Stray von Ouroboros ================================================================================ Kapitel 2: Eins zu werden mit dem Wind -------------------------------------- Vorwort: So....nachdem vol. 1 ja nun doch eher eine Art Prolog ist, jetzt quasi die Einstiegshandlung zur Haupthandlung (welche man daran erkennt, dass am Ende des Kapitels auf einmal viel zu viele Charaktere vorkommen....;)) Ich habe hier einige Songtexte herausgekürzt, da es doch eher unpassend schien und eher wie Werbung wirkte....um das dennoch nicht ganz außen vor zu lassen: Sakuya ist D'espairs Ray-Hörer (Coll:set). Grundsätzlich: Anregungen und Wünsche sind immer gern gesehen – ich nehme Wünsche auch an und versuche, sie umzusetzen – das ist natürlich in den folgenden Kapiteln etwas unmöglich, da sie bereits geschrieben sind; ich behalte sie jedoch gern im Hinterkopf, ebenso Charakterpräferenzen; dann springt vielleicht die eine oder andere Zusatzszene heraus ;) Also, wenn etwas besonders am Herzen liegt, dann lasst es mich bitte wissen! Einen lieben Gruß und viel Freude an HeadlessRider_Celty :) Stray vol. 2: Eins zu werden mit dem Wind Der Abend kommt mit Mondschein und seidner Dunkelheit. Die Wege werden müde. Die enge Welt wird weit. Opiumwinde gehen feldein und feldhinaus. Ich breite meine Augen wie Silberflügel aus. Mir ist, als ob mein Körper die ganze Erde wär. Die Stadt glimmt auf: Die tausend Laternen wehn umher. Schon zündet auch der Himmel fromm an sein Kerzenlicht. ... Groß über alles wandert mein Menschenangesicht - - Alfred Lichtenstein: Spaziergang Der Morgen weckte mich mit dem über die Dächer durch das kleine Fenster fallenden Licht und einem leisen Wispern wie Wind in den Blättern. Ich öffnete die Augen einen Spalt weit, und öffnete sie ganz, als ich Kaffee roch und mein Blick auf einen vollen Rucksack neben der alten Matratze fiel. Ich schob mir Sakuyas Mantel von den müden Schultern und richtete mich auf. Es war noch so früh am Morgen... Ich war ganz verschlafen, und in der Wohnung herrschte dieses frische Licht, das nur kurz nach Sonnenaufgang entsteht, wenn der Stadt die Decke der Nacht weggezogen wird. Solch ein Morgen ist kalt und frisch und schreit entweder nach einer kalten Dusche oder einem warmen Bett. Eins von beiden konnte ich haben, und mir schwante schon Übles. Als ich mich erwachend umsah, fiel mein Blick auf Sakuya und Junya, die auf dem Bett saßen und mich ganz unschuldig ansahen, als ob sie mich hätten schlafen lassen wollen. “Was macht ihr denn da so früh am Morgen?”, knurrte ich und rieb mir die Augen. “Es ist sieben, und wir trinken Kaffee, weil wir los wollen, sobald du fertig bist. Ich hätte dich fast schon geweckt, wenn ich nicht sowieso Junya in Kurzfassung erklärt hätte, was auf ihn zukommt.” Ich sah meinen Bruder mit gerunzelter Stirn an, und er hob kurz die feinen Brauen über seinen grauen Regenaugen, was soviel signalisierte wie: Natürlich weiß er Bescheid. Das war wohl auch besser so. Aber ich war ein bisschen pikiert, dass ich es erst nach drei Monaten erfahren hatte, und er vor Junya so gar keine Scheu hatte. Wobei das natürlich genau der Grund war. Ich schüttelte den Kopf und mühte mich auf die Beine, bestrebt, ganz wach zu werden. Sakuya hatte alles zusammengesucht, was wir mitnehmen mussten, sogar der Gaskocher hatte einen Platz gefunden, auch wenn mein Bruder ausdrücklich betonte, dass wir ihn wegwerfen würden, sollte er zu hinderlich werden. Aber für’s Erste... Man wusste nie, wozu man ihn einmal gebrauchen konnte. Junya trug einen alten Tribalpulli von mir, der zwar etwas zu lang war, aber...er stand ihm gut. Seine schwarzen Mandelaugen funkelten, als wüsste er, dass er aussah wie ein Engel. Ich sah schnell woanders hin, ehe er es bemerken konnte. Meine Güte...hatte ich erstmal Blut geleckt, ging es aber los, oder was? Ich würde später Saku fragen. Sakuya trug bis jetzt nur einen alten Calibanpulli - von denen ich noch nie was gehört hatte, aber auf dem Pulli war ein stilisierter Wolf, und ich hatte ihn entdeckt und ihm geschenkt - aber da ich jetzt wach war, griff er nach seinem angewärmten Mantel und warf ihn sich in einer Bewegung über. Er hatte sich sein seidig schimmerndes Haar schon wieder zusammengebunden, wie stets. Er ließ es offen trocknen, aber er ging so nicht nach draußen; eigentlich sah ich ihn nur mit offenem Haar, wenn ich ihn im Bad überraschte. Junya hatte sicher auch noch ein oder zwei T-Shirts unter dem Pulli an, so wie ich das immer getan hatte, ehe ich durch Glück an eine gute Jacke gekommen war. Jacken waren teurer. In Jackentaschen konnte man mehr transportieren. Der Straßenhandel florierte schließlich. Und in einer Jacke konnte man schneller laufen als mit einer Tasche. Ich quälte mich endlich ganz auf die Beine, aber die Müdigkeit steckte mir noch in allen Knochen. Ich hatte wohl wirklich zu wenig Schlaf bekommen in den letzten Tagen, Nächten, je nachdem. Blöd nur, dass man sich das immer erst zu spät bewusst machte. Saku schnappte meine Sachen von der Truhe und warf sie mir zu. “Darf ich noch mal duschen?”, fragte ich verschlafen, meinen Pulli im Arm umklammert. Sakuya seufzte. “Hat das heute Nacht nicht gereicht? Wir müssen los. Ich will keinen Tag zu lange da draußen unterwegs sein.” Da draußen - das war alles außer einer abgeschlossenen Wohnung, in der man nicht alleine und wehrlos war. Wie ich meine Heimat liebte. Ich schüttelte den Kopf. “Aber ich muss irgendwie wach werden. Ich mach auch ganz schnell.” “Na meinetwegen...aber beeil dich; ich will in einer Viertelstunde hier raus sein. Willst du ‘nen Kaffee?” Ich schüttelte den Kopf. “Könnt ihr austrinken.” Saku zuckte die Schultern. “Dann beeil dich jetzt. Die Sonne ist lange aufgegangen.” Ich schlurfte zum Bad. “Ja, Mama.” “Er wird zickig, wenn er müde ist”, hörte ich Sakuya in meinem Rücken Junya erklären. “Das legt sich gleich wieder.” Die beiden hatten sich offensichtlich gegen mich verschworen, während ich geschlafen hatte. Na schön. Fein, dass sie sich so gut verstanden. Machte es das leichter für mich? ‘Was denn?’, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, woraufhin ich nur verwirrt gedanklich die Schultern zucken konnte. Ich wusste es nicht. Andererseits, wenn ich so darüber nachdachte... Während ich so zitternd und zähneklappernd einen so kurzen Satz wie möglich unter den Eiswasserstrahl machte und dabei sofort hellwach und klar wurde, kam mir der Gedanke, dass es doch gar nicht so schlecht war, wie es war. Wir konnten doch einfach zu dritt reisen. Immerhin war alles Wichtige zwischen uns jetzt gesagt, oder nicht? Es gab keinen Grund, sich den Kopf zu zerbrechen. Und dass ich Junyas wegen ein schlechtes Gewissen hatte, nun... Das hatte ich mir selbst zu verdanken, und meinem ausgeprägten Schuldbewusstsein. Ich wurde sehr glücklich bei dem Gedanken. Also nicht bei diesem, sondern dem davorgehenden. Es lief doch alles großartig! Ich konnte mich zu Recht einen sehr glücklichen Menschen schätzen. Und ich war aufgeregt. Meine große Reise begann, und ich ahnte schon, dass ich eine ganze Menge Neues in meinem Leben erfahren würde. Und ich freute mich darauf. Ich war ewig nicht mehr so weit von dieser Stadt weg gewesen, wie ich im Begriff war zu gehen. Mit meinem wiedergefundenen Bruder, der hingebungsvoll für mich sorgte. Und mit meinem neuen Freund, der mich liebte, und der meine Freundschaft dennoch dankend annahm. Die beiden waren immerhin für mich die wichtigsten Menschen auf der Welt; selbst wenn man davon absah, dass sie auch die einzigen waren. Ich war sehr impulsiv, und hier... Es bestand wirklich eine gewisse Attraktion zwischen Junya und mir, das konnte niemand leugnen, ich am wenigsten. Aber da hörte es für mich in der Richtung einfach erstmal auf. Und wenn Junya das wusste und akzeptierte, und mir sogar noch dankbar war, ohne dabei verblendet zu sein, das glaubte ich nicht, war doch alles in Butter, oder? Ich wünschte einfach, ich hätte mehr Ahnung von solchen Dingen. Aber die hatte ich nicht, und so konnte ich nur das tun, was Saku mir geraten hatte, nämlich meinem eigenen Herzen zu folgen, so abgelutscht dieser Satz klang; und das sagte mir, ich liebte diese beiden Menschen, und ich war selig, weil ich mit ihnen in eine neue Zukunft aufbrechen würde. Ich war vielleicht ein wenig naiv, sah die Welt und ihre Bewohner sehr blauäugig; na und? Irgendeiner von uns musste das ja tun. Oder nicht? Ich trocknete mich ab und zog mich an, ehe Saku ungeduldig reinkommen konnte, um mich zu holen, und nur fünf Minuten später hatte ich alles verstaut, meine abgeschabte Lederjacke an, meine Halbhandschuhe übergestreift und meine ausgelatschten Chucks an den Füßen, und warf einen letzten wohlwollenden Blick auf das leere Zimmer, in dem ich die bis dahin beste Zeit meines Lebens verbracht hatte. Im frühen Morgenlicht sah der Raum gar nicht mehr so schäbig aus, und die Pastellfarben des Sonnenaufgangs malten blassen Marmor an die Wände. Ich hatte gerne hier gelebt. Dann schloss ich die Tür hinter mir. Es war irgendwie schön, im ersten Licht des Tages durch die Stadt zu gehen mit zwei Freunden an der Seite. Es waren kaum Leute unterwegs; diese Zeit war vielleicht von allen die ungefährlichste. Die schwachen Sonnenstrahlen flogen über unsere Gesichter und weckten die Zugvögel in unseren Morgenaugen. Sakuya führte uns auf dem kürzesten Weg aus der Stadt hinaus; ich war leicht erstaunt, wie gut er sich auskannte, obwohl er doch erst seit nicht einmal vier Monaten hier gelebt hatte. Vermutlich hatte er sich verantwortlich gefühlt, gleich das Gebiet zu erkunden, in dem er sich niederließ. Besser für uns. So strichen wir auf Schleichwegen immer weiter auf den Stadtrand zu, genossen das junge Frühlingslicht nach dem langen Winter und ließen uns von Sakuya über den vor uns liegenden Weg aufklären, bis wir am Vormittag die wirklich letzten Häuser hinter uns gelassen hatten. Der Weg den wir noch zu gehen hatte, war wirklich ziemlich weit, was für uns bedeutete, dass wir den Großteil des Tages mit strammem Gehen zubringen würden. Sakuya wollte in höchstens drei Tagen angekommen sein, und er war da erbarmungslos. Junya und ich kamen leise überein, dass wir beide nicht glaubten, dass das für uns zu schaffen war, auch wenn Sakuya meinetwegen stundenlang laufen konnte; aber wir beschwerten uns nicht; denn der Tag war so schön; nicht zu warm, aber der erste richtige Frühlingstag des Jahres, und der Weg, der vor uns lag, erschien uns so verheißungsvoll, dass wir ohne zu Zögern unabhängig voneinander den Entschluss fassten, es zumindest zu versuchen. Saku würde uns schon nicht mehr antreiben, wenn wir erschöpft auf der Straße zusammenbrachen. Nicht, wenn er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, uns unter seine Fittiche zu nehmen, meinen Freund und mich; und uns sicher bis zum Ende zu führen auf dem langen Weg, den wir beide gar nicht kannten, wie ein Schäferhund, der die Herde bewacht; oder viel eher noch wie ein Wolf, der zwei Welpen in seiner Obhut hat. Mir gefiel der Vergleich so gut, dass ich ihn für den Rest des Weges beibehielt. Ich hatte wirklich keine Ahnung von der Welt, die da im Licht plötzlich vor mir lag, als wir die sterbende Stadt hinter uns ließen, denn ich hatte schon immer dort gelebt; ich kannte nichts anderes. Ich wusste zwar, dass ich wie Sakuya auch in Berlin geboren war, aber ich hatte mein gesamtes bewusstes Dasein hier verbracht. Ich wusste nicht, wohin es Sakuya verschlagen hatte, nachdem er mit unserem Vater gegangen war, aber ich wusste nur, dass es weit weg gewesen war. Sakuya hatte nur einen kleinen Teil seines Lebens in Deutschland verbracht. Das, und die Tatsache, dass er im