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Das Panopticon

von

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Prolog

PROLOG
 

Die Rechner erwachten mit einem leisen Knacken zum Leben. Er schenkte sich einen Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ein, und ging zu den Fenstern, die sich einmal um den ganzen Raum zogen. Es war so früh am Morgen, dass es noch dunkel draußen war. Die Umgebung wurde nur durch vier Scheinwerfer, die vom Turm aus in den Hof hinabstrahlten, erhellt.

Da er sich selber im Turm befand, der in der Mitte des ringförmig darum angelegten Gebäudes positioniert war, hatte er einen guten Überblick über alles. Zwischen dem Turm und der Innenwand des Gebäudes war ein Abstand von vielleicht 40 Metern. Abgesehen von einem eingebauten Gang, war der Turm nicht mit dem Firmengebäude verbunden. Und abgesehen von den Kameras, natürlich.

Er schlenderte, die Kaffeetasse in der Hand, zum Hauptrechner hinüber, der sich inzwischen hochgefahren hatte und loggte sich mit seinem Namen ein. Nach einigen Sekunden hatte er vollen Zugriff auf alle wichtigen Datenbanken. Routiniert rief er das Menü der Arbeiter auf, und entließ die Putzkolonne vorläufig in den Feierabend. Dann schaltete er das Licht in den Büro- und Aufenthaltsräumen ein.

Er ging zu einem großen Bildschirm, der den Eingangsbereich zeigte und beobachtete amüsiert, wie die ersten Angestellten hereintröpfelten. Er lachte leise und trank noch einen Schluck aus seiner Tasse.

Teil I

People simply disappeared, always during the night. Your name was removed from the registers, every record of everything you had ever done was wiped out, your one-time existence was denied and then forgotten. You were abolished, annihilated: vaporized was the usual word.

George Orwell: 1984
 

Die Glastür öffnete sich mit einem Zischen, als Rose ihre Karte in den Leser hineinsteckte. Mit einer routinierten Bewegung zog sie sie wieder heraus und trat durch die Tür in einen kurzen, grauen Flur. Die Wände waren hell-, der Gummiboden dunkelgrau. An der Decke befanden sich weiße Neonröhren, die ein kaltes Licht verströmten. Rose hätte sich daran stören können, doch sie tat es nicht. Sie arbeitete jetzt seit vier Jahren bei Pantop Innovation Technology und sie kannte das Gebäude - oder zumindest die Teile, die sie betreten durfte - inzwischen so gut, dass ihr seine Kälte gar nicht mehr auffiel. Sie kannte die Überwachungskameras, die in regelmäßigen Abständen zwischen zwei Lampen angebracht waren und mit roten Lämpchen ihre Anwesenheit kundtaten. Sie kannte die langen Flure und sie kannte den Sicherheitsraum, der direkt an den Flur angrenzte, durch den sie gerade ging. Alle Wege in das Firmengebäude hinein führten durch diesen Sicherheitsraum. Erst wenn man ihn passiert hatte, konnte man sich im Inneren des Gebäudes bewegen.

Rose war früh dran und im Sicherheitsraum befanden sich außer ihr nur zwei weitere Angestellte: Karla und eine andere Arbeiterin, deren Namen Rose nicht kannte, da sie erst seit kurzem hier arbeitete. Wenn sie sich recht erinnerte war sie der Ersatz für den Computertechniker. Christian hatte er geheißen... Aber sie wollte jetzt nicht an Christian denken und darum vertrieb sie den Gedanken aus ihrem Kopf und stellte ihren Koffer auf das Fließband. Der Sicherheitsraum war aufgebaut wie eine Flughafenkontrolle. Es gab ein schwarzes Band, das die Koffer zu einem Scanner transportierte, der diese dann durchleuchtete. Waffen, elektronische Geräte, bestimmte Stoffe und Flüssigkeiten, sowie andere, auf ihrem Arbeitsvertrag vermerkte Utensilien, die kein normaler Mensch mit zur Arbeit bringen würde, waren streng verboten. Rose nahm sowieso immer nur ein paar Wechselkleider und Hygieneartikel mit, den Rest ließ sie in ihrem Spind oder hatte sie bereits auf ihrem Zimmer, deshalb machte sie sich um das Scannen keinerlei Sorgen. Alle Mitarbeiter wohnten von Montag bis Freitag in der Firma, da dies die Arbeitswilligkeit fördern sollte und man so auch besser kontrollieren konnte, dass kein Wissen an unbefugte Ohren drang.

Nachdem sie ihren Koffer auf die andere Seite der Absperrung gebracht hatte, holte sie ihr Handy, ihren Geldbeutel und ihre Haustürschlüssel aus ihrer Handtasche, und legte sie in ihren Spind. Indem sie ihren Finger auf das kleine Lesepad neben dem Schloss legte, konnte sie den Schlüssel, eine unauffällige weiße Plastikkarte mit Magnetstreifen, abziehen und in ihre Tasche stecken.

Karla und ihre Begleiterin hatten den Raum bereits verlassen, als Rose in eine der Scankabinen trat. Der einzige Weg für einen Menschen auf die andere Seite des Raumes führte durch eine solche. Ähnlich wie der Koffer, wurde dort die Person untersucht. Wie gewöhnlich fand der Computer jedoch nichts an ihr, und Rose verließ die Kabine auf der anderen Seite, nahm ihren Koffer, der dort bereits auf sie wartete, und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.

Es war Montagmorgen und die Gänge waren noch leer, die Zimmer noch nicht bewohnt. Rose’ Zimmer lag im zweiten Geschoss von fünf insgesamt und hatte die Nummer B2-17. Ihr Zimmerschlüssel, der gleichzeitig auch ihr Spindschlüssel war, öffnete mit einem Klicken das Schloss und sie trat ein. Alles war genau so, wie sie es am Freitag zurückgelassen hatte. Die meisten Kleider, die sie brauchte, waren in ihrem Schrank deponiert, ein paar Bücher lagen auf dem kleinen Schreibtisch. Zur Rechten stand das Bett, während zur linken eine schmale Tür in ein enges Badezimmer mit Dusche und Toilette führte. Der Raum war, wie alle Räume im Firmengebäude, fensterlos und wurde nur über eine Klimaanlage belüftet.

Sie sah auf die Digitaluhr, die über ihrem Bett hing. Über den roten Leuchtziffern der Anzeige war das Lämpchen der Kamera fast nicht zu sehen, aber Rose wusste trotzdem, dass es da war, so wie alle Mitarbeiter mit dem ständigen Wissen über die Kameras lebten.

Es war 7:42. Sie hatte noch genau 18 Minuten, bevor sie in ihrem Büro sitzen musste. Sie überlegte kurz das Buch zu lesen, das sie von ihrer anderen Wohnung (es war schwer daran als ‘zuhause’ zu denken) mitgebracht hatte, entschied sich dann aber dagegen. Während der Arbeitszeit kam sie nur selten zum Lesen. Stattdessen beschloss sie, ein wenig früher anzufangen und in ihr Büro zu gehen.

Die Büros lagen auf der anderen Seite des kreisförmig angelegten Firmengebäudes. Hätte es Fenster gegeben, so hätte man von den Büros zu den Wohnungen hinüberschauen können. Allerdings würde der Turm, der in der Mitte des Gebäudekomplexes platziert war, die Sicht vermutlich erheblich einschränken. Keiner der Mitarbeiter war je in diesem Turm gewesen, aber jeder wusste, dass dort das Kontrollzentrum von Pantop war. Es gab für jeden Arbeiter ein Büro, da das Arbeiten in den Zimmern streng verboten war. Keine der Materialien und Unterlagen durften die Arbeitsräume verlassen.

Als sie sich auf den Weg machte, begegneten ihr sehr viel mehr Leute, als zuvor. Einige Kollegen grüßten sie mit einem Nicken, andere ignorierten sie und liefen mit gesenktem Kopf vorbei. Dass man nicht anhielt, um miteinander zu reden, konnte man nicht nur auf die morgendliche Müdigkeit oder Hektik schieben. Es war hier normal ohne große Worte aneinander vorbeizugehen. Rose störte das nicht besonders, obwohl sie sich manchmal wünschte, ein wenig mehr über ihre Kollegen erfahren zu können.

„Entschuldigung, wo ist denn B1-31?“, fragte plötzlich jemand. Die Stimme durchbrach das beruhigende Rauschen der Füße, Kleider und Atemgeräusche, und ließ mehrere Umstehende zusammenzucken. Auch Rose hob den Kopf und schaute direkt in das freundliche Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte dunkelblonde Haare, grüne Augen und ein breites Lächeln, das Rose schon lange nicht mehr bei jemandem gesehen hatte.

Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu fangen und zu antworten. „Meinen Sie mich?“

Er nickte, fuhr sich durch die abstehenden Haare und sagte unverfroren: „Sonst sehe ich hier niemanden.“

„Naja, es laufen hier ja noch genug andere Leute herum“, wollte Rose kontern, aber dann kam ihr in den Sinn, dass es wahrscheinlich nicht besonders freundlich war, einen offensichtlich neuen Kollegen so zu begrüßen. „B1-31 ist dahinten.“ Und sie zeigte mit dem Finger in die Richtung aus der sie gerade gekommen war. Damit war die Sache für sie erledigt und sie wollte gerade weitergehen, als ein weiterer Satz von ihm sie zurückhielt: „Sie arbeiten hier schon länger, oder?“

„Eine Weile.“ Über die Arbeit zu sprechen war verboten, und obwohl diese Frage in einem Grenzbereich lag, wollte Rose lieber kein Risiko eingehen.

„Nun, ich bin neu hier, wie Sie sich vermutlich denken können.“

„Ja, das ... sehe ich.“

„Mein Name ist Carter Roberts. Darf ich fragen wie Sie heißen?“ Er hatte immer noch dieses irritierende Lächeln. Rose fragte sich, ob er sie aus der Fassung bringen wollte mit seiner seltsamen Offenheit und seinen scheinbar freundlichen Fragen.

„Ich bin Rose Meininger.“

„Sehr erfreut.“

Eine kurze Stille entstand, in der Rose sich zum zweiten Mal umwenden und gehen wollte. Zuvor erinnerte sie sich aber noch an das gute Benehmen, das sie in der Schule beigebracht bekommen hatte und sie verabschiedete sich mit den Worten: „Ich denke ich gehe dann mal in mein Büro.“

„Eine Frage noch, wo ich Sie gerade zur Verfügung habe.“

Was für ein komischer Ausdruck, dachte Rose, blieb aber stehen.

„Ich bin mir nämlich ganz sicher, dass ich mich nachher wieder verlaufen werde: Wo ist denn D3-42? Das ist nämlich mein Büro.“

„Das ist ein Stockwerk über uns“, erklärte Rose. „Aber ich arbeite nicht in diesem Bereich, also kenne ich mich dort auch nicht so gut aus. Sie sollten am besten jemanden fragen, der dort sein Büro hat.“

„Vielen Dank“, sagte er. „Sie sind mich jetzt los.“

Rose nickte, brachte zum Schluss dann doch noch ein halbes Lächeln zustande und ging.

Ihr Büro lag auf der dritten Ebene, weshalb sie den Aufzug nach oben nahm. Um überhaupt Zugang zum dritten Stockwerk zu bekommen, musste sie ihre Karte durch den Leser an der Glastür ziehen, die die Ebene von den Zwischenräumen abgrenzte. Derselbe Schlüssel war auch für die Tür ihres Büros vonnöten. Als sie aufgesperrt hatte ging das Licht durch den automatischen Bewegungsmelder an. Anders als im Gang, waren in den Büros etwas wärmere, hellere Neonröhren verwendet worden, damit man sich beim Arbeiten wohler fühlte. Rose hatte jedoch früh erkannt, dass es Pflanzen relativ egal war, ob sie unter warmem oder kaltem Licht standen: sie gingen bei beidem ein. Auf dem Schreibtisch standen die kümmerlichen Überreste einer Miniatur-Bergpalme, die über das Wochenende jegliche Blätter abgeworfen hatte und jetzt nur noch aus zwei braunen, verkümmerten Stängeln bestand. Während Rose die Überreste der Pflanze in den Zimmermülleimer entsorgte, vermied sie es bewusst, in den großen Spiegel zu sehen, der die gesamte ihrem Schreibtisch gegenüberliegende Wand einnahm. Der Spiegel hatte sie in den ersten Wochen bei dieser Firma derartig verwirrt, dass sie sogar in Betracht gezogen hatte, Stuhl und Schreibtisch umzudrehen und mit dem Gesicht zur Tür zu arbeiten. Allerdings war sie sich - obwohl sie nichts Derartiges im ausführlichen Regelverzeichnis gelesen hatte - nicht sicher, ob das erlaubt war. Rose hatte furchtbare Angst davor, etwas falsch zu machen.

Glücklicherweise gewöhnte man sich mit der Zeit an den Spiegel, so wie man sich an alles andere hier gewöhnte. Sie schaute beim Arbeiten nicht mehr auf, um nicht ihr bleiches, angestrengtes Gesicht sehen zu müssen, genauso wenig wie sie auf den Gängen, in der Kantine oder in ihrem Zimmer aufsah, um nicht von den Kameras erfasst zu werden. Es war ein Rhythmus, den beinahe jeder, der hier anfing, instinktiv begriff und befolgte.

Auf einmal kehrten ihre Gedanken zu dem jungen Mann mit den hellen Haaren zurück. Er war zweifelsohne eine Ausnahme, hatte er sich doch verhalten, als würden derartige ungeschriebene Regeln nicht existieren. Wie war sein Name noch einmal gewesen? Irgendwas mit K ... Karsten? Frustriert rieb sie sich die Stirn. So gut ihr Gedächtnis auch war was mathematische Formeln und Gleichungen, was komplexe chemischer Reaktionssysteme betraf, so nutzlos war es doch im normalen Gebrauch. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal ohne Zettel zum Einkaufen gegangen war.

Der Gong, der alle zur Arbeit rief, erklang und unterbrach sie in ihren Überlegungen. Schnell setzte sie sich an ihren Schreibtisch und wartete darauf, dass sich ihr Computer hochfuhr.
 

Als Joseph Liebermann am Montagmorgen seinen Computer einschaltete um seine Mails abzurufen, wusste er sofort, dass sich jemand über das Wochenende an dem Gerät zu schaffen gemacht haben musste. Wer auch immer es gewesen war, hatte sich keine große Mühe gegeben, seine Tat zu verschleiern. Mit schreiender Offensichtlichkeit sprang einem sofort der Desktophintergrund entgegen, der früher aus einer simplen blauen Farbfläche bestanden, jetzt aber von einem großen, weißen Logo auf grauem Grund geziert wurde. Hauptsächlich setzte es sich aus den stilisierten Buchstaben BID zusammen.

Liebermann war von dieser Veränderung derartig überrascht, dass er den Computer betrachtete, in der vagen Hoffnung es sei nicht sein eigener. Doch das war völlig unmöglich, denn er hatte ja beim Einloggen sein fünfzehnstelliges Passwort eingegeben. Und dass jemand zufällig dasselbe Passwort wie er hatte, hielt er für recht unwahrscheinlich.

In der Mitte der oberen Bildschirmeinfassung war eine kleine Linse angebracht, die zur integrierten Webcam gehörte. Diese Linse war schon immer dort gewesen, sie fiel Liebermann jetzt nur deshalb ins Auge, weil neben ihr ein kleines rotes Licht leuchtete.

Vielleicht erlaubten sich seine Kollegen einen Scherz mit ihm und waren irgendwie, vielleicht über den Direktor, an sein Passwort gekommen, hatten sich in seinen Computer eingehackt und auf der Festplatte irgendwelchen Unsinn angerichtet, nur um seine verstörte Reaktion im Nebenraum zu beobachten. Nun, wenn dem so war, dann würde er mitspielen. Zu schade, dass sie sich durch die Kamera selber verraten hatten.

Zuerst musste er aber überprüfen, was genau mit seinem Computer angestellt worden war. Er setzte eine indifferente Miene auf und begann sich durch seine Dateien und Ordner zu klicken. Zu seinem Erstaunen fand er jedoch keine auffälligen Veränderungen. Lediglich seine persönlichen Bilder waren allesamt gelöscht worden (was kein großer Verlust war, denn sie bestanden hauptsächlich aus Fotos vom letzten Besuch bei seiner krebskranken Mutter vor drei Jahren). Als er das Fehlen der Fotos bemerkte, fiel ihm ein, dass er sie zu lange nicht mehr besucht oder angerufen hatte, und ein Hauch von Schuldgefühl kroch ihm über den Rücken.

Er schloss den Ordner mit den Bildern und starrte einen Moment ratlos auf den Bildschirm. Wenn das ein Scherz war, dann war es entweder ein sehr guter, oder ein sehr schlechter. Bis jetzt war noch absolut nichts passiert, das eine interessante Reaktion von ihm hätte provozieren können, von der Überraschung über den Desktophintergrund einmal abgesehen.

Vielleicht war es am besten, wenn er zu seiner täglichen Routine überging und darauf wartete, dass sich etwas Bemerkenswertes tat. Er öffnete sein Emailpostfach um nach neuen Nachrichten zu sehen. Seine Augen weiteten sich. Sein Postfach war leer, nicht nur keine neuen Nachrichten, sondern keine einzige Mail. Ebenso der Ausgang, der Papierkorb und der Spamordner. Er klickte auf das Adressbuch. Die einzige Mailadresse, die noch gespeichert war lautete mail@BID.de. Er öffnete den Browser. Wie zu erwarten gewesen war, waren seine gesamten Favoriten gelöscht. Er öffnete Google und tippte die drei Buchstaben BID in das Suchfeld. Es gab zu viele Treffer, um eindeutig herausfinden zu können, worum es sich bei BID handelte. Von Bibliotheken über Unternehmensgruppen bis hin zu Firmen und Einzelhandelsgeschäften war alles zu finden. Er fand sogar einen „Bund Internationaler Detektive e.V“. Er schloss Google wieder. Auf diesem Wege würde er nicht weiterkommen.

Nervös rieb er sich den Kopf. Was zum Teufel ging hier vor? Seine gesamten Kontaktdaten zu löschen war nicht lustig. Das ganze einer Firma oder einer ähnlichen Organisation mit den Initialen BID, die es vermutlich gar nicht gab, in die Schuhe zu schieben war es noch weniger. Wenn das seine Kollegen gewesen waren – und er glaubte langsam nicht mehr, dass sie dahinterstecken – dann war ihnen dieser Scherz absolut nicht gelungen. Er begann in seiner Tasche nach dem kleinen, in schwarzes Leder gebundenen Notizbuch zu suchen, das er immer bei sich trug. Er war sich ziemlich sicher, dass er die wichtigsten Daten darin notiert hatte. Vermutlich würde er das meiste rekonstruieren können.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Fanny, die 23-jährige Praktikantin, trat ein. Als sie sah, dass er in seiner Tasche herumkramte, blieb sie in der offenen Tür stehen.

„Guten Morgen, Herr Liebermann. Störe ich Sie?“

„Nein, nein, kommen Sie ruhig herein, Fanny.“ Er winkte sie zu seinem Schreibtisch.

„Ist alles in Ordnung? Sie sehen so blass aus.“

„Ja, alles okay. Ich bin nur noch nicht ganz ausgeschlafen. Legen Sie die Post hierhin.“

Sie platzierte den Stapel in einem Plastikfach auf seinem Schreibtisch und wollte wieder gehen, als er sie zurückrief.

„Kennen Sie zufällig irgendetwas, eine Firma zum Beispiel, unter dem Namen ‚BID’?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Davon habe ich noch nicht gehört. Gibt es einen bestimmten Grund, dass Sie fragen?“

Er erwägte einen Moment, ihr von dem Wallpaper, dem Emailpostfach und der Webcam zu erzählen, doch dann gewann seine Vernunft wieder die Oberhand. Je weniger von diesem peinlichen Vorfall wussten, desto besser. Er würde sich irgendwie selber helfen können. „Nein“, antwortete er, „reine Neugier. Einen schönen Tag noch.“

„Ihnen auch.“

Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.

Er starrte die Tür an und tippte sich gedankenverloren mit dem Finger ans Kinn. Seine Kollegen steckten nicht hinter dieser Sache. Er versuchte herauszufinden, wer sonst davon profitieren könnte, seinen Computer zu durchsuchen, aber ihm fiel niemand ein. Eher schien es, als wollte jemand auf sich aufmerksam machen. Diese Firma ... aber welche Firma hat heutzutage denn keine Website? Seine Gedanken verloren sich und schweiften ab.

Schließlich fing er sich; er musste sich an die Arbeit machen. Er griff nach der Post, die Fanny hereingebracht hatte und sortierte sie. Es waren zwei mittelgroße Kataloge (für eine Max Ernst- und eine Medici-Ausstellung), sowie mehrere Einladungen zu verschiedenen Ausstellungseröffnungen dabei, außerdem noch vier Briefe. Einer der Umschläge stach ihm sofort ins Auge. An der rechten oberen Seite war das Logo abgedruckt, das neuerdings auch seinen Desktophintergrund zierte. Ohne zu zögern riss er den Brief auf. Im Umschlag befand sich ein bedruckter Brief, sowie ein mehrseitiger Bogen aus festem, grünen Papier. Hastig faltete er den Brief auseinander.
 

Einberufungsbescheid
 

Sehr geehrter Herr Liebermann,
 

Sie werden mittels dieses Schreibens mit sofortiger Wirkung als Beamter für die Verwaltung der Behörde für Innovation und Datenübermittlung eingezogen. Diesem Schreiben wird ein Informationsgespräch folgen, dessen genaues Datum wir Ihnen noch mitteilen werden.

Zunächst haben Sie die Pflicht, sich ein ärztliches Attest über Ihre Eignung zum Dienst einzuholen. Anbei das Formular hierfür. Das Attest ist so schnell wie möglich zu beschaffen.
 

Mit freundlichen Grüßen
 

Kein Name, keine Unterschrift, nichts. Das einzige, was auf die Herkunft des Briefes hinwies, war ein Briefkopf, der das altbekannte BID-Logo zeigte. Liebermann nahm den vorgedruckten grünen Bogen und blätterte ihn durch. Jemand hatte seinen Namen bereits an der dafür vorgesehenen Stelle eingetragen. Es wurde nach persönlichen Details aus dem Privatleben des Patienten gefragt, sowie nach chronischen Erkrankungen und Basisinformationen wie Blutgruppe, Größe und äußere Erscheinung. Auf der letzten Seite befand sich ein Satz:
 

Der Patient ist körperlich und geistig fähig, den Dienst bei der Behörde für Innovation und Datenübermittlung anzutreten.
 

