Die Archivarin von Momotaro ================================================================================ Kapitel 4: Der Wandel --------------------- Komisch, an was Anjus Hirn denken musste, während es in Lebensgefahr schwebte. Kriss hatte sie einmal gerettet, ja. Aber diesmal würde sie sicher nicht auftauchen. Anju musste aufhören, in der Vergangenheit zu schwelgen. Sie brauchte ihren Geist in der Gegenwart. Wach. Fokussiert. Der Moment war entscheidend. Der Moment, in dem die glühende Klinge durch die Luft schnitt, stinkendes Ozon hinterlassend, das leise vor sich hinbrutzelte. Nicht die Lebensschuld bei Kriss, nicht das Versäumnis, Kriss ohne ein nettes Wort gehen gelassen zu haben. Nicht die stechende Leere, die sie hinterlassen hatte. Anju wollte nicht sterben. Sie wollte herausfinden, was es mit der sonderbaren Lücke in der Sicherheitsaufzeichnung auf sich hatte. Sie wollte wissen, woher der Holocron kam und welchen dunklen Machtanwender er bewahrte. Sie wollte diesen Kampf gewinnen. Anju streckte die Hand nach dem fremden Mädchen aus. Die Macht reagierte. Der blanke Wunsch nach Überleben war der Energie, die alles in Bewegung, im Fluss hielt, wahrhaftig genug, um ihm zu folgen. Sie floss. Anju fühlte, wie sie floss. Ohne Sicherheitsschranken, ohne Mäßigung, selbstverständlich wie früher. Sie ergriff das Mädchen. Konzentrierte sich auf den Mittelpunkt der Masse, schlug zu. Der kleine Körper flog davon. Das Gesicht maßlos überrascht. Das hatte es nicht kommen gespürt. Mit hässlicher Wucht schlug das Mädchen an einem Baumstamm auf. Der Aufprall riss ihm den Griff des Schwerts aus der Umklammerung, der ohnehin zu dick für die Kinderhand gewesen war. Der Holocron erlosch. Das Lichtschwert erlosch. Das Mädchen rutschte am Stamm herab und blieb zwischen den knorrigen Wurzeln liegen. Verdreht, mit zur Seite geknicktem Kopf, wie eine Puppe. Die Augen geschlossen. Der pure Überlebenstrieb ließ Anjus Geist frei. Anju sah die Welt um sich wieder im Kontext, nicht isoliert von einzelnen Momenten. Ihr Herz klopfte so heftig, das es den ganzen Körper erschütterte. Ihre Hände zitterten, die Beine zitterten. Doch Anju brach nicht zusammen. Stur blieb sie in ihrer halb hockenden Position, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Sie schwankte nur leicht. Und dachte: nein. Immer wieder. Nein, nein, das Kind war nicht tot, nein, alles gut, gleich bewegte es sich wieder... Lang genug hinsehen, nur lang genug warten und es wachte wieder auf. Es war nicht tot. Ein anderer Gedanke drängte sich durch das Geflecht von Selbestbeschwichtigungen. Vielleicht war das Kind tot. Geh hin, überzeug dich. Nein, gleich wachte es wieder auf. Und wenn das geschah, sollte Anju nicht mehr da sein. Oder das Schwert. Ohne die Waffe war das Kind nur, was es war. Ein unbedrohliches, beschützenswertes Kind. War es tot? Anju war schwindelig. Sie räusperte sich. Sie musste sich zusammenreißen. Sie war Padawan. Sie war Teil des Jediordens. Der Tod gehörte zum Leben, ein Jedi akzeptierte das Ende. In dem kurzen Augenblick, vor dem letzten Herzschlag seines Lebens begrüßte der Jedi den neuen Zustand, in den sein Körper überging. Das Kind war auch Teil des Ordens gewesen. Was hieß „gewesen“? Anju musste zu ihm. Sie musste es herausfinden. Dann akzeptieren. Anju stand auf. Die Augen starr auf das Ziel gerichtet schwankte die Padawan wie eine Betrunkene auf den Baumstamm zu. Neben dem bewegungslosen Körper sank sie auf die Knie herab. Griff an den zarten, dünnen Hals. Nichts. Keine Regung, kein Klopfen. Haut wie Wachs. Eklig warmes Wachs. Erschrocken zog Anju die Hand zurück. Sie sah dem Mädchen ins Gesicht. „Es tut mir leid.“ Der Klang der eigenen Stimme löste etwas in Anju. Eine Starre. Tränen rannen ihr aus den Augen. Anju fühlte sie rinnen. Sie fühlte ihr Herz schlagen, ihre Lungen schwellen. Sie nahm die Hand des Kindes fest in die eigene, hob sie an ihre Stirn und dachte mit aller Gewalt, während sie es flüsterte: „Es tut mir wirklich leid, wirklich leid...