Die Archivarin von Momotaro ================================================================================ Kapitel 1: Leerstelle --------------------- Jocasta Nu war eine schwierige Person. Im Tempel war allgemein bekannt, dass Jocasta Nu in ihrer eigenen Welt lebte. Zu lang war sie bloß noch in ihren Archiven ein und ausgegangen. Obwohl es Geschichten gab, über ihre spektakuläre Vergangenheit als junge, furchtlose Archäologin und Stellarkartografin, die sie einmal gewesen zu sein schien. Sie war nach wie vor eine allgemein anerkannte Expertin auf ihren Gebieten, hatte sich jedoch nur wenig Verständnis für den Rest der Welt bewahrt. Obi-Wan sah es in ihren wässrig blauen Augen, als sich ihr Blick verhärtete. Sie war alt geworden. „Wenn der Planet nicht verzeichnet ist...“, meinte sie kalt: „..., dann wird er auch nicht da sein.“, drehte sich um und ging. Resigniert sah ihr Obi-Wan hinterher. Unglaublich, dass dieses magere, bleiche und offenkundig engstirnige Wesen einst auf der Suche nach alten Sith-Artefakten die Galaxis bereist hatte. Sie hatte die Forschung im Bereich Sith einige entscheidende Schritte weitergebracht, gegen den besorgten Widerstand des Hohen Rates und vieler ihrer Kollegen. Immerhin, ihre Unbeirrbarkeit hatte sie behalten... Anju hörte den Ärger schon von Weitem auf sich zustapfen. Und tatsächlich, da bog bereits das finstere Gesicht der führenden Archivarin um die Ecke. Anju bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Schließlich musste man die Form wahren, besonders wenn man selbst kaum noch viel mehr war als pure Form. Ohne Inhalt. Anju hatte froh sein können, dass sie überhaupt jemand im Tempel aufgenommen hatte, nun wollte sie ihr Bestes tun und Jocasta Nu eine vorzeigbare Assistentin sein. Eine, auf die sie stolz sein konnte. Damit wenigstens irgendwann einmal irgendwer auf Anju stolz sein konnte. Denn es gab nicht mehr viel an Anju, auf das man stolz sein konnte. „Kamino...“, murmelte Meisterin Nu, als sie an Anju vorbeistapfte, vermutlich ohne sie überhaupt bemerkt zu haben. Die alte Frau schritt den Gang weiter hinab, auf die Tür zum Lager zu. Sie murmelte noch etwas, dann war sie aus dem Bibliotheksbereich verschwunden. Anju setzte ihr Lächeln wieder ab, wie eine Maske, sie hatte es ohnehin nicht empfunden. Neben ihr stand ein Rollwagen voller einzuordnender Wissenspads. Anju fuhr in ihrer Tätigkeit fort, Ordnungscodes aneinanderzureihen. Sie war bereits zwei Regale weitergekommen, der Rollwagen war beinahe leer, als der Jüngling an ihrem Ärmel zupfte. „Tschuldigung, ähm...“, begann er, doch als Anju ihn direkt ansah, verlor er den Mut. Wieder setzte Anju ihr freundliches Lächeln auf. „Ja, was wünschst du?“ Der Jüngling starrte auf den Boden. Er war ein Shistavan mit heiter hellem Fell und kurzer Schnauze. Er hatte seinen Übungshelm noch auf, als ob er eben aus dem Unterricht gekommen wäre. Anju kniete sich zu ihm herab und fragte noch einmal: „Du wünschst?“ Der Jüngling murmelte, sehr schnell, sehr undeutlich und stur an seine Zehen gewandt: „Meister Yoda fragt, dass ich frag, dass er Meisterin Jasta Nu sprechen will...“ „Jocasta Nu?“, versicherte Anju sich. Der kleine Shistavan nickte. Anju klopfte ihm auf die Schulter. „Gut, ich kümmer mich drum.