen, der Nefut anscheinend die Sinne ebenso vernebelte wie Merat, würde es ihr leichter fallen, Nefut zu überzeugen. Natürlich würde es nicht leicht werden, Nefut Amemna vergessen zu lassen, nicht einmal, wenn Amemna nicht mehr als ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre. Denn im Gegensatz zu Merat war er zumindest theoretisch in den Fünfhundert Künsten ausgebildet worden, in seiner Jugend auf Trittstein der Himmelskönigin, als er noch ein Mädchen gewesen war. Und zumindest in Ma'ouwat hieß es, die Beherrschung der Fünfhundert Künste sorge für die Gunst der Göttin und bewahre eine Frau davor, ihren Mann an eine andere Frau zu verlieren. Amemna hatte seine Frau einige der Künste gelehrt, aber vieles davon hatte dem durch die Gebote der Weisen und Heiligen klar abgesteckten Wahren Weg so deutlich widersprochen, daß Merat ihm schließlich Einhalt geboten hatte. Dabei hatten viele Töchter der für den König von Ma'ouwat arbeitenden Nordländer anstelle einer Mitgift eine Ausbildung im Tempel der Hawat erhalten. Doch wie für ihren Vater standen die Gebote der Weisen und Heiligen für Merat doch an erster Stelle und nur bei sehr wenigen Gelegenheiten hatte sie bewußt gegen sie gehandelt, und dann nie ganz ohne Gewissensbisse. Täuschung und Lüge, das Fälschen eines Briefes waren natürlich Dinge, die sämtlich nicht im Einklang mit dem Wahren Weg standen, aber ihr Ziel, Nefuts Rettung aus den Armen des ungläubigen Barbaren, heiligte ohne Frage Merats Mittel. Insbesondere da offensichtlich mindestens ein Unirdischer nicht so tugendhaft war, wie es in den Schriften hieß. Und Amemna würde auch ohne Nefut genügend Männer für sein Vergnügen finden, da ihm ja offenbar auch sein Zweiter völlig verfallen war. * "Herrin, einer der Priester des Ungenannten möchte euch sprechen", sagte Losat aus dem vorderen Teil des Zeltes. Merat hatte endlich passende Formulierungen für einen vorgeblich von ihrem Vater stammenden Brief an Nefut gefunden und war gerade dabei, sie auf einem Stück Papyrus niederzulegen, aber es wäre wohl außerordentlich unhöflich gewesen, einen Priester warten zu lassen. Also erhob sie sich, legte den Schleier auf ihren Scheitel, kontrollierte die Lage des Tuches und ging nach vorne ins Zelt, wo Losat neben dem Herdfeuer mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war, während Tabit Amati stillte. Und neben Tabit saß auch der Junge, der zur Wannim gehörte. Hatte Hamarem nicht etwas von Verwundeten, Opfern eines Raubtieres erzählt, die im Birh-Melack-Zelt untergebracht waren? Den Jungen hatte sie doch in der Nacht dort schlafen gesehen, aber er wirkte gesund und munter, abgesehen von einer gewissen Besorgnis im Blick, als er Merat ansah. Er schien sogar viel gesünder als der Zweite, der am Vormittag nach seiner Liebesnacht mit Amemna völlig übermüdet und mit dunklen Augenringen in Merats Zelt getrottet war, um sich pflichtbewußt für die Abwesenheit während einiger Besorgungen zu entschuldigen. Wie hatte Amemna nur diesen für einen Stammeslosen so unerhört anständig wirkenden Oshey um den Finger wickeln können? Vor dem Eingang des Zeltes standen drei Männer, einer im weißen Priestergewand und zwei andere, bei denen es sich anscheinend um einfache Soldaten handelte. Sie trugen ein großes, in weißen Stoff eingewickeltes Paket zwischen sich. Dahinter näherte sich Patris mit zwei seiner Männer. Die Wachen des Fürsten der Darashy stellten sich gut sichtbar neben den Eingang des Zeltes ihrer Herrin, die Hände locker auf den Heften ihrer Schwerter ruhend. Merat hatte also nichts zu befürchten. Mit einer Handbewegung lud sie den Priester und seine Begleitung in ihr Zelt ein. Der Priester verneigte sich. "Herrin, die Priesterschaft des Ungenannten hat ein Geschenk für euren Gemahl. Es ist unser symbolischer Dank für sein