Darunter war ein Strich abgedruckt, auf dem der Arzt zu unterschreiben hatte.

Liebermann hatte noch nie von der Behörde für Innovation und Datenübermittlung gehört, war sich aber ziemlich sicher, die Erklärung für BID gefunden zu haben. Behörde für Innovation und Datenübermittlung. Es handelte sich also um eine obskure Behörde, die niemand kannte, denn wenn es eine seriöse Behörde gewesen wäre, wäre ihm ja zumindest der Name bekannt. Er dachte nicht im Traum daran, dort als Beamter zu arbeiten, schließlich war er mit seinem jetzigen Beruf sehr zufrieden. Einberufungsbescheid... Liebermann fühlte sich an seine Zeit beim Bund erinnert. Er zweifelte stark an der Legitimität dieser Behörde und dieses Einberufungsbescheids. Am besten wäre es, wenn er sich gleich am nächsten Tag einen Termin bei seinem langjährigen Hausarzt geben ließe, der würde ihm seine Vermutungen schon bestätigen.

Sofort griff er zum Hörer und rief in der Praxis an.
 

Wie jeden Montag brauchte sie eine Weile, um wieder in ihren Arbeitsrhythmus zu finden. Sie kontrollierte erst ihr firmeninternes Postfach nach Rundschreiben oder anderweitigen Informationen, doch außer dem Speiseplan von dieser Woche, fand sie nichts. Danach öffnete sie die Berechnungstabelle, die sie letzte Woche begonnen, aber nicht fertiggestellt hatte. Es war das einzige, was ihr noch zu Beendung ihres derzeitigen Auftrags fehlte. Wenn sie es schaffte, die Tabelle heute Morgen zu vervollständigen, konnte sie sie noch vor dem Mittagessen ins Kontrollzentrum schicken, und später vielleicht schon mit etwas Neuem anfangen. Sie war immer aufgeregt, wenn sie einen neuen Auftrag bekam, denn jeder neue Auftrag stellte sie vor neue Herausforderungen. Im Denken, Austüfteln und Knobeln war sie schon immer sehr gut gewesen und nichts machte ihr mehr Freude, als darin ihre Grenzen auszutesten. Aber jetzt wartete ersteinmal diese Tabelle auf sie. Seufzend machte sie sich an die Arbeit.

Als der Gong ertönte, der die Mittagspause einläutete, war sie gerade eben fertig geworden. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihr Werk sofort abzuschicken, doch es war noch nicht überarbeitet worden, und das letzte was sie wollte war, dass ihre Arbeit zur Verbesserung zurückgeschickt wurde. Deshalb ließ sie die Sachen widerwillig liegen und ging zum Mittagessen.

Die Kantine lag zwischen dem Arbeits- und dem Wohnflügel und war mit beiden durch zwei Türen verbunden. Die Tür, die zum Wohnflügel führte, war rund um die Uhr geöffnet, doch die andere war nur zu den Arbeitszeiten zugänglich.

Die Kantine war groß und weitläufig, mit mehreren langen, und vielen kleinen Tischen. Nach dem Scannen seiner Identifikationskarte konnte man an einem Bildschirm wählen was man essen wollte. Das gewünschte Mahl wurde dann auf einem Tablett an einem Ende des Saals auf einem Fließband aus der Küche gefahren. Rose hatte keinen der Küchenarbeiter je gesehen oder gehört, aber was sie an Gerichten fabrizierten war gut.

Sie wählte ihr Gericht (Penne mit Tomatensoße) und bewegte sich auf eine der langen Tafeln zu. Sie setzte sich immer dorthin, da die Tische meist voll wurden und sie so unter Leuten war. Auch wenn sie nicht viel mit ihnen sprach – denn dazu war sie viel zu schüchtern – genoss sie es doch, den Gesprächen der anderen zu lauschen und so zu tun, als gehöre sie dazu. Sie hatte schon einen Platz, relativ mittig, neben Benni, dem Ingenieur, ins Auge gefasst, als sie plötzlich ihren Namen hörte.

Verwirrt sah sie um sich, um herauszufinden, woher die Stimme kam. Sie sah den Typ, den sie am Morgen getroffen hatte, an einem der kleineren Tische sitzen und ihr zuwinken. Ohne es zu wollen, fühlte sie sich geschmeichelt. Noch nie hatte sie jemand gebeten, sich neben sie zu setzen, schon gar nicht jemand, den sie kaum kannte. Trotzdem zögerte sie, von einer plötzlichen Furcht ergriffen, seinen Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Vielleicht wäre es einfacher wenn sie sich einfach zu den anderen setzte, das würde ihr auf jeden Fall keine Schwierigkeiten bringen.

Er stand auf und kam zu ihr herüber. Sie erstarrte.

„Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie sich zu mir setzen würden“, sagte er, und in diesem Moment fiel Rose auch wieder sein Name ein: Carter. Er hieß Carter.

„Ja, gerne, ich war nur gerade ...“ Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte und schwieg. Er schien sich daran nicht zu stören, rückte ihr nur höflich den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber.

„Schön, dass wir uns wiedersehen.“

„Alle Mitarbeiter treffen sich in der Kantine“, sagte Rose ohne nachzudenken. Gleich darauf schämte sie sich dafür. Es war keine besonders nette Antwort gewesen.

„Ja, aber es sind ja sehr viele Mitarbeiter. Vielleicht können Sie mir ein paar vorstellen, die Sie mögen.“

„Ach, eigentlich mag ich alle hier“, platzte sie heraus. Besser er erfuhr nicht sofort, dass ihr Freundeskreis nicht besonders groß war.

Sie schwiegen. Rose überlegte angespannt, was sie ihn fragen könnte, aber ihr fiel nichts ein.

„In welcher Abteilung arbeiten Sie?“, fragte er plötzlich.

„Das ... ich bin Technikerin.“ Nervös schielte sie zu den Kameras, die auch hier unter jedem der Lüftungsschächte in der Decke angebracht waren und stumm vor sich hin leuchteten. Carter war ihrem Blick gefolgt.

„Hier herrscht wohl ständige Überwachung, oder?“

„Das Projekt an dem wir arbeiten ist geheim, es darf keine Information nach außen gelangen.“

Rose selber hatte nur eine sehr vage Ahnung von dem, was sie eigentlich konstruierten, da sie selber ja nur ein winziges Teilstück des ganzen bearbeitete.

„Wissen Sie eigentlich, wer genau uns überwacht?“

„Die Firmenleitung, nehme ich an. Die, mit denen wir das Vorstellungsgespräch geführt haben. Sie müssten das ja gerade hinter sich haben.“

„Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Da könnten Sie recht haben. Aber die sind doch bestimmt nicht die ganze Zeit damit beschäftigt, ihre Arbeiter zu überwachen.“

Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Rose gar nicht. Zwar hielt sie sich nicht für übervorsichtig, aber trotzdem war sie innerhalb des Firmengebäudes immer auf der Hut, was sie sagte. Sie wusste, dass es schwere Bestrafungen gab, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Mehr als nur ein paar Personen war während ihrer Beschäftigung gekündigt worden. Diese Kündigungen waren fristlos, zumindest ging Rose davon aus, denn nach der Besprechung mit der Verwaltung der Firma, sah man die Angestellten nicht wieder.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

Carter setzte zu einer Antwort an, als plötzlich Karla in den Saal gestürmt kam, dich gefolgt von einer jungen Frau mit braunen Locken. Erst jetzt fiel Rose auf, dass Karla nicht in der Kantine gewesen war. Seltsam, dachte sie, sonst fällt sie einem doch immer sofort auf.

„Es ist etwas Furchtbares passiert!“, rief Karla in das Stimmengewirr hinein. Sofort verstummten alle. Jeder verstummte wenn Karla etwas sagen wollte.

„Wir – wir haben ...“, sie brach auf einem Stuhl zusammen, den ihr einer ihrer zahlreichen Anhänger hingeschoben hatte.

Stühle fuhren rumpelnd über den Boden, Tische wurden zurückgeschoben. Einige standen auf, um besser sehen zu können. Rose sah das Mädchen, das sie begleitet hatte, in Tränen ausbrechen. Sie warf Carter einen Blick zu.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise.

Ratlos zuckte er die Schultern.

„RUHE!“, schrie auf einmal jemand, eine männliche Stimme. „Seid doch mal leise!“

Der Lärmpegel nahm ab, wenn auch nur wenig. Immer noch tuschelten einzelne miteinander, immer noch wurden unruhig Stühle hin- und hergerückt. Der Mann sagte irgendetwas, das Rose nicht verstehen konnte, obwohl sie sich anstrengte, alles mitzukriegen. Er hatte vielleicht eine halbe Minute gesprochen, als auf einmal ein Aufschrei durch die weiter vorne stehenden Leute ging.

„Was? Was ist passiert?“, rief eine etwa 40-jährige Frau, die neben Carters Stuhl stand.

Ein Mann weiter vorne drehte sich um und sagte: „Karla und Jane haben die Leiche von Alexander Roseville gefunden.“
 

„Joseph Liebermann, Sie können jetzt kommen.“

Er stand auf und folgte der Sprechstundenhilfe in das Behandlungszimmer von Doktor Breugen, seinem langjährigen Hausarzt.

„Hier entlang bitte.“

Die blonde, korpulente Dame öffnete ihm die Tür. Als er eingetreten war, schloss sie sie wieder hinter ihm. Er ließ sich auf einem der beiden Stühle gegenüber vom Schreibtisch des Doktors nieder.

„Guten Tag, Herr Liebermann. Schön Sie wiederzusehen.“

Doktor Breugen war um die sechzig, mit einer runden Brille und einem buschigen Bart, der die gesamte untere Gesichtshälfte verdeckte. Von Zeit zu Zeit griff er mit einer seiner stark behaarten Hände in den Bart und drehte eine einzelne Strähne zwischen den Fingern.

„Was kann ich diesmal für Sie tun?“

Liebermann hatte der Sprechstundenhilfe am Telefon nicht von dem Attest und dem Einberufungsbescheid erzählen wollen, aus Angst sie könne ihn auslachen. Auch jetzt war er sich nicht sicher, ob er dem hünenhaften, alten Arzt den Bogen und das Schreiben vorlegen sollte.

Doktor Breugen schaute ihn auffordernd an, anscheinend war seine Antwort zu lange ausgeblieben. Also griff Liebermann zögerlich in seine Tasche und holte den Umschlag, den er am Vortag erhalten hatte, mitsamt Inhalt heraus. Er schob seinem Gegenüber die Papiere über den Schreibtisch hin.

„Dies habe ich gestern bekommen. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht ganz sicher...“ Er brach ab und beobachtete schweigend, wie Breugen seine Brille zurechtrückte, zunächst kurz den Brief überflog, und sich dann dem Fragebogen zuwandte. Während er las, zog er immer wieder an seinem Bart und brummelte ab und zu, als wolle er irgendetwas bestätigen. Schließlich legte er die Blätter ab und schaute Liebermann streng an.

„So eine Einberufung ist natürlich eine ernste Sache“, sagte er gewichtig. „Sie hätten mich wirklich darüber informieren können, dann hätte ich mehr Zeit für Sie eingeplant.“

Liebermann schaute ihn fassungslos an. „Ich dachte nicht ... ich wusste nicht ... ich habe noch nie von einer solchen Einberufung gehört.“

„Nun, es passiert natürlich nicht häufig, aber von Zeit zu Zeit schon einmal“, bestätigte der Arzt, bevor er aufstand und einige Unterlagen und Instrumente aus einem Regal, das hinter ihm stand, zu nehmen. „Ich persönlich habe ein solches Attest erst fünf Mal ausgefüllt. Meine Kandidaten sind bisher immer bestens geeignet gewesen“, fügte er in einem beinahe stolzen Ton hinzu, als ob das allein sein Verdienst wäre.

„Das heißt das ist völlig ... normal?“, fragte Liebermann zaghaft.

„Als ‚normal’ würde ich das wohl wirklich nicht bezeichnen, es ist eine Ehre von der Behörde erwählt zu werden.“

Liebermann war sich nicht sicher, ob er überhaupt für diese Behörde arbeiten wollte. Er war mit seinem bisherigen Leben eigentlich sehr zufrieden gewesen. An der Legitimität des Schreibens konnte aber jedenfalls nicht mehr gezweifelt werden, schließlich war Doktor Breugen ein vernünftiger Mann. Fast schämte er sich dafür, nichts über die Behörde und deren Angestellte gewusst zu haben.

Doktor Breugen begann, indem er den Vordruck zu Hilfe nahm, Liebermann einige Fragen zu stellen. Er hatte das Formular vor sich auf den Tisch gelegt und kreuzte mit einem Kugelschreiber die entsprechenden Felder an. Immer wenn Liebermann eine scheinbar seltsame Antwort gab, rückte er seine Brille auf der Nase zurecht oder hob seine buschigen Augenbrauen. Obwohl Liebermann versuchte herauszufinden, bei welcher Art von Antwort dies geschah, konnte er sich keinen Reim auf ein mögliches Muster machen. Die Befragung war lang und ausführlich und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er auf die Uhr sah. Breugen schien sich daran jedoch nicht im Geringsten zu stören und stellte mit stoischer Ruhe weitere Fragen. Nach einer Weile begann er nicht nur nach Liebermanns Gesundheit, sondern auch nach seinem Familienstand, seiner sozialen Situation und seinem Freundeskreis zu fragen.

„Ich wüsste nicht, warum das eine Relevanz für meine Befähigung zu dieser Tätigkeit haben sollte“, bemerkte Liebermann, als Breugen ihn nach dem Beziehungsstand seiner Eltern fragte.

„Natürlich hat es das“, erwiderte der Doktor unbewegt. „Die Behörde will wissen, ob Sie ein glücklicher Mensch sind, denn glückliche Menschen arbeiten besser.“

„Aber diese Informationen sind persönlich“, gab Liebermann zu bedenken. „Ich müsste Sie der Behörde eigentlich gar nicht mitteilen.“

„Nun, das ist Ihre Entscheidung. Aber wenn Sie die Fragen nicht beantworten, dann kann ich Ihnen kein Attest ausstellen und die Chance, die Ihnen mit diesem Angebot gegeben wurde, geht Ihnen verloren.“

Liebermann zögerte. Breugen sprach von einer Chance, ihm aber war nicht wirklich klar, worum es sich dabei handelte. Er hatte doch einen guten Job in dem er einigermaßen glücklich war. Was konnte ihm diese Behörde schon bieten?

„Ich hatte Ihnen doch bereits gesagt, dass ich diese ‘Chance’ nicht unbedingt nötig habe.“

„Und ich sagte Ihnen bereits, dass diese Entscheidung ganz allein bei Ihnen liegt. Aber viele Leute würden sich nach einer solchen Gelegenheit die Finger lecken.“

„Naja, es kann ja wirklich nicht schaden“, stimmt Liebermann ihm etwas unwillig zu. „Und vermutlich bin ich ja noch nicht einmal geeignet.“

„Das werden wir sehen.“ Wieder zupfte sich Breugen an einer Bartsträhne und nahm seine Frage wieder auf. „Also, wie ist nun das Verhältnis Ihrer Eltern?“
 

Als die Befragung beendet war, fühlte Liebermann sich matt und ausgelaugt. Er hatte so viel von sich preisgegeben, wie schon lange nicht mehr. Er hatte keine Freunde, denen er Details aus seinem Privatleben erzählt hätte. Sein Vater war tot und seine Mutter besuchte er selten, da sie zu weit weg wohnte. Geschwister hatte er keine. Er fuhr sich über das Kinn, als erwarte er dort Bartstoppeln zu fühlen, wie es der Fall war, wenn er morgens aus dem Bett stieg, aber natürlich war da nichts. Er richtete seinen Blick auf die Tür, durch die Doktor Breugen bald mit seinen Ergebnissen treten würde. Offenbar dauerte der Prozess der Auswertung sehr lange, schließlich war der Informationsgehalt sehr hoch. Deshalb hatte es ihn gewundert, dass der Arzt ihm diese noch am selben Abend mitteilen wollte.

Die Tür öffnete sich und Breugen trat ein. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand, auf dem er im Gehen noch etwas notierte. Seine Brille war ihm bis nach vorne auf die Nasenspitze gerutscht, was ihn seltsam und alt aussehen lies. Anstatt sich hinzusetzen, blieb er vor Liebermanns Stuhl stehen und sah ernst auf ihn herunter. Liebermann wäre gerne ebenfalls aufgestanden, um mit dem Doktor auf Augenhöhe zu sein, aber da dieser so dicht vor ihm stand wäre dies vermutlich unangenehm geworden.

„Nun, Herr Liebermann“, erklärte Breugen und zupfte sich mit der rechten Hand, die den Stift hielt, am Bart. „Ich habe gute Nachrichten für Sie. Sie sind perfekt dafür geeignet, bei der Behörde zu arbeiten. Herzlichen Glückwunsch.“ Er streckte ihm die Hand entgegen.

Liebermann, der nun doch aufstand, da er sich verpflichtet fühlte die Hand des Doktors zu schütteln, legte die Stirn in Falten. „Das heißt ich kann dort arbeiten?“, fragte er, etwas verunsichert.

„Sie müssen“, erklärte Breugen in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. „Hier, das ist Ihre Bescheinigung.“ Damit drückte er ihm einen rot eingefärbten Zettel in die Hand. Lediglich seine Unterschrift war handschriftlich, der Rest war bereits vorgedruckt. Sogar Liebermanns Name.

„Aber wie ...?“

„Freuen Sie sich und schicken Sie die Bescheinigung so schnell wie möglich ab“, erklärte Breugen und schob Liebermann in Richtung der Tür. „Ich werde jetzt jedenfalls Feierabend machen. Herzlichen Glückwunsch nocheinmal.“

Liebermann wurde in einer unergründlichen Eile durch den Gang in den Eingangsbereich geschoben, wo bereits die Sprechstundenhilfe - eine andere als zuvor - mit seinem Mantel wartete.

„Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Liebermann“, zwitscherte sie, drückte ihm einige Papiere - vermutlich die Rechnung - in die Hand; dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Verwundert schaute Liebermann auf den Zettel, den er in der Hand hielt und auf dem seine Befähigung zum Beamten der Behörde für Innovation und Datenübermittlung vermerkt war. In seiner anderen Hand hielt er einen Umschlag, auf dem die Behörde als Empfänger, und eine Adresse darunter stand. Er war frankiert und hatte exakt dieselbe Größe, wie die Bescheinigung. Dazu hatte ihm die Sekretärin, wie vermutet, die Rechnung zukommen lassen. Der Betrag war überraschend niedrig.

„Ich könnte beides gleich einwerfen“, stellte Liebermann fest und überlegte, ob er auf dem Weg nach Hause an einem Briefkasten vorbeikommen würde. Doch dann steckte er den Umschlag in die Tasche und marschierte nach Hause. Morgen war immer noch Zeit das zu entscheiden. Man durfte nichts überstürzen.

Teil II

Da wünschte ich, du solltest doch wenigstens mein Lachen hören, gerade während man dich ans Kreuz schlüge – Und so lachte ich auf, so schrill, so laut ich konnte. Das war das Lachen, Fridolin – mit dem ich erwacht bin.

Arthur Schnitzler: Die Traumnovelle
 

Rose saß in ihrem Büro und versuchte verzweifelt, sich auf die Korrektur ihrer Berechnungen zu konzentrieren, doch es war unmöglich. Die Zahlen tanzten vor ihren Augen und fügten sich einfach nicht zu den logischen Ketten zusammen, die sie sonst immer bildeten. Schließlich stützte sie den Kopf in die Hände und bohrte ihre Fäuste tief in ihre Augenhöhlen. Es war nicht nur, dass sie Alexander gut gekannt hatte. Es war nicht nur, dass er so ziemlich ihr einziger Freund gewesen war. Nein, viel schlimmer war, dass sie sein Fehlen bis zu dem Moment, als Karla mit der Nachricht seines Todes hereingeplatz war, nicht mal bemerkt hatte. Sie konnte sich kaum noch erinnern, was danach geschehen war. Alle hatten herumgebrüllt und irgendwas geschrien, der Lärm war unerträglich gewesen. Am Ende hatte sie nur verstanden, dass Alexander offenbar ermordet worden war, mehr wusste sie nicht.

„Der Mörder muss einer von hier sein, niemand sonst hat Zugang zum PIT-Firmengelände.“

Rose wusste nicht mehr, wer das gesagt hatte, nur, dass der Gedanke sie maßlos erschreckte. Das war wie in einem Horrorfilm. Der Rest des Essens war wie ein furchtbarer Albtraum gewesen, als die schrecklichen Details langsam auch bis zu ihr durchsickerten. Sie war zum Schluss eine der wenigen, die noch saß und eine der wenigen, die nichts sagte. Jemand habe Alexander auf höchst grausame Weise die Kehle aufgeschlitzt, erklärte ein Mann. Er sei im Bad auf seinem Wohnflügel gefunden worden. Das wusste eine Frau. Rose wusste nur noch, dass sich ihr der Kopf gedreht hatte. Und irgendwann stand sie außerhalb des Saals mit Carter, der einen Arm um sie gelegt hatte, wahrscheinlich um sie zu stützen.

„Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen“, sagte er sanft.

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich mich jetzt hinlege...“ ... kann ich nachher nicht wieder aufstehen, hatte sie sagen wollen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Stattdessen ließ sie es ungesagt. „Ich sollte wieder ins Büro.“

„Bist du sicher?“

Sie nickte. „Das lenkt mich ab.“

Er musterte sie aufmerksam. „Du kanntest ihn.“

Es war keine Frage. „Ja, wir waren befreundet. Er ...“ Sie schüttelte den Kopf, um nicht in Tränen auszubrechen.

Jetzt, in ihrem Büro, alleine, hielt sie nichts davon ab zu weinen. Sie spürte, wie ein paar Tränen zwischen ihren Fingern hindurch rannen, aber es waren nicht viele. Wie sollte sie den Rest des Tages überstehen?

Die Stunden zogen quälend langsam dahin. Rose kritzelte abwechselnd auf ihrem Notizblock herum, starrte in die Luft oder versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie machte keine Pause um vier wie sonst immer, sondern blieb in ihrem Büro sitzen, starrte auf den Bildschirm und versuchte ihre Gedanken auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Es klappte nicht. Sie musste um halb sieben das Büro verlassen, ohne den Auftrag fertig gestellt zu haben.