“ Der Jüngling wagte es endlich, den Blick zu heben. Er grinste Anju breit an, Anju grinste zurück und zum ersten Mal an jenem grauen, eintönigen Tag fühlte sie sich auch danach. Sie war schon immer gut mit Kindern ausgekommen. Die heiterten sie auf. Erwachsene waren alle so furchtbar trüb. Als Jocasta Nu von ihrer Unterredung mit Meister Yoda zurückkehrte, wirkte sie gewohnt beherrscht, mit diesem für sie charakteristischen, leicht pikierten Zug um die dünnen Lippen. Sie schritt durch den breiten Hauptgang der Bibliothek, an der Regalreihe vorbei, an der Anju neue Datapads schlichtete. Wieder zurück zur betreffenden Regalreihe und die Reihe entlang, bis sie vor der jungen Padawan stand. Die ihr mit einem freundlichen Lächeln entgegenblickte, wie Nu es gewohnt war. Nu meinte: „Ich brauche die Sicherheitsaufzeichnungen sämtlicher Datenbewegungen der letzten – sagen wir – zehn Jahre.“ Anju meinte: „In Ordnung. Bis wann?“ Nu meinte: „So schnell wie möglich.“ Anju meinte: „Aber um 5 muss ich zu einer Schwertziehzwischenprüfung.“ Nu meinte: „Dafür darfst du kurz pausieren.“ Anju meinte: „Jawohl.“ Nu ging. Weder hatte sie allzu besorgt noch anderswie unruhig gewirkt. Gerade deswegen verwirrte Anju die Nachfrage. Normalerweise interessierte sich Anju nur begrenzt für die Beweggründe von Höherstehenden. Sie hatte beschlossen, sich darauf zu beschränken, Aufträge einfach auszuführen, wenn man sie ihr gab. Die Meister wussten schon, wohin sie damit wollten. Aber diesmal war der Auftrag vielleicht Ergebnis einer Unterredung mit Meister Yoda. Er schien dringend zu sein. Und er klang beunruhigend genug, um mit mehr Gefühl in der Stimme hervorgebracht zu werden. Meisterin Nus alltäglicher Tonfall schürte Anjus Misstrauen besonders stark. Die Sicherheitsaufzeichnungen... Davor hatte Meisterin Nu mit Meister Kenobi gesprochen, es war kein erfreuliches Gespräch gewesen und danach hatte sie „Kamino“ vor sich hingemurmelt. Anju war klar, dass all diese Vorkommnisse keinen Zusammenhang miteinander haben mussten, aber die Vorstellung allein faszinierte sie zu sehr, um sie einfach ziehen zu lassen. Sie drehte sich Richtung Bibliotheksausgang. Dort schien Kriss nur darauf gewartet zu haben, bis Anju ihr endlich Aufmerksamkeit schenkte. Gewohnt locker stieß sie sich von der Regalreihe ab, an der sie gelehnt hatte, und begann: „Nun?“ Die drei unterschiedlich großen Hörner auf der Stirn glänzten elfenbeinfarben im sanften, indirekten Licht der Bibliothek, wie Edelsteine leuchteten sie auf der dunkelbraunen Haut. Die warmen, braunen Augen blickten Anju müde entgegen. Sie wirkten meistens müde, dabei schlief Kriss sicherlich mehr als genug. Anju wunderte sich nicht mehr darüber. Dafür kannte sie Kriss bereits zu lange. Stattdessen meinte sie: „Was nun?“ „Nun, bist du endlich fertig hier?“, erweiterte Kriss ihre Anfrage. „Tut mir leid, Meisterin Nu braucht mich heute länger.“, erklärte Anju. „Ach.“, meinte Kriss. Anju sah sie forschend an. „Was, ach?“ „Nur so.“, meinte Kriss. „Hä?“, fragte Anju. „Naja, wenn Nu dich braucht...“, meinte Kriss und wandte sich von Anju ab. „Dafür kann ich doch nichts.“, rechtfertigte sich Anju vor Kriss' Rücken. Sie hatte nur wenige Freundschaften, und selbst mit denen schien sie nicht wirklich zurechtzukommen. Aus irgendeinem Grund wirkte Kriss enttäuscht. Anju kramte in ihrem Hirn. Gleichzeitig fragte sie sich, warum Kriss nicht einfach sagen konnte, was sie störte. „Was ist denn?“, probierte Anju es nochmal. „Eh nix.“, kam es wenig hilfreich zurück. Anju seufzte leise. „Na dann...