Eingreifen zum Schutz unserer Leben und unserer Heiligtümer vor einigen Tagen. Zugleich soll es aber auch ein Zeichen unserer Ehrfurcht ihm und seinen unirdischen Ahnen gegenüber sein." Dann fiel sein Blick auf Tabit und die neugierig zu ihm schauende Amati. Eine Reflexion des durch die Zeltöffnung scheinenden Sonnenlichts ließ Amatis goldgesprenkelten Augen besonders auffällig strahlen. Der Priester warf sich vor Tabit und dem Säugling auf die Teppiche, drückte die Stirn auf den Boden. "Meine Verehrung, Kind des unirdischen Birh-Melack! Mögest du uns dereinst den Wahren Weg erleuchten wie dein Vater es tut." Vorsichtig nahm er unter Tabits mißtrauischen Blicken einen von Amatis kleinen, aufgeregt wippenden Füßchen in die Hand und drückte sanft einen Kuß auf ihre Zehen. Nach einer weiteren respektvollen Verbeugung erhob der Priester sich wieder von seinem Kniefall, verneigte sich noch einmal vor Merat. "Eure Dienerin sagte, auch der Zweite der Wannim sei abwesend, daher erlaubt mir, euch das Geschenk für euren Gemahl zu überreichen, Herrin." Auf einen Wink des Priesters legten die beiden Soldaten das Paket auf den Boden und schlugen die oberen Lagen des hellen Stoffs beiseite. Darunter sah man einen aus Gold- und Silberfäden gestickten Flügel. Dann nahmen die beiden Soldaten den bestickten Stoff hoch und er entpuppte sich als ein Kleidungsstück, das im Schnitt den Osheymänteln ähnlich war, aber aus weißem Stoff, bestickt mit zwei Unirdischen, die ihre Falkenflügel ausgebreitet hatten und so den Mantel oder später seinen Träger damit zu umfangen schienen. "Tyrima hilf", entfuhr es Losat bei dem Anblick, was ihr einen strafenden Blick von Merat einbrachte. Aber Losat hatte recht. Der Prunkmantel, den die beiden Männer hielten, schien das Kleidungsstück eines Gottes zu sein. Kein Fürst würde wagen, einen solchen Mantel zu tragen, ja, nicht einmal ein Hohepriester des Ungenannten. Die Priesterschaft mußte wirklich der Überzeugung sein, daß Amemna ein Unirdischer war, nicht nur ein junger Mann mit unirdischem Blut. Und wer diesen Mantel trug, mußte angesichts der eingestickten Metallfäden nicht nur übermenschliche Kräfte haben, sondern würde in allen rechtgläubigen Menschen auch ehrfurchtsvolle Verehrung auslösen. Aber warum hatten der Priester den Mantel gerade jetzt gebracht, da allgemein bekannt war, daß die von Amemna kommandierte Reiterei das Lager verlassen hatte? Befürchteten sie, Amemna würde das kostbare Geschenk ablehnen, diese greifbare Heiligsprechung seiner Person? Und Merat erlebte angesichts der von ihren schimmernden Flügeln halb verdeckten dunklen Gesichter der gestickten Unirdischen auf dem Mantel, die so weiße Haare und weiße Brauen hatten wie Amemna, wenn auch nicht die nach Osheyart schwarz geschminkten Augenlider, eine Offenbarung. Wenn Amemna durch diesen Mantel den gewöhnlichen Sterblichen quasi entrückt wurde, würde es Nefuts Ehrfurcht vor dem Göttlichen, seine doch wohl ebenso starke Verwurzelung in der Lehre des Wahren Weges, wie Murhan sie seiner Tochter vermittelt hatte, nicht mehr zulassen, daß er sich Amemna um seines Leibes willen näherte. Dieser Mantel würde schon vor ihrer Abreise hier im Heerlager die Distanz zwischen Amemna und Nefut schaffen, die es Merat ermöglichte, Nefut von ihren Qualitäten und ihrer aufrichtigen Zuneigung zu überzeugen. Merat versuchte, ihr triumphierendes Lächeln durch ihre tiefe Verbeugung vor dem Priester zu kaschieren. "Ich nehme dieses überaus kostbare Geschenk im Namen meines Gemahls dankend an, Herr", sagte sie ehrerbietig. Amemna konnte nun nicht mehr wagen, den Mantel an die Priesterschaft des Ungenannten zurückzuschicken, und Merat würde ihn bereden, den Mantel auch zu tragen. Stark genug dafür würde er wohl sein. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)