Die Gänge begannen gerade sich zu füllen, als sie nach draußen trat. Die meisten machten jetzt Feierabend und gingen in ihre Zimmer, oder trafen sich auf ein Gespräch in der Cafeteria oder einem der anderen Aufenthaltsräume. Wie üblich steuerte Rose ihr Schlafzimmer an, denn besonders heute hatte sie keinerlei Interesse an jeglichem Kontakt mit den anderen. Es machte sie fertig, wie normal die Leute sich verhielten. Im Fahrstuhl stand sie mit geschlossenen Augen an die verspiegelte Rückwand gelehnt und versuchte, sich auf ihr Bett zu freuen.

„Roseville soll in einem der Badezimmer umgebracht worden sein.“ Der Satz brach brutal in ihre Gedanken ein. Sie öffnete ihre Augen einen Spalt weit und sah eine Gruppe von vier Männern einsteigen, die sich angeregt unterhielten.

„Natürlich“, antwortete ein älterer Herr mit Bart und Brille, den sie als Dr. Marley erkannte. Sie erinnerte sich, beim Essen einige Male neben ihm gesessen zu haben. Er redete gerne und viel, und Rose hatte sich oft von seinen lauten Reden und häufigem Lachen geradezu erschlagen gefühlt. „Wenn ich jemanden umbringen wollte, würde ich das auch im Bad tun. Ist schließlich der einzige Ort, an dem du unbeobachtete bist.“

„Sonst sind ja überall Kameras“, bestätigte der, der zuerst gesprochen hatte.

„Ich weiß sowieso nicht, was daran so ungewöhnlich sein soll. Er wurde in dem Badezimmer umgebracht, das auf dem Stockwerk liegt, in dem er wohnte. Und es war nicht die Frauentoilette.“

„Ja schon, aber warum sollte jemand die öffentlichen Badezimmer benutzen? Das ist doch bescheuert, wenn du eigene hast.“

Das Öffnen der Tür unterbrach das Gespräch der Männer kurzzeitig. Die Gruppe stieg aus. Rose warf einen kurzen Blick auf die Anzeige. Sie waren im ersten Stock, sie hatte ihr Stockwerk verpasst. Ehe sie wusste was sie tat, folgte sie den Männern in einigem Abstand.

„... hat da wohl etwas nicht ganz Einwandfreies gemacht“, hörte sie Marley mit einem dumpfen Lachen sagen. „Oder sein Mörder hat etwas Verbotenes gemacht und Roseville hat ihn dabei erwischt.“

„Du sprichst ja wie dieser Detektiv aus dem Fernsehen.“

„Ja, ich muss zugeben, die Sache interessiert mich.“ Marley lachte wieder. „Nach vierunddreißig Jahren passiert hier endlich mal etwas Interessantes.“

„Mach dir nicht zu viele Hoffnungen“, meinte der erste Mann, während er in sein Zimmer ging, „in ein, zwei Tagen hat die Verwaltung den Fall eh aufgeklärt. Denen bleibt doch nichts verborgen.“

„Wir werden sehen“, brummte Marley und setzte seinen Weg fort.

Die öffentlichen Badezimmer auf allen fünf Stockwerken waren in der Mitte der Schlaftrakte positioniert worden. Rose nahm an, dass sie temporären Besuchern der Firma dienen sollten, auch wenn sie noch nie einen solchen gesehen hatte, und auch selber nie einen ihrer Kollegen diesen Raum hatte nutzen sehen. Genau genommen wusste sie nicht mal, wie die Dinger aussahen, denn sie hatte es sich zur Regel gemacht, sich um nichts zu kümmern, außer um sich selbst und ihre Arbeit. Sie war in den letzten Jahren so folgsam gewesen, dass sie beinahe vor sich selber erschrak, als sie sich plötzlich dabei wiederfand, wie sie die Tür zum öffentlichen Bad am Ende des Flures öffnete.

Sie hatte nicht erwartet, irgendetwas zu finden und so bekam sie einen furchtbaren Schrecken, als eine Person im Raum stand. Für einen Moment dachte sie, es handele sich um Alexander. Er war es natürlich nicht. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es Carter war, der sich zu ihr umdrehte und ähnlich erschreckt aussah, wie sie.

„Was machst du denn hier?“, fragte er mit leichtem Beben in der Stimme.

„Ich wollte mir den Ort ansehen, wo Alexander Roseville sterben musste.“

Der Raum war steril und künstlich. Boden, Wände und Decke waren weiß gefließt. Es erinnerte Rose an ein Schwimmbad oder vielleicht auch an ein Schlachthaus. Über den Waschbecken hingen Spiegel. Die Duschen gingen zur linken Seite ab, die Toiletten zur rechten. Ein starker Desinfektionsgeruch lag in der Luft, sonst war aber nichts Auffälliges am Raum.

„Es ist nichts mehr zu sehen, das dachte ich mir“, sagte sie leise und fuhr sich nervös durch die Haare. Der Gedanke, dass hier einer ihrer wenigen Freunde gestorben war – nein nicht gestorben, sondern ermordet! – machte ihr stärker zu schaffen, als sie gedacht hatte.

„Ja, die Putzkolonne hat das Meiste beseitigt“, erklärte Carter emotionslos. „Sie haben ihn in irgendeiner Kammer, oder so, aufgebart und bringen ihn morgen zu seiner Familie zurück. Das ist zumindest die Information, die ich aus den Leuten herauskriegen konnte.“

Dass Alexander eine Familie gehabt hatte, war Rose neu. Obwohl sie beide sich gut verstanden hatten, hatten sie niemals über solche Dinge geredet. Man sprach hier nicht viel über Persönliches.

„Wart ihr sehr gut befreundet?“

Sie nickte. „Er war so ein bisschen wie ein großer Bruder für mich. Manchmal habe ich-“ Sie unterbrach sich. Sie wollte solche privaten Dinge nicht einfach so einem praktisch Fremden erzählen. Energisch rieb sie sich über die Augen; und sie wollte jetzt nicht anfangen zu weinen. Nicht hier.

„Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass er nicht da war“, sagte sie leise.

„Es ist niemandem aufgefallen.“

„Ja, natürlich, die dachten nur es sei ein weiterer Normalfall, aber ich hätte es wissen müssen!“

„Ein Normalfall?“

„Ab und zu ... verschwinden Leute. Einfach so. Das ist normal. Wenn man sich nicht an die Regeln hält, fliegt man raus.“

„Und man sieht diese Leute nie wieder?“

Rose schüttelte den Kopf. „Sie dürfen nicht mehr hier hinein, wenn sie nicht mehr hier arbeiten. Die Verwaltung handelt bei sowas immer schnell. Wir müssen unsere Ergebnisse schließlich schützen.“

Carter nickte.

„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Rose plötzlich.

„Es ist mein erster Arbeitstag und ein Mensch ist gestorben. Und auch noch auf meinem Stockwerk. Natürlich mache ich mir Gedanken. Ich hoffe sowas kommt nicht öfter vor“, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

„Nein“, sagte Rose, die nicht zurücklächeln könnte. „Normalerweise nicht.“

„Dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen.“

Er ging zu einem der Waschbecken und wusch sich die Hände. In Rose stieg ein plötzlicher Ekel über diesen Raum auf, sie hätte nicht mal im Traum daran denken können, hier irgendetwas anzufassen.

„Ich gehe dann mal wieder“, presste sie hervor und verließ dann fluchtartig das Bad. Es war eine schlechte Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Die Erinnerung an das kalte, künstliche Zimmer, in dem Alexander gestorben war, bereitete ihr Übelkeit. Sie hätte sich einfach in ihr Bett legen und schlafen sollen.

„Sieh mal einer an“, sagte plötzlich eine Stimme. „Wo kommen Sie denn her?“

Rose hob den Kopf. Ihre Sicht war ein wenig verschwommen, aber sie konnte trotzdem das Gesicht von Susan Locks erkennen. Susan arbeitete auf demselben Stockwerk wie sie und - wie Rose vermutete - auch an demselben Thema.

„Ich wollte sehen, wo Alexander gestorben ist“, antwortete sie leise. „Aber ich fürchte es war keine so gute Idee.“

„Sie haben heute aber früh Schluss gemacht“, sagte Susan mit einem Blick auf die Uhr. „Ich habe bis gerade eben gearbeitet. Waren Sie etwa schon früher fertig?“

„Das geht Sie nichts an“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Beide, Rose und Susan, drehten sich um. Es war Carter, der gerade aus dem Raum getreten sein musste. „Wenn Ihr Freund stirbt, arbeiten Sie dann auch einfach weiter wie zuvor?“

„Arbeit geht hier nun mal vor“, sagte Susan. „Wenn man vorankommen will, muss man sich anstrengen. Aber das müssen Sie wohl erst noch lernen.“ Mit diesem Satz rauschte sie an ihnen vorbei.

Rose bedankte sich bei Carter, dass er sie in Schutz genommen hatte. Auch wenn sie lieber keinen Streit mit Susan vom Zaun gebrochen hätte, war sie froh, sich nicht mehr mit ihr abgeben zu müssen.

„Das war doch selbstverständlich“, erklärte er nur und lächelte schon wieder. „Lass dich von der nicht unterkriegen, die ist nur eifersüchtig.“

„Vielleicht hast du recht.“ Auf einmal war sie furchtbar müde. „Ich sollte jetzt wirklich gehen“, sagte sie. „Bis morgen.“

„Willst du nicht noch ein bisschen bleiben?“, fragte er leise.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

Dann nahm sie den Aufzug nach oben.
 

„Guten Morgen, Herr Liebermann. Hier ist Ihre Post.“ Fanny trat wie jeden Morgen durch die Tür und legte ihm einige Umschläge auf den Platz auf seinem Schreibtisch, der dafür vorgesehen war.

Liebermann bedankte sich, und wollte ihr eine weitere Anweisung geben, als ihm der Brief, der ganz oben auf dem Stapel lag, ins Auge fiel. Es war dasselbe Logo wie auf dem ersten Schreiben, das er erhalten hatte. Auf einmal fiel ihm der Besuch bei Doktor Breugen ein und die Bescheinigung. Wie hatte er das vergessen können? Er versuchte sich an die Untersuchung zu erinnern, aber alles gestern Geschehene war wie hinter einem dichten Nebel, als hätte er es nur geträumt.

Mit zittrigen Fingern griff er nach dem Umschlag und öffnete ihn mit dem silbernen Brieföffner, den er vor scheinbar endlos langer Zeit von einem Mädchen geschenkt bekommen hatte. Wie hatte sie noch geheißen? Er hatte es vergessen.

Das Papier fühlte sich rau unter seinen unsicheren Fingen an, und beinahe hätte er sich mit dem angespitzten Metall in den Finger gestochen.

Vielleicht schreiben sie mir, dass es sich bei dem letzten Brief um einen Irrtum gehandelt hat, mutmaßte er. Zu jeder anderen Zeit wäre ihm dieser Grund plausibel vorgekommen. Er faltete das Papier auseinander.
 

Sehr geehrter Herr Liebermann,
 

wir freuen uns von Ihrer Tauglichkeit für unsere Beamtenschaft erfahren zu dürfen.

Um sie optimal auf Ihren Aufgabenbereich vorzubereiten möchten wir Sie am folgenden Freitag zu einem Treffen einladen. Wir bitten Sie darum, sich gegen 20 Uhr im Restaurant „Zum Advokaten“, einzufinden. Wir freuen uns auf Ihr Kommen.
 

Mit freundlichen Grüßen
 

Liebermann sprang auf und lief zu seinem Mantel, der an einem Messinghaken an der Wand hing und kramte in den Taschen nach der Bescheinigung, die ihm Doktor Breugen am Vorabend ausgestellt hatte. Er fand die Rechnung in der linken Tasche, die rechte war leer. Vielleicht in der Brusttasche ... auch diese leer. Er durchsuchte die Taschen ein weiteres Mal. Wo war die Bestätigung? Er war doch am Vorabend nach Hause gegangen, ohne den Umschlag in den Briefkasten zu werfen. Oder hatte er sich den Besuch nur eingebildet? Nein, die Rechnung, die er in der Tasche gefunden hatte, bewies das Gegenteil. Wie konnte das sein? Wie hatte die Behörde von seiner Tauglichkeit erfahren?

Er verließ sein Büro, vielleicht waren ihm die Dokumente ja auf den Boden gefallen. Hecktisch suchte er den Boden ab.

„Suchen Sie etwas Herr Liebermann?“ Es war Fanny auf dem Rückweg von ihren Botengängen.

„Fanny, haben Sie hier zufällig einen Umschlag gefunden und abgeschickt?“

„Natürlich nicht, Herr Liebermann. Die Post bringe ich doch immer erst vor der Mittagspause weg.“

„Aber war hier ein Umschlag?“

„Nein, ich denke das wäre mir aufgefallen. Ist es denn etwas Wichtiges?“

Liebermann schüttelte den Kopf. „Nein, nein, schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken.“

Ermattet schlurfte er in sein Büro zurück und ließ sich hinter seinen Schreibtisch fallen. Ihm kam ein unangenehmer Gedanke. Vielleicht steckte Breugen mit ihnen unter einer Decke und hatte sofort gemeldet, dass er ihn untersucht und für befähigt empfunden hatte. So beunruhigend diese Vorstellung auch war, sie erklärte nicht das Verschwinden des Umschlages. Da Liebermann ein sehr sorgfältiger Mensch war, gab er immer darauf Acht, nichts zu verlieren. Ihm war noch nie etwas aus seiner Tasche gefallen.

Er stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, was er tun sollte. Ein Treffen am Freitag ... Der Brief lag vor ihm und schien zu grinsen. Liebermann zerriss das Papier und beschloss, nicht zu diesem Treffen zu gehen.
 

„Irgendwie lässt mir diese Sache mit Alexander keine Ruhe“, sagte Rose und beugte sich über den Tisch zu Carter hinüber, der kaum von seinem Essen aufsah.

„Grübelst du immer noch darüber nach?“

„Es ist erst vier Tage her!“ Sie stützte den Kopf in die Hand. „Alle denken darüber nach, das sieht man ihnen an.“

„Wenn du’s sagst.“

„Macht es dir keine Sorgen, dass der Mörder mit großer Wahrscheinlichkeit einer von hier ist?“, fragte Rose und ließ ihren Blick über die versammelte Belegschaft schweifen. „Es könnte wirklich jeder sein.“

„Du musst keine Angst vor so etwas haben“, sagte Carter und schaute ihr in die Augen. „Ich passe auf dich auf.“

Sie lächelte. „Das sagst du jetzt, aber du weißt ja nicht, wann der Mörder wieder zuschlagen wird.“

„Lass uns lieber über etwas anderes reden“, schlug er vor. „Was machst du am Wochenende? Besuchst du deine Familie?“

Sie senkte den Blick auf ihren Teller. Über ihre Familie sprach sie nicht gerne. „Wahrscheinlich nicht. Sie wohnen sehr weit weg.“

„Dann siehst du sie nicht oft?“

„Ein paar Mal im Jahr, zu den Feiertagen, wenn ich etwas mehr Zeit habe.“

„Findest du es nicht schade, dass du so weit weg von ihnen arbeiten musst?“

„Der Job ist gut bezahlt“, sagte sie nur. „Ich muss meine Familie unterstützen.“

Sie gab dem letzten Satz einen Klang, der eindeutig vermittelte, dass das Gespräch vorbei war. Sie mochte Carter. Mehr, als sie sich eingestehen wollte. Es war ihr ein Rätsel wie er innerhalb von ein paar Tagen etwas geschafft hatte, was normalerweise Wochen, sogar Monate dauerte, um sich zu entwickeln. Sie waren Freunde geworden. Trotzdem war sie immer noch auf der Hut und versuchte, so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Es fiel ihr schwer, jemandem zu vertrauen. Aber es tat gut, mit jemandem reden zu können. Rose hatte gar nicht gemerkt, wie ihr das all die Jahre gefehlt hatte. Seit sie 18 war arbeitete sie hier und sie hatte ihre Familie seitdem nur eine Handvoll Male gesehen.

Sie dachte immer noch daran, als sie sich bereits von Carter verabschiedet hatte, und im Zug zu ihrer kleinen Wohnung saß. Nachdenklich drehte sie das Handy, das sie gerade erst wiederbekommen hatte, in ihren Händen hin und her. Wenn man sich im Gebäude der Firma befand, durfte man niemanden anrufen. Auch das diente der Geheimhaltung. Jetzt, auf dem Weg nach Hause, hatte sie alle Zeit der Welt. Sie konnte ihre Mutter anrufen und sie fragen, wie es ihren beiden kleinen Schwestern ging, die immer noch zu Hause wohnten. Ob Batty wohl schon wusste, was sie nach dem Abitur machen wollte? Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal zuhause angerufen hatte. Ein paar Monate war das sicherlich schon her.

Teil III

K. gieng straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.

Franz Kafka: der Proceß
 

Rose trat, ihre Tasche in der Hand, aus dem Sicherheitsraum hinaus in den Gang. Hinter diesem befand sich ein Raum, aus dem drei Türen führten, die sie allerdings mit ihrer Karte nicht öffnen konnte. Angestellte hatten keinen Zutritt zum Erdgeschoss. Sie nahm daher wie immer den Aufzug und fuhr nach oben. Als sie jedoch in der Kabine stand, drückte sie nicht auf den Knopf für den zweiten Stock, wo ihr Zimmer lag, sondern ließ sich in den ersten Stock fahren. Ehe sie es richtig realisierte, stand sie vor dem Badezimmer in dem Alexander gestorben war. Das war jetzt genau eine Woche her. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Vielleicht hätte sie nicht kommen sollen. Anders als bei den Büroräumen, war es in den Wohnbereichen nicht untersagt, andere Stockwerke zu betreten, aber man tat es eigentlich nicht. Wenn man sich mit anderen treffen wollte, tat man das in den allen zugänglichen Gemeinschaftsräumen.

Sie legte ihre Hand auf die Klinke der Tür und stieß sie auf. Mit einem schmatzenden Geräusch schwang die Tür nach innen.

Das erste was Rose auffiel war der Geruch. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte es steril und künstlich gerochen. Doch jetzt stieg ihr ein metallenes, rostiges Aroma in die Nase, das sie zuerst nicht deuten konnte. Dann sah sie das Blut.

In einer plötzlichen, ruckartigen Bewegung machte sie einen Satz von der Tür weg und stolperte einige Schritte nach hinten. Dabei ließ sie die Tasche los. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Rose zwang sich, ruhig zu atmen. Ihre Gedanken rasten. Sie presste ihren Rücken an die gegenüberliegende Wand, um möglichst viel Abstand zwischen sich und das Bad zu bringen.

Es ist wieder passiert, dachte sie. Es ist wieder passiert. Wieder wieder wieder wieder wieder.

In ihrer Brust hämmerte ihr Herz panisch gegen ihren Brustkorb.

Was immer passiert war, es musste ein Gemetzel gewesen sein. Das Blut war praktisch überall gewesen. Den eigentlichen Körper hatte sie nur für einen winzigen Augenblick sehen können, aber das Bild hatte gereicht, um sich ihr tief ins Gedächtnis zu graben. Das Schlimme war, dass sie trotz der vielen Stichwunden gesehen hatte, um wen es sich handelte.

Das war Susan, dachte sie, am ganzen Körper zitternd. Susan.

Sie hatte etwa zur selben Zeit mit ihr angefangen, bei Pantop zu arbeiten. Sie hatten ähnliche Aufgaben gehabt. Wer konnte das getan haben?

Zittrig fuhr sie sich über das Gesicht. Irgendwer musste davon erfahren. Nur wer? Wem gab man über so etwas Bescheid?

Zuerst musste sie sich sicher sein. Am besten sie warf noch einmal einen Blick auf das Geschehen, nur einen winzig kleinen. Unsicher löste sie sich von der Wand, und machte einen Schritt auf die Tür zu, nur um sofort wieder zurückzuweichen. Sie konnte es einfach nicht.

Sie war zu schwach. Was jetzt?

Jemand fasste sie an der Schulter. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Es war Dagobert Marley. Sie erinnerte sich, wie er letzte Woche über Alexander gesprochen hatte. Er musste auch gerade erst gekommen sein, denn er trug noch immer eine Jacke und hielt seinen Zimmerschlüssel in der Hand.

„Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen. Und ich glaube Sie sind im falschen Stockwerk.“ Er lachte kurz über seinen Scherz. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Anstelle einer Antwort streckte Rose nur stumm den Finger aus und deutete auf die Tür. Augenblicklich verdunkelte das Gesicht des älteren Mannes sich. „Sie haben wohl immer noch mit Herrn Rosevilles Tod zu kämpfen, was?“

Rose schüttelte den Kopf. „Da ... Susan ist da drin“, brachte sie mühsam hervor.

Marley runzelte die Stirn. „Susan? Aber ...“ Er sah ihren Gesichtsausdruck. „Am besten sehe ich mal nach.“

Hinterher war Rose dankbar, dass er die Tür nicht komplett geöffnet hatte, und ihr der Anblick erspart blieb. Das einzige was sie sah war, wie sein Gesicht von Unglauben zu Entsetzen wechselte, als er erkannte, was passiert war. Er ertrug den Anblick einige Augenblicke länger als sie, dann wandte er sich zu ihr um. Sein Gesicht war unter dem Bart kreidebleich geworden.

„Ich fürchte wir haben ein Problem.“
 

Am Montagmorgen klingelte Liebermanns Bürotelefon, noch ehe Fanny die Post hereinbringen konnte. Er hob ab und meldete sich.

„Joseph Liebermann.“

„Guten Tag Herr Liebermann. Wir sind betrübt über Ihr Verhalten.“

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. „Mit wem spreche ich bitte?“

„Sie wissen sehr wohl, für wen ich spreche. Mein Name ist unwichtig“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Sie sind am Freitag nicht zu Ihrem Termin erschienen.“

Ein Mitarbeiter der BID, natürlich. Aber Liebermann würde sich nicht von seinen unhöflichen Verhalten einschüchtern lassen. „Ich habe den Namen Ihrer sogenannten Behörde recherchiert. Die gibt es gar nicht“, verteidigte er sich, während er nervös mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte. „Ich muss mir von Ihnen nichts befehlen lassen.“

„Sie finden nichts zu uns im Internet, weil wir einen Organisation sind, bei der Diskretion das oberste Gebot ist“, erwiderte der Anrufer. Er hatte eine dunkle, krächzende Stimme, die verzerrt und unecht klang. „Aber wenn man sich uns widersetzt sind wir gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.“

„Was für eine Befugnis haben Sie dazu?“

„Versuchen Sie nicht, gegen uns vorzugehen. Das ist sinnlos. Sie sind auserwählt worden, folgen Sie dem Ruf.“

Auserwählt, wie das klang. Liebermann war kurz davor, den Hörer einfach auf die Gabel zu knallen und diese unselige Sache zu vergessen.