“ Sie ging an Kriss vorbei, auf den Ausgang zu. Sie drehte sich nicht nach Kriss um. Die Tür schloss sich zischend hinter Anju. Es half nichts. Anju würde später genauer mit Kriss reden. Nun musste sie ins Datentransferarchiv, danach zur Prüfung. Die Pflicht kam vor persönlichen Problemen. „Die Macht fließt...“, sagte Lehrmeister Dy-Ami: „Und in der Macht fließt die Bewegung.“ Anju schloss die Augen. Sie fühlte die Macht. Natürlich. Trotzdem schien es ihr immer schwerer zu fallen, die Macht zu verstehen, je älter sie wurde. Anju hatte das Gefühl, je weiter ihre Ausbildung zum Jedi fortschritt, desto schwächer wurde das Band, das sie mit der Macht teilte. Es war erschreckend und manchmal, wenn Anju die Konzentration verlor, all die beruhigenden Gedanken ziehen ließ, die sie permanent vor sich hersagte, hatte sie Angst. Furchtbare Angst davor, die Verbindung ganz zu verlieren. Plötzlich völlig allein zu sein. Sie erhöhte ihre Anstrengungen. Zog das Schwert und aktivierte die Lichtklinge. Das sanfte Gelb erfüllte den weiten Übungssaal. „Sehr gut.“, lobte Meister Dy-Ami. Anju deaktivierte ihr Übungsschwert wieder. Sie wusste es besser. Wenn sie hier etwas perfektionierte, so war es nicht ihre Verbindung zur Macht, sondern die Fähigkeit, ihr wahres Selbst vor der Außenwelt zu verbergen. Sich gegen den Zugriff anderer Jedi abzuschotten. Damit keiner merkte, wie sie langsam an Halt verlor. Dy-Ami schritt weiter die Reihe der zur Prüfung eingetroffenen Padawane ab, sah den anderen beim Ziehen ihres Schwertes zu. Anju dachte inzwischen an einen enttäuschten Meister Kenobi, an eine Unterredung mit Meister Yoda und an den Begriff Kamino. Was das wohl war, dieses Kamino... Es war bereits seit Stunden dunkel, als Anju die verlangten Daten zusammengesammelt und ausgewertet hatte. Es hatten sich einige Unregelmäßigkeiten gezeigt, in den Aufzeichnungen. Viele der Meister nahmen es nicht so ernst mit der Bürokratie, fügten Daten hinzu, ohne sich als Urheber zu verzeichnen, löschten, ohne einen bestimmten Grund anzuführen. Jocasta Nu würde nicht erfreut sein. Die alte Frau konnte sich stundenlang über solche Fauxpas aufregen. Anju sicherte die gefundenen Fehlermeldungen auf einem Datapad, es waren unübersichtlich viele. Einige gedankenlose Momente starrte Anju auf die letzten zwölf Einträge. Dieses gelöscht, jenes ersetzt... Da war eine Leerstelle. Anju beugte sich etwas vor. Eine leere Zeile. Sicher konnte das auch ein Fehler in der Formatierung sein. Aber vielleicht beherbergte gerade diese Leere die Lösung. Anju vermerkte den Zeitraum, in dem die Leerzeile aufschien, für sich, mit einem Stift auf ihrem Unterarm. Dafür nahm sie einfach den Zeitkodex der Zeile davor und den der folgenden danach. Zum Glück lagen nur einige Stunden zwischen den Einträgen. Für diese Zeitspanne Überwachungsvideos zu finden dürfte nicht allzu schwer sein. Doch inzwischen war es zu spät, die betreffenden Daten anzufordern. Außerdem musste sie sich noch einen triftigen Grund für ihre Anfrage ausdenken. Sonst würde man ihr das Material niemals überlassen. Anju dachte an Kriss. Die half öfters im Hologrammarchiv des Tempels aus. Mit ihrer Hilfe... Da fiel es Anju ein. Mit plötzlicher, stechend scharfer Klarheit. Jener Tag. Darum war die Freundin zu ihr gekommen. Um sich zu verabschieden. Es war der Tag gewesen, an dem Kriss abgereist war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)