Krieg gewesen war, war alles, was ich darüber wusste. Ich wusste nicht, wo das gewesen war, oder wie stark die Kampfhandlungen gewesen waren, oder wie stark Saku in sie verstrickt gewesen war. Er vermied es, darüber zu sprechen. Aber in Deutschland herrschte seit seit einem Jahr nach meiner Geburt, offiziell wieder Frieden - hoffentlich für immer. Saku war damals schließlich erst ein Kind gewesen. Sakuyas Vergangenheit war mir ein Rätsel. Ich wusste zum Beispiel nicht, woher er so gut Englisch sprach, wo er Französisch gelernt hatte - ich konnte das nicht; ich hatte Latein gelernt und gehasst - oder was es für eine Sprache war, in der ich ihn einmal nur ganz kurz sprechen gehört hatte. Ich fragte ihn nicht über sein Leben aus; ich hoffte, es würde es mir von selbst erzählen, wenn er es wollte. Ich hatte nur einmal mehr oder weniger zufällig von ihm erfahren, dass er erst, als er so alt gewesen war wie ich, nach Deutschland zurückgekehrt war. Jedenfalls hegte ich eine große Bewunderung für ihn, denn er hatte mir erzählt, dass er nie zur Schule gegangen war; was er wusste, hatte er von seinem Vater gelernt oder von anderen Leuten, die ihm begegnet waren in seinem Leben, das mir ein größeres Rätsel schien als je zuvor, auch wenn ich aus meinem eigenen Leben ebenso wenig schlau wurde zu diesem Zeitpunkt. Junya war auch nicht sehr viel weltgewandter als ich. Er war, so erzählte er nach einer Weile, in Hannover geboren worden, im gleichen Jahr wie ich, aber im Februar, so dass er einen Monat älter war als ich - mein Geburtstag fiel auf den ersten März. Junya gratulierte mir nachträglich. Sakuya war, wie poetisch, am Neujahrstag geboren, in den frühen Abendstunden. Genug von Geburtstagen. Junya war in Hannover aufgewachsen und zur Schule gegangen, und erst jetzt, als er seine neue Medizin gekriegt hatte und sicher war, dass er sie sich weiterhin würde besorgen können, war er auf Güterzügen als Schwarzfahrer ausgerissen aus seinem Internat und in meine Stadt gekommen. Er wollte nicht darüber sprechen, und wir Brüder beließen es fürs Erste dabei. So gesehen war ich der Einzige, der eine ziemlich ereignislose Vergangenheit hatte. Ich erzählte Junya von meiner Patentante, von der katholischen Jungenschule, von meinen Kindermädchen früher, und davon, wie ich letztendlich auch auf der Straße gelandet war, und mein neuer Freund und Reisegefährte hörte stumm mit neugierigen dunklen Katzenaugen zu. Ich hätte ihm alles mögliche erzählt, wenn er mich dazu aufgefordert hätte, solange er mich nur weiterhin mit so für mich unverständlicher stummer Achtung ansah, aber nachdem ich zu der Nacht vor drei Monaten gelangt war, in der Saku wie ein Geist aus der Nacht erschienen war und sich praktisch mit Zähnen und Klauen auf den Typen gestürzt hatte, der mich zusammengeschlagen hatte und mich gerade hatte mitnehmen wollen, hörte ich erstmal auf. Manche Dinge wollte man nicht an einem milden Frühlingstag erzählen, wenn es so viel Schöneres zu bereden gäbe. Ich erinnere mich aber noch jetzt an das aufgebrachte Feuer in Sakuyas Blick, als er sich vor mich gestellt hatte. Ich hatte ja zu dem Zeitpunkt noch nicht gewusst, wer er war, aber in dem Regen und der Kälte und auf dem harten Asphalt, auf dem ich lag, sah die schwarze Gestalt vor mir aus wie ein wütender Engel. Ich habe nie wieder etwas erlebt, über das ich so inbrünstig sagen könnte: Das war wirklich noch mal ein Riesenglück, das ich da gehabt hatte. Von da an hatte Sakuya mich immer leidenschaftlich beschützt. Den Typen, der mich hatte mitnehmen wollen, habe ich nie wieder zu Gesicht bekommen. Wir gingen den Tag über auf der breiten Straße, die wir Sakus Plan nach gar nicht verlassen würden, solange uns nicht unglückliche Umstände dazu zwangen. Auf diesem Wege würden wir den Umständen entsprechend bequem und schnell vorankommen. Junya und ich teilten außerdem die heimliche Hoffnung, dass uns jemand als Anhalter ein Stück mitnehmen würde, aber das würde wahrscheinlich scheitern an Sakuyas Ausdauer und Hartnäckigkeit, und seiner und, wie wir uns eingestehen mussten, auch unserer - berechtigten - Skepsis fremden Leuten gegenüber. Unser Weg war eben, weil wir noch immer in Norddeutschland unterwegs waren und nur allmählich in hügeliges Gebiet kamen, und die Straße war in diesem Gebiet fast unbeschädigt. Sakuya wies uns aber darauf hin, dass wir spätestens am folgenden Tag auf eine kaputte Strecke kommen und ein Auge auf die vielen Schlaglöcher würden haben müssen. Das war für uns als Wanderer zwar nicht so dramatisch, aber wenn wir nicht mit einem Auge auf dem Asphalt blieben und unglücklich auftraten, konnten auch wir uns leicht ein Bein brechen bei den teilweise dreißig Zentimeter tiefen Löchern im Untergrund. Gegen Abend, als Sakuya gerade zu unserem Bedauern das Ende der Musik für heute verkündet hatte - es fiel ihm auch nicht leicht, aber er wollte die Batterien schonen, und wir lenkten uns gut mit ein bisschen Musik vom Laufen ab, das allmählich wirklich zu einer Last wurde, so schön der Weg auch ansonsten war; gerade mit Nirvana, die Junya glühend liebte - geschah dann doch noch etwas Unerwartetes. Auf dem Seitenstreifen stand ein alter und, ich muss gestehen, etwa dreißigtausendmal fast bis zur Unkenntlichkeit veränderter VW-Bus. Ich konnte erst keinen Besitzer entdecken, aber da Sakuya schon etwas langsamer ging, merkte man, dass ihm das Gefährt zumindest bekannt vorkommen musste. Es schien keine Gefahr davon auszugehen, obwohl es ein selten komischer Wagen war; mit einer Art Blaulicht auf dem Dach, das aber ausgeschaltet war, und einem gewagten mehrfarbigen Tribal, das sich über die gesamte orangefarbene Seite zog, die wir von der Straße aus erkennen konnten. “Was ist das denn für ein Ding?”, murmelte Junya, der offenbar ebenso irritiert war wie ich, dass da jemand seinen ganzen Übermut an seinem Auto ausgelassen hatte. “Wenn er es nicht verkauft hat, was ich nicht vermute, ist das das Auto eines Bekannten von mir”, erwiderte Saku mit hochgezogener Augenbraue. “Freund oder Feind?” “Beides. Kommt immer darauf an.” „Worauf?“ Ich fand nicht, dass das eine sympathische Einstellung war. Obwohl man damit sicher weit kommen konnte, wenn man gerissen genug war. Sakuya antwortete auf meine Frage: “Geld.” Als wäre das Wort ‘Geld’ ein Lockruf gewesen, trat ein Mensch hinter dem Wagen hervor. Sein Alter war sehr schwer zu schätzen; er war einer von den Leuten, die entweder wirklich Anfang zwanzig waren, oder nur so wirkten. Er war ein schlaksiger Typ von der Sorte, die zu ihrer Verteidigung eine ganze Serie gemeiner Tricks entwickelt haben, falls sie doch mal in die Ecke getrieben wurden; ich kannte solche aus meinen ersten Wochen alleine in der Stadt. Seine strähnigen Haare waren orange, aber ob mit Absicht oder verfärbt, konnte ich nicht sagen. Er trug weite Hosen mit vielen Taschen und ein verwaschenes olivgrünes T-Shirt und ein schwarzweißes Schweißband am linken Arm. Er wirkte soweit ganz fröhlich, und er sah auch hinter seinem Augenfunkeln ganz ansehnlich aus, ein bisschen zu verschlagen vielleicht; mit einer spitzen Nase und dunklen Augen. Es gab Leute, denen sah man gleich an, dass sie sich selbst der Nächste waren, und Saku hatte Recht: Solange man die gleichen Interessen vertrat wie er, kam man vermutlich prächtig mit ihm aus. Mit Sakuya jedenfalls schien er auf gutem Fuß zu stehen. Er kam hinter seinem Wagen hervor auf meinen Bruder zu, der stehen blieb und ihm verwundert entgegenrief: “Nigel! Was machst du hier? Ich hätte dich weiter im Süden vermutet.” Der winkte ab. “Geschäfte, Schatz... Das Übliche. Bist du auf dem Rückweg? Gehst du endlich zurück? Weißt du, dass ich mich lange gefragt habe, wo du abgeblieben bist? Von deinen Leuten hat natürlich keiner mit der Sprache rausrücken wollen...” “Natürlich nicht; sie wussten es nicht”, sagte Saku kühl. “Du verdammte Ratte; du sollst nicht zu uns nach Hause kommen.” “Ach Gottchen”, sagte Nigel spöttisch. “Reg dich ab, ich hab Ilja und deinen Freund Fuchs in der Stadt getroffen; ganz legal. Auch wenn du es mir nicht glaubst. Dann lass es halt bleiben. Kann ich dir mit irgendwas dienen? Meine Nase trügt mich nicht; ich dachte ich hätte einen wichtigen Kunden verloren, aber jetzt findest du dich auch wieder an. Na komm, wenn du unterwegs bist, wirst du doch nicht unbewaffnet reisen wollen! Ich habe einige Sachen, die dich interessieren könnten, Wolf!” Ich zuckte zusammen. “Wolf?” Nigel spähte an Sakuya vorbei und tat, als hätte er uns zwei jetzt erst bemerkt. Ich mochte es nicht, wie er mich ansah. “Hey, Wolf, mein Freund, wer ist denn der Kleine? Der ist ja süß. Wusste gar nicht, dass du jetzt auf Kinder stehst.” Saku trat vor Nigel, so dass er mich nicht mehr sehen konnte. “Nigel, ich sag’s dir gleich: Wenn du meinen Bruder auch nur ansiehst, bring ich dich um.” Er hatte sehr scharf gesprochen, und ich empfand unwillkürlich ein bisschen Respekt für den Händler, dass er direkt vor Sakuya stehen blieb und sogar noch fähig war, dessen Blick zu erwidern. Das hätte ich ehrlich gesagt nicht von ihm erwartet. “Dein Bruder, wie? Hattest du vorher auch schon einen Bruder?” “Ich habe schon seit Jahren einen Bruder; oder denkst du, ich hätte ihn gestern erst ausgebrütet?” Nigel strahlte. “Oh, der war gut, der war gut...” Er trat einen Schritt zu Seite. “Verkaufst du mir den?” Ich war mir nicht sicher, ob das ein Witz gewesen sein sollte. Sakuya packte Nigel am Kragen und drückte ihn gegen seinen Wagen. “Du Bastard; ich sage es nicht nochmal: Wage es nicht, ihn anzurühren!” Ich war unwillkürlich ein bisschen näher zu Junya getreten. Nigel wusste, wann er den Bogen überspannt hatte. “Ist ja gut, war doch nur ein Scherz.” Er entwand sich Sakus Griff und lehnte sich gemütlich an seinen alten Bus. “Und der andere? Wer ist das? Gleich zwei? Wie gierig. Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings auch noch pädophil bist... Ich dachte, du stehst mehr auf feminine Männer...” Sakuya trat wieder einen Schritt zurück und bedachte Nigel mit der Art von Blick, den man wohl für ein ekliges Tier haben mochte. “Erstens: Woher willst gerade du jetzt Experte sein, zweitens: Das geht dich verdammt noch mal gar nichts an, und drittens: Falls du es unbedingt wissen willst, sie stehen beide gleichermaßen unter meinem Schutz, und du hältst jetzt besser die Klappe, wenn du weißt, was besser ist für dich. Ich bin sehr geduldig mit dir, aber bei meinem Bruder verstehe ich keinen Spaß mehr, und du kennst mich. Also mach dein Angebot und dann kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten.” Junya neben mir erzitterte leicht. Ich stupste ihn an und raunte ihm zu: “Natürlich passt er auch auf dich auf, was dachtest du denn?” “Ja...”, hauchte er. Er schob sich ein bisschen näher an mich, und ich ließ ihn gewähren. Nigel, ein Geschäft witternd, drehte sich zu seinem Wagen um und öffnete die Tür. Er beugte sich hinein und schien etwas zu suchen. Nach einer Weile kroch er wieder hervor mit etwas, was von mir mit einem Anflug von Unwohlsein als eine Art Maschinengewehr erkannt wurde. Saku warf kaum einen Blick darauf. “Vergiss es, Nigel.” “Was?” Der sah sich die Waffe von allen Seiten an. “Ich dachte, du kannst mit so was umgehen?” “Ich sagte, vergiss es!” “Oh, hab ich was Falsches gesagt?” “Hör mal, das Ding fällt ja auseinander, wenn du abdrückst! Ich habe keine Zeit, das ganze Theater durchzuspielen, also zeig mir entweder gleich was Vernünftiges, oder wir gehen gleich wieder. Ich bin nicht auf dich angewiesen, und das weißt du auch. Und versuch bloß nicht, mir Schrott zu verkaufen, ich warne dich.” Ich fühlte mich ein bisschen unwohl, jetzt noch mehr durch die schweren