Als hätte die Person am anderen Ende der Leitung gewusst, was er vorhatte, sagte sie: „Wenn Sie jetzt auflegen, schaden Sie sich nur.“

„Was wollt ihr von mir?“

„Ich werde Ihnen das bestimmt nicht am Telefon erläutern. Mitarbeiter unserer Behörde werden bei Gelegenheit auf Sie zukommen, und Ihnen Instruktionen geben. Ich warne Sie: machen Sie keine Dummheiten.“

„Wie könnt ihr-?“

„Auf Wiedersehen.“ Ein Klicken erklang, dann war die Leitung tot.

Liebermann schaute auf den Display seines Telefons, doch die Nummer, von der aus angerufen worden war, konnte nicht angezeigt werden.

Konsequenzen, dachte er. Die sollten ihn schon kennenlernen. Er war nicht so hilflos, wie die vermutlich dachten. Er würde sich Unterstützung holen, schließlich war er ein freier Bürger und hatte das Recht, sich zu wehren. Und er hatte auch schon eine Idee.
 

Einmal im Monat pflegte Liebermann zu einem Stammtisch zu gehen, bei dem er sich mit Kollegen, die ebenfalls bei der Stadt angestellt waren, austauschte. Dies waren Mitarbeiter von Kultureinrichtungen, Direktoren und auch Anwälte. Auch wenn der Großteil der Teilnehmer eher einem niederen Stand angehörte, wie Liebermann selber, waren doch einige höherrangige Beschäftigte vertreten.

Persönlich kannte Liebermann einige der dort regelmäßig anwesenden Gäste, was ihn mit einem gewissen Stolz erfüllte. Es waren zwar allesamt Personen, die sich das eine oder andere Mal nach seinem Rat einen Kunsteinkauf betreffend erkundigt hatten, aber nichtsdestotrotz zählte er sie zu seinen sozialen Kontakten, von denen er ohnedies schon wenige hatte. Eine dieser Personen, mit der er an einem verregneten Montagabend ein ausführliches Gespräch geführt hatte, war leitender Staatsanwalt beim Landgericht. Er hatte damals viel über seine Tätigkeit gesprochen und im Ganzen einen fähigen Eindruck vermittelt, was selbstverständlich durch seine berufliche Position ebenfalls deutlich wurde. Liebermann war sich sicher, dass dieser Anwalt ihm bereitwillig in einigen Fragen bezüglich seines Problems mit der Behörde aushelfen würde. Nach einigem Suchen fand er in seinem Notizbuch sogar seine Karte, die ihn als Dr. Heinrich Böcher auswies.

Als es also Abend wurde, packte Liebermann seine Tasche, setzte den Hut auf und verließ gegen sieben das Büro. Das Restaurant „Prager Dom“, in dem sich die Gesellschaft regelmäßig einfand, war mit dem Auto keine fünf Minuten von Liebermanns Büro entfernt. Da die anderen Teilnehmer aber frühestens ab halb acht dort erscheinen würden und Liebermann weder für ein paar Minuten nachhause gehen, noch eine halbe Stunde alleine an einem leeren Tisch sitzen wollte, beschloss er, die Strecke zu laufen.

Der Abend war feucht und kühl, der Wind raschelte in den Blättern und der Himmel war bedeckt, sodass weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Die Feuchtigkeit in der Luft schien sich durch den Nebel, der unmerklich durch die Gassen der Altstadt zog, zu manifestieren und schränkte Liebermanns Sichtweite zusätzlich ein. Passanten huschten im matten Schein der Straßenlaternen aneinander vorbei, lediglich als Schatten erkennbar. Da Liebermann jedoch den ganzen Tag im Büro verbracht hatte, war ihm die Bewegung an der frischen Luft angenehm und wohltuend, sodass er sogar einen Umweg wählte, der ihn am alten Schlosskino vorbeiführte, in dem er, wie ihm im Vorbeigehen auffiel, eine Ewigkeit nicht mehr gewesen war.

Der „Prager Dom“ lag in der Altstadt, in einer Seitengasse, die man nicht ohne weiteres fand. Zuvor überquerte man den Marktplatz, an dem der Dom stand von dem das Lokal seinen Namen hatte. Als Liebermann den Platz überquerte und in die Gasse einbog, die rechts des Domes in den Platz mündete, lösten sich auf einmal zwei Gestalten aus dem dichter werdenden Nebel, und kamen auf ihn zu. Ihn erfasste ein ungutes Gefühl und er wich, einen Bogen um die beiden schlagend, zur Seite aus. Die Enge der Gasse ließ ihm jedoch nur wenig Spielraum, und ehe er auch nur einige Schritte getan hatte, waren die beiden Gestalten bis auf einige Meter zu ihm herangekommen.

Liebermann blieb stehen, rückte seinen Hut zurecht und versuchte sein Selbstbewusstsein zu sammeln, um den beiden Personen entgegenzutreten. Er ahnte bereits, um was es sich handeln könnte, schwor sich aber, nicht klein beizugeben. Schließlich hatte er seine Rechte.

„Joseph Liebermann?“, wurde er von der Person, die näher bei ihm stand, angesprochen. Es war eine Frau, das konnte er an ihrer Stimme erkennen. Ihr Äußeres hätte unauffälliger nicht sein können. Ihrem Gesicht fehlte jegliches individuelles Erkennungsmerkmal, ihre Kleidung war gewöhnlich. Das einzig auffällige an ihr war ein breiter Ledergürtel, an dem ein Halfter befestigt war, das eine Waffe enthalten musste.

„Was wollen Sie?“

„Wir werden Sie zu Ihrem Termin begleiten.“

Bei diesen Worten bewegten sich die beiden Personen in einer Art Klammerbewegung auf ihn zu, wie zwei Löwen, die eine Gazelle jagen. In unheimlicher Synchronität hakte sich der Mann rechts, die Frau links bei ihm ein. Ihre Arme waren hart und muskulös. Ein metallischer Geruch ging von ihren Körpern aus, der Liebermann an eine geölte Maschine erinnerte. Er merkte, dass er unweigerlich zu zittern begonnen hatte. Ohne Proteste seinerseits setzte sich das Dreiergespann im Gleichschritt in Bewegung. Sie liefen eine Weile durch Straßen, die Liebermann völlig unbekannt vorkamen, obwohl er sein halbes Leben in der Stadt verbracht hatte. Er wollte seine Entführer fragen, wo sie ihn hinbrachten, ließ es aber bleiben. Manchmal wollte er nach Hilfe rufen, aber er konnte niemanden sehen, der ihm hätte helfen können. Die Schatten der Passanten waren zwischen den Nebelschwaden verborgen.

Irgendwann blieben sie vor einer Haustür stehen, die der Mann aufstieß. Liebermann war sich auf einmal sicher, dass er hier schon einmal gewesen war, aber seine Gedanken waren so verwirrt, dass er nicht sagen konnte, wann und warum. Sie stiegen eine hölzerne Stiege hinauf, Liebermann vorne und hinten von den beiden Wächtern kontrolliert.

Das Haus war von verschiedenen Parteien bewohnt, an jedem Treppenabsatz befand sich eine Haustür, doch das Treppenhaus war zu dunkel, um die Schilder zu erkennen. Im vierten Stock schließlich betraten sie durch eine schmucklose Tür eine der Wohnungen.

Da erkannte Liebermann, dass die Wächter ihn in sein eigenes Heim geführt hatten.

„Was soll das?“, fragte er. „Wie kommen Sie hier herein? Warum waren die Türen offen?“

„Bitte setzen Sie Ihren Hut ab und hängen Sie den Mantel auf, bevor sie mit dem Vorsitzenden sprechen“, war die einzige Antwort, die er von der Wächterin bekam. Obwohl er es eigentlich nicht wollte, folgte er der Aufforderung und hängte seine Kleider sorgfältig an den Hutständer, der im Flur stand.

„Folgen Sie mir bitte“, sagte die Frau dann emotionslos und trat durch eine Tür, die in sein Wohnzimmer führte.

Von hinten durch den zweiten Wächter angestoßen, folgte Liebermann.
 

„Was hast du auch morgens in diesem Bad gemacht?“, regte sich Carter auf, als sie ihm alles erzählt hatte. Obwohl die ganze Firma vor Entsetzen wie gelähmt war, war es doch für alle selbstverständlich, dass die Arbeit vor ging. Die Arbeit hatte immer Vorrang. Jetzt, beim Mittagessen, lag ein gedrücktes Schweigen über der Kantine. An jedem nagte das Wissen über den Mord.

„Dir hätte etwas passieren können!“ Carter war wütend, wahrscheinlich weil sie sich seiner Meinung nach in Gefahr gebracht hatte, aber glücklicherweise hielt er seine Stimme gesenkt. „Du weißt doch ...“

„Ja, ich weiß!“, fauchte sie ebenso leise. Manchmal fragte sie sich, ob er sich nicht zu viele Sorgen um sie machte. Es war, als würde sie davon erdrückt. Ich empfinde nur deshalb so, weil ich noch nie einen richtigen Freund hatte, dachte sie dann und ignorierte ihre bedenken. Sie hatte sich zwar gefreut, ihn nach dem Wochenende wiederzusehen – sie hatte ihn mehr vermisst, als sie sich eingestehen wollte – aber sie konnte jetzt einfach keine Vorwürfe hören.

„Es ist ja nicht so, als ob hier alles ungefährlich wäre!“, fügte sie hinzu. „Der Mörder kann nur jemand aus der Belegschaft sein, wir wissen nur nicht, wer. Und wir wissen nicht, wer sein nächstes Opfer ist!“

„Du klingst fast so, als wolltest du anfangen zu ermitteln!“

„Vielleicht will ich das auch!“

„Das solltest du der Verwaltung überlassen. Das geht uns nichts an“, erwiderte er.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass die sich darum kümmern.“

„Es wird ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, schließlich sind wir ihre Arbeiter.“

„Aber ich verstehe trotzdem nicht -“

„Wir sollten uns da raus halten!“, schnitt er ihr das Wort ab. „Es ist zu gefährlich.“

Mit einem Ruck stand sie auf. Etliche Leute sahen auf, als sie das Scharren ihres Stuhles auf dem Linoleumboden hörten.

„Ich kann mich da ganz sicher nicht raushalten!“

Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Saal.

Fast automatisch lenkten ihre Schritte sie wieder zu dem Badezimmer im ersten Stock. Irgendwer hatte den Putzleuten Bescheid gegeben und diese hatten den Morgen über die Sauerei aufgeräumt. Zumindest musste es so gewesen sein, denn die Tür stand offen und es roch so ähnlich, wie nach dem ersten Mordfall. Um ihre Arbeit beneiden tat Rose diese Leute nicht.

Als sie beinahe an der Tür angekommen war, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie musste daran denken, wie Susans Leiche ausgesehen hatte und fragte sich unwillkürlich, wie Alexander wohl dagelegen haben mochte. Laut Karla war er nur mit einem einzigen Stich getötet worden, dagegen hatte man Susans Körper geradezu verstümmelt. Wenn sie es sich genau überlegte, wollte sie den Raum, der für sie so mit dem Tod behaftet war, eigentlich gar nicht sehen. Gerade wollte sie sich wieder umdrehen, als sie ein Geräusch hörte. Es kam eindeutig aus dem Badezimmer. Sie erstarrte. Was, wenn der Mörder da drin war?

Wider besseren Wissens machte sie ein paar Schritte auf die offene Tür zu. Ein Mörder würde wohl kaum bei offener Tür auf sein Opfer warten. Mit angehaltenem Atem lugte sie um die Ecke.

Auf dem Boden saß jemand. Ein Mann mit breiten Schultern und hellblonden Haaren. Seine auffällige Körperform verriet ihn fast sofort als Steve Jockland. Wäre Pantops eine High-School, wäre er wohl der Kapitän des Footballteams. Rose vermutete stark, dass das auch genau seine Beschäftigung während seiner Schulzeit gewesen war. Er gehörte nicht zu den Hellsten, war aber auch nicht merklich dümmer, als ein durchschnittlicher Erwachsener. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er für irgendwelche praktischen Arbeiten zuständig, zumindest schloss Rose dies von seiner körperlichen Veranlagung. Jedenfalls war sein gewöhnliches Auftreten derart selbstbewusst, dass es sie zutiefst wunderte, ihn zusammengesunken auf dem Boden kauern zu sehen. Weinte er? Plötzlich stemmte er sich jedoch in die Hocke, sodass Rose mit einer hastigen Bewegung zurückzuckte. Er stand bestimmt gleich auf. Besorgt sah sie sich nach einem möglichen Versteck um, als sie in dem Raum etwas über den Boden kratzen hörte. Ihre Neugier übermannte sie, und sie spickte wieder um den Türrahmen herum in den Raum. Steve saß jetzt vornübergebeugt da und fuhr mit seinem Fingernagel durch die Lücken zwischen den Bodenkacheln. Er hatte sich jetzt halb zur Tür gedreht und Rose konnte sein Gesicht sehen. Seine Augen waren stark gerötet, seine Haare zerzaust, seine Züge eine Maske des Schreckens.

Er sucht etwas!, schoss es Rose durch den Kopf! Vielleicht Beweise oder etwas, das er hier verloren hat. Vielleicht war er es!

Bei diesem Gedanken hätte sie die Panik beinahe wieder überrollt, doch sie zügelte sich und zwang sich, ruhig zu atmen. Völlig unmöglich, dass er sie gesehen hatte. Außerdem war er so vertieft in was auch immer er da tat, dass er es wahrscheinlich nicht hören würde, wenn sie sich davonschlich. Wahrscheinlich. Sie musste ihre Hoffnung darauf setzten. Langsam, ganz langsam, tastete sie sich an der Wand entlang von der Tür weg.

Sie hatte bereits einige Meter zwischen sich und Steve gebracht, als sich auf einmal die Aufzugtür mit einem Zischen öffnete und der füllige Körper von Dagobert Marley erschien. Er trat aus dem Fahrstuhl und machte sich mit schwerfälligen Schritten ebenfalls Richtung Bad auf. Als er sie erblickte lächelte er:. „Die Kleine von heute morgen! Rose, wenn ich mich recht erinnere. Freut mich, Sie zu sehen!“

„Guten Tag, Herr Marley.“ Rose wäre am liebsten zum Aufzug gesprintet und nach oben gefahren, doch die Tür schloss sich, bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte. Außerdem wäre das extrem unhöflich gewesen.

„Geht es Ihnen besser?“

„Ja, etwas.“

Ihr Flüstern musste ihm aufgefallen sein, denn auch er senkte seine Stimme. „Sie sahen vorhin sehr mitgenommen aus.“

„Das war ich auch.“

„Es muss ein Schock für Sie gewesen sein. Aber trotzdem komme ich nicht umhin zu bemerken, dass Sie hierher zurückgekommen sind.“

„Ja, ich weiß auch ...“

Rose hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Steve verließ den Raum. Er sah sehr erschöpft aus; wieder fielen ihr seine rot geränderten Augen auf. Er sah kurz zu ihnen hinüber, schüttelte dann den Kopf als wollte er sagen „Ihr versteht das sowieso nicht“, und ging dann in die andere Richtung des Ganges davon, Kopf gesenkt, Schulter herabhängend. Als sie ihn so geknickt sah, tat er Rose fast leid. Vielleicht hatte er nur getrauert, so wie sie um Alexander getrauert hatte. Dass er am Tatort erschienen war, musste nichts heißen.

„Wenn Sie mich fragen, dann ist er mein Verdächtiger Nummer Eins“, sagte Marley plötzlich.

Erstaunt sah Rose ihn an. Obwohl sie noch wenige Augenblicke zuvor derselben Meinung gewesen war, spürte sie jetzt das Bedürfnis, Steve zu verteidigen. „Nur weil er zufällig hier ist? Sie sind das doch auch.“

„Genauso wie Sie, wenn ich das anmerken darf. Aber wir sollten uns nicht gegenseitig beschuldigen. Es geht nur darum, dass er auf Alexander Roseville nicht besonders gut zu sprechen war.“

Das war Rose neu. „Warum denn nicht?“

Marley warf einen Blick zur Seite. „Vielleicht sollten wir das nicht unbedingt hier besprechen.“

Auch Rose schaute sich um, allerdings richtete sie ihre Augen eher nervös nach oben zu den Kameras. „Hier wird man sowieso überall beobachtet“, meinte sie schulterzuckend.

„Nun, Steve war in Susan verliebt. Und Alexander auch. Das ist alles. Ein Motiv für beide Morde.“

„Alexander war in Susan verliebt?“

„Ja, schon seit längerem. Das wussten Sie nicht? Ich dachte er sei mit Ihnen befreundet gewesen?“

„Das war er auch, aber ...“ Rose merkte auf einmal, dass sie wohl nicht so viel über Alexander wusste, wie sie sich eingebildet hatte. Erst erfuhr sie von seiner Familie, jetzt von seinem Schwarm ... gut, sie waren keine besonders engen Freunde gewesen, aber er war Rose sehr wichtig gewesen. Vielleicht weil er der einzige Freund gewesen war, den sie je gehabt hatte. Alexander selber hatte viele weitere Freunde gehabt.

„Woher wissen Sie das?“, fragte sie leise.

„Sie müssen lernen Augen und Ohren offenzuhalten, Mädchen. Das ist die einzige Art wie man hier überlebt. Ich weiß eine ganze Menge Dinge über eine ganze Menge Leute, weil ich weiß wie man den Mund hält und die Ohren aufsperrt, auch wenn man mir das manchmal nicht unbedingt anmerkt.“ Er lachte in einem tiefen Bass und legte seinen breiten Kopf schief. „Ich bin nicht umsonst der älteste Mitarbeiter hier.“

„Vermutlich haben Sie Recht“, stimmte Rose ihm zu.

„Ich werde auf jeden Fall weiter ermitteln“, erklärte Marley bestimmt. „Falls Sie mir helfen möchten ... Hilfe ist jederzeit willkommen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte noch einmal den Tatort untersuchen.“

Er watschelte schwerfällig davon.
 

Das Wohnzimmer, in das Liebermann geführt wurde, erkannte er als sein eigenes, auch wenn es wie ein schlechter Nachbau aussah. Da war sein Bücherregal zur Linken mit der kleinen Holzleiter, durch die man auch die Bände auf den obersten Brettern erreichen konnte. Da war sein Sofa mit dem Liegesessel und der Leselampe zu seiner Rechten. Sein Fernseher war da und das moderne Kunstwerk, das gerahmt an der Wand hing und nichts weiter, als einen grünen Farbstrich zeigte. Wie ein Splitter in einer blutenden Wunde prangte jedoch der etwa 30 Zentimeter hohe Teetisch in der Mitte des Raumes. Normalerweise stand er zwischen Sofa und Fernseher, um Platz für die regelmäßig beim Fernsehen eingenommenen Mahlzeiten zu bieten. Jetzt war er in die Mitte des Raumes verschoben worden, dahinter stand Liebermanns großer, schwarzer Ledersessel, der sonst neben dem Bücherregal seinen Platz hatte. Die Kombination des niedrigen Tisches mit dem voluminösen Sessel bildete bereits ein offensichtlich unpassendes Ensemble. Das ganze wurde jedoch abgerundet durch den Mann, der in seinem Sessel Platz genommen hatte, und ihn jetzt mit ernstem Gesicht empfing.

„Was machen Sie in meinem Wohnzimmer?“, hätte Liebermann gerne gefragt, als er des Anblicks gewahr wurde, stattdessen aber blieb er stumm und wartete darauf, dass das Wort an ihn gerichtet wurde.

„Joseph Liebermann?“, fragte der Mann im Sessel. Eine überflüssige Frage, denn er musste ja wohl davon ausgehen, dass seine beiden Spürhunde ihm den Richtigen gebracht hatten.

„Das bin ich. Wer sind Sie?“

„Ich bin der Vorsitzende der hiesigen Zweigstelle der Behörde für Innovation und Datenübermittlung.“

In diesem Moment nahm Liebermann aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Als er sich daraufhin umsah, erblickte er drei junge Männer, die vor seinem Bücherregal standen und sich seine Sammlung besahen. Einer von ihnen kam ihm bekannt vor, vermutlich hatte er ihn das eine oder andere Mal im Büro gesehen. Er richtete seinen Blick wieder auf den Vorsitzenden.

„Warum haben Sie mich rufen lassen?“

„Um Ihnen Ihre Aufgabe bei uns zu erklären. Setzen Sie sich.“

Liebermann sah sich um, doch es war kein Stuhl für ihn bereitgestellt worden, auf dem er sich hätte niederlassen können. Einzig das Sofa und der Liegesessel kamen in Frage, doch die waren zu weit von dem Vorsitzenden entfernt und lagen außerdem im Dunkeln, denn der Raum wurde lediglich durch die Lampe erhellt, die sonst auf Liebermanns Nachttisch stand und die jetzt zentral auf dem niedrigen Teetisch stand, zwischen einer Mappe und einem Stapel Papiere.

„Ich stehe lieber.“

„Wie Sie wünschen.“ Der Vorsitzende griff scheinbar wahllos ein Papier aus dem Stapel und sah es sich an.

„Ihr Name ist also Joseph Liebermann?“

„Das sagte ich bereits.“ Beide Wächter warfen ihm ob dieser Unhöflichkeit einen warnenden Blick zu.

„Ihr Familienstand ist ledig. Sie Arbeiten als Gutachter im städtischen Museum für Kunst und Kultur.“

„Das ist richtig.“

Liebermann kam sich vor wie bei einem Prozess. War er angeklagt worden?

„Verdienen Sie gut?“

„Ich kann davon leben.“

„Wie geht es Ihrer Mutter?“

„Gut.“

„Sehr schön. Dann wenden wir uns der eigentlichen Angelegenheit zu.“

Der Vorsitzende legte das Papier weg und hob den Kopf um Liebermann zu mustern, als sähe er ihn zum ersten Mal. Links von seiner Nase befand sich ein rötlich verfärbtes Muttermal. Es war so auffällig, dass Liebermann sich wunderte, dass er es nicht schon früher bemerkt hatte. Er musste sich zusammenreißen, um es nicht unverwandt anzustarren.