“ Das hätte nicht passieren dürfen. Mit dem leichten Körper des Mädchens in den Armen traf Anju im Heilzimmer ein, der Krankenstation des Tempels. Sie ging einfach in den Raum und wartete dort stumm, bis die diensthabende Heilerin sie bemerkte. Sie sagte kein Wort zu ihr. Schließlich konnte sie es sich nichtmal selbst erklären. Anju wusste noch immer nicht, wie das hatte passieren können. Obwohl sie sich manchmal bei dem Gedanken erwischte: die Macht war schuld. Ohne Rücksicht auf die Zerbrechlichkeit des kleinen Organismusses hatte sie ihn weggeschleudert. Rücksichtslos. Nur darauf bedacht, das eigene Leben zu schützen. Nein, Moment, das war Anju gewesen. Sie hatte ihr Leben schützen wollen. Sie hatte sich ihren Instinken überlassen. Wie ein Tier gehandelt. Nein, die Macht hatte den Schlag ausgeführt. Anju hatte sie nicht angewiesen. Die Heilerin erhob sich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch, auf dem sich Protokolle von Untersuchungen stapelten. Der Tempel war voller Kinder. Kinder wurden oft krank. Das Heilzimmer war erst selten so leer gewesen wie in dieser Nacht. Vermutlich spürte die Frau sofort, was Anju hier hereintrug. Einen Leichnam. Darum blieb sie wohl auch so ruhig. Wozu beeilen, im Angesicht des Todes. Der dauerte. Der ließ sich Zeit. Wie auch allen um ihn herum. Das Kind würde noch für den Rest seines Lebens tot sein. Absurder Gedanke. Die Heilerin wies zur Seite, auf eines der vielen Krankenlager. „Leg sie dahin.“, sagte sie mit sanfter Stimme: „Vorsichtig.“ Anju tat, was man ihr gesagt hatte, obwohl sie sich fragte, warum vorsichtig? Sie bettete das Kind auf die weiche Matte, als ob es nur schlafen würde. „Gut.“, meinte die Heilerin: „Nun setz dich. Ich kümmer mich um das Kind.“ Anju setzte sich auf die nächste Matte, im Schneidersitz, und betrachtete von dort aus die regungslose Brust vor ihr. Ein Stück Fleisch. Mehr war ein toter Körper nicht. Keine Energie mehr, nur noch eine Ansammlung aus Rohstoffen. Die Heilerin war neben die Leiche getreten. Sie kniete sich hin. Hob beide Hände über den Torso. Anjus schwache Stimme meinte: „Unnötig, sie ist tot. Nichts mehr da.“ „Schh.“, wies die Heilerin sie sanft an. Es begann zu brenzeln. Anju sah seit einigen Jahren die Macht nicht mehr. Als Kind hatte sie sie gesehen. Wirken, in allem um sie. Doch der Eindruck war verblasst. Irgendwann war sich Anju nicht mehr sicher gewesen, das jemals wirklich gesehen zu haben. Doch nun sah sie es. Ein Glühen. In der Luft. Es wurde größer, deutlicher. Unter den offenen Handflächen der Heilerin. Es tastete nach dem Kind. Es schien zurückzuschrecken. Die Heilerin blickte erschrocken auf. „Dunkelheit!“ Es war witzig, dass Jedi ein so komplexes Konzept wie das Böse mit so etwas Simplem wie Dunkelheit gleichsetzten. Anju hatte nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Sie verstand nicht, was die mit für Jedi-Philosophie moralisch unvertretbaren Gedanken, Gefühlen und Taten zu tun haben sollte. Sicher, die Metapher, Erkenntnis und Wissen als Licht, Gefühle und Instinkt als Dunkelheit... Je länger Anju sich mit den Lehren des Tempels beschäftigte, desto unklarer schien die Grenze zu werden. Im Grunde schien da gar keine Grenze zu sein. Aber das gehörte so. Der Weg zur Erleuchtung war gepflastert mit Verwirrung und Kopfschmerzen, wie Jocasta Nu gern verkündete. Bei dem Streben nach Weisheit durfte man sich nicht von Unklarheiten abschrecken lassen, denn gerade hinter ihnen lagen die entscheidenden Einsichten. Das Glühen wurde wieder stärker. Diesmal schlüpfte es durch die Haut in den leblosen Körper hinein. Füllte ihn an, ließ ihn selbst erstrahlen, mit einer Intensität, die Anju die Tränen in die Augen trieb. Wie ein Atemzug hob das Glühen die schmale Brust des Kindes, senkte sie wieder. Anju schreckte zusammen. Hoffnung keimte in ihr auf, doch Anju schob sie schnell zur Seite. Nein, sie durfte noch nicht hoffen, es könnte auch alles ganz anders sein als es wirkte. Sie starrte auf die sich hebende und senkende Brust. Sie wollte die Hand darauf legen. Ein Herz spüren. Ihre Hand hob sich wie von allein. Die Haut veränderte sich. Die Haut im Gesicht des Mädchens. Verlor den entrückten Glanz, das Wachs schien zu schmelzen und sich zur samtig weichen Oberfläche einer richtigen Haut zu wandeln. Wieder beweglich zu werden. Anju nahm die Hand des Mädchens. „Wie...“ Wieder wurde ihr schwindelig. Das Glühen wurde schwächer. Anju keuchte erschrocken auf. „Nicht!“ Die Heilerin beruhigte sie, mit leiser Stimme: „Keine Sorge, alles ist gut.“ Doch es war schon zu spät. Anju war bereits hysterisch. Sie drückte fest die Hand des Kindes und brüllte: „Nicht! Sie darf nicht noch einmal sterben! Tu doch was, tu was!“ Die Heilerin tat was. Sie löste eine Hand vom Körper des Kindes, streckte sie gegen Anjus Stirn und ein dumpfer Schlag löschte das Bewusstsein der aufgeregten Padawan aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)