Waffen, und ich wollte gar nicht so genau wissen, wie gut Sakuya eigentlich damit umgehen konnte. Mir wäre es lieber, er würde es sein lassen. Auch, wenn wir dann nur ein paar Messer zur Verteidigung hätten, aber ich mochte keine Feuerwaffen, und ich sah Sakuya nicht gerne damit. Nigel griff unter gemurmelten Protesten noch mal in den Wagen, und nach einer Weile Diskussion mit meinem Bruder holte er irgendeine kleine Handfeuerwaffe hervor - ich habe keine Ahnung von Waffen, wirklich nicht - mit der Saku zufrieden schien, bis auf eine Sache: “Da fehlt das Magazin, Nigel.” “Oh, so was”, brummte der missmutig. “Ja komm, hier ist es. Gib mir fünfzig Euro, und wir sind quitt.” “Fünfzig!” Saku lachte. “Du spinnst wohl.” “Was denn? Ich muss auch von was leben.” “Aber nicht von meinem Geld, wenn ich nichts Anständiges dafür kriege.” Letztendlich schafften sie es, sich zu einigen; Sakuya bekam die Waffe samt Magazin und eine CD darauf im Tausch gegen seine alte Waffe und dreißig Euro. Auch wenn sich Saku, als er uns wieder aufgesammelt hatte und wir außer Sichtweite des bunten VW waren, aufregte: “Der Kerl ist so eine linke Ratte; würde ich ihn nicht brauchen, hätte ich ihm schon vor Jahren was angetan... Ach, verdammt... Es gibt Leute, auf die kommt man einfach immer wieder zurück. Man wird ihn auch nicht los; er ist überall! Tut mir Leid. Das war nicht gerade eine angenehme Zeitverschwendung.” “Macht nichts”, tröstete ich ihn. “Aber, Saku, glaubst du, du wirst die Waffe brauchen?” Ich warf einen misstrauischen Blick auf die Waffe an Sakus Gürtel. Er lächelte mir verständnisvoll zu. “Du magst sie nicht, oder? Das verstehe ich gut. Ich hoffe nicht, dass ich sie brauchen werde, aber ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich sie dabei habe.” “Du hast doch die Messer.” “Ich hätte es lieber, wenn ich Angreifer gar nicht erst so nahe an mich herankommen lassen müsste.” Es war zwar fast schon normal, dass beinah jeder eine Waffe besaß, aber ich mochte sie dennoch nicht. Und zu Saku ohne Waffe hatte ich nicht weniger Vertrauen als zu Saku mit Waffe. Aber ich vergaß sie bald, und sie wurde zu einem bloßen weiteren Gepäckstück. Seltsam, wie schnell man sich daran gewöhnen konnte. Und ich konnte Saku auch verstehen. Das Leben war nun mal nicht ungefährlich. Leider. Dafür entdeckte Sakuya bald, dass die CD, die er erworben hatte seine Erwartungen noch übertraf, und auch Junya und ich fanden sie gar nicht so übel, bis auf einige Titel. Aber viele Lieder waren wunderschön, und wir hörten sie einmal komplett, als der Abend dämmerte, und die Straße leer vor uns lag wie ein dunkler Fluss, und dann noch einmal, nachdem wir uns außer Sichtweite derselben ein Lager aus unseren Decken gemacht und zu Abend gegessen hatten. Sakuya schwelgte verzückt in den Klängen, und Junya und ich lauschten entspannt, während die Anspannung des Tages langsam aus unseren Beinen wich. Ich weiß nicht, wie oft ich bis dahin schon Dir en grey hatte hören müssen. Irgendwann fiel mir auf, dass Sakuya tonlos den Text mitsprach, von dem ich selber nicht ein einziges Wort verstand, und ich nutzte die Gelegenheit, ihm eine Frage zu stellen. „Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?“ Darüber musste er kurz nachdenken. „Oh....sieben müssten es sein, aber manche davon nur ein bisschen.“ Ich ächzte. „Was??“ “Wenn du willst, kann ich dir welche beibringen.” Mich schauderte. “Nein, danke. Mir reichen zwei Fremdsprachen.” „Welche denn?“, wollte Junya schüchtern von meinem Bruder wissen. Saku zählte auf. „Nun, Deutsch natürlich; Japanisch, Russisch, Englisch, Französisch, ein bisschen Finnisch, und ein paar Brocken Spanisch.“ Ich schaute. Junya schaute. “Schon gut”, sagte ich dann matt. “So genau wollte ich es wirklich nicht wissen.” Saku war verlegen. “ Ich bin nicht zur Schule gegangen; ich hatte eine Menge Platz in meinem Kopf... Mathematik, Biologie und so, das alles habe ich nie gelernt.“ Wir schwiegen eine Weile, und in der jungen Nacht stellte Sakuya die Musik wieder lauter. Ich dachte noch darüber nach, als wir uns später zum Schlafen hingelegt hatten. Sakuya hatte Junya zuliebe noch seinen CD-Player laufen, und wir hörten Nirvanas Nevermind. Ich hatte so betrachtet in nur zwei Tagen eine ganze Menge über Sakuya erfahren. Eine Menge, die ich vorher nicht vermutet hätte; aber es fügte sich alles so sehr ins Bild ein, dass ich es vielmehr begrüßte als mit Verwunderung betrachtete. Es stimmte; ich hatte Saku wirklich nicht von mir aus über seine Vergangenheit, unsere Familie, seine Freunde oder gar sein Liebesleben, das, so empfand ich, mich nichts anging, gefragt. Das lag unter anderem daran, dass, wie ich schnell bemerkt hatte, viele Sachen ihn aufwühlten, und andere ihn vielleicht verletzten, und ich wusste zu wenig über ihn, um beurteilen zu können, wo das Eis dünn war. Dennoch: Je näher wir seiner ehemaligen Heimat kamen, desto mehr öffnete er sich; nicht nur mir gegenüber, sondern ganz allgemein. Ich konnte es nicht anders ausdrücken: Saku blühte etwas auf; sein Schnee schmolz ein wenig, und er ließ die Sonne an sich heran. Ich hoffte sehr, dass seine Freunde ihm nichts übelnahmen, wie er es ja anscheinend befürchtete. Er wäre am Boden zerstört. Es war mir schon klar, dass er jetzt nur langsam seine vom Sturm zerzausten Federn in der Sonne trocknen ließ, weil er die Hoffnung hatte, seine Sehnsucht endlich befriedigen zu können - wieder nach Hause zu kommen. Ich machte mir nicht die Illusion, dass ich ein Ersatz sein konnte. Wir kannten uns trotz allem noch viel zu wenig. Wir verstanden einander, weil wir uns sehr ähnlich waren, in vielerlei Hinsicht; aber wir wussten praktisch nichts voneinander. Und Sakuyas plötzliche Offenbarungen hatten sicher auch damit zu tun, dass er auf dem Heimweg war, zu dem Ort, an dem sein Herz die ganze Zeit über geblieben war. Die CD klang aus, und mir fiel noch etwas ein. “Sakuya?”, fragte ich vorsichtig; aus Angst, ich könnte ihn wecken. “Was ist denn?” “Oh... Ich habe mich nur gefragt, warum Nigel dich immer Wolf genannt hat.” “Ach so.” Saku schwieg kurz. “Das ist einfach der Name, unter dem ich allgemein bekannt bin.” “Wieso?” “Ich weiß nicht. Es hat sich einfach so festgelegt. Schon seit ich jung war; zwölf oder so. Kam einfach so.” Er machte noch eine nachdenkliche Pause. “Ich glaube, viele Leute außerhalb meiner kleinen WG kennen meinen richtigen Namen gar nicht.” “Dann fühle ich mich geehrt”, kam es schläfrig von Junya. Saku lachte leise. “Kein Problem. Du gehörst ja zum Rudel.” Er verfiel in Schweigen, und war bald eingeschlafen. Ich lag noch wach und starrte in den Himmel. Die Sterne standen über mir, und diesmal gab es keine Mauern, die zu beiden Seiten das Blickfeld begrenzten. Die Sterne funkelten. “Jamie”, flüsterte plötzlich der Blonde neben mir, und ich hörte, wie er sich zu mir drehte. “Hm?” Er war eine Weile still. “Danke”, sagte er dann schlicht. Ich wusste erst nicht, was er meinte; und als ich es dann begriff, wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es wäre mir alles wie eine hohle Phrase vorgekommen. Also sagte ich gar nichts. Ich merkte, wie er mich vorsichtig an der Hand berührte, und dann zurückzuckte wie elektrisiert, und ich streckte die Finger aus und schloss meine Hand um seine und hielt sie fest. Ich hörte Junya sacht seufzen. Ich dachte mir, dass ich noch nie so einen wundervollen Sternenhimmel gesehen hatte. Ich hätte in dieser Nacht eigentlich durchschlafen sollen, erschöpft, wie ich war, und das wäre auch besser gewesen im Hinblick auf die folgenden Tage; aber ich konnte nicht. Ich schlief unruhig. Irgendwann um Mitternacht oder so - ich schätzte das nach dem Stand des Mondes - wachte ich auf, ohne ersichtlichen Grund. Ich konnte mich vage daran erinnern, irgendetwas sehr Sonderbares geträumt zu haben, aber der Gedanke entglitt mir, kaum dass ich ihn zu fassen versuchte. Junyas Hand lag noch immer warm und schwer in meiner, und als ich den Kopf drehte, sah ich ihn schlafen, mit dem ernsten Gesichtsausdruck, der ihm so zu Eigen war. Dann hörte ich hinter mir ein leises Geräusch, wie ein Flüstern. Ich wandte mich vorsichtig um, um niemanden zu stören, sah aber bald, dass das in Sakuyas Fall gar nicht notwendig gewesen wäre, denn er trug Kopfhörer und flüsterte leise mit geschlossenen Augen einen japanischen Songtext vor sich hin. Ich wollte mich schon wieder umdrehen und weiterschlafen, als ich merkte, dass Sakuya wohl doch etwas sehr in Aufruhr versetzte, und dass unsere Reise und vor allem deren Ziel ihn doch tiefer berührten, als er uns eingestehen wollte. Er weinte. Unter seinen langen Wimpern liefen schimmernde Tränen hervor. Ich hätte ihn gerne getröstet, hätte ich nicht gewusst, dass er das nicht gewollt hätte. Vielleicht tat es ihm ganz gut, alles in der Musik rauszulassen. Um Mitternacht, wenn niemand seine Tränen sah. Seine Lippen bewegten sich flüsternd zu dem Lied. Ich glaube nicht, dass er bemerkt hatte, dass ich ihn beobachtete, wie er weinend unter dem Mond lag. Ich erwachte am nächsten Morgen auch durch Sakuyas Musik. Er hatte wieder Kaffee gekocht, und obwohl ich verstohlen sein Gesicht musterte, deutete so wenig auf seine Emotionen in der vergangenen Nacht hin, in der er wohl kaum geschlafen hatte, dass ich es für einen Traum gehalten hätte, könnte ich mich nicht so deutlich an den fremdartigen Text erinnern. “Es ist komisch”, sagte Saku gedämpft, während er die Tassen wieder verstaute, und deutete vage auf das Gerät. “Ihnen zuzuhören, und gleichzeitig zu wissen, dass er vielleicht schon lange tot ist. Aber man ist sich nicht sicher. Es ist nicht wie bei Kurt Cobain. Man fragt sich unwillkürlich, ob er den Krieg erlebt hat, ob er gekämpft hat, was aus seinen Liedern geworden ist. Ob er sie noch manchmal singt. Für sich. Ob er noch genauso empfindet. Ob er irgendetwas bereut. Ob er in Frieden lebt. Ich konnte ein paar Tage lang nicht mehr ruhig mein Lieblingsalbum hören, als mir der Gedanke das erste Mal gekommen ist, dass die Band vielleicht im Krieg ihr Leben gelassen hat. Verrückt.” Er zuckte gedankenverloren die Schultern. “Ich hätte auch gerne Musik gemacht. Ich hätte gerne gesungen. Für alle, die mich hören. Jetzt kann ich nur noch für mich und meine Familie singen.” Ich schwieg eine Weile. “Warum hast du nicht gesungen, wenn du es wolltest?” Saku war eine Weile still und stand auf, rückte seinen Rucksack zurecht. Es schien erst so, als wolle er gar nicht antworten. Als er es doch tat, klang er verkrampft. “Weil es schwer ist, zu singen, wenn du weißt, dass du vielleicht am nächsten Morgen sterben musst.” Er schwieg wieder kurz und starrte in den Sonnenaufgang. “Ich habe gesungen. Leise. Schlaflieder. Trostlieder. Die ich als kleines Kind gelernt hatte, bevor unser Vater starb. Auf Japanisch, damit kein Fremder sie verstehen konnte. Ich hatte Angst, man könne mir die Lieder wegnehmen und sie zu etwas Schlechtem machen. Ich singe noch immer nicht vor Fremden.” Er riss sich zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. “Ich bin froh, dass du hier aufgewachsen bist.” Er erklärte sich nicht weiter. Im Gegenteil hatte er es ziemlich eilig, wieder auf die Straße zu kommen. “Kommt”, rief er uns über die Schulter zu; die Traurigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. “Wir müssen weiter. Wir haben einen weiten Weg vor uns.” “Ja, das denke ich auch”, flüsterte ich. Junya schenkte mir einen Blick aus fragenden dunklen Augen, den ich nur traurig erwidern konnte. Manchmal tat mir Saku so Leid. Junya wusste das. Ich sah es ihm an. Es war, als könne er meine Gedanken hören. Ich hoffte, dass er nicht alle von ihnen hören konnte. Ich hoffte, dass er