„Wie Sie wissen gehöre ich – gehören wir alle hier – zur Behörde für Innovation und Datenübermittlung, kurz BID.“

„Das wurde mir bereits mehrfach mitgeteilt, auch wenn ich noch nie von dieser Behörde-“

„Diese Diskussion werden wir jetzt nicht mit Ihnen führen“, unterbrach ihn der Vorsitzende, wobei sein Muttermal zu wackeln schien. „Sie müssen diese Tatsache jetzt akzeptieren oder Sie werden nicht weit kommen.“

Er beugte sich zu den Papieren auf dem Tisch hinunter, eine Geste, die durch die Verbeugung, die sein Körper unweigerlich vollzog, entwürdigend wirkte. Er suchte zwischen den Papieren nach etwas, das er allerdings nicht zu finden schien, sodass er sich schließlich wieder aufrichtete.

„Wir werden Sie als Beamten bei uns einstellen, genauer als Fahndungsbeamten.“

„Wie bitte?“

„Vor kurzem ist einer unserer Beamten verschwunden.“

„Ich soll ihn ersetzen?“

„Keineswegs. Sie werden ihn suchen und zur Strecke bringen.“

Liebermann hielt sich davon ab, noch einmal ‘wie bitte’ zu fragen, und hob stattdessen verwundert die Augenbraue. „Und wie soll ich ihn finden?“

„Jegliche Informationen über den Deserteur finden Sie in diesem Ordner.“

Er deutete auf den Ordner, der auf der anderen Seite des Tisches lag.

„Und wenn ich das nicht will?“

„Sie haben kein Mitspracherecht in dieser Sache. Entweder Sie tun es, oder wir werden auch Sie beseitigen müssen, denn Sie wissen bereits zu viel.“

„Ich wollte nie etwas über Sie und Ihre Behörde erfahren!“, ereiferte sich Liebermann. „Was kann ich dafür, wenn Sie mich mit diesen Informationen geradezu überrollen?“

„Nicht Sie suchen die Behörde aus, die Behörde sucht Sie aus.“

„Ich habe also keine Wahl?“

„Sie haben immer eine Wahl.“

Liebermann fand, dass diese Aussage in einem starken Gegensatz zu allem stand, was er bisher erfahren hatte. Wie konnten die denn behaupten er habe eine Wahl, wenn sie ihm einige Sätze zuvor deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass er ‘beseitigt’ werden würde, sollte er sich ihnen widersetzen?

„Wie soll ich vorgehen?“, fragte er.

„Sie sammeln Information über die betreffende Person. Alles was wir über sie wissen, befindet sich in diesem Ordner. Alles weiter müssen Sie bewerkstelligen.“

„Und wenn ich sie gefunden habe?“

„Wir werden mit Ihnen in Kontakt bleiben und uns über Ihre Fortschritte informieren. Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Der Vorsitzende sammelte die Blätter auf dem Stapel ein und erhob sich. „Ihre Arbeit beginnt morgen. Viel Erfolg.“

Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete er seinem Gefolge, mit ihm den Raum zu verlassen. Die drei Begleiter, die am Regal gestanden hatten, schoben Tisch und Sessel wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Einer nahm die Lampe mit hinaus. Liebermann, der die ganze Zeit unbeweglich im Zimmer gestanden hatte, hörte das Schloss der Tür einrasten, als das Komitee verschwand.
 

Rose traf Marley am Dienstagmorgen im Gang an, wo er in einem winzigen Reklamheft las. Offenbar schien er auf jemanden zu warten. Sie grüßte freundlich und er sah auf.

„Guten Morgen, Rose“, rief er. „Schön, dass ich Sie hier antreffe, könnten wir uns kurz unterhalten?“

Prüfend sah Rose auf ihre Uhr. „Es ist gleich acht. In ein paar Minuten fängt unsere Schicht an.“

Marley zuckte die Achseln. „Eigentlich schon, aber ich denke ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen ... wenn Sie sich immer noch für die beiden Mordfälle interessieren.“

„Natürlich tue ich das“, erklärte Rose. „Aber in der Mittagspause hätten wir doch sicherlich mehr Zeit?“

„Okey-dokey. Dann sehen wir uns später.“

Während sie ihre morgendliche Arbeit erledigte, überlegte sie, was Marley ihr wohl so Wichtiges mitzuteilen hatte. Und warum er gerade sie als Komplizin ausgewählt hatte. Sie war nicht besonders neugierig oder spekulativ veranlagt. Eigentlich interessierte sie sich nur für bewiesene Fakten, von denen sie Dinge ableiten konnte. Außerdem hatte sie sich noch nie sonderlich um ihr Kollegium gekümmert. Es stimmte, was Marley gesagt hatte: Sie war meistens viel zu sehr mit sich selber beschäftigt gewesen, um viel über die anderen herauszufinden. Und sie war furchtbar schüchtern. Vielleicht war das auch der Grund, warum nie jemand ihre Nähe gesucht hatte. Abgesehen von Carter, natürlich. Sie lächelte.

Er hatte in der Cafeteria wie immer einen Platz für sie reserviert, als sie sich suchend mit ihrem Tablett in der Hand umsah. Sie ließ sich neben ihm nieder.

„Und, wie geht’s?“

„Gut, denke ich. Tut mir Leid, dass wir uns gestern Abend nicht mehr sehen konnten.“

„Ach, das ist kein Problem.“ Sein Lächeln wurde noch breiter. „Was hast du gemacht?“

Irritiert schaute sie auf, weil diese Frage etwas Drängendes gehabt hatte, das sie nicht von ihm kannte. „Ich habe über diese Mordgeschichte nachgedacht. Es gibt da jemanden, den ich irgendwie verdächtige.“ Aus dem Augenwinkel sah sie die massige Gestalt von Marley den Saal betreten und sie drehte sich um, um ihm zu winken. Zur Antwort hob er den Daumen, um dann zur Essensausgabe zu gehen.

Carters Gesicht verdunkelte sich. „Du hast ihn zu uns eingeladen?“

„Er hatte eine Idee wegen des Mordfalls.“

„Du betätigst dich jetzt also als Hobbydetektivin?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wäre dir nicht auch wohler, wenn wir wüssten, wer der Mörder ist?“

„Das ist aber nicht unsere Aufgabe.“ Er holte Luft um weiterzusprechen, verstummte dann aber, denn Marley zog sich gerade einen Stuhl zu ihrem Tisch und stellte sein Tablett vor sich ab. Sein Teller sah aus, als ob er gleich überquellen würde.

„Hallo Rose!“, begrüßte er sie freudig. „Und Sie sind wohl Carter Roberts, richtig?“

„Und Sie sind wohl hungrig“, erwiderte Carter ein wenig patzig.

Marley schaute auf seinen Teller. „Ganz offensichtlich, mein Junge. Dieser Körper braucht Pflege.“ Er schlug sich auf den Bauch. „Und mein Gehirn auch, wenn es richtig denken soll.“

Mit einem geheimnisvollen Ausdruck beugte er sich zu Rose hinüber. „Vertrauen Sie ihm? Ich möchte mein Wissen nämlich nicht mit jedem teilen.“

„Ich vertraue ihm.“

„Gut. Es geht um Steve. Oder eher: es geht um Alexander.“

„Was für ein Problem haben Sie denn mit Steve?“, fragte Carter, dessen Gesichtsausdruck immer noch sehr säuerlich war. Offenbar schien es ihm nicht zu gefallen, dass ein Fremder an ihrem Tisch saß.

„Rose und ich gehen davon aus, dass er der Mörder ist.“

Spöttisch hob Carter eine Augenbraue. „Und wie kommen Sie auf diesen überaus genialen Rückschluss?“

„Es gibt verschiedene Indizien. Aber wir sollten nicht ihn allein ins Auge fassen.“ Da er von Carter nur abwertende Blicke bekam, wandte Marley sich an Rose. „Es hätten noch andere sein können.“

„Ach ja?“ Rose spürte, wie die Sache ihr entglitt. Mit Steve als einzigem Tatverdächtigen, war der Fall einfach und eindeutig. Aber mit einem weiteren Kandidaten? Solche Gedankenspiele waren zu kompliziert für sie.

„Naja, Alexander war mit einigen Leuten gut befreundet. Vielleicht war es einer von denen.“

„Und warum?“

Marley wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch Carter unterbrach ihn. „Das ist doch völlig absurd. Rose war zufällig auch mit Alexander befreundet. Wollen Sie jetzt etwa behaupten, dass sie ihn umgebracht hat? Ihre seltsamen Anschuldigungen sind völlig aus der Luft gegriffen. Es ist nicht unsere Aufgabe, in diesem Fall zu ermitteln; wir sollten es daher sein lassen.“

Den Kopf in die linke Hand gestützt, schaute Marley die beiden jungen Leute an. „Was denken Sie, Rose?“

Hilflos zuckte sie die Schultern. „Ich bin kein Detektiv, Herr Marley. Aber ich glaube selbst wenn wir den Täter haben, wird es schwer zu beweisen, dass er – oder sie – es war. Ein bloßes Motiv genügt nicht.

Bei diesem Satz schien die gute Laune wieder in Marley zurückzukehren. „Sie haben natürlich vollkommen Recht, meine Liebe. Wir brauchen Beweise. Und genau darum werde ich mich jetzt kümmern.“ Er nahm sein Tablett (das zu Rose’ Erstaunen bereits völlig leer war) und stand auf. „Sie entschuldigen mich? Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.“ Damit ging er.

Carter schaute ihm mit wütendem Gesichtsausdruck hinterher. „Ich traue ihm nicht“, erklärte er.

„Er ist ein netter, älterer Mann.“ Rose war nicht in der Stimmung für Diskussionen über Marleys Vertrauenswürdigkeit. Er hatte ja sie als Verbündete ausgesucht, nicht sie ihn. „Außerdem ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand versucht, etwas über die Morde herauszufinden.“

„Und warum glaubst du tut er das?“, fragte Carter, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Warum interessiert er sich so für diese Sache? Vielleicht ist er selber der Täter.“

„Jeder könnte es sein.“

Carter lächelte. „Außer dir.“

Überrascht sah sie ihn an. „Warum außer mir? Das kannst du doch nicht wissen.“

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Doch. Du bist eine viel zu gute Person, um jemandem weh zu tun.“

Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.
 

Am Mittwochmorgen wartete wieder jemand vor der Tür auf sie, aber es war nicht Marley. Carter hatte sich an die Wand vor ihrer Tür gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, den Blick auf seine Füße gerichtet. Als er die Tür hörte, sah er auf. Rose wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise war Carter eine gutgelaunte Person mit eine breiten Grinsen, den man schnell zum Lachen bringen konnte. Jetzt sah er anders aus als sonst. Seine Augen schienen auf eine seltsame Art zu funkeln, auch wenn sein Gesichtsausdruck Trauer ausdrückte.

„Hey Carter, alles okay?“, fragte sie ein wenig besorgt. „Warum wartest du hier auf mich?“

„Hör zu, Rose“, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. „Vielleicht solltest du dich besser hinsetzen, bevor ich dir das jetzt erzähle.“

Da saß ihr die Angst wie ein Raubtier im Nacken. Sie ahnte bereits, was er sagen würde.

„Es ist schon wieder passiert?“, fragte sie leise.

Wortlos nickte er.

„Wer?“

Er wandte sich ab und schaute den Gang hinunter, fuhr sich mit einer Hand offenbar nervös durch die Haare.

„Sag’s mir, Carter, ich werde es ohnehin rausfinden.“

„Marley.“

Seltsamerweise war sie nicht sonderlich überrascht. Ihr war als hätte sie schon die ganze Zeit gewusst, dass das passieren würde. Es war doch so vorhersehbar gewesen. Ihre Beine knickten ein und sie sank auf den Boden. Carter rief ihren Namen und kniete sich neben sie, wollte ihr helfen. Dankbar nahm sie seine Hand und ließ sich wieder auf die Beine ziehen.

„Wo wurde er umgebracht? Bitte nicht wieder in diesem schrecklichen Badezimmer.“

Carter schaute zur Seite. „In seinem Büro.“

„Er muss den Mörder gefunden haben, sonst hätte er wohl kaum sterben müssen“, flüsterte sie.

„Vielleicht war er aber auch einfach nur der nächste auf der Liste“, erwiderte Carter, als schien er zu wissen, welche Schlussfolgerung ihr Verstand bereits gezogen hatte. „Er war bestimmt einigen ein Dorn im Auge.“

„Ich habe auch Untersuchungen angestellt. Zumindest muss es für den Mörder so ausgesehen haben.“

„Du hast dich mit Marley unterhalten. Na und? Viele haben das getan.“ Er zog sie mit einer Bewegung an sich, vordergründig um ihr Sicherheit zu geben.

„Es war Steve“, sagte sie leise. „Er hat uns beide unten am Badezimmer gesehen. Er muss sich gedacht haben, dass wir ihn verdächtigen.“

„Steve – wenn er es denn war – wird dir nichts tun können. Dafür werde ich sorgen. Versprochen.“

Sie lehnte sich an ihn, auf einmal heilfroh jemanden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Eine Weile standen sie so beieinander und Rose versuchte, sich zu beruhigen. Der Gang leerte sich, bis schließlich das Signal ertönte. Rose zuckte zusammen und löste sich von ihm. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie. Ihre Stimme klang rau und belegt. „Arbeit...“

„Soll ich dich zu deinem Büro begleiten?“, bot er an.

„Nein, das ist verboten. Ich muss los.“

Hastig ging sie davon. Er wandte sich ab und ging in die andere Richtung. Auf halbem Weg drehte er sich um und sah den mittlerweile völlig leeren Gang hinunter.

Teil IV

Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt, er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.

Foucault
 

Rose knallte ihren Stift auf den Schreibtisch und sprang auf. Zwei Wochen, dachte sie, fast zwei Wochen lebe ich bereits mit einem Mörder unter einem Dach und niemand tut etwas dagegen. Ihr Körper bebte. Wie konnte es sein, dass niemand etwas gegen die Morde tat? Wieso machte sich offenbar niemand Gedanken darum?

„Es geht doch alle etwas an“, flüsterte sie. „Es könnte doch wirklich jeder der nächste sein!“ Warum interessierte das keinen? Sie dachte daran, wie alle nach Alexanders Tod ganz normal weitergemacht hatten. Als ob das jeden Tag vorkäme! Sie stampfte im Zimmer auf und ab und warf einen trotzigen Blick zur Überwachungskamera an ihrer Decke hinauf. „Und ihr macht auch nichts!“, schrie sie das blinkende rote Licht an.

„Es ist nicht üblich, uns bei Problemen zu kontaktieren“, hatte die blonde, nichtssagende Dame ihr beim Vorstellungsgespräch erklärt. „Wir überprüfen zwar zu jedem Zeitpunkt Ihre Leistung und Ihr Verhalten, aber wenn Sie irgendwelche Probleme mit Ihren Kollegen haben, müssen Sie das selber lösen.“

Selber lösen, pah!

„Nur wenn jemand die Regeln übertritt, oder die Gefahr besteht, dass Informationen über unsere Tätigkeit hier an die Öffentlichkeit gelangen, sehen wir uns gezwungen einzuschreiten. Aber wenn Sie sich gut verhalten“ (hier hatte die Dame emotionslos gelächelt) „werden wir keinen weiteren Kontakt miteinander haben.“

Rose hatte schon früh erkannt, dass Computer einen Großteil der Firma leiteten, aber sie war sich der Präsenz der menschlichen Verwaltungseinheit im Turm stets bewusst gewesen. Man merkte, dass man beobachtet wurde. Das subtile Blinken der roten Lämpchen reichte als stete Erinnerung daran und war genug, um einen jede seiner Handlungen überdenken zu lassen. Rose hatte sich an den Gedanken gewöhnt, nie alleine zu sein. So furchtbar ihr diese Vorstellung am Anfang gewesenen war, so tröstlich konnte sie einem doch werden, wenn man sich einem Gefühl der Bedrohung ausgesetzt sah. Aber anscheinend sah die Verwaltung es nicht als wichtig an, wenn in ihrer Belegschaft ein Mörder sein Unwesen trieb.

Beim Mittagessen erzählte sie Carter, worüber sie nachgedacht hatte.

„Vielleicht sollten wir die Verwaltung kontaktieren“, schlug sie vor. „Vielleicht verstehen sie das Ausmaß der Situation nicht, schließlich haben sie den eigentlichen Ort des Mordes ja gar nicht gesehen.“

Carter schüttelte den Kopf. „Das ist erstens sehr unwahrscheinlich, und zweitens weiß ich nicht, wie wir denen da draußen Bescheid sagen sollen. Wir haben keine Telefonnummer oder so.“

„Man könnte eine Mail an den internen Server schicken“, überlegte Rose, „von dem wir die Aufgaben bekommen. Der ist doch bestimmt im Turm und wird von einem Team gesteuert.“ Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu einer der Kameras an der Decke.

„Wenn sie sich bisher nicht gekümmert haben, dann werden die das auch jetzt nicht tun“, meinte Carter trocken. Er beobachtete sie aufmerksam.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie, als ihr das auffiel.

„Nein, alles bestens“, antwortete er. „An was arbeitest du gerade?“

Sie schaute ihn vorwurfsvoll an. „Es ist untersagt, über die Arbeit zu reden.“

„Vielleicht ist da aber gar niemand, der das überprüft“, sagte er lauernd. „Könnte doch sein, dass man euch... ich meine, dass uns das alles nur vorgaukelt wird, damit wir brav sind.“

„Aber es gab schon einige Kündigungen wegen Regelübertritts“, widersprach Rose. „Das ist ja auch nicht einfach so passiert.“

Er zuckte die Schultern und schaute aufmüpfig zu einer der Kameras. „Jedenfalls fühlt man sich nicht sicherer mit den Dingern, oder?“

„Nicht wirklich.“

Als sie nach der Mittagspause die Kantine verließ, wurde sie auf einmal von Karla angesprochen.

„Rose, richtig?“, raunte sie leise.

Überrascht dass Karla ihren Namen kannte, schaute Rose auf. „Ja, richtig.“

„Dürfte ich Sie etwas fragen?“

„Natürlich.“

Sie wurde in eine abseitige Ecke gezogen. Karla baute sich so vor ihr auf, sodass sie vor neugierigen Blicken weitesgehend abgeschirmt war. Trotzdem sah Rose, wie Carter den Kopf hob und mit einem besorgten, beinahe wütenden Blick zu ihnen hinübersah.

„Sie haben sich doch vorgestern mit Marley unterhalten, oder?“

„Kurz.“

„Hat er etwas darüber gesagt, wen er für den Mörder hält?“

Rose stockte der Atem. Sie wusste, dass Karla mit Steve befreundet war. Es war doch möglich, dass es mehr als einen Mörder gab. Vielleicht waren es mehrere. „Wie kommen Sie darauf, dass er etwas wusste?“, fragte sie vorsichtig.

„Er hat erzählt, dass er den Fall untersuchen würde. Und er sprach von einer Helferin, daher schloss ich auf Sie, da Sie mit ihm an einem Tisch saßen.“

„Ich weiß nicht, ob er einen konkreten Verdacht hatte“, sagte Rose leise. „Eigentlich glaube ich, dass er keinen hatte.“

Karla wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, aber Carter fasste sie plötzlich am Arm und zog sie ein Stück zurück. Erstaunt sah sie ihn an.

„Was erlauben Sie sich?“

„Ich denke Sie haben meine Freundin lange genug belästigt“, erklärte er ruhig. „Sie sollten jetzt besser gehen.“
 

Liebermann starrte auf die Mappe mit den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er hatte sie mit ins Büro genommen, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Eigentlich sollte er die Aufgabe nicht hier bearbeiten. Sie unterlag höchster Diskretion. Obwohl er nicht wusste, woher die Behörde ihre Informationen bezog war ihm doch klar, dass sie einige gute Quellen haben musste. Vielleicht spionierten seine Mitarbeiter ihn aus?

Fanny brachte mit einem freundlichen Gruß die Post hinein und ging wieder. Liebermann schaute ihr misstrauisch hinterher. Jede Person konnte zu der Behörde gehören, ohne dass er etwas davon wusste. Schließlich gehörte er ja jetzt auch dazu. Wider Willen fühlte er ein Gefühl von Stolz in sich aufkommen.

Mit einer schnellen Bewegung schlug er die Mappe auf. Sie enthielt eine steckbriefartige Auflistung der Eckdaten des Zielsubjekts, sowie einen Lebenslauf und ein paar andere Informationen. Zwischen zwei Blättern lag ein Foto. Die Person auf dem Foto war ihm nicht bekannt. Nicht dass er das erwartet hätte, aber es hätte die Sache mit Sicherheit erleichtert. Und bei dieser Behörde wunderten ihn seltsame Zufälle gar nicht mehr.

Im Lebenslauf fand er einen Hinweis darauf, dass die Zielperson in einer Firma namens Pantop Innovation Technology gearbeitet hatte. Eine interne Informationsbroschüre wies die Firma als ein Entwicklungsunternehmen aus. Was genau dort entwickelt wurde, konnte Liebermann jedoch nicht feststellen. Trotzdem notierte er sich den Namen der Firma und die Adresse, da sie bisher sein einziger Anhaltspunkt war. Vielleicht konnte er am Wochenende dorthin fahren und sich ein wenig umsehen.

Das Klingeln seines Telefons schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Mit einiger Beunruhigung stellte er fest, wie viele Gedanken er sich um einen Auftrag machte, den er doch eigentlich ablehnte. Er beugte sich über den Apparat, da er befürchtete, dass die Behörde für Innovation und Datenübermittlung seine Fortschritte überprüfen wollte, doch auf dem Display war nur die Nummer seines Chefs eingeblendet. Er hob ab.

„Liebermann hier. Was kann ich für Sie tun?“

„Könnten Sie bitte sofort in mein Büro kommen, Herr Liebermann?“, fragte sein Chef. „Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.“

„Natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg. Geht es um den Einkauf des Dürers? Ich habe einige Informationen gesammelt, die ich Ihnen vorlegen könnte.“

„Nein, es geht um etwas Privates. Sie brauchen keinen Unterlagen mitzubringen.“

„Okay, bis gleich.“

Beunruhigt erhob er sich aus seinem Stuhl und stand einige Sekunden grübelnd im Zimmer. Der Hinweis es ginge um etwas ‘Privates’ hatte ihn stutzig gemacht. Er würde doch nicht etwa entlassen werden? Er hatte immer gute Arbeit geleistet. Kopfschüttelnd verdrängte er diese Gedanken. Wahrscheinlich war die Sache völlig harmlos kein Grund sich Sorgen zu machen.