mein Schauern nicht wahrnahm, wenn er lächelte. Wir gingen weiter nach Süden; die Sonne folgte uns. Die Wälder traten manchmal zu beiden Seiten der Straße zurück, und auch wenn wir dadurch an Deckung verloren, war es doch, als gingen wir durch den Himmel, wenn die Welt zu Seiten der breiten, leeren Straße absank und die leuchtenden Farben des Sonnenaufgangs uns Flügel malten, und die Strommaste über der Straße sangen von einer neuen Welt vor dem Hintergrund der pastellfarbenen Wolken und der Raben, die mit kraftvollen Flügelschlägen über den frischen Himmel zogen. Wir neigten die Gesichter dem Licht zu auf unserem Weg, wir flogen mit dem Wind über der Welt. Der Himmel roch nach einem neuen Anfang. Eine ganze Weile gingen wir auch, ohne uns zu unterhalten. Weil mir irgendwann die Beine wehtaten, und selbst die gehgewohnten Chucks ihren Protest bekundeten, knüpfte ich an eines meiner Lieblingsthemen an, das eine neue Sparte entdeckt zu haben glaubte: “Saku, Sakuya...” Ich holte zu ihm auf. Mein Bruder schritt uns mit ungeminderter Ausdauer voran, brütend auf seinen düsteren Gedanken. Junya hielt mit mir mit, und gesellte sich erwartungsvoll an meine Seite. “Kennst du auch japanische Gedichte?” Mein Freund sah meinem Bruder gespannt ins Gesicht. Jener schüttelte aber nur bekümmert den Kopf. “Nein, kenne ich nicht. Kein einziges. Traurig, oder?” Er überlegte kurz. “Aber ich kenne einige deutsche Übersetzungen von japanischen Gedichten; soviel konnte ich auftreiben. Reicht dir das aus für den Anfang?” Ich nickte fröhlich und entlockte Saku damit endlich ein warmes Lächeln. Ich hätte sie mir ja sowieso von ihm übersetzen lassen müssen. “Hm...” Man sah förmlich, wie er in seinem Kopf eine Schublade öffnete und den Staub von einigen besonders schönen Exemplaren pustete, bis er sich für eines entschied. “Ins stille Bergdorf zur Frühlingsabendstunde war ich eingekehrt. Die Untergangsglocke schlug, und es fielen die Blüten. Von Nôin Hôshi.” Ich seufzte. “Schön”, sagte Junya leise. “Das Bild im Kopf dazu, meine ich.” „Warst du je in Japan?“ Junya schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen, hier in Deutschland. Ich verstehe nichtmal die Sprache, nur ganz wenig.“ “Ich würde sie zu gerne einmal sehen”, murmelte Sakuya. “Nur einmal.” “Wen?” “Wen? Die Kirschblüte. Komisch, oder? Ich bin nie in Japan gewesen; ich bin mehr deutsch als japanisch, aber ich wünsche mir so sehr, einmal dahinzukommen, um sie zu sehen. Um alles zu sehen, wovon ich gehört habe. Ich weiß nicht, was ich mir davon zu verstehen erhoffe. Wahrscheinlich werde ich gar nichts verstehen, und stehe hinterher da, ich armer Tor, und bin so schlau als wie zuvor.” Er grinste trocken. Angeber, aber echt. Ich hatte Faust tödlich gefunden. Und ich wusste, dass Saku Goethe eigentlich gar nicht leiden konnte. Er fand ihn langweilig. Er liebte Klopstock. “Aber du hast dann immerhin die fallenden Blüten gesehen”, warf ich auf seine Bemerkung hin ein. Sakuya lächelte jetzt. “Ja, das stimmt.” “Was ist mit dir, Junya?”, fragte ich. “Gibt es irgendwas, was du schon immer tun wolltest?” Der Junge musste erst eine Weile über die überraschende Frage nachdenken - es gab sicher vieles, was er schon immer hatte tun wollen. Bei wem nicht? “Ehrlich gesagt”, meinte er dann, den Horizont beobachtend, “wollte ich immer nur weg. Weg und...ich weiß nicht. Von vorne anfangen. Etwas Schöneres erfahren. Leben vielleicht.” “Jamie”, sagte Sakuya leise. “Und du?” Ich überlegte kurz. Es gab vieles; so vieles. So viel, was ich nie gesehen oder getan hatte. Aber ich war noch so jung, und die Welt vor mir war gerade erst geboren. “Im Moment”, sagte ich, “will ich nur eine Familie haben. Dann von den Sternen träumen. Und dann danach greifen, sobald ich festen Stand habe und jemanden, der mich fängt, wenn ich doch falle. Ich will nur nicht alleine fliegen müssen.” Ich lachte verlegen. “Schwachsinn. Dichter müsste man sein.” Es war mir ein bisschen peinlich. Ich hatte nur zu beschreiben versucht, was mir gerade in den Sinn gekommen war, und es war so verworren. Im Grunde wollte ich meine Zukunft erst einmal kennenlernen, ehe ich etwas von ihr erbat. Sakuya strich mir über die Schulter. “Ich weiß, was du meinst. Mach dir keine Sorgen. Wenn du fliegst, kann ich es vielleicht auch. Sakura gibt es nicht nur im Osten. Eine Blüte ist, der du nicht an der Farbe anmerkst, wie sie welkt: die, die im Herzen aufging den Menschen auf dieser Welt.” “Das war schön.” “Das war Ono Komachi.” “Wieso kannst du dir das alles so gut merken?”, wollte Junya wissen. Mein Bruder hob die Schultern, aber man sah, dass er sich geschmeichelt fühlte. “Keine Ahnung, das konnte ich schon als Kind. Aber ich bin dankbar dafür. Ein Gedicht ist manchmal viel wert. In die Nacht gestreut, wenn alle anderen Blüten sich geschlossen haben.” “Auch ein Gedicht?” “Ach was. Das ist von mir.” Als wir an diesem Abend anhielten, war ich schon bedeutend erschöpfter als am Vorabend. Ich sank nur auf dem feuchten Moos zusammen, noch ehe Saku mir eine Decke geben konnte, und Junya ließ sich ebenso ausgelaugt neben mich plumpsen. “Alles klar, Jungs?”, fragte Saku, doch ein bisschen besorgt. “Kommt ihr morgen noch mit?” Ich winkte ab. “Ach, bestimmt.” “Wenn wir wieder Kurt Cobain hören können?”, fragte Junya hoffnungsvoll. Sakuya nickte großzügig. Er lächelte; er wirkte glücklich, als er sich zu uns setzte. “Ihr habt gut mitgehalten; wirklich. Morgen überlasse ich euch die Musikwahl. Versprochen.” “Schön”, murmelte ich und ließ mich nach hinten fallen. Über mir erglühten die letzten Bruchstücke des Sonnenunterganges. “Sehr schön.” Ich glaube nicht, dass ich jemals so gut gelegen hatte wie auf dieser Stelle, irgendwo in der nördlichen Hälfte Deutschlands, auf dem Moos, und vor allem unter dem freien Himmel. Wenn ich meine schweren Beine ignorierte und die Arme zu beiden Seiten ausstreckte, konnte ich mir vorstellen, ich fiele in den Himmel und flöge dem Sonnenuntergang hinterher. Ich trug meine beiden Gefährten auf meinen Flügeln bis ins Paradies. Unser Paradies. Ich wusste jetzt, was ich wollte. Was jeder von uns wollte. Ich wollte mein Paradies finden. Konnte das denn so schwer sein? Als wir das Feuer unter dem Gaskocher gelöscht hatten und zu dritt auf dem Boden lagen, dessen erdige Kühle unsere Körper betastete, musste ich wieder an Sakuya denken, der so gerne ein Gedicht aus dem Land kennen würde, das für ihn wortwörtlich sein Vaterland war, auch wenn er es nie gesehen hatte. Im Gegensatz zu mir fühlte er sich teilweise als Japaner, weil er unter japanischem Einfluss erzogen worden war, und er war traurig, dass er es nicht sein konnte, sondern wurzellos war. Wo er doch allein die Sprache so mochte. “Du, Sakuya”, fragte ich ihn und stieß ihn träge mit dem Ellbogen an. Junya wandte links von mir müde den Kopf und stütze ihn auf den Oberarm, um das Geschehen verfolgen zu können. “Sag doch mal was Schönes auf Japanisch. Ich hab dich noch nie von dir aus Japanisch sprechen hören.” Mein Bruder lachte verblüfft; seine regengrauen Augen weiteten sich erstaunt in der Dunkelheit. “Was soll ich denn sagen?” “Weiß nicht. Denk dir was aus. Irgendwas. Was dir gerade einfällt. Es klingt so schön.” Sakuya seufzte leise lachend. “Oh, Jem...” Dann überlegte er kurz. Er sprach nicht oft Japanisch, aber wenn er es tat, dann tat er es mit solcher Liebe zu der Sprache, dass jedes Wort wie ein Lied klang. “Saa...boku wa...kimi ga daisuki desu.” Er beugte sich vor und drückte mir einen kleinen Kuss auf die Wange. “Jem...” Er lachte. “Ich hab dich sehr lieb.” “Oh...” Ich errötete. Ich kam nicht gut mit Liebesbezeugungen jedweder Art zurecht. “Danke.” Ich sah von Sakuya, der die Augen geschlossen hatte, zu Junya, der das Gesicht am Arm vergraben hatte und mich groß ansah unter seinen langen Wimpern hervor. Ich musste unwillkürlich lächeln. “Schön. Das wollte ich hören.“ Ich schlief schnell ein in dieser Nacht, schreckte aber mehrmals unruhig wieder auf, weil die Restkälte des Bodens durch unsere Decken kroch. Sakuya schien es nichts auszumachen, aber ich lag benebelt in der Dunkelheit und wickelte mich enger ein, um wieder schlafen zu können. Aber als ich gerade wieder die Augen schließen wollte, sah ich, dass es Junya nicht viel besser ging als mir. Er lag verpuppt wie eine Raupe da und zitterte leise vor sich hin. Ich bekam plötzlich Angst um den Jungen - was, wenn die Kälte seinem schwachen Herzen schadete? “Hey”, flüsterte ich, um meinen Bruder nicht zu wecken, der im Schlaf wenigstens noch meinen Rücken warmhielt. “Junya. Hey.” Er öffnete die Augen einen Spalt breit und blinzelte müde. “Hm? Was?” Seine nachtschwarzen Augen funkelten verschlafen aus ihren Schlitzen. “Willst du meine Decke haben? Du holst dir was weg.” Ich war nicht gewillt, meinen Platz neben meinem warmen Bruder kampflos aufzugeben, aber ich rutschte ein Stück zur Seite, damit Junya noch unter meiner Decke Platz hatte. Und mein Gott; warum auch nicht? Es war kalt; und weder wollte ich ihm damit was signalisieren, noch störte es mich, eine Decke zu teilen! Junya kannte mich jetzt gut genug, um zumindest das zu wissen. Paradoxerweise hätte er sonst wohl auch nicht nach einigem scheuen Zögern meinem Vorschlag entsprochen. Er vermied es, mir ins Gesicht zu sehen, aber er schob sich neben mich, und es wurde gleich viel wärmer, nachdem ich erstmal beide Decken über uns gebreitet liegen hatte. “Du bist warm”, murmelte er zitternd. “Ich liege ja auch zwischen euch beiden. Willst du in die Mitte?” “Nein. Ich möchte hier bleiben.” “Hm...” Ich war kurz um Worte verlegen. Dann legte ich den rechten Arm um seine Schulter, dessen Gesicht an meiner Brust ruhte. “Na gut. Wie du willst.” Ich überlegte kurz und fügte dann etwas hilflos ein “Schlaf gut” hinzu. Was sagte man schon vernünftigerweise in solch einer Situation? Jedenfalls nichts, was mich in der richtigen Richtung weitergebracht hätte. Da mir die perfekten Worte fehlten, die jemand in irgendeiner Geschichte sicher gewusst und angemessen romantisch vorgetragen hätte, was ich wiederum unpassend fand, hielt ich ‘Schlaf gut’ für mehr als angebracht. Ich war sowieso zu erschöpft, um noch anders als mit Schlaf zu reagieren. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Junya noch immer in meinem Arm. Er hatte das Gesicht an meiner Brust vergraben und schlief tief und fest. Ich betrachtete ihn eine Weile, sein schlafendes Gesicht, wie eine geschlossene Blüte, und fühlte die Wärme, die von seinem weichen Körper ausging. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, ich könnte ihn wecken. Ich konnte seinen Herzschlag spüren. Als ich den Blick nach oben wandte, sah ich Sakuya einige Meter entfernt im Schneidersitz sitzen, das Gesicht mit geschlossenen Augen der Morgensonne zugewandt, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. Ich hielt Sakus Sinn für Humor seit jeher für eher irritierend. Das Schlimme war einfach, dass er alles von dem, was er sagte, ernst meinte, aber einiges war einfach ernsthaft als Neckerei gemeint. Als wir an diesem Vormittag wieder auf der Straße waren - die in einem fürchterlichen Zustand war; man musste sich zwischen verschieden großen Schlaglöchern hindurchschlängeln - taten mir der Nacken und der Rücken weh; ich war total verkrampft vom Liegen auf dem harten Untergrund, ohne mich umgedreht zu haben, weil ich Junya im Arm gehalten hatte. Aber wir hatten unsere ursprüngliche Frische wiedergefunden, um diesen letzten Reisetag zu bewältigen. Ich war furchtbar aufgeregt auf mein - hoffentlich - neues Zuhause. Ich hatte schon immer mal in einer WG leben wollen. Ich wollte nicht daran denken, dass sie uns nicht haben wollen könnten. Und die Luft roch noch immer nach Teen Spirit. Ich dachte gerade darüber nach, dass Junya und ich seit zwei Tagen zuvor doch etwas an Tempo eingebüßt hatten, während ich beobachtete, wie der rissige Asphalt unter meinen Schuhen vorüberzog, als mein Bruder, der uns schon eine Weile im Auge gehabt hatte, beiläufig einwarf: “Ihr zwei saht süß aus heute Nacht.” Ich spürte, wie mir heiß wurde im Gesicht, und als ich verstohlen den Blick zu dem süßen Junya wandte, sah ich, dass die Frühlingssonne ihn doch auch schon ziemlich erhitzt zu haben schien. “Mir war kalt”, flüsterte er mit zu Boden geschlagenen Augen. Er zwinkerte ein bisschen, unschlüssig, ob er sich bedanken oder auf dem Boden zusammenkugeln sollte. “Ja”, warf ich etwas dümmlich ein, um seine Aussage zu bestätigen. “War ihm.” Ich schaute zu Sakuya und sah, dass er sich diebisch freute. Es gab eine Sache, die mich an ihm immer wieder aufregte, und das war seine Schwäche für unerwartete Handlungen, quasi aus dem Hinterhalt, so dass man völlig unvorbereitet war. Ob es nun Berührungen waren oder Worte, machte wenig Unterschied. Trotzdem versuchte ich, es als Kompliment aufzufassen. So war es schließlich auch gemeint gewesen. Das einfachste wäre gewesen, gelassen ‘Danke’ zu sagen, aber so was konnte ich nicht. Jedenfalls nicht unvorbereitet. Deswegen ärgerte mich das auch immer wieder so. Anscheinend war Sakuya ein wenig gelangweilt von Junyas Freund Kurt auf Dauerschleife. Tja, ich jedenfalls mochte ihn. Überdies hatte ich seit einer Weile schon das Gefühl, von Sakuya besonders wachsam beobachtet zu werden, was mich aber nicht störte, jedenfalls nicht, solange es sich in seinem erträglichen Rahmen hielt - es war nämlich weniger eine dieser mütterlich-besorgten Beobachtungen, die über kurz oder lang in unangenehmen Gesprächen enden, wie ich mir habe sagen lassen, sondern eher um eine Wache über meinen Weg, damit er mich am Arm zurückhalten konnte, sollte ich einen Schritt falsch setzen. Das Sakuya das für mich entscheiden konnte, daran zweifelte ich nicht. Schließlich kannte er sich im Gegensatz zu mir viel besser aus. Auch, was Beziehungsfragen anging. Nicht, dass ich eine Beziehung führen wollte. Aber trotzdem kannte er sich aus. Er wusste schon Rat. Immerhin konnte er bereits auf einige zwischenmenschliche Beziehungen mehr zurückblicken als ich. Oder? Ich dachte mir, dass die Gelegenheit gekommen wäre, eine der Fragen zu stellen, die mir seit einigen Tagen immer wieder in den Kopf kam, seit ich über so etwas intensiver nachdachte. Ich fasste Sakuya im Gehen am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. “Sag mal, darf ich dich was Persönliches fragen?”, erkundigte ich mich. Saku runzelte die Stirn, willigte aber nach einer kurzen Weile ein. “Aber erwarte nicht, dass ich auch antworte.” “Ja, gut...äh...” Ich zögerte kurz. Ich kam mir ein bisschen blöd vor, ihn das zu fragen. Andererseits...warum nicht? “Hattest du schon mal eine feste Beziehung?” So, jetzt war es raus. Jetzt war ich auf die Antwort gespannt. Ich merkte, dass Junya nicht mehr Nirvana zuhörte. Mein Bruder merkte es auch und schaltete mit einem tadelnden Seufzen das Gerät aus, um Batterien zu sparen. Er strich sich über das rabenschwarze Haar und richtete seinen Blick kurz auf den Horizont, ehe er zu uns beiden sah. “Ja”, sagte er. “Eine erst.” Ich war doch neugierig. Die Neugier pikste mich in die Seite und flüsterte mir Dutzende Fragen ins Ohr. “Wie hieß...” Ich zögerte vorsichtig. Man konnte ja nie wissen. “Er? Antti.” Auf unseren irritierten Blick hin fuhr er erklärend fort: “Er stammte aus Finnland. Stammt er immer noch, nehme ich an.” “Warum...was ist passiert?” “Nichts. Er hat sich von mir getrennt. Letzten September.” “Wieso?” “Ich weiß es nicht. Das habe ich auch gefragt, natürlich. Er meinte nur, ich würde es hoffentlich bald verstehen.” “Tut mir Leid.” Saku hob betont beiläufig die Schultern. “Ich bin darüber hinweg.” Wir schwiegen kurz. “Und, hast du es verstanden, Sakuya?”, fragte Junya. Saku hob wiederum die Schultern. “Ein wenig vielleicht.” “Was...” “Ich möchte nicht darüber reden. Im Moment noch nicht”, unterbrach er mich. “Oh, okay.” Mir fiel etwas ein. “War das einer der Gründe, aus denen du gegangen bist?” Sakuya schüttelte vehement den Kopf. “Nein. Höchstens indirekt. Aber ich bin nicht Anttis wegen gegangen.” Wir waren wieder an diesem toten Punkt angekommen. Ich versuchte hastig, das Thema zu wechseln. “Wie lange wart ihr zusammen?” “Uh,....fast ein Jahr.” “Oh”, sagte ich und versuchte, anerkennend und gleichzeitig betroffen zu klingen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, ob Saku das als lang oder kurz erachtete. Er warf mir einen Blick aus fragenden grauen Augen zu und hob eine Augenbraue. Ich wechselte wieder das Thema. “Wie war...ist...er denn so?” Jetzt wusste Sakuya nicht so recht. “Na ja, wie ist er so...” Er verfiel kurz in Schweigen. “Ich könnte mich jetzt entweder sehr lang oder sehr kurz fassen. Tja... Er konnte wunderschön singen. Kann. Er ist...na ja... ziemlich...sensibel...gutherzig...hilfsbereit...und...” Er suchte nach einem Wort, in dem er möglichst viele Aspekte zusammenfassen konnte. “...tiefsinnig?” Er lehnte abwägend den Kopf zur Seite. “Tja...also... Ich bin wirklich in ihn verliebt gewesen. Damals. Wirklich. Er war so...einnehmend. Unglaublich einnehmend sogar.” Er dachte kurz nach. “Erinnert ihr euch, dass Nigel vorgestern meinte, er dachte, ich stünde mehr auf feminine Männer?” Wir nickten. Ich hing an Sakus Lippen. “Er hat Antti gemeint.“ Er wirkte ein wenig wehmütig, als er das erzählte, aber nicht sehnsüchtig. “Bist du traurig, dass ihr nicht mehr zusammen seid?” Sakuya antwortete lange Zeit nicht. Dann schüttelte er langsam den Kopf. “Es ist schade. Es war schön mit ihm. Aber es ist wahrscheinlich besser so.” Er seufzte tief. “Aber das heißt nicht, dass ich ihn nicht manchmal vermisse.” Es muss am frühen Nachmittag gewesen sein; wir waren seit dem Mittagessen etwa zwei Stunden lang wieder unterwegs, und Sakuya schätzte zu unserer Freude unsere restliche Wegzeit auf nur drei Stunden. Jetzt, wo wir das Ziel so nahe hatten, fast schon vor Augen, legten wir noch ein kleines bisschen an Energie zu. Soviel, wie wir eben erübrigen konnten. Wir waren alle drei geschafft, aber Junya und ich waren sehr stolz auf uns, dass wir diesen Weg geschafft hatten, zu Fuß. Wir hatten ein unheimliches Glück gehabt, dass uns nichts passiert war auf der Strecke. Sakuya wirkte mit jedem zurückgelegten Kilometer sowohl erleichterter als auch nervöser, je nachdem, ob er seine Gedanken gerade auf uns richtete oder nach vorne. Aber man merkte ihm an, dass seine Nervosität schnell überwog. Er würde bald schon die Menschen wiedersehen, die ihm auf der ganzen Welt, neben mir vielleicht, am meisten bedeuteten. Und er wusste nicht, was ihn erwartete. Er hatte seit einem halben Jahr nichts mehr von ihnen gehört; das war eine lange Zeit. Es konnte alles mögliche passiert sein. Wir waren nur noch zwanzig Kilometer von Sakuyas Heimat entfernt; wir gingen gerade über eine kleine Unterführung. Links von uns erstreckte sich eine leblose Stadt mit seit langem ausgebrannten Gewerbegebäuden; auf der Straße konnte man noch die Reste eines großen Lagerfeuers sehen. Laut Sakuya lebten in der Innenstadt noch immer Menschen. Zu unserer Rechten sahen wir nur Felder, die jetzt noch fast alle erdbraun waren. Vor uns erstreckte sich die Straße, die an dieser Stelle wieder ganz eben war, bis zum Horizont, wo sie über einen Hügel lief und unseren Blicken entschwand. Sakuyas Aussage nach würden wir von da aus schon die Berge sehen können. Ich hatte noch nie echte Berge gesehen. Auf einmal tauchte über der Hügelkuppe ein Motorrad auf, von uns erst nach einer Weile als solches erkannt. Als er das Motorengeräusch hörte, blieb mein Bruder stocksteif am Straßenrand stehen und sah ihm entgegen. Ich blickte ihm ins Gesicht. Seine Wolfsaugen schauten teils erwartungsvoll, teils ängstlich. Ich richtete meine Aufmerksamkeit gespannt auf das schnell näherkommende schwarze Motorrad. “Wehe, er fährt mir das kaputt”, hörte ich Saku neben mir heiser sagen. Als der Fahrer auf unserer Höhe angekommen war, riss er die Maschine herum und kam in einer engen Kurve zum Stehen. Ich dachte, er würde fallen, aber er stellte Motor und Fahrzeug sicher ab, riss sich dann den Helm vom Kopf, sprang vom Sattel, stürzte auf uns zu und warf sich mit einem wilden Aufheulen Sakuya um den Hals. “Sakuuuu!!!”, heulte er und klammerte sich an ihn. Sakuya schloss ihn fest in die Arme. Ich sah, dass er zitterte. Der Fremde hatte glänzendes schwarzes Haar, fast so lang wie Sakuya, aber es fiel ihm offen und seidig auf den schmalen Rücken. Er war ein Stück kleiner als mein Bruder, und schlank, aber eher zierlich als kräftig. Dennoch war sein Körper geschmeidig, wie man sehen konnte, weil er trotz der Temperaturen nur mit einer viel zu großen Jacke gefahren war, die ihm jetzt von den Schultern rutschte und nichts trug außer einem ärmellosen schwarzen Oberteil, Lederhandschuhen und einer angemesseneren engen schwarzen Lederhose. Der Fremde konnte nur ein paar Jahre älter sein als Junya und ich, doch jünger als Sakuya, auch wenn das schwer zu sagen war, da er ebenso wie Junya diese feinen asiatischen Züge hatte, die ihn als ein weiteres Überbleibsel der japanischen stationierten Truppen kennzeichneten. Er hielt die Augen geschlossen, aber er hatte lange Wimpern, rosige Lippen und ein scharf geschnittenes Profil, dafür weiche Gesichtszüge. Er ließ Saku wieder los und sah ihm anklagend ins Gesicht. Ich sah, dass Saku völlig aus der Bahn geworfen war. Aber seine Augen strahlten in stummer Dankbarkeit. “Wo bist du gewesen?”, klagte der Fremde anschuldigend, aber er wartete gar keine Antwort ab, sondern fiel Sakuya wieder um den Hals und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. “Du hättest dich wenigstens melden können!” “Tut mir leid”, murmelte mein Bruder tonlos. Er hatte die Augen geschlossen, und seinen in Schwarz gewandeten Körper hatte ich noch nie so entspannt dastehen sehen. “Leid!”, fauchte der Junge, aber es klang eher erleichtert als wütend. “Es tut dir leid! Du verdammter Idiot denkst immer nur an dich selbst; es ist dir vollkommen egal, ob wir denken, du seist krank oder tot oder weiß der Himmel was...” Er ließ ihn wieder los; seinem Gesichtsausdruck nach konnte er noch immer nicht fassen, wen er da vor sich hatte. Er seufzte und lächelte schließlich. “Wir haben dich vermisst”, sagte er dann leise. “Wir alle”, betonte er noch einmal. Saku sah an ihm vorbei. Der Fremde nahm das nicht hin. “Du dummer Ignorant. Warum bist du so starrköpfig? Weißt du, wie schwer wir es ohne dich hatten? Plötzlich hat keiner mehr den Überblick gehabt; wir haben uns alle gestritten, keiner hat das Rudel mehr unter Kontrolle gehabt, und erst nach einer Weile hatten wir uns soweit gesammelt, dass wir uns um das Geld kümmern konnten. Wir brauchen dich, verdammt! Daran hast du gar nicht gedacht, oder? Dass du nicht einfach so weglaufen kannst und uns alleine lassen? Und außerdem hast du uns furchtbar gefehlt! Mir hast du gefehlt!” Er machte eine kurze Pause und sah Saku weiterhin anklagend aus seinen goldbraunen Augen an. “Und Fuchs auch. Nachdem du gegangen warst, litt er plötzlich an akutem Wahnsinn. Er wollte mit keinem mehr reden. Erst nach einer Weile wurde er wieder ansprechbar. Jetzt streunt er nachts alleine durch die Stadt. Ihr seid beide verfluchte Dummköpfe! Und warum kommst du jetzt zurück?” Dann sah er uns hinter ihm stehen. “Oh, wer seid ihr zwei denn?” Er strahlte uns an und musterte uns einmal gründlich und offen. Sogar ich