Das Chefbüro befand sich in der obersten Etage am Ende eines langen Ganges. Für Liebermann, der nur ein Stockwerk darunter arbeitete, war der Weg nicht besonders weit. Trotzdem fiel ihm auf, dass er während seiner siebenjährigen Arbeitszeit erst ein paar Mal hier oben gewesen war. Sein Verhältnis mit seinen Vorgesetzten war stets gut gewesen, aber nie gut genug, dass sie ihn auf ein Schwätzchen eingeladen hätten.

Er klopfte. Neben der Tür war ein Schild angebracht auf dem „Prof. Dr. Julius Berger“ vermerkt war, darunter die Namen seiner Sekretärinnen (er hatte zwei). Die ältere der beiden, die blonde Haare und einen beachtlichen Körperumfang hatte, öffnete ihm und er trat ein. Er befand sich im Arbeitsraum der Sekretärinnen, die durch eine weitere Tür an der hinteren Wand mit dem Büro von Prof. Dr. Berger verbunden war.

„Sie können einfach durchgehen.“

Berger saß hinter seinem Schreibtisch und studierte ein dickes, in schwarzes Papier eingebundenes Buch.

„Schön, dass Sie gleich kommen konnten“, sagte er, als Liebermann eintrat.

Liebermann wusste nicht recht was er antworten sollte, schließlich sah er sein sofortiges Kommen als eine Selbstverständlichkeit an, weshalb er nur nickte und vor dem Schreibtisch Stellung bezog.

„Setzen Sie sich.“

Im Gegensatz zu der Vernehmung in seinem Haus, standen diesmal Stühle zur Verfügung. Er ließ sich auf dem linken nieder und schlug ein Bein über das andere. Berger schloss das Buch und legte es auf die Seite. Dann verschränkte er die Hände und stützte sein Kinn darauf.

Er war ein runder, gedrungener Mann, der Liebermann immer ein wenig an einen dicken, kleinen Vogel erinnerte. Zu diesem Eindruck trugen seine Glatze, sein dünner Schnurrbart und vor allem die spitze Nase bei. Im Alter war er weitsichtig geworden, sodass er beim Lesen einen runden Zwicker trug, den er jetzt aber abnahm und in einem schwarzen Kästchen verstaute.

„Ich habe erfahren, dass Sie jetzt für die Behörde arbeiten“, sagte Berger ohne Umschweife.

Liebermann erschrak. Woher wusste sein Chef davon? Ihm kam der Gedanke, dass es wahrscheinlich illegal war, für zwei Arbeitgeber zu arbeiten.

„Ich wurde-“, setzte er an sich zu verteidigen, doch Berger brachte ihn mit einer schnellen Handbewegung zum Verstummen.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß, dass das eine Ehre für Sie ist.“

„Eine ...Ehre?“, stammelte Liebermann.

„Natürlich. Nicht jeder wird dazu erwählt.“

Da war es wieder: ‘erwählt’.

„Also kennen Sie die Behörde?“, hakte Liebermann vorsichtig nach.

„Natürlich. Auch wenn ich nie die Gelegenheit hatte, für sie zu arbeiten. Aber ich verstehe, dass Sie sich jetzt, wo Sie einen solch wichtigen Auftrag haben, ganz darauf konzentrieren wollen. Deswegen werde ich Sie für die Dauer der Arbeiten freistellen.“ Perplex schaute Liebermann seinen Chef an. „Freistellen?“

„Ja. Sehen Sie, ich habe bereits alles unterschrieben.“ Und er holte ein Formular aus einer Schublade hervor und gab es Liebermann zum Lesen. Der schaute jedoch nur einmal der Höflichkeit halber drüber und gab es ihm dann wieder, ohne auch nur ein Wort verstanden zu haben.

„Das heißt ich bin beurlaubt?“

„Sozusagen. Mit sofortiger Wirkung. Ich möchte, dass Sie Ihr Bestes geben, schließlich repräsentieren Sie das Museum.“

Diese aufmunternd gemeinten Worte wirkten auf Liebermann beinahe wie eine Drohung. Er erhob sich.

„Dann ... soll ich jetzt gleich gehen?“

„Das dürfen Sie, ja.“

Er nickte wie in Trance und bewegte sich zur Tür. Kurz bevor er das Zimmer verließ, fiel ihm jedoch gerade noch ein, dass er sich verabschieden musste. „Auf Wiedersehen“, murmelte er dumpf.

„Viel Erfolg!“, antwortete sein Chef. „Ich glaube an Sie!“

Er nickte nur und stolperte nach draußen in den Flur. Dort lehnte er sich gegen die Wand und atmete tief durch. Er begann, das Ausmaß des Einflusses der Behörde zu begreifen. Irgendwie hatten die seinen Chef dazu gebracht, ihn zu beurlauben. Was würden die Kollegen denken?

Er fasste den Entschluss, dass es wohl tatsächlich das Beste wäre, wenn er gleich ginge. Darum kehrte er in sein Büro zurück, um die Mappe mit den Unterlagen zu holen. Weitere persönliche Gegenstände hatte er nicht, wenn man einmal von einigen Fachbüchern über Kunstgeschichte absah. Er schlüpfte in seinen Mantel und setzte den Hut auf, kehrte allerdings noch einmal zu seinem Schreibtisch zurück in der Hoffnung, doch noch irgendetwas anderes mitnehmen zu können, als die Unterlagen der Behörde. Neben der noch ungeöffneten Post von diesem Morgen lag sein silberner Brieföffner. Nach kurzem Überlegen ließ er ihn in seine Manteltasche gleiten.

Dann trat er aus der Tür, zog sie hinter sich zu und schloss ab.
 

Die Tage vergingen mit einer schleppenden Langsamkeit. Rose zählte die Stunden bis zum Wochenende. Es bedeutete diesmal nicht nur Freiheit von der Arbeit, sondern ebenso eine zeitweilige Erleichterung von der ständigen Angst vor neuen Toten. Wenn sie frei hatte, war sie mit Carter zusammen. Sie sprachen wenig über die Mordfälle und Rose wusste, dass Carter sie ablenken wollte. Überall sonst waren sie in aller Munde, jeder sprach davon und man ging nirgendwo mehr alleine hin. Dies war eine neue ungesagte Regel, die innerhalb weniger Tage in der Firma entstanden war. Um sich abzulenken wenn sie alleine war, arbeitete Rose wie eine Besessene. Am Donnerstagnachmittag hatte sie, nach zwei harten Arbeitstagen, ihren aktuellen Auftrag beinahe fertiggestellt. Es war außerdem der letzte Teilschritt eines großes Entwicklungspaketes, an dem sie seit mehr als einem halben Jahr arbeitete. Obwohl Rose natürlich keine Ahnung hatte, was genau die anderen machten, hatte sie doch die Vermutung, dass ihre Berechnung der Energielieferung für ein Gerät diente, das gerade entwickelt wurde. Durch ihre Arbeit hatte sie das Problem der Energiegewinnung beseitigen können, womit bestimmt ein wichtiger Schritt zu der Vollendung des Gerätes getan war. So kam es, dass sie trotz der derzeitigen gedrückten Stimmung, einen gewissen Stolz verspürte, als sie endlich ihren Auftrag abschickte.

Sie wartete danach noch eine halbe Stunde darauf, einen neuen Auftrag zu erhalten, aber anscheinend musste ihr jetziger erst geprüft werden und vor dem nächsten Morgen würde sie keinen neuen erhalten.

Stolz erzählte sie an diesem Abend Carter – obwohl sie wusste, dass sie es eigentlich nicht tun sollte – von der Beendigung des Auftrags. Er lächelte halbherzig, machte aber eher einen besorgten Eindruck. Daraufhin ließ sie ihn damit in Ruhe. Wahrscheinlich machte er sich nur zu viele Sorgen um die Mordfälle, um mit ihr über so etwas Banales reden zu wollen.
 

Donnerstagabend erreichte Liebermann ein Anruf, den er schon lange gefürchtet und gleichzeitig erwartet hatte. Als er sich meldete, ertönte die dumpfe Stimme wieder, die er schon einmal gehört hatte.

„Wie kommen Sie voran, Liebermann?“

„Nicht schlecht“, antwortete er vage. „Ich habe bisher allerdings noch keine richtigen Hinweise gefunden.“ In Wahrheit hatte er die Unterlagen seit dem Tag seiner Beurlaubung gemieden wie einen tollwütigen Hund. Er wusste, dass sowohl sein Chef, als auch die Behörde von ihm erwarteten, dass er sich anstrengte. Aber die Aufgabe setzte ihn derartig unter Druck, dass er sich unfähig sah, einen ersten, möglicherweise entscheidenden Schritt zu tun, aus Angst etwas falsch zu machen. Er wollte niemanden enttäuschen.

„Was haben Sie vor?“

Ihm fiel seine Idee vom Anfang der Woche ein. „Ich werde demnächst zu der Firma fahren, in der Ro-“

„Keine Namen!“

„In der die Zielperson gearbeitet hat.“

„Wann?“

„Ich weiß noch nicht genau, wie-“

„Fahren Sie morgen. Ich lasse Ihnen alles Nötige vorbeibringen.“

Ein Klicken signalisierte ihm, dass sein Gesprächspartner aufgelegt hatte.

Keine Stunde später klingelte die Wächterin, die ihn am Montag zu dem Vorsitzenden geführt hatte, an seiner Tür. Sie hatte eine große, schwarze Sporttasche dabei, die sie auf den Küchentisch stellte, nachdem sie ungebeten in seine Wohnung marschiert war. Mit einer ruckartigen Bewegung riss sie den Reisverschluss auf und griff hinein.

„Hier ist alles was Sie brauchen“, sagte sie und legte eine Plastikkarte mit Magnetstreifen, einen Stadtplan, einen etwas kleineren Gebäudeplan und ein Handy mit Kopfhörern nacheinander auf den Tisch.

"Auf der Landkarte ist der Weg zur Firma eingezeichnet", erklärte sie, "der kleinere Plan zeigt das Firmengebäude. Mit der Karte können Sie jede Tür dort öffnen. Sie sind dazu verpflichtet bei der ganzen Aktion das Handy an und die Kopfhörer im Ohr zu haben, damit wir wissen, was Sie auf unserem Grundstück treiben."

Liebermann nickte hilflos, traute sich aber nicht, die Dinge anzufassen.

"Was soll ich machen, wenn ich Ro- ich meine, das Zielsubjekt finde?", fragte er.

Die Wächterin sah ihn kalt an, griff ein weiteres Mal in ihre Tasche und holte ein Gerät heraus, das Liebermann stark an einen Elektroschocker aus Polizeifilmen erinnerte. "Exekution", sagte sie kalt und drückte ihm den Schocker in die Hand.
 

Am Freitagmorgen erwachte Rose wie gewöhnlich um halb sieben. Sie blieb einige Minuten im Bett liegen und spürte die Erleichterung darüber, dass sie heute Abend schon im Zug nach Hause sitzen würde. Noch nie hatte sie sich so auf ihre kleine Wohnung gefreut. Ihre Nerven lagen blank, aber wenn sie noch diesen Tag überstehen würde, konnte sie sich erstmal ausruhen. Und wer weiß, vielleicht hatte sich die Verwaltung ja um das Problem gekümmert, wenn sie am Montag wiederkam. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien ihr das. Man wollte schließlich keine Panik unter den Arbeitern auslösen, und das wäre unweigerlich die Folge, wenn man mitten in der Arbeitszeit Untersuchungen anstellte. Zufrieden schloss Rose noch einmal kurz die Augen, bevor sie die Beine über den Bettrand schwang.

„An alle Mitarbeiter“, erklang plötzlich eine blecherne Computerstimme aus dem Lautsprecher über ihrer Tür, aus dem sonst immer der Gong erklang. „Wir bitten Sie, heute in Ihren Zimmern zu bleiben. Es handelt sich hierbei um eine Sicherheitsübung. Bleiben Sie ruhig. Ich wiederhole ...“

Verwundert fuhr sich Rose durch die Haare. Eine Sicherheitsübung? Wollte man sich gleich um die Sache kümmern, während noch alle da waren? Und damit keine Panik entstand blieben alle getrennt auf ihren Zimmern. So konnte man auch verhindern, dass die Täter untereinander die Aussagen absprachen. Solche Szenarien hatte Rose schon einige Male in Filmen gesehen und es kam ihr auf einmal sehr einleuchtend vor. Beruhigt atmete sie auf. Alles würde sich aufklären.

Sie nickte zufrieden und stand auf, um sich anzuziehen.

Teil V

Wenn ich sehe/ was alles/ um der guten Sache willen/ getan wird/ dann denke ich/ manchmal/ es wäre/ vielleicht/ eine gute Sache/ wenn es überhaupt/ keine / gute Sache/ mehr gäbe

Erich Fried: Die gute Sache
 

Liebermann parkte seinen Wagen (einen silbernen Mercedes), auf dem asphaltierten Parkplatz von PIT. Zumindest sollte dieses sich hier laut der Beschreibung auf seiner Karte befinden. Er zog die Handbremse an und schaute aus der Frontscheibe nach draußen. Direkt vor ihm stand ein riesiges Gebäude mit verglaster Fassade. Es erinnerte Liebermann entfernt an ein Stadion, oder vielleicht an das Colosseum in Rom, denn es war – soweit er das beurteilen konnte – annähernd rund. Das Erdgeschoss eingerechnet zählte es sechs Stockwerke. An der Gebäudeseite, die sich rechts von ihm befand, sah Liebermann ein monumentales P, das wahrscheinlich der erste Buchstabe des Firmenlogos sein sollte. Dort vermutete Liebermann auch den Eingang.

Nachdem er das Gebäude also eingehend betrachtet hatte, blieb ihm keine weitere Ausrede mehr, sich nicht an die Arbeit zu machen. Er öffnete die Autotür, stieg aus, und ging zum Kofferraum. Er zog dabei seinen Mantel über, den er während der einstündigen Autofahrt neben sich auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Im Kofferraum befand sich seine lederne Arbeitstasche, in der zum Schein ein paar Akten steckten. Darunter befanden sich die wichtigeren Dinge: Der Plan des Gebäudes, die Magnetkarte, die ihm als Schlüssel dienen sollte, das Foto der Zielperson und, ganz unten, der Schocker. Ihm war nicht wohl dabei, eine derart gefährliche Waffe mit sich herumzutragen. Er nahm sie noch einmal heraus und wog sie in der Hand, spielte mit dem Gedanken sie dazulassen. Aber das konnte er nicht tun, schließlich hatte er einen Auftrag. Trotzdem stellte er den Wirkungsgrad des Schockers um zwei Punkte nach unten. Danach war ihm etwas wohler.

Er verstaute ihn wieder in der Tasche. Dann holte er die Kopfhörer und das Funkhandy heraus, das ihm die Wächterin gegeben hatte. Es sah aus wie ein gewöhnliches Handy, hatte aber an seiner Oberseite ein Kabel, das in einem Kopfhörer endete. Er fädelte das Kabel unter seiner Kleidung durch und steckte sich den Kopfhörer ins Ohr, bevor das Handy in seine Tasche wanderte. Kurz überlegte er etwas wie „1-2-3 Test“ in den winzigen Lautsprecher am Kabel zu sagen, kam sich dann aber lächerlich vor.

Das Gebäude war größer als er gedacht hatte (was vermutlich auf seine runde Form zurückzuführen war) und Liebermann brauchte fast zwanzig Minuten, um bis zur Eingangstür zu laufen. Diese war verglast wie die Fassade, allerdings nicht verspiegelt, sodass er in einen kurzen Gang hineinsehen konnte, der vor einer weiteren Tür endete. Am rechten Türrahmen befand sich ein Kartenleser, wie er ihn schon bei manchen Banken gesehen hatte. Als er seine Karte einführte, öffnete sich die Tür lautlos. Er trat ein.
 

Ein Klopfgeräusch drang auf verschlungenen Wegen in Rose‘ Unterbewusstsein. Sie drehte sich im Bett um und versuchte es zu ignorieren, da klopfte es ein weiteres Mal. Diesmal ließ sich das störende Geräusch nicht mehr verdrängen und Rose schlug die Augen auf. Schläfrig setzte sie sich auf. Seltsam, sie konnte sich gar nicht daran erinnern eingeschlafen zu sein. Das letzte, was in ihrem Gedächtnis vorhanden war, war die seltsame Durchsage. Alles Weitere verschwamm in einem Nebel aus Gedanken und Emotionen.

Langsam ging sie zur Tür und legte ihre Hand auf die Klinke, doch bevor sie diese betätigen konnte, wurde die Tür bereits von außen geöffnet. Davor stand Carter. Entsetzt sah sie ihn an.

„Was machst du hier?“, flüsterte sie. „Wir dürfen unsere Zimmer doch nicht verlassen.“

Anstelle einer Antwort machte er einen Schritt auf die Tür zu. „Kann ich kurz reinkommen?“

Zögerlich ließ sie ihn ein. Noch nie zuvor war irgendwer in ihrem Zimmer gewesen, daher fühlte es sich irgendwie seltsam an. Trotzt der Umstände war sie nervös, dass ihm etwas nicht gefallen könnte. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Carter im Raum stehen und sah sich um.

„Wir müssen gehen.“

„Wie bitte?“

Mit unbewegtem Gesichtsausdruck musterte er sie. „Wir müssen jetzt sofort gehen. Es ist zu gefährlich hier.“

„Warum?“

„Sie haben uns in unseren Zimmern eingesperrt!“, rief er, als ob das alles erklären würde.

Rose schüttelte den Kopf. „Sie haben uns nicht eingesperrt! Du konntest die Tür doch öffnen.“

Er holte eine Karte aus seiner Tasche. „Hier. Damit ging sie auf.“

„Was ist das für eine Karte? Und woher hast du die?“

„Das spielt keine Rolle.“ Suchend sah er sich um und fand eine alte Sportjacke, die auf dem Bett lag. Er warf sie ihr zu und ging auf die Tür zu. „Gehen wir.“

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust und blieb stehen. Als er merkte, dass sie ihm nicht folgte, drehte er sich um.

„Was ist?“

„Ich werde ganz bestimmt nirgendwohin mitgehen, bevor du mir nicht erklärt hast, warum.“

Ein Ausdruck des Erkennens schien über sein Gesicht zu huschen, allerdings nur für wenige Sekunden. Ehe sie sich dessen sicher war, war er auch schon wieder verschwunden. „Natürlich. Ich dachte du hättest es dir bereits gedacht. Steve ist der Mörder, du hattest Recht.“ Er sagte das, als sei es die normalste Sache der Welt.

Sie wollte es gerne darauf beruhen lassen, aber ein Teil ihres Verstandes bohrte weiter: „Und woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Zum einen sind da die Motive, die du und Marley bereits erwähnt hattet. Aber richtig klar wurde mir die Sache erst als mir auffiel, dass er auf demselben Stockwerk arbeitete wie Marley. Und er ist der einzige, der ein Motiv und Zugang zu Marleys Büro hatte.“

„Aber dort wäre er doch von einer Kamera erfasst worden. Die Verwaltung hätte doch ganz einfach Schritte gegen ihn einleiten können.“

„Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es rausgefunden habe, aber ich glaube, dass er irgendwie mit der Verwaltung zusammenarbeitet.“

„Mit der Verwaltung?“

„Ja, vielleicht bezahlen sie ihn, ich weiß es nicht genau.“

„Und wozu sperren sie uns hier ein?“

„Vielleicht damit er leichtes Spiel mit uns hat, keine Ahnung.“

„Warum gehen wir dann nicht alle?“

Er beugte sich vor und sah ihr durchdringend in die Augen. „Weil er es auf dich abgesehen hat.“

„Mich?“ Die Flut an Informationen, die auf sie einstürmte, überforderte sie.

„Ja, du und Marley habt ihn entdeckt. Er weiß das. Du bist eine Gefahr für ihn.“

„Aber du weißt es doch auch!“

„Ja. Deshalb verschwinden wir jetzt von hier und berichten den Verantwortlichen draußen alles.“

„Aber -“

Er schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck, der keine weitere Widerrede zuließ, fasste sie an der Hand und zog sie hinter sich her aus dem Zimmer.

Die Gänge waren dunkel und verlassen, die Neonlichter waren nicht eingeschaltet. Nur die Kameras leuchteten wie immer still aus der Dunkelheit, der rote Schein der Lämpchen verbreitete ein schwaches Licht. Heute kamen sie Rose besonders beängstigend vor. Jedes Licht schien zu sagen „Ich sehe dich.“ Mit eingezogenem Kopf folgte sie Carter.

Die Stille war fast unerträglich; das einzige Geräusch waren ihre leichten Schritte auf dem Boden, ihre flachen, hastigen Atemzüge und das ferne Rauschen der Belüftungsanlage. Sonst war alles ruhig. Rose wunderte sich, warum man aus den Zimmern nichts hörte. Vermutlich schliefen die meisten oder saßen mit einem ähnlichen Gottvertrauen, das sie eben noch gehabt hatte, in ihren Räumen und warteten auf die Menschen, die für sie verantwortlich waren. Auf einmal taten ihr ihre Kollegen leid und sie wünschte, sie könnte ihnen erklären was gerade vorging.

Sie waren am Ende des Wohntraktes angelangt und Carter stieß die gläserne Tür auf, die in den Zwischenraum mit dem Aufzug und dahinter mehreren Aufenthaltsräumen führte. Anstatt den Aufzug zu nehmen ging er jedoch durch die Räume durch und zog seine Karte durch den Schlitz, der zu den Büroräumen führte. Rose blieb abrupt stehen.

„In diesen Bereich dürfen wir nicht.“

„Glaubst du im Ernst, dass das jetzt noch eine Rolle spielt?“

Erschrocken zuckte sie zurück und ließ seine Hand los. „Natürlich! Nachdem sie Steve geschnappt haben, werden wir hier schließlich weiterarbeiten.“

„Ja und?“, fragte er barsch.

„Wenn die jetzt sehen, dass wir uns nicht an die Vorschriften halten, werden sie ...“

Er fuhr herum und packte sie an den Schultern. In seinen Augen lag ein fanatisches Glitzern. „Da oben im Turm ist niemand!“, fauchte er. „Es gibt da niemanden, der dich beobachten könnte!“

Ohne sich länger damit aufzuhalten packte er sie wieder am Handgelenk und zog sie durch die Tür, die sich inzwischen geöffnet hatte.