merkte, dass ich eindeutig abgecheckt wurde, aber der Fremde war so fröhlich, dass ich beinah ohne mein Zutun sein Lächeln von den fein geschwungenen Lippen erwiderte. Er sah mich noch einmal an. Dann sah er Saku an. “Halt, Moment mal...was...” Er wies auf mich. “Hallo?” Sakuya nickte. “Das ist Jamie. Mein Bruder.” “Was! Was, nein, nicht im Ernst!” Der Junge lachte auf. “Nein, oder!” Saku hob stolz den Kopf. “Darf ich etwa keinen verschollenen Verwandten finden?” Der schwarzhaarige Junge verbeugte sich spielerisch gegen ihn. “Gut gemacht... Ihr wusstet nichts voneinander, oder?” “Nein.” “Gut. Sonst hätte ich mich aufregen müssen.” Er funkelte uns aus goldenen Augen an und kam zu uns. Er streckte erst mir und dann Junya die Hand hin; auf seinen Lippen lag ein schelmisches Lächeln. “Freut mich sehr, Jungs. Ich bin Yukio. Wie der Autor. Yuki reicht. Und du bist...?” “Oh, äh... Junya. Ich bin ein Freund von Jamie.” Yuki hob die Augenbrauen. “Ich bin wirklich nur ein Freund!” “Tut mir leid für dich. Nein, ein Scherz. Ihr...” Er sah sich zögernd zu Sakuya um. “...kommt ihr nach Hause?” Als mein Bruder nickte, seufzte er auf und schloss glücklich die Augen. “Oh, Saku, danke, danke...” Er öffnete sie wieder. “Soll ich den anderen Bescheid sagen? Oder einen von euch mitnehmen?” Sakuya schüttelte jetzt den Kopf. “Ist schon gut, Yu. Lassen wir es bei der Überraschung.” Jener zuckte die Schultern. “Wie du meinst.” Er stand kurz auf der Straße und sah meinen Bruder an; konnte sein Strahlen kaum unterdrücken. Dann trat er zu Sakuya, schlang wieder seine schlanken Arme um ihn und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen, den Saku entspannt zuließ. “Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Saku!” Sakuya lachte und küsste den Jungen seinerseits kurz auf die Stirn. “Ich auch. Danke. Ich hab euch vermisst.” Er lächelte ihn an. “Wir sind in etwa drei Stunden bei euch.” Yuki nickte und ging zurück zum Motorrad. “Warte kurz!” “Hm?” Der Schwarzhaarige hatte den Helm aufgesetzt und sah an die Maschine gelehnt zu uns herüber. “Pass mir bloß auf ihn auf!” Ich wunderte mich kurz, aber Yukio grinste; man sah es durch das Visier. “Keine Angst; ich fahr dir deinen geliebten Louis schon nicht zu Schrott. Bist selber Schuld. Was hast du auch alle deine Sachen dagelassen? Dein Motorrad und deine CDs und dein Schwert und alles... Alles oben bei Val. Du weißt schon.” Er zwinkerte ihm zu. “Jetzt fahr ich deinen Louis. Keine Angst. Du weißt doch, wie vorsichtig ich mit schwerem Gerät umgehe!” Er sah mit blitzenden Augen zu uns und hob zwei Finger an den Helm zum Gruß, wobei er leicht den Kopf neigte, dann saß er auf, wendete und fuhr zügig weiter in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Saku sah ihm lange nach. Ich fand als erster meine Sprache wieder. “Woran hat er erkannt, dass wir verwandt sind?“ „Oh, frag mich nicht. Er hat ein einzigartiges Gedächtnis für Gesichter.“ “Und wer genau war...äh...” “...das für ein Vogel?”, beendete Sakuya meinen Satz. Ich freute mich, als ich sah, wie glücklich er wirkte. “Yuki ist, naja....Yuki eben. Wir haben ihn vor etwa anderthalb Jahren kennengelernt. Er wirkt manchmal ein bisschen...seltsam. Aber er ist immer da, wenn man ihn braucht. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn tun würden. Man merkt es vielleicht jetzt nicht so, aber man kann sich immer an ihn wenden. Er tut, was er kann, um uns alle zusammenzuhalten.” Er seufzte. “Zumindest hat er es versucht. Auf ihn kann man sich eigentlich immer verlassen; naja, wenn er nicht wieder was wichtiges vergisst oder verliert, heißt das. Und... Erschreckt dann nicht. Er hat die Angewohnheit...nein, das Hobby...sich jedem gutaussehenden Mann an den Hals zu werfen... Aber denkt euch nichts dabei. Er ist nur auf One Night Stands aus, und das ausschließlich außerhalb unseres Rudels...der WG. Seine Freunde sind davon ausgenommen. Das würde alle nur belasten. Wenn er euch also anmachen sollte, dann macht euch keine Sorgen, das ist nur Spiel.” Er lächelte schwach. “Gut fürs Selbstwertgefühl. Ich hoffe, ihr stört euch nicht daran... Ich meine, wir haben uns alle an ihn gewöhnt, und uns stört es nicht...manchmal ist es auch ganz angenehm...nicht mal Diego hat noch ein Problem damit, obwohl Yuki bei ihm auch hin und wieder Rücksicht nimmt auf seine arme heterosexuelle Seele.” Er grinste spöttisch. “Wir mögen ihn genau so, wie er ist. Und ich kenne außerdem niemanden, der so gut zu Alice Coopers ‘Poison’ strippen kann, wenn er was getrunken hat”, fügte er nachdenklich hinzu. Ich sah eine Weile Sakuya an und ließ mir das durch den Kopf gehen, dann schaute ich Junya an und hob die Schultern. “Wenn ihr euch daran gewöhnen konntet, dann können wir das auch.” Junya nickte. “Gut.” Sakuya wurde plötzlich ernst. “Er ist nicht immer so. Es gibt dann und wann Tage, da verkriecht er sich in seinem Zimmer, oder er kommt runter, und man sieht, dass er geweint hat. Meistens tröstet ihn Rose - das ist sein bester Freund - aber oft will er auch keinen an sich ranlassen, oder er kommt von alleine an deine Tür und sucht einfach ein bisschen Gesellschaft. Er hat eine Menge hinter sich. In gewisser Weise mehr als wir anderen, obwohl wir alle etwas mit uns herumtragen. Als Yuki in die Stadt kam, war er nicht alleine. Bei ihm war sein Freund aus Kindertagen... Julian. Sie waren ein Paar. Julian war Yukis erste und einzige große Liebe, sagt er. Als sie hier ankamen, wurden sie angegriffen, und Julian starb. Yu leidet immer noch unter dem Verlust. Er vermisst ihn; er sehnt sich nach ihm. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen seiner gelegentlichen Affären, aber wir haben ihm das ausgeredet. Er sucht einfach Nähe. Und man merkt es ihm meistens kaum an. Nur manchmal kommt die Trauer wieder hoch...” Sakuya verstummte und sah in die Ferne. “Dabei ist er so ein liebenswerter Mensch... Er tut mir schrecklich leid.” Wir schwiegen betroffen. Nach einer Weile riss Saku sich zusammen und lächelte uns aufmunternd zu. “Na ja. Wollen wir gehen? Es ist ja nicht mehr weit.” Er überlegte kurz. “Wenn ihr wollt, erzähle ich euch auf dem Weg noch etwas über die anderen.” Das nahmen wir gerne an. Jetzt endlich war mein Bruder bereit, einige Informationen preiszugeben. Ich mochte Yukio schon, und ich war wirklich gespannt, auf was für eine exzentrische Gemeinschaft wir treffen würden, die Sakuya zu seiner Familie erkoren hatte. Ich wollte etwas über seine selbstgewählten Brüder hören. Eine Sache hatten sie auf jeden Fall alle gemeinsam: Sie alle wussten die Menschen, die sie liebten, gerne bei sich. Sakuya schien zu überlegen, wo er ansetzen sollte. “Ich kann euch unmöglich alles erzählen, was ich zu erzählen hätte”, sagte er mit bedauerndem Blick. “Aber ich kann euch einen kurzen Umriss geben, was für Leute meine Freunde sind.” Er wirkte so gelöst; als könnte er endlich etwas loswerden, was er schon lange hatte sagen wollen, aber nicht gewagt hatte. “Da ist zum Beispiel Rose, Yukis bester Freund. Er war unser erster Mitbewohner. Er ist recht verantwortungsbewusst; er ist derjenige, der immer alles im Kopf hat, was anliegt. Rose stammt aus England; er hat lange in London gewohnt. Dafür spricht er aber sehr gut Deutsch. Er ist wahnsinnig intelligent, und er weiß mittlerweise verdammt viel, glaube ich, da ich glaube alle von uns am ehesten ihm ein Geheimnis anvertrauen; Gott weiß was er damit schon alles hätte anstellen können. Wenn ich zuviel erzähle, unterbrecht mich. Sonst bin ich nicht fertig, wenn wir da sind.” Seine Mundwinkel zuckten leicht. “Dann ist da Yukis anderer enger Freund, Valentin. Valentin ist ein großartiger Zuhörer; aber er redet selten viel, wenn mehr als eine Person bei ihm ist. Er ist der einzige andere außer mir, der wirklich gute Musik hört... Wir tauschen uns gerne aus. Er wirkt manchmal sehr düster, aber er ist ein lieber Mensch. Er ist so alt wie Rose; ein bisschen jünger als ich. Mal sehen ob ihr ihn heute überhaupt antrefft; er steht meist erst abends auf. Valentin ist ein zurückgezogener Mensch; es reicht ihm, zu wissen, dass seine Freunde um ihn sind. Dann natürlich die Zwillinge...Yuen und Minh, Chinesen, unsere Jüngsten, jünger als ihr. Nur Ilja und Fuchs können sie auseinanderhalten, weiß der Himmel wie sie das anstellen. Die beiden sind wie Pech und Schwefel, haben viel gemeinsam durchmachen müssen. Yuen ist leider krank...also....er hat ein wenig mit seiner Vergangenheit zu kämpfen; davon erzähle ich lieber ein andermal, es ist ein sehr trauriges Thema. Sein Bruder ist sonst eher zurückhaltend, aber er kümmert sich rührend um ihn. Beide sind wirklich lustig, ihr werdet sie mögen. Dann mein guter Freund Ilja... Ilja ist in St Petersburg geboren, aber lebt auch schon lange in Deutschland. Ursprünglich war er mal Sanitäter, jetzt ist er Mechaniker. Er ist ein offener Mensch, ich mag ihn sehr gerne. Er verbringt viel Zeit mit Diego in der Garage und sie verdienen ein wenig Geld damit, Dinge zu anderen Dingen zusammenzuschrauben. Oh, und er hasst Wodka.” Sakuya grinste. “Das sagt er immer früh, damit niemand etwas Falsches von ihm annimmt. Er verabscheut das Zeug aus tiefstem Herzen. Er hat sich einen kleinen Hund angeschafft, kurz bevor ich fortging, aber ich weiß nicht, was aus dem geworden ist. Diego, mit dem er draußen hockt, bei Wind und Wetter, hat ganz früher mal in Spanien gewohnt, aber das ist lange her. Er war in den Jahren zuvor ziemlich arm dran, hat sich jetzt bei uns eingenistet, keiner weiß wieso, aber wir sind froh dass wir ihn haben. Diego ist ein Tüftler. Nigel ist halb verliebt in ihn. Ständig nimmt er ihm Schrott ab. Und wir brauchen ihn auch. Ohne ihn hätten wir weder Musik noch Fernsehen im Haus. Und das hielten wir nicht aus. Er ist der Neuling unter uns; er kam im Februar letzten Jahres.“ Er hob die Schultern. Ein leichtes Lächeln lag noch immer auf seinen Lippen, als er den Blick nach links wandte, zu den Bergen, die sich wie graue Dunstriesen aus dem Nebel des Tages hoben. Dort war er zuhause. Am Fuß der Berge. Und wir waren fast da. “Das waren aber nur sieben”, merkte ich an. “Es sollten doch acht sein?” Saku schlug kurz den Blick nieder. “Ja”, sagte er dann langsam. “Das ist richtig. Dann ist da noch Fuchs.” Er verfiel wieder in Schweigen. Der tote Punkt war noch nie so tot gewesen. Aber jetzt wollte ich mehr wissen. “Was war mit ihm?” Mein Bruder sah eine Weile in die Ferne, dann auf den Asphalt; seine grauen Augen waren dunkel und schwer. “Fuchs”, sagte er dann. “Das ist ebenso wenig sein richtiger Name, wie meiner Wolf ist. Aber niemand kennt seinen richtigen Namen, außer mir. Wir waren zusammen, seit wir drei Jahre alt waren. Wir haben beide mit neun Jahren unsere Väter bei einem Anschlag verloren. Wir haben gemeinsam auf den Straßen um unser Leben gekämpft. Wir haben uns gegenseitig warmgehalten, wenn es kalt war. Wir haben abwechselnd über unseren Schlaf gewacht. Ich habe ihn im Arm gehalten, wenn er Angst hatte, und er hat mich getröstet, wenn ich weinte. Wir kamen zusammen vor drei Jahren nach Deutschland zurück. Wir beide sind die Gründer des Rudels. Wir haben den anderen ein Zuhause gegeben. Wir kennen uns gegenseitig besser als uns selbst; wir teilten eine Seele. Wir waren ein Team. Wir waren fast eins. Aber es kann nicht für immer so weiter gehen. Irgendwann, über kurz oder lang, ist es vorbei. Es gibt Dinge, die eine Freundschaft nicht aushalten kann.” Er verstummte abrupt. Sein Blick wurde verschlossen. “Bist du seinetwegen fortgegangen letztes Jahr?”, fragte ich hartnäckig. “Ich bin gegangen, weil ich nicht alles noch schlimmer machen wollte”, antwortete er kühl und richtete den Blick weiterhin in die Ferne. “Habt ihr euch geliebt?” “Mehr als alles andere. Aber nicht so, wie du meinst.” “Warum bist du dann gegangen?” Entgegen meiner Vermutung wich Sakuya mir nicht aus. Aber er wählte seine Worte sehr, sehr sorgfältig. “Es gibt viele Wege, die man mit einem Freund beschreiten kann”, sagte er leise. “Und es gibt solche, die man nicht gehen kann, ohne dass die Freundschaft daran eingeht.” “Habt ihr euch gestritten?”, fragte ich vorsichtig. Saku antwortete nicht. “Warum gehst du jetzt zurück?” “Ich musste gehen, weil ich es nicht ausgehalten hab, dass alles vorbei war. Und jetzt komme ich zurück, weil ich es genauso wenig aushalten kann, von meinen Jungs getrennt zu sein. Ich war einsam. Tut mir leid, Jamie.” Er sah sehr erschöpft aus. Er hielt den Blick zu Boden gerichtet. Ich nahm seine Hand, aber ich sagte nichts. Ich hatte so furchtbare Schuldgefühle. Ich wusste nicht, was passiert war, aber ich hätte nicht so nachbohren dürfen. Sakuya war eben noch so glücklich gewesen. Es schmerzte ihn, was geschehen war. Was immer es war, das zwischen ihm und seinem Freund stand. Ob Antti etwas damit zu tun hatte? Ich fühlte mich so niedergeschlagen. Plötzlich fühlte ich, wie Junya meine andere Hand ergriff und sie sanft drückte. “Schon okay, ihr zwei”, sagte er leise. “Ihr wisst doch gar nicht, was noch alles geschehen kann. Vielleicht wird auch alles gut. Wir sind in keiner schlimmen Lage. Und mir wurde gesagt, solange man am Leben ist, ist noch nichts verloren. Bis jetzt hat es gestimmt.” Ich sah zu ihm auf, er erwiderte meinen erstaunten Blick aus klaren Augen mit einem ermunternden Lächeln. “Stimmt”, flüsterte Saku neben mir. “Ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind. Und jetzt wieder hier. Ich glaube, mein Paradies ist noch nicht ganz verloren für mich. Es ist nur Nacht.” Der Wind fuhr uns durch die Kleidung. Vor uns lagen die Berge, und über uns breitete der Himmel seine Flügel aus. Junyas Augen schimmerten, als ich seinen Händedruck erwiderte. Die Stadt, die wir am frühen Abend mit erleichterten Mienen und schmerzenden Beinen betraten, nahm sich im letzten Licht relativ gut erhalten aus. Sogar Sakuya schien erschöpft zu sein, aber er strahlte dennoch und freute sich wie ein kleines Kind mit glänzenden Augen. Er ließ den Blick hier und dorthin wandern, entzückt, dass alles noch genauso war wie ein halbes Jahr zuvor. Er war wieder da, wo er hingehörte. Er hatte auf mich noch nie so jungenhaft gewirkt, aber ich freute mich für ihn. Die Stadt lag wie gesagt am Fuß der Berge, und als wir sie betraten, konnten wir durch die Lücken zwischen den Dächern noch die grünblauen, baumbestandenen Kuppen sehen. Wir folgten einer breiten Straße ein Stück am Stadtrand entlang, bis sich von rechts erst ein Friedhof und dann auch Häuser anschlossen. An einer kleinen Steigung, schon weiter innerhalb der Stadt, betraten wir einen Überweg nach rechts, unter dem alte Bahngleise verliefen. Ich schaute durch das Geländer nach unten. Ein kaputter alter Schirm und viele braune Flaschen lagen auf den Gleisen. “Seht ihr die Unterführung da vorne, an der wir eben vorbeigekommen sind?” Sakuya wies die Gleise entlang und zeigte mit dem Finger, wo die Ausgänge waren, als wir synchron nickten. “Geht dort nicht durch, wenn es dunkel ist. Benutzt lieber den Übergang hier.” Wir nickten wieder gewissenhaft. Saku führte uns erhobenen Hauptes zurück auf die Straßen, wie ein König, der aus dem Exil zurückkehrt. Ich verspürte einen gewissen Stolz, mit ihm zu gehen, und dass er mein Bruder war, weil er herrlich aussah mit seiner stolzen Haltung und dem langen schwarzen Mantel um seinen gewandten Körper. Wie sich herausstellte, war mein Bruder hier noch nicht in Vergessenheit geraten: Als wir einen alten, hohen Steinbogen passierten, sahen wir kurz dahinter auf einer niedrigen Mauer vor einer schmuckvollen Fachwerkfassade ein Gothicpärchen sitzen, er war dabei, ihr lebhaft etwas zu erklären, aber sie stieß ihn an, als sie aufblickte und Sakuya sah; und er hob den Kopf und grüßte ihn mit einem Grinsen und erhobenem Zeige- und kleinem Finger. Saku erwiderte den Gruß mit geneigtem Kopf, aber er blieb nicht stehen, und die zwei versanken wieder in ihr Gespräch. Wir gingen durch Straßen, in denen die Gebäudefassaden höher waren und die Straßen nicht so gerade; es musste die Fußgängerzone gewesen sein, obwohl man dieser Tage praktisch auf jeder Straße zu Fuß gehen konnte, ohne in unmittelbarer Gefahr zu sein, wie wir ja soeben erst bewiesen hatten. “Wir sind gleich da”, murmelte Saku, den Blick bang. “Hinter der Ecke da vorne.” Wir passierten die besagte Ecke, Junya und ich immer brav hinter Saku her. Ich war schon aufgeregt, aber ich konnte unmöglich leugnen, dass ich nach drei Tagen Wanderns einfach schlafen wollte, in einem weichen Bett. Es war mir auch egal, ob ich eine Decke bekam. Ich teilte das Bett auch gerne mit jemand Nettem. Hauptsache, es war weich und warm und man ließ mir für ein paar Stunden meine Ruhe. Es tat mir ein wenig Leid, dass ich Sakuyas Aufregung nicht teilen konnte, aber meine Ausdauer war einfach erschöpft. Diese letzten zwei Kilometer in der Stadt hatten mir den Rest gegeben. Junya ging es auch nicht besser. Er trottete müde neben mir her, den Blick lustlos nach vorne gerichtet. Aber wir rafften uns ein bisschen auf, als wir um die Ecke gingen, um nicht gleich beim ersten Eindruck Sakuya zu blamieren. Wir betraten eine Gasse. Auf der Mauer rechts von uns, die schon mal bessere Tage gesehen hatte, hatte sich ein unbekannter Künstler verewigt mit einem silberweißen Tiger und den Worten ‘never die’. Auf jeden Fall war sein Bild noch immer auf der Welt. Linker Hand erhob sich erst eine ziemlich triste bleiche Hausfassade, deren Fenster für mich knapp über Augenhöhe lagen. Daran schloss sich ein hoher, graubrauner, massiv aussehender Bretterzaun an. Weiter vorne stieß die Gasse an einige mit Farbe zugesprühte Glastüren und machte daneben einen Knick nach rechts. Sakuya deutete mit dem Kopf auf das Haus links. “Wir sind da.” Es war nicht viel zu sehen an der schmucklosen Fassade; allein vom äußeren Eindruck her hätte ich gesagt, hier lebten zurückgezogene Leute, schon weil die Vorhänge vor dem vorderen Fenster zugezogen waren. Andererseits würde ich das auch machen, wenn ich direkt an der Straße wohnen würde. Durch den hohen Zaun ließ sich überhaupt nichts erkennen. “Euer Haus wirkt nicht sehr einladend”, meinte ich trocken. “Soll es auch nicht”, erwiderte Sakuya ruhig. “Allein schon, weil wir fast keinen Platz mehr unter diesem Dach haben.” Ich legte den Kopf in den Nacken, während mein Bruder sich am Tor zu schaffen machte. Das Dach sah seltsam aus von dieser Seite; es hatte zwei Giebel, wie ein M. Aber der rechte davon sah auch schon recht baufällig aus. Hoffentlich würde ich nicht darin schlafen müssen. Es war wenig mehr als eine weitere Bretterwand. Die restliche Seite des oberen Teiles des Hauses sah besser aus. Man konnte die dunklen Balken erkennen, die das Gerippe des Gebäudes bildeten, wie es für diese Gegend so typisch war. Sakuya hatte das Holztor geöffnet und wir huschten hinter ihm auf den Innenhof. “Es sieht ein bisschen armselig aus, aber es ist wirklich der beste Ort auf Erden...” Ich war überzeugt davon, beinah Sakus lauten Herzschlag hören zu können. Wir standen auf einem Hinterhof, der Boden war ebenfalls, wie die Gasse, kopfsteingepflastert; der Blick ging geradeaus auf eine hohe rote Backsteinmauer, aus der hie und da kleine Birkenschößlinge wucherten; zu unserer linken stand ein Haus, relativ groß, es musste einmal ein hübsches Stadtanwesen gewesen sein, das wohl einst komplett Fachwerk gewesen war, inzwischen waren aber, wie es schien, einige Wände ausgebessert oder komplett neu hochgezogen worden, so dass sich Ziegel den unteren Teil mit Beton teilten, ich sah auch große Sandsteinblöcke in den Ecken, und ganz oben war sogar mit Holz gearbeitet worden. Efeu wuchs an einer Seite am Haus empor, die freien Stellen der Wände waren mit schmiedeeisernen Figuren verziert, an einigen Ecken steckten Blumen, teils schon fast verwelkt, auf einem Regal neben dem Eingang standen Töpfe um Töpfe mit Pflanzen, die ich nicht kannte, wahrscheinlich irgendwelchen Kräutern, aus zwei Fenstern hing eine Flagge die Wand herab, auf einer war ein Pentagramm zu sehen, eine andere zeigte das Logo einer mir unbekannten Band, und jemand hatte einen Hirschschädel über dem Eingang angebracht. Es sah ganz so aus, als hätten es sich hier einige verschiedene Leute einige Jahre lang hübsch gemacht. Rechts stand ein dunkler und ein wenig windschiefer großer Schuppen. Das Dach war aus Teerpappe, das Tor hatte zwei Flügel, von denen einer offenstand. Im Inneren war es zu dunkel, um etwas zu erkennen, und man hörte Musik, die ich aber nicht erkannte. Aus dem offenen Tor stürzte auf einmal ein heiser bellender Schatten, der vor Saku schlitternd abbremste und sich auf den Boden warf, wobei er uns aber grollend nicht aus den Augen ließ. Junya war zusammengezuckt, und ich hatte einen Satz nach hinten gemacht. Ich kam nicht gut mit Hunden klar. Und dieser sah aus wie ein halber Schäferhund und ein halber Wolf. Er hatte den Körperbau eines Schäferhundes, aber sein Fell war dunkelgrau, und sein Schädel war breiter. Er hatte lange, schlaksige Läufe, und große Pfoten, die seine Jugend verrieten. Er ging mir schon aufgerichtet bis zur Hüfte, und er sollte noch wachsen. “Keine Angst”, sagte Saku schnell. “Er ist nur als Wachhund abgerichtet.” Ja, und? Beißen Wachhunde denn nicht? Mir war schon klar, dass Wolfshybriden aggressiver waren als ganze Wölfe, und ob der nun einer war oder nicht, er sah kräftig aus, und ich nicht. Aus dem Schuppen hörte man so etwas wie eine kleine Explosion, einen erschrockenen Aufschrei, der sofort in ein zweisprachiges Fluchen überging, das von einem lauten Lachen übertönt wurde. Man hörte etwas zu Boden fallen, und ein Schatten näherte sich von innen der Tür. “Teufel! Komm her! Wer ist denn da?” Ein junger Mann erschien in der Tür, während der Hund umkehrte und mit munteren Sätzen und schwanzwedelnd zu ihm lief. Ich schätzte ihn auf etwa Sakuyas Alter (ich hatte Recht). Er trug eine weite, dunkelblaue Hose, die viele Taschen an den Seiten hatte, und an deren Gürtel eine Kette hing, und trotz der Kälte darüber ein weites, ursprünglich wohl mal weiß gewesenes T-Shirt, das voller alter grauer Flecken und neuerer schwarzer Flecken und am unteren Saum zerrissen war. Der Kragen war ihm viel zu weit. Der Mensch war etwas größer noch als Sakuya; er hatte kräftige, gebräunte Arme, die aber auch voller Öl und auch ein paar Kratzern waren. Seine Hände steckten in Arbeitshandschuhen. Sein ganzer Körper wirkte athletisch, aber er war sehr schlank für seine Größe und langbeinig. Er hatte ein anziehendes, offenes Gesicht, und seine blitzenden Augen erinnerten mich an den Edelstein, den man Tigerauge nennt. Seine walnussbraunen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden; sie reichten ihm fast bis zur Hüfte. Einige Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihm wirr in die hohe Stirn. Als er uns sah, blieb er abrupt in der Tür stehen, und es wurde klar, dass Yukio sein Versprechen, verschwiegen zu bleiben, nicht gebrochen hatte. Seine Augen weiteten sich in Staunen, und Sakuya stand ganz regungslos und harrte mit schräggelegtem Kopf und Herzklopfen aus. Dann sprang ein breites, ehrliches Strahlen auf das Gesicht des Fremden. Er zog sich mit den Zähnen den einen Handschuh aus, den anderen mit der Hand, und löste sich endlich aus seiner Erstarrung. “Wolf!”, lachte er glücklich und kam auf uns zu. “Du lebst ja noch, du Bastard!” Die letzten Schritte ging er schneller, und dann fielen sich die beiden Freunde in die Arme. Der Fremde lachte mit Tränen in den Augen, und ich sah, wie Sakuyas Fingerknöchel weiß wurden, als er ihn an sich zog. “Hallo, Ilja”, flüsterte er mit geschlossenen Augen. Ilja ließ ihn wieder los und sprach lachend auf meinen Bruder ein, in einer fremden Sprache, die sich irgendwie schon wie Musik anhörte. Als würde ein Offizier mit Raucherlunge versuchen, eine französische Marschweise zu schmettern. Saku antwortete ihm fließend in derselben rauen Sprache, während Ilja ihn von oben bis unten musterte, als wolle er sich vergewissern, dass sein Freund noch komplett war. Dann sah er an ihm vorbei und entdeckte uns mit dem gleichen Erstaunen, das wir schon von Sakus halbjapanischem Freund her kannten. Mir fiel auf, dass man von Iljas Gesicht praktisch sofort seine Gedanken ablesen konnte. Er machte sich einfach nicht die Mühe, eine Trennwand zwischen Gehirn und Gesicht zu ziehen. Das hielt er wohl für überflüssig. Sakuya wandte sich halb um und stellte uns gleich vor: “Ilja, das ist mein Bruder Jamie, und das ist unser Freund Junya. Jungs, das ist Ilja. Ich hab euch von ihm erzählt.” Ilja warf einen Seitenblick zu Saku. “Oh Gott. Dann hat es keinen Sinn mehr, mich noch einzuschleimen.” Er gab uns beiden die Hand. Sein Händedruck war fest, und seine Hände waren sehr warm. “Freut mich, euch kennenzulernen.” Er sah mir in die Augen. Sein Blick war klar und fest. “Unglaublich. Wie habt ihr euch gefunden? Weißt du, wie ähnlich ihr euch seht?” “Finde ich eigentlich gar nicht...