„Was meinst du damit?“, fragte sie leise. „Natürlich ist da jemand. Wer gibt uns denn sonst die Aufträge?“

„Still jetzt“, knurrte er. Forschen Schrittes durchquerte er den Gang. „Wenn wir uns nicht beeilen, erwischen sie uns noch.“

„Wo willst du hin?“ Rose spürte, wie Panik in ihr aufstieg und sich wie ein Ring aus Eisen um ihre Brust legte. Wie war sie nur in diese Sache hineingeraten? „Wir könnten doch einfach den Aufzug nehmen, um nach unten zu gelangen.“

„Der Sicherheitsraum ist zu gut bewacht. Es gibt aber noch einen zweiten Weg, denke ich.“

„Wo?“

„Ich muss ihn erst finden.“

Vor ihnen tauchte auf einmal Lichtschein auf. Da der Gang gebogen war, wie das gesamte Gebäude, sahen sie zuerst nur den schwachen Widerschein an den Außenwänden. Instinktiv drückten sie sich beide an die innere Wand.

Steve!, schoss es Rose durch den Kopf. Er hat uns gefunden! Er hat uns gefunden! Er hat uns ...

„Das ist entweder Steve oder einer aus der Verwaltung“, flüsterte Carter ihr ins Ohr. „Lauf zurück zum Aufzug und fahr nach unten, ich hole dich schon wieder ein.“

„Was willst du tun?“

„Ich werde sie irgendwie aufhalten. Wichtig ist, dass einer von uns nach draußen kommt.“

Als er sah, dass sie zögerte, schob er sie zurück in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

„Nun mach schon!“

Zitternd gehorchte sie.
 

Liebermann war zuerst die vollkommene Stille aufgefallen, die im gesamten Gebäude herrschte. Dank seiner Karte hatte er ohne Probleme den Sicherheitsraum, der ihn stark an den Security-Check eines Flughafens erinnerte, passieren können. Jetzt war er unterwegs durch die Gänge. Er war sich bewusst, dass es früh am Morgen war - etwas nach halb acht - aber es wunderte ihn schon, dass kein einziger Angestellter zu sehen war. Da es sich um eine Firma handelte, hatte er erwartet, dass er zumindest einige Leute finden würde, die er nach dem Weg fragen konnte.

Zum Glück hatte er den Plan und die Stimme im Ohr, die ihm sagte, was er tun sollte.

Er nahm den Aufzug, der direkt hinter dem Sicherheitsraum lag und fuhr in den zweiten Stock. Diese Anweisung hatte er von der Stimme am anderen Ende der Leitung erhalten.

„In einem der Schränke auf der linken Seite ist eine Taschenlampe“, wurde er angewiesen. „Mit der Karte können Sie die Schlösser öffnen.“

Liebermann gehorchte und fand, im schwachen Licht der kleinen roten Lämpchen, die an der Decke angebracht waren, tatsächlich eine silberne Taschenlampe. Sie war so lang wie ein Kugelschreiber und bis auf den Kegel vorne auch nicht viel dicker. Allerdings gab sie ein beeindruckendes Licht ab, als er sie anschaltete. Erleichtert, sich nicht mehr im Dunkeln zurechtfinden zu müssen, setzte er seinen Weg in der angegebenen Richtung fort.

Er war ein paar Schritte gegangen, als ihm plötzlich ein Geräusch auffiel, das sich von dem Rauschen, das ein ständiger Unterton im Gebäude war, unterschied. Da er ein gutes Gehör hatte, fiel es ihm leicht herauszufinden, um was es sich da handelte: Schritte. Und dann hörte er noch etwas weiteres, eine flüsternde Unterhaltung vielleicht, oder auch nur angestrengtes Atmen. Obwohl ihm eine Begegnung hier, im Dunkel des Ganges, ein wenig unheimlich war, wusste er doch, dass es seine einzige Chance auf Aufklärung war. Zudem war er im Vorteil. Er klemmte sich die Taschenlampe zwischen Kinn und Hals und suchte in seiner Aktentasche nach dem Schocker. Als er ihn gefunden hatte, steckte er ihn in seine Manteltasche und nahm die Taschenlampe wieder in seine rechte Hand. Nicht dass er vorgehabt hätte, die Waffe zu benutzen, das lag ihm fern, aber ihm war ihr Einschüchterungspotenzial durchaus bewusst.

Angespannt setzte er seinen Weg fort. Durch die Biegung des Ganges war es nicht möglich, weiter als ein paar Meter vorauszusehen. Eine Person, die sich an die Innenseite der Wand presste konnte sich sogar noch länger verborgen halten. Liebermann gab sich darum Mühe, den Weg den er vor sich hatte mit dem hellen Lichtkegel der Lampe bestmöglich auszuleuchten, nur für den Fall, dass sich jemand verstecken sollte, um ihn zu überfallen.

Nichts dergleichen war der Fall. Nachdem er dreißig oder fünfunddreißig Schritte gegangen war streifte der Lichtstrahl auf einmal eine Person, die sich breitbeinig und mit verschränkten Armen in der Mitte des Ganges aufgestellt hatte. Während er sich ihr bedächtig näherte, hatte er genügend Zeit ihr Äußeres zu studieren. Es handelte sich um einen durchtrainierten jungen Mann mit einem schwarzen Hemd und Jeanshosen. Seine Arme und Beine wirkten muskulös, seine Haltung vermittelte Selbstsicherheit. Doch es waren nicht so sehr Haltung und Statur, die Liebermann einen plötzlichen kalten Schauer über den Rücken jagten, sondern das Gesicht. Der junge Mann hatte zusammengekniffene Augen, die das Licht der Lampe auf eine seltsame Weise reflektierten und dadurch Ähnlichkeit mit Katzenaugen bekamen. Dunkelblonde Haare fielen ihm in die Stirn und warfen einen dunklen Schatten auf die obere Hälfte seines Gesichts, aus der nur die Augen glühend hervorleuchteten. Er grinste und entblößte dabei seine Zähne.

Liebermann brauchte nur einige Augenblicke, um die Person wiederzuerkennen und zu begreifen, dass das seine Zielperson war. Im selben Moment merkte er, dass er kein leichtes Spiel haben würde.

„Sie sind also der Agent der Behörde“, sagte der Mann und sein abscheuliches Grinsen wurde noch breiter. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie hier auftauchen würden. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben mich gefunden.“

Liebermann schluckte. Seine linke Hand glitt in seine Manteltasche und er fühlte das Metall des Schockers an seinen Fingern.

„Ich fürchte ich muss Sie festnehmen“, brachte er mit einer Stimme heraus, die nur ein kleines bisschen zitterte.

„Sie fürchten? Ich sehe, dass Sie sich fürchten. Aber Sie werden mich nicht kriegen, fürchte ich.“

Liebermann hätte jetzt eine Anweisung aus seinem Kopfhörer begrüßt, aber die Stimme schwieg.

„Wenn Sie nicht freiwillig mit mir kommen, dann werde ich Sie zwingen müssen“, erwiderte er bestimmt und schloss seine Finger fest um die Waffe.

„Ach ja?“ Der junge Mann sprang mit einer unfassbaren Geschwindigkeit auf ihn zu. Liebermann ließ die Taschenlampe fallen, die mit einem Klirren auf den Boden fiel und erlosch. Mit der linken Hand versuchte er, den Schocker aus seiner Tasche zu reißen, aber irgendwie waren seine Finger glitschig vom Schweiß und er wäre ihm fast aus der Hand gerutscht. Dann aber hatte er ihn draußen, gerade in dem Moment, als der Mann ihn packte und gegen die Wand drückte.

Er drückte auf den Knopf, der den Schock aussenden sollte, da wurde sein Handgelenk, sein schwächeres, linkes Handgelenk von einer anderen Hand umfasst und er sah wie der blau zuckende Blitz auf ihn zukam. Er keuchte auf, als der Strom durch seinen Körper schoss, seine Knie knickten ein und er verlor das Bewusstsein.
 

Es dauerte keine zwanzig Minuten bis Carter sie eingeholt hatte. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe kündigte ihn an. Sie stand im ersten Obergeschoss vor einem der Zimmer. Die Tür hatte sie geöffnet und schaute nun mit leerem Blick in den Raum hinein. Das Licht fiel von hinten auf sie und schied alles vor ihr liegende in hell und dunkel.

„Da bist du ja“, meinte er knapp. „Lass uns gehen.“

„Wo ist der Mann von vorhin?“

„Der Beamte? Um den habe ich mich gekümmert.“ Ein winziges Grinsen spielte um seine Mundwinkel, das sie allerdings nicht sehen konnte, da sie noch immer mit dem Rücken zu ihm stand.

„Wie du dich um Alexander gekümmert hast?“ Ihre Stimme war schneidend, aber es lag auch ein Zittern darin.

„Wie bitte?“

Endlich drehte sie sich zu ihm um. Sie war den Tränen nahe. „Du hast damals B1-31 gesucht, dein Zimmer, erinnerst du dich noch?“

„Kann sein, aber...-“

„Das hier ist B1-31. Warum ist es mir nicht früher aufgefallen? Das ist Alexanders Zimmer. Er war noch nicht tot und du hast bereits in seinem Zimmer gewohnt. Du konntest Marley in seinem Büro aufsuchen, da du einen Generalschlüssel hast. Du hast sie alle umgebracht, nicht wahr?“

Sie sagte das ganz ruhig und obwohl sie die Tatsache hatte aussprechen können, hatte ihr Verstand noch nicht realisiert, was sie bedeutete.

„Deshalb haben die Morde auch erst angefangen, als du hier angekommen bist. Bist du nur gekommen, um zu morden?“

Carter wandte sich ab, schien mit sich zu ringen. Er holte zweimal Luft, als ob er etwas sagen wollte, brachte es aber nicht heraus.

„Warum?“ Die Frage stand mit einer unglaublichen Schärfe im Raum. „Warum hast du das getan?“

„Wir sollten jetzt gehen.“

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir irgendwohin folgen werde? Ist das alles nur ein Trick von dir, um mich auch auszuschalten?“

„Ich würde dir niemals schaden.“

„Du hast meine Freunde umgebracht!“

„Sie waren nicht gut genug für dich!“ Er machte einen Schritt auf sie zu und packte sie am Arm. „Und wenn wir jetzt nicht von hier verschwinden, dann haben wir ein Problem.“

„Du kannst machen was du willst, ich werde ganz sicher nicht tun, was du mir sagst!“

Seine Augen begannen wütend zu funkeln. Es war Zorn, vermischt mit Angst und Panik. Er fürchtete sich, aber er verbarg es hinter Aggression.

„Wenn du hier bleibst, dann wirst du wie die anderen verrecken!“

„Was?“

„Was glaubst du, warum die euch in euren Zimmern eingesperrt haben? Zum Spaß? Als Sicherheitsübung? Gerade du solltest es doch besser wissen! Ihr habt das Werk hier beendet. Ihr seid nutzlos geworden. Schlimmer, ihr seid eine Gefahr geworden, denn ihr wisst zu viel. Darum entsorgen sie euch, ganz einfach.“

Rose schaute ihn ungläubig an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. „So etwas Absurdes würde niemand machen. Niemand könnte einfach so viele Menschen in den Tod schicken! Man würde es merken!“

„Warum spricht hier denn nie jemand über seine Familie? Weil niemand eine hat! Hier werden nur vereinsamte Menschen eingestellt, deren Fehlen niemand bemerkt. Das ist das Prinzip der Behörde.“

„Das glaube ich nicht!“

Seine Finger bohrten sich stahlhart in ihren Arm. „Glaub es oder nicht, aber ich werde nicht zusehen, wie du hier mit den anderen umkommst!“ Brutal zerrte er sie mit sich. Sie sträubte sich und versuchte, sich aus deinem Griff zu befreien. Auf einmal hörte sie ein Summen an ihrem Ohr.

„Was ist das?“

„Ein Elektroschocker. Den hat mir unser guter Freund, den sie uns hinterhergeschickt haben, überlassen. Er ist auf der niedrigsten Stufe, aber glaub mir, er tut trotzdem verdammt weh. Aber Schmerz ist besser als der Tod.“

Mit gnadenloser Strenge stieß er sie voran.
 

Er traute sich erst die Augen zu öffnen, als er bereits einige Minuten bei Bewusstsein war. Sein ganzer Körper schmerzte, aber er lebte. Er lebte.

Auch mit offenen Augen sah er nicht viel, abgesehen von den roten Lichtern. Niemand war da, er war alleine.

Was war passiert? Schemenhaft tauchte vor seinem inneren Auge die Gestalt des jungen Mannes, des Zielsubjektes auf. Wie er dagestanden hatte, wie er – einem wilden Tier gleich – zum Sprung angesetzt hatte. Liebermann war erwischt worden, aber nicht tödlich. Immerhin.

Mit der rechten Hand tastete er den Boden um sich herum ab. Da war nichts, weder der Schocker, noch die Taschenlampe. Natürlich nicht. Es wäre töricht von dem Mann gewesen, die beiden Dinge hierzulassen. Ebenso war auch sein Aktenkoffer verschwunden. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine, hielt sich mit einer Hand an einer Türklinke fest und zog sich hoch. Seine Beine fühlten sich weich unter ihm an, als könnten sie das volle Gewicht seines Körpers nicht tragen. Aber sie taten es, wenn auch unter Schmerzen.

Erst jetzt merkte er, dass er keine Kopfhörer mehr im Ohr hatte. Die hatte ihm das Zielsubjekt wohl auch weggenommen. Wie hatte er nochmal geheißen? Obwohl er sein Gesicht klar vor Augen hatte, wollte ihm der Name einfach nicht mehr einfallen. Rogers, Roberts ... irgendwie sowas. Sein Gehirn musste stärker gelitten haben, als er zunächst gedacht hatte.

Schleppend setzte er sich in die Richtung, aus der Roberts (oder wie auch immer er hieß) gekommen war, in Bewegung. Er würde ihn finden und er würde ihn erledigen. Diesmal würde er nicht zögern.

Nachdem er eine halbe Ewigkeit gelaufen war, kam er an eine Tür, die sich glücklicherweise öffnen ließ. Die Karte, die ihm Zugang zu allen Räumen gewährte, hatte sein Kontrahent nämlich ebenfalls mitgenommen. Zu seiner Linken blinkten schwach mehrere Reihen von je zwei Knöpfen, die mit Pfeilen nach oben und unten versehen waren. Er erinnerte sich, auf dem Gebäudeplan Aufzüge gesehen zu haben, darum drückte er auf den nächsten Pfeil nach unten und wartete mit schmerzverzerrtem Gesicht bis der Fahrstuhl kam. Natürlich musste er nach unten gefahren sein, schließlich war unten der Ausgang.

Er fuhr in den ersten Stock.

Links von sich hörte er Stimmen und bewegte sich in deren Richtung den Gang entlang. Eine männliche und eine weibliche Stimme. Es musste sich um Roberts handeln, denn er sah einen schwachen Lichtschein aus dieser Richtung kommen. Er fragte sich, wer bei ihm war. Nachdem er ein paar schwerfällige Schritte weiter gegangen war, merkte er, dass die beiden sich von ihm wegbewegten, denn der Lichtschein wurde schwächer. Da er fühlte, dass seine Kräfte langsam zurückkehrten, begann er schneller zu laufen. Er musste sie einholen. Glücklicherweise sprachen die beiden miteinander und konnten ihn daher nicht hören.

Wie leichtsinnig, dachte er, aber es sollte ihm recht sein.

Je näher er kam, desto deutlicher konnte er hören, dass die Stimmen alles andere als freundlich waren. Der genaue Inhalt war nicht auszumachen, aber der Tonfall in dem gesprochen wurde, sagte genug aus. Er pirschte sich noch näher heran, bis er sich schließlich fast direkt hinter ihnen befand. Am Ende des Ganges konnte er zwei dunkle Silhouetten, vor dem hellen Widerschein der Lampe ausmachen. Sie waren leichte Beute.

„Du wirst damit nicht durchkommen, Carter“, hörte er die Frauenstimme sagen. „So etwas kommt immer raus.“

Der Angesprochene, bei dem es sich zweifelsohne um Roberts handelte, antwortete nicht. Das Mädchen blieb auf einmal stehen und drehte sich zu ihrem Begleiter um. Erschrocken presste Liebermann sich mit dem Rücken gegen die Wand, doch geblendet durch das Licht der Taschenlampe in Roberts‘ Hand konnte sie ihn im Dunkeln nicht ausmachen.

„Was versprichst du dir eigentlich davon, mich mitzunehmen?“

Ihr Gegenüber hielt kurz inne.

Mit angehaltenem Atem tastete Liebermann sich an der Wand entlang. Das war seine Chance. Wenn er sich jetzt auf ihn stürzte und ihn mit dem Schocker überwältigte, dann... Er griff in seine Tasche, aber da war nichts. Natürlich, dachte er bitter. Er hat ihn ja mitgenommen. Infolge des Stromschlags hatte er das völlig vergessen. Aber wie soll ich ihn ohne eine Waffe überwältigen?

Roberts hielt seinen Schocker in der Hand und bedrohte das Mädchen damit offenbar. Liebermanns Gedanken rasten. War er schnell genug, den Schocker zu schnappen und Roberts damit zu erwischen? Selbst im vollen Besitz seiner Kräfte wäre ihm das wohl kaum gelungen. Vorhin hatte er ja am eigenen Leib die Kraft und Schnelligkeit seines Gegners erfahren müssen. Da stieß er mit den Fingerspitzen in der Tasche gegen etwas Metallisches, Hartes. Zuerst glaubte er, es handle sich um einen Stift, aber das war nicht der Fall. Es war der silberne Brieföffner. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor einigen Tagen in seine Tasche gesteckt hatte, als er das Büro verlassen hatte. Seitdem hatte er ihn nicht herausgenommen.

Er schloss seine Finger fest um den Griff und spannte seine Muskeln.

„Du kannst mir nicht antworten?“, sagte das Mädchen. „Bist du etwa so gefühllos, dass du mir nicht mal erklären kannst, was du vorhast?“

In diesem Moment lief Liebermann los.
 

Rose sah den Mann nicht kommen. Das erste was sie wahrnahm war, dass Carter von einer unsichtbaren Kraft nach hinten gerissen wurde. Intuitiv machte sie einen Schritt von ihm weg. Sie hörte die Taschenlampe zu Boden fallen, das Licht flackerte, erlosch aber nicht. Im unheimlichen Schein der Lichtquelle, sah sie zwei Gestalten miteinander ringen. Sie sah wie jemand Carter den Schocker aus der Hand riss, dann blitzte es blau auf und Carter sank zu Boden. Während er fiel, begann ihm ein schier unverlöschlicher Blutstrom aus der Kehle zu laufen.

Sie schrie auf, als sie das Blut sah.

Mit einer Hand fing sich Carter ab, seine Augen waren glasig. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, spuckte er erstmal nur Blut aus. Der Mann der ihn angegriffen hatte stand über ihm und schaute mit einem ähnlich entsetzten Ausdruck auf sein Opfer hinab. Er war groß und dünn, und trug einen dunklen Filzmantel.

„Es tut mir leid, Rose“, krächzte Carter. Ohne nachzudenken ging sie zu ihm und kniete sich neben ihn. „Ich habe das alles nur für dich getan.“

Fassungslos versuchte sie zu begreifen, was er ihr da sagte.

„Du warst immer die einzige, niemand außer mir darf dich besitzen. Niemand.“

„Warum?“

„Du warst anders als die anderen. Niemand ist gut genug für dich. Du verdienst nur das Beste. Du ... aber du wirst bald bei mir sein. Bald können wir ... Marley war ein Idiot. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht gut ist. Du musst .. geh!“

Der Rest seiner Ansprache endete in wirrem Gestammel, das Rose nicht mehr verstehen konnte. Sie sah zu, wie er langsam schwächer wurde, und aufhörte zu atmen, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, ihn zu berühren. Seine letzten Atemzüge waren schwer und qualvoll.

Danach schaute sie zu dem Unbekannten auf, der immer noch über ihnen stand. Wie lang war das schon? Sie wusste es nicht.

„Wer sind Sie?“, fragte sie leise. „Gehören Sie zur Verwaltung?“

Durch ihre Stimme aufgerüttelt, wachte er aus der Trance, in der er gefangen gewesen war, auf. „Ich bin Ermittler der Behörde für Innovation und Datenübermittlung“, erklärte er mit matter Stimme. „Sind Sie hier angestellt?“

Ohne auf ihn einzugehen, fuhr sie fort: „Wie haben Sie erfahren, dass er der Mörder war?“

„Was für ein Mörder?“

Erstaunt schaute sie ihn an. „Der Mörder von Alexander und Susan und Marley! Der, wegen dem das alles passiert ist!“

„Er hat auch noch Leute ermordet? Das wundert mich nicht.“ Müde fuhr er sich durch die Haare.

„Weshalb waren Sie sonst hier? Sie haben ihn doch gesucht?“

Er nickte. „Er ist ein ehemaliger Beamter der obersten Führungsebene. Er hat die ganze Firma geleitet, aber dann ist er verschwunden.“

„Verschwunden? Aber er war die ganze Zeit hier!“

„Aber nicht wo er sein sollte.“

„Wo hätte er denn sein sollen?“

„Im Kontrollzentrum, also im Turm.“

„Und niemand hat gemerkt, dass er nicht mehr im Turm, sondern im Firmengebäude war?“

„ Ich denke, wenn der Überwacher fehlt, weiß die Behörde nicht mehr was vor sich geht.“

„Und deshalb haben die Sie geschickt?“

„Richtig.“

Sie dachte einen Moment lang nach. „Sie sagen, er hat hier gearbeitet?“

„Ja.“

In einer plötzlichen Eile sprang sie auf die Beine. „Dann hat er ja Recht mit dem was er gesagt hat?“

„Mit was?“

„Dass man uns alle umbringen will! Er sagte etwas von einer beendeten Arbeit und dass die Arbeiter nicht mehr gebraucht werden und deshalb gefährlich sind ... also weil sie so viel wissen und so! Das stimmt also!“

„Deshalb wollte er fliehen?“

„Ja genau. Wir müssen etwas tun, wir müssen die anderen aufwecken!“ Sie rannte zu einer der Türen und wollte sie aufreißen, aber sie war abgeschlossen. „Sie haben doch bestimmt auch so einen Schlüssel wie Carter, oder? Geben Sie ihn mir!“

Der Mann im schwarzen Mantel legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie sanft von der Tür weg. „Wenn hier niemand reagiert, dann sind vermutlich schon alle tot.“

Empört riss sie sich von ihm los. „Nein, vielleicht schlafen sie nur! Wir müssen es ausprobieren. Geben Sie mir Ihre Karte!“

Anstatt ihr die Karte zu geben bückte er sich und hob die Taschenlampe auf.

„Ich habe keine Karte. Die hat mir Ihr Freund abgenommen.“

Ohne zu Zögern bückte sie sich neben Carter, um seine Taschen zu durchsuchen. Sie wusste, dass sie eigentlich Ekel oder Abscheu vor dem toten Körper empfinden sollte, aber das konnte sie nicht. In diesem Moment schien er nicht mehr als ein Werkzeug. So schnell sie konnte suchte sie seine Taschen ab, bis sie schließlich fand, was sie gesucht hatte.

Mit der Karte öffnete sie die Tür und trat in den dunklen Raum. Ein seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase.

„Leuchten Sie mal hierher“, sagte sie und deutete mit der Hand auf das Bett. Das Zimmer sah genauso aus wie ihres. Auf dem Bett neben der Tür lag eine Person, die sie im flackernden Licht nicht erkennen konnte. Sie beugte sich vor und lauschte.

Ganz leise erklangen die Atemzüge.

„Er lebt noch!“, rief sie aus.

„Kommen Sie da raus!“, sagte der Unbekannte. „Da muss Betäubungsmittel oder sowas eingeschleust worden sein, sonst wäre er längst aufgewacht. Sie kippen auch um, wenn Sie da noch länger drinbleiben.“

Sie gehorchte. „Aber das heißt, dass sie noch leben! Wir können sie noch retten! Wenn wir alle aufwecken...“

„Ich fürchte dafür ist es zu spät“, sagte er nur und wandte sich ab. „Ich habe meine Arbeit hier getan. Mehr steht nicht in meiner Macht. Wenn Sie schlau sind, kommen Sie mit mir.“

„Aber es muss doch einen Weg geben!“, protestierte sie wild. „Das hier sind meine Kollegen, meine Freunde! Ich kann sie doch nicht einfach hierlassen!“

„Wie stellen Sie sich das vor?“ sagte er und drehte sich um. Er schien zwar wütend, aber Rose konnte sehen, dass er ebenso verzweifelt wie sie. „Soll ich ins Kontrollzentrum stürmen und die Computer zerstören?“

Kontrollzentrum ... der Turm. Auf einmal kamen ihr die Dinge, die Carter gesagt hatte, wieder in den Sinn. Ihr habt das Werk hier beendet. Ihr seid nutzlos geworden. Das Werk ist beendet ... beendet...

Sie packte ihn am Ärmel. „Wir müssen sofort in den Turm!“, rief sie. „Vielleicht gibt es doch einen Weg!“
 

Wenn er ehrlich war, wartete Liebermann nur darauf, dass das Mädchen zusammenbrach. Es war offensichtlich, dass sie unter Schock stand und ihre mentale Verfassung durch übertriebene Tatkraft zu verbergen suchte. Sie waren dem Gebäudeplan gefolgt und standen jetzt im Erdgeschoss vor einer eisernen Tür, die vermutlich in den Turm, das Kontrollzentrum der Firma führte. Die Tür sah aus wie die eines Hochsicherheitsgefängnisses und er war sich nicht sicher, ob seine Karte dafür ausreichte.

„Na los doch“, drängte sie.

Nun, einen Versuch war es wert. Er zog die Karte durch den Leser und zu seiner grenzenlosen Verwunderung öffnete sich die Tür rauschend und zischend. Dahinter tat sich ein langer, dunkler Gang auf, der sich einzig durch die Abwesenheit von roten Lämpchen von den anderen Gängen im Gebäude unterschied. Ohne eine Sekunde zu zögern, lief das Mädchen ihm voran in die Dunkelheit. Sie hatte ihm die Taschenlampe abgenommen, da sie wohl glaubte, ihn so zur Eile antreiben zu können. Er wusste nicht was sie vorhatte und wollte eigentlich nichts weiter, als aus der verdammen Firma rauszukommen, aber sein Pflichtgefühl sagte ihm, dass er sie nicht einfach alleine lassen konnte.

Am Ende des Ganges befand sich eine weitere Eisentür, die ebenfalls mit seinem Schlüssel geöffnet werden konnte. Dahinter befand sich ein runder Raum ohne Fenster. Vermutlich das unterste Stockwerk des Turmes. An den Wänden waren unzählige Bildschirme angebracht, die Zeichen, Codes und Nummern zeigten und ein grünliches Licht über den Raum warfen. Er hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handelte, doch seine Begleiterin stand mit ernster Miene in der Mitte des Raumes und sah sich um. Schließlich ging sie zu einem besonders großen Bildschirm, auf dem Liebermann - neben diversen anderen Daten - eine Leiste erkannte, die irgendeinen Fortschritt maß. Sie war ganz voll, der Prozess war abgeschlossen.

Das Mädchen schaute sich den Bildschirm einige Sekunden lang an, dann bückte sie sich und entfernte eine metallene Platte unter dem Gerät. Darunter kam eine Tastatur zum Vorschein. Sie kniete sich davor und begann etwas zu tippen.

Liebermann beugte sich zu ihr hinunter. „Was machen Sie da?“, fragte er angespannt.

Den Turm zu besuchen fiel wahrscheinlich nicht in seinen Befugnisbereich, aber das konnte er immer noch mit der Suche nach dem Zielsubjekt begründen. Sich an dem Computersystem der Firma zu schaffen zu machen war hingegen mit großer Sicherheit eine kriminelle Handlung, die nicht ungestraft bleiben konnte.

Ein leises Knacken ertönte zu seiner Linken und einer der kleineren Bildschirme fiel aus. Wenige Sekunden später ein zweiter, dann ein dritter, ein vierter, bis alle Bildschirme, bis auf den großen dunkel waren.

„Was haben Sie getan?“, rief er außer sich.

Sie lächelte, ihr Gesicht grotesk von dem gleißenden Licht des Bildschirms erhellt. Sie sah mehr wie ein Dämon als wie ein Mensch aus.

„Haben Sie es immer noch nicht verstanden? Solange es Arbeit gibt, sind die Leute hier sicher. Wenn ich diese Arbeit zerstöre, hat der Zentralcomputer keinen Grund mehr, die Leute loszuwerden.“

„Und Sie glauben das klappt?“

„So funktionieren Computer“, sagte sie leise. Dann knickten ihr die Beine ein und sie brach zusammen.

Er kniete sich neben sie. „Sie sollten jetzt nach Hause gehen“, sagte er leise, „Sie haben es geschafft.“

Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihre Augen blickten klar zu ihm auf. „Dann müssen Sie dafür sorgen, dass diese Firma geschlossen wird. Sagen Sie den Leuten, was hier vor sich geht.“

„Das werde ich.“

„Versprechen Sie es mir?“

Er nickte langsam.

„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte er leise.

„Rose. Und Sie?“

„Joseph.“

Epilog

Ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Franz Kafka: Gibs auf (aus: Sämtliche Erzählungen)
 

Liebermann hatte sie dazu überredet zu gehen. Fast fühlte er sich schlecht bei dem Gedanken, sie allein gelassen zu haben. Aber ihn war auf einmal das Gefühl überkommen, dass seine Aufgabe hier noch nicht erfüllt war. Gegenüber von der Tür, durch die Rose vor einer Viertelstunde verschwunden war, befand sich ein Aufzug. Liebermann ging im unnatürlichen Licht, das der Bildschirm verbreitete (die Taschenlampe, sein Handy und die Karte hatte er Rose gegeben) auf den Aufzug zu. Versuchsweise drückte er den Knopf. Die Aufzugtür öffnete sich und er trat in die Kabine. Es gab nur einen Knopf am Armaturenbrett und den drückte er. Zischend schloss sich die Tür und der Aufzug glitt sanft nach oben.

Liebermann trat in einen weiteren runden Raum. Anders als der erste war dieser allerdings mit Fenstern ausgestattet, von denen aus man die Innenfassade des Firmengebäudes erkennen konnte. Unter der Fensterreihe, die sich um den ganzen Turm zog, waren verschiedene Rechner angebracht, von denen einige angeschaltet, der Großteil aber heruntergefahren war. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Liebermann das Szenario. Ganz offensichtlich befand er sich im Kontrollraum.

In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus Holz mit einer Kaffeemaschine und einigen Tassen darauf. Der Tisch wirkte seltsam fehl am Platze in seiner technischen Umgebung. Neben der Maschine stand ein Drucker, darin lag ein Stapel Blätter. Liebermann nahm das oberste vom Stapel und las.
 

Sehr geehrte Frau Wilslow,
 

leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass ihr Sohn, Adrian Wilslow am vergangenen Freitag einen tödlichen Unfall hatte. Wir möchten Ihnen hiermit unser Beileid ausdrücken und hoffen ...
 

Angewidert legte er den Brief beiseite und blätterte durch die anderen Papiere. Alles Todesmeldungen der Arbeiter an die Familien. Er überlegte kurz die von Rose zu suchen, ließ es aber bleiben.

Was ist das nur für ein System?, dachte er.

Doch dann zog ein Bildschirm seine Aufmerksamkeit auf sich und er ging hin, um ihn sich anzusehen.

Please log in with your username blinkte dort und darunter ein Kästchen, in das man wohl seinen Namen eintragen sollte. Anscheinend hatte Roberts sich ausgeloggt, als er den Turm verlassen hatte. Von einer plötzlichen Neugier erfasst, gab Liebermann dessen Namen ein.

Access neglected. User unknown.

Ein Anflug von Übermut erfasste ihn und eher er wusste, was er tat, hatte er seinen eigenen Namen eingegeben.

Log in successful.
 

Rose saß im Zug und starrte auf das Handy, das vor ihr lag und sie zu belächeln schien. Ein kurzer Anruf, dachte sie. Nur ein kurzer Anruf. Sie hatte ihre Mutter seit Monaten nicht angerufen, warum jetzt? Weil sie keinen Job mehr hatte? Weil sie keinen Grund mehr hatte, in dieser Stadt zu bleiben?

Sie dachte an Alexander und Susan und den alten Marley, an Joseph und vor allem an Carter. Sie wusste nicht was sie von Carter denken sollte. Sie konnte noch immer nicht begreifen, was er getan hatte.

Aber er muss mich gemocht haben, dachte sie. Sonst hätte er sich nicht so um mich gesorgt.

Sei nicht albern, flüsterte eine Stimme in ihr. Er hat dich nicht gemocht, er war von dir besessen. Und du weißt, dass das nichts ist, worauf man stolz sein kann.

Sie versuchte die Stimme zu verdrängen.

Der Zug hielt an einer Haltestelle und fuhr wieder an und noch immer lag das Handy unberührt auf ihrem Knie.

Warum hat er es dir denn gegeben, wenn nicht, um deine Familie anzurufen?, fragte die Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte zuerst geweint, dann hatte sie das Bedürfnis gehabt zu schreien, aber das konnte sie natürlich nicht. Die wenigen übrigen Passagiere beäugten sie schon jetzt argwöhnisch. Sie wusste, dass der Zug sich seiner Endhaltestelle näherte und sie schon viel zu weit gefahren war und jetzt bald aussteigen musste, wenn sie nicht irgendwo im nirgendwo landen wollte, von wo aus sie nie wieder in ihre Wohnung finden würde.

Mit einer schnellen Bewegung nahm sie das Handy, wählte die Nummer, die sie längst auswendig konnte, so oft hatte sie sie in Gedanken schon gewählt, und drückte auf Anrufen.

Der Signalton ertönte am anderen Ende der Leitung. Zweimal, dreimal, viermal ... „Ja, hallo?“

Eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen. „Mama, ich bin‘s, Rose.“

„Rose, wie schön dich zu hören!“ Wie schön dich zu hören, dachte Rose. „Warum rufst du an?“

Warum rief sie an? Sie dachte an Carter, an die Mordfälle, an die Flucht aus der Firma, an Liebermann, an ihre Zerstörung im Computerraum.

„Ich komme nach Hause.“
 

Die Rechner erwachten mit einem leisen Knacken zum Leben. Er schenkte sich einen Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ein, und ging zu den Fenstern, die sich einmal um den ganzen Raum zogen. Es war so früh am Morgen, dass es noch dunkel draußen war. Die Umgebung wurde nur durch vier Scheinwerfer, die vom Turm aus in den Hof hinabstrahlten, erhellt.

Da er sich selber im Turm befand, der in der Mitte des ringförmig darum angelegten Gebäudes positioniert war, hatte er einen guten Überblick über alles. Zwischen dem Turm und der Innenwand des Gebäudes war ein Abstand von vielleicht 40 Metern. Abgesehen von einem eingebauten Gang, war der Turm nicht mit dem Firmengebäude verbunden. Und abgesehen von den Kameras, natürlich.

Die Firma lief gut, die Leute waren fleißig und er war nur selten gezwungen, durchzugreifen. Als er eine junge Arbeiterin auf einer der Kameras entdeckte, zuckte auf einmal ein Bild durch seinen Kopf. Joseph Liebermann stellte den Kaffee ab und runzelte die Stirn. Ihm war, als habe er sich an irgendein Versprechen erinnert, das er irgendwem gegeben hatte. Aber so schnell wie der Gedanke gekommen war, war er auch wieder weg.

Er schob die Tasse zur Seite und machte sich an die Arbeit.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von: Futuhiro
2012-06-17T16:50:26+00:00 17.06.2012 18:50
Oh ... also das hätte ich jetzt nicht gedacht.
Guter Abspann, ich wusste doch da kommt noch eine Wende. ^^

Grandiose Story! Von Anfang bis Ende wohldurchdacht, bildgewaltig beschrieben, super ausgearbeitete Charaktere, einfach nur wouw.
Fehlt quasi nur noch das <Fortsetzung folgt>, das schreit förmlich danach.

Einziges Manko (so als Abrundung, damit meine Lobeshymne hier nicht in Hysterie ausartet): Mach doch bitte in Zukunft die Kapitel kürzer! >.<
Von: Futuhiro
2012-06-17T16:39:49+00:00 17.06.2012 18:39
Großartiges Ende!
Das Ganze könnte tadells für ein Filmdrehbuch herhalten. Das hat so ein richtig schönes, klassisches Filmende. Alle Probleme gelöst und dann Zusammenbruch. Der Heldentod, sozusagen.

Ich muss sagen, Liebermann hat sich super entwickelt. So alles in allem hat er die Sache ja gut gemeistert. Wenn auch halb wider Willen.
Von: Futuhiro
2012-06-17T16:05:52+00:00 17.06.2012 18:05
"...damit wir wissen, was sie auf unserem Grundstück treiben."
Den Satz fand ich ja bezeichnend. Demnach hat die BID also was mit der Firma zu tun. Ich muss sagen, ich hatte bis zum Schluss keine Idee, wie die beiden Handlungsstränge von Rose und Liebermann irgendwann mal zusammenführen könnten. Aber so wie das jetzt aussieht, gibt es da sicher noch einige Wendungen und Überraschungen.

Niedlich fand ich ja das Wort <Zielsubjekt>. Das was sonst ein <Objekt> ist, wird hier gleich mal degradiert und verzwielichtigt. Genial. ^^
Von: Futuhiro
2012-06-17T15:10:50+00:00 17.06.2012 17:10
Oh man, die BID ist so fies. Ich hoffe, daß das mal gut geht. Das grenzt ja fast an nationalsozialistische Methoden, hey. Hoffentlich wird in der FF bald erklärt, was das nun so richtig für Typen sind. Der Handlungszweig hat Potenzial, das wird sicher noch eine richtig heiße Story. ^^

Der Schreibstil ist auch weiterhin so wundervoll bildgewaltig. Gefällt mir.
Von: Futuhiro
2012-06-17T14:31:26+00:00 17.06.2012 16:31
Wouw ... der Wahnsinn.
Ich weis schon nach dem ersten Kapitel, warum das YUAL geworden ist. Eigentlich hasse ich so endlose Kapitel mit mehr als 10 Seiten, die erschlagen einen immer so. Aber die 21 Seiten von diesem hier haben sich wirklich sehr schön und flüssig weggelesen. Der Schreibstil ist genial. Es passt alles so gut zusammen, daß man es sich bildlich vorstellen kann. Ich kam mir vor, als würde ich selber durch diese Hochsicherheitstrakt-Firma laufen und mir alles angucken. Und es kommt einem alles so logisch und selbstverständlich vor, als würde es solche Firmen tatsächlich geben.
Dieser Carter ist mir (so vor dem Hintergrund der Geschichte) ziemlich suspekt. Der ist so anders als die anderen, der kann doch nichts Gutes im Schilde führen.

Du hast es auch geschafft, daß man diese doch recht große Menge an neuen Charakteren auf Anhieb gut auseinander halten kann, das hat man selten.

Ich bin ja gespannt, wie das weitergeht. (Und die nächsten Kapitel sind ja kürzer, wie ich schon erleichtert festgestellt hab ^^)
Von:  whitePhobia
2012-03-04T17:49:39+00:00 04.03.2012 18:49
Ersteinmal : Wahnsinn!

Ich habe die Geschichte gerade in einem Rutsch durchgelesen und ich muss sagen: ich bin beeindruck. So etwas hätte ich hier auf Mexx nicht erwartet.
Mich hat der Titel der Geschichte neugierig gemacht und nachdem ich den Begriff Panopticon erst einmal bei Wikipedia nachgeschlagen hatte, hat es mich doch gereizt zu erfahren, was für eine Geschichte dahinter steckt.
Der Tital passt sehr gut, doch lässt er einen - nachdem man Wikipedia gelesen hat - im Prolog doch erst einmal an eine Gefängnisgeschichte denken.
Doch weit gefehlt.
Trotz des etwas zu langem ersten Kapitel ( im Vergleich zu den nachfolgenden), nimmt die Geschihte mit dem ersten Mord sehr gut Fahrt auf.
Allerdings fand ich die Beschreibung des Unternehmens, bis zum Zeitpunkt des ersten Mordes an manchen Stellen schwer zu lesen. Manche Sätze kamen mir zu kompliziert aufgebaut vor, sodass ich sie zweimal lesen musste, nur um festzustellen, dass sie zwar völlig korrekt waren, aber dennoch komisch klangen. Nach der Stelle des ersten Mordes ist dein Schreibstil auf einmal viel besser und lässt sich flüssig lesen.

Der Spannungsaufbau in der Geschichte ist dir sehr gut gelungen und das Dystopia eines Unternehmens, das du darstellst ist großartig.
Die Beschreibung des "Normalfalls", der für das plötzliche Verschwinden eines Mitarbeiters hat mich schon sehr an die orwellsche Ausdruckweise erinnert.
Die Zitate an den Kapitelanfängen sind gut gewählt, auch wenn ich sie (besonders Kapitel 3) mehrmals lesen musste um ihre Bedeutung für die Geschichte zu verstehen.
Die Namenswahl derder Charaktere ist 1A. Man hat wirklich das Gefühl, dass du dir genau überlegt hat welche Wirkung du damit erzeilen wolltest.

Carter war mir bis Kapitel 3 eher verdächtig und berechnend vorgekommen, aber zum Schluss hast du es geschafft, dass ich ihn nun für das Opfer der Umstände halte.
Ich war von der Geschichte ziemlich baff, deshalb ist mein Kommentar etwas länger ausgefallen. Aber alles in allem kann ich sagen, dass die Geschicht zwar anspruchsvoll aber wahnsinnig gut ist.
Von:  Haleine
2012-02-07T12:59:42+00:00 07.02.2012 13:59
Der erste Teil! Yay!

Du hast vermutlich auch einen kleinen Namen-Tick wie ich, oder? Die bewusste Abgrenzung zwischen den amerikanischen Namen der Angestellten (Rose, Carter, Batty) und den typischen tschechisch-deutschen (Liebermann, Fanny) hat mir sehr gut gefallen.

Die Eingangsszene, in der der Sicherheitsraum beschrieben wird, ist wirklich sehr düster und gibt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch folgt ("Chirstian hatte er geheißen...")

Rose ist wirklich putzig und so hilflos, wenn sie auf Unbekannte losgelassen wird, nicht wahr?

>>Vielleicht wäre es einfacher wenn sie sich einfach zu den anderen setzte, das würde ihr auf jeden Fall keine Schwierigkeiten bringen.

Er stand auf und kam zu ihr herüber. Sie erstarrte.<<

Köstlich. :)

Auch die Geschichte um Joseph Liebermann fand ich super interessant und neugiererweckend, vor allem mit dieser geheimnisvollen BID, die alle seine Daten gelöscht hat. Auch dieser subtile Hinweis auf den ersten Satz von Proceß ist sehr gelungen :)
>>Als Joseph Liebermann am Montagmorgen seinen Computer einschaltete um seine Mails abzurufen, wusste er sofort, dass sich jemand über das Wochenende an dem Gerät zu schaffen gemacht haben musste.<<

Im Gegensatz zu K. zeigt Liebermann dann doch ein bisschen mehr Emotionen, man konnte sich also gut in ihn reinfühlen. Er ist fähig zu erstaunen, ratlos zu sein und auch nervös.

So, bevor das ganze zu sehr Deutsch-Interpretationsaufsatz wird XD: Was mir persönlich beim Lesen gefallen hat, ist dieser langsame Spannungsaufbau. Einerseits durch die parallelen Geschichten, zwischen denen man einfach noch keinen Zusammenhang erkennen kann und deswegen ungeduldig darauf wartet und nach kleinen Hinweisen sucht. Andererseits natürlich durch die dunkle und gefährliche Atmosphäre, die beide Welten ausstrahlen. Uaaaah... ich bekomme schon wieder eine Gänsehaut :p

Und ich wusste von Anfang an, dass dieser Carter nicht ganz koscher ist XD
Von:  Haleine
2012-02-07T12:47:35+00:00 07.02.2012 13:47
Oh hey, die Geschichte ist ja on! *freu*

Ich muss gestehen, zuerst, als ich "Original" in deiner sehr netten Widmung gelesen habe, war ich ein bisschen enttäuscht, weil ich eine Fanfic erwartet habe... aber dann hat diese Wichtelgeschichte mich einfach weggeblowt!

Sowohl 1984 als auch Der Proceß hab ich sehr gerne gelesen, mein Herz machte dementsprechend einen kleinen Hüpfer, als du sagtest, es wäre ein "Mix" aus u.a. diesen Romanen!

Da du die Geschichte ja in Teilen hochlädst (anders würde es einen Mexx-Leser wahrscheinlich erschlagen :p), werde ich meine Kommentar auch aufspalten!


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