“ „Doch, total! Wahnsinn.“ “Ihr müsst ziemlich sauer auf mich sein”, sagte Sakuya plötzlich mit einer elenden Miene. “Ich gehe ohne ein Wort weg, dann komme ich einfach so zurück, und schleppe schon wieder jemanden an...” “Ja, und ich bin auch wirklich böse mit dir”, sagte Ilja streng. “Gut, das wir das jetzt geklärt haben. Dann können wir ja alle wieder lieb sein.” “Aber...” “Himmel, Sakuya! Ist doch egal; du bist wieder da!” Er packte meinen Bruder an der Schulter, der schuldbewusst zu ihm aufsah. “Verschone mich mit deinem schlechten Gewissen! Dafür ist es jetzt ein bisschen spät. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, sowas nochmal zu machen. Ich komm hinter dir her und prügel dich zurück an deinen Platz, hörst du?” “Sobald du das da wieder repariert hast”, erklang eine Stimme hinter ihm, und ein etwas Kleinerer, der Diego sein musste, kam hinter ihm aus der Garage. Er hatte lange Beine und schmale Schultern und Hüften, wirkte hager. Er trug verschlissene rot-schwarze Motorradkleidung, als habe er gerade losfahren wollen. Seine schwarzglänzenden Haare trug er wie Ilja zusammengebunden; sie fielen ihm bis zur Taille herab. Er grinste, als er Saku sah. “Wenn du wieder gehst, bekomm ich dann deinen Louis?” Sakuya wusste erst nicht, was er sagen sollte, aber dann sah er den Spott in Diegos Augen. “Nur über meine Leiche, du Geier”, knurrte er, dann lachte Diego auf und kam zu ihm. Er umarmte ihn ebenfalls, aber viel kürzer und etwas weniger eng als Ilja, ganz zu schweigen von Yuki. Saku hatte ja erzählt, dass Diego nichts an Männern fand. Dafür fand ich ihn aber erstaunlich tolerant. Immerhin wusste er, dass Sakuya kein Interesse an Frauen hatte. Es schien ihn nicht zu stören. “Du hast uns ganz schön gefehlt.” Er begrüßte auch Junya und mich munter. “Ja, das habe ich schon gehört”, sagte Saku. “Ja? Von wem?”, fragte Ilja verwundert. Zu Recht; Yukio hatte ja die Klappe gehalten. “Von mir!” Die Haustür flog auf und unsere Köpfe herum, als ein schwarzhaariger Wirbelwind die drei Treppenstufen herab sprang, mit ein paar Schritten an Sakuyas Seite lief und Diego zuzwinkerte. “Grüß dich, mein Schatz.” “Seit wann bist du denn wieder da? Und wo ist die Maschine?”, fragte der junge Spanier, den Einwurf des Jungen ignorierend. “In der Garage. Das hättest du auch gesehen, wenn du nicht bis zur Taille in einem Motor gesteckt hättest. Du sahst sehr geil aus dabei, Hase”, schnurrte Yuki. “Moment!”, warf Ilja ein, ehe Diego aufbrausen konnte. Jener wollte sich partout nicht an Yukios Namensgebung gewöhnen, auch wenn nur dieser ihn so nannte, hauptsächlich, weil Diego sich so herrlich zierte. “Du wusstest, dass Saku zurückkommt? Seit wann?” Er wies drohend auf seinen kleineren Mitbewohner. “Wir haben Yu auf der Straße getroffen”, fiel Sakuya ein, ehe Yukio von Iljas beleidigtem Blick erwischt werden konnte. “Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, nichts zu sagen. Ich wollte nicht, dass ihr vorher Bescheid wisst.” “Sakuya!” Ilja sah ihn anklagend an. “Hättest du deine elende Geheimniskrämerei nicht da lassen können, wo auch immer du dich herumgetrieben hast?” “Lass ihn doch”, meinte Yukio. “Der Herumtreiber Sakuya hat seine süßen Welpen mitgebracht.” Ich wollte erst protestieren, als ich Yukis funkelnden Blick sah, der genau darauf zu warten schien. Da überlegte ich es mir doch anders. “Ich sehe das als Kompliment, okay?”, fragte ich ungerührt. Ilja lachte. “Das ist das Beste, was du tun kannst!” “Genau so und nicht anders war es gemeint, Jamie. Entschuldige meine Art”, meinte der Schwarzhaarige und verneigte sich übertrieben galant in unsere Richtung. Junya lachte. “Ich sage nur, was ich denke.” “Lass trotzdem die Finger von ihnen”, sagte Saku misstrauisch. “Keine Sorge. Deine Kleinen sind sicher vor mir.“ “Wie kommt es, dass ihr hier alle zusammen wohnt?”, fragte ich. “Ich meine, steckt da ein Plan dahinter, oder war das bloß Zufall?” “Hm...” Ilja und Diego sahen sich an, aber es war Yuki, der als erster antwortete. “Das verdanken wir deinem Bruder und Fuchs. Die zwei, besonders Saku, haben uns von der Straße aufgekratzt und in dieses Boot geworfen, in dem wir seitdem alle zusammen sitzen. Und ihr jetzt anscheinend auch.” “Ach”, sagte Saku abwehrend, “wir haben nur versucht, einigen Menschen, die wir mochten, einen Zufluchtsort zu geben.” “Sag ich doch. Ihr habt versucht, zu retten, was zu retten war. Das ist lobenswert.” “Von der Straße gekratzt? Eher aus der Gosse gezogen, würde ich sagen”, meinte Diego humorlos. “Ja, Hase, manche von uns - wo ist Rose? Er ist noch hinter mir die Treppe runtergekommen; dachte ich jedenfalls!” Er drehte sich um und warf einen suchenden Blick zur Tür, als wenn der Blick seiner leuchtenden goldenen Augen das Holz durchdringen könnte. “Ist doch egal. Kommt trotzdem einfach rein”, sagte Ilja und strahlte Sakuya an, dann legte er ihm einen Arm um die Schultern. “Jetzt, wo du endlich wieder da bist.” Diego lief zurück, um das Garagentor zu schließen; aber noch ehe wir die Tür erreicht hatten, flog sie ein weiteres Mal auf und weiterer junger Mann lief heraus. Er stand auf der Veranda und starrte zu uns herüber, als könne er nicht glauben, was er sah. Er hatte ein liebes, aufgewecktes Gesicht mit großen hellblauen Augen; seine Haut war blass, und seine Gesichtsform wirkte fast schon aristokratisch edel. Er war nicht groß, vielleicht etwas mehr als Yukio, aber er trug Stiefel mit hohen Sohlen, und einen knielangen, scharlachroten Mantel, was den Eindruck verzerrte. Seine Kleidung war rot, und ich war mir sicher, dass er sie mit Bedacht so gewählt hatte und nicht aus einem Anfall von Farbenblindheit heraus, denn sein Haar, das ihm glatt und weich über das rechte Auge fiel, war leuchtend pink gefärbt, so dass einen im ersten Moment die Farbkombination traf wie ein Schlag. Aber da seine Kleidung gut saß und ihm ebenso stand, und er ebenso geübt wie dezent Kajal und leicht grauen Lidschatten trug, musste er diese Wirkung beabsichtigt haben. Aus welchem Grund auch immer. Jedenfalls wirkte er nicht etwa aufgesetzt, sondern strahlte im Gegenteil eine paradoxe Natürlichkeit aus, die seinem freundlichen, nachdenklichen Gesicht weitaus besser stand, als wenn er sich verstellt hätte. “Ich dachte eben, ich hätte mich geirrt! Ich habe dich von oben gesehen, und...” An dieser Stelle fehlten ihm die Worte. Er schüttelte nur den Kopf, so dass sich seine hellen Haare über sein ernstes Gesicht legten. “Erklär dich bitte in einem Satz, und dann überlege ich mir, ob ich dir verzeihe oder nicht.” Sakuya hob die Schultern, ein wenig ängstlich vor der Reaktion des seltsamen Kerls, der von der Veranda herab eine Erklärung gefordert hatte. “Ich weiß nicht...” “Mach dir nichts vor. Eine Erklärung. Und die Wahrheit.” Saku grinste schief. “Was, beides auf einmal?” Der Fremde lächelte, blieb aber stehen. Mein Bruder seufzte unglücklich. “Ich hab euch einfach furchtbar vermisst.” Eine Weile schwieg der Junge und dachte darüber nach, dann fing er an zu lachen. “Reicht aus!” Er sprang von der Veranda und Saku in die Arme, während Yukio sich neben mir einen Ast lachte. “Rose, du Arsch! Als ob du ihm böse sein könntest, wenn er endlich heimkommt!” Er war völlig aufgekratzt. Rose verharrte für eine Weile seufzend in Sakuyas Armen, dann ließ er ihn wieder los und sah ihm ernst ins Gesicht. “Das könnte ich sehr wohl; ich habe genug Zeit mit Fuchs verbracht, um gesehen zu haben, wie sehr du ihn verletzt hast.” Saku wandte den Blick ab; seine grauen Augen waren wieder hart geworden. “Das hätte er sich eher überlegen können. Ich bin auch nicht glücklich darüber, dass es so enden musste.” “Erbärmlich!”, fiel ihm Yuki wütend ins Wort. “Ihr seid alle beide gleich erbärmlich! Wie konnte die Sache so ausarten!” “Das weiß ich doch nicht”, fauchte Saku. “Meinst du, mir hat das Spaß gemacht, zu gehen?” “Lange überlegt hast du ja nicht! Du bist ein egoistischer...” “Es reicht!”, fiel Ilja beiden grob ins Wort. “Streitet ihr euch jetzt nicht auch noch!” “Wenn ihr unbedingt darüber reden müsst, dann tut das in Ruhe, auch wenn ich nicht glaube, dass wir irgendetwas tun können”, sagte Rose leise. “Nein”, sagte Saku nach einer Weile mit gesenktem Blick. “Ich möchte nicht darüber reden. Nicht hier.” Nicht vor meinem Bruder, sagten seine Augen, und aus irgendeinem Grund war ich eifersüchtig auf Sakuyas Herzensbrüder. Diego versuchte, der Situation munter zu entkommen. “Hey, Rose. Wusstest du, dass Sakuya einen Bruder hat?” Er trat einen Schritt zur Seite, da er bis jetzt in Roses Blickfeld gestanden hatte. Dessen Augen wurden groß. “Nein, ich...Oh. Oh! My god!” Er trat auf uns zu. “Entschuldigt, ich habe euch gar nicht gesehen. Freut mich. Ich bin Rose, wie ihr schon gehört habt...” Wir stellten uns schüchtern vor, und es dauerte einige Minuten, bis die genaueren Zusammenhänge wieder aufgedröselt worden waren. Rose war ein sehr netter Mensch, sehr höflich; aber er bewegte sich wie eine Katze, mit genau abgemessenen Bewegungen, und er hatte ein Lächeln, das einem Schauer über den Rücken laufen lassen konnte. “Gehen wir rein? Die Zwillinge werden sich freuen.” “Wieso?”, fragte Diego. “Noch weniger Platz in der Küche in Zukunft?” “Ach, was – sie freuen sich immer, neue Leute kennenzulernen, und das weißt du auch! Wir sind nur einer mehr als damals, als Antti so oft hier war. Alle passen wir schon lange nicht mehr in die Küche, wenn wir sitzen wollen”, vertraute er uns an. “Aber das macht nichts, weil wir nie gleichzeitig Hunger haben.” “Yuki”, flüsterte Saku hinter mir seinem Freund zu. “Tut mir Leid. Ich wollte nicht mit dir streiten. Ich freue mich so, dich wiederzusehen. Du fehlst einem schnell, wenn du nicht da bist.” Der Dunkelhaarige lächelte geschmeichelt. “Oh, danke, Sakuya... Ist schon okay. Macht nichts. Du bist angespannt, das ist in Ordnung. Hm...” Er sah schelmisch zu Sakuya auf. “Krieg ich einen Kuss als Entschuldigung?” Seine Augen funkelten schalkhaft meinen Bruder an. Der konnte nicht anders, als seine Leidensmiene wieder fallen zu lassen. “Hm... Na gut.” Sakuya gab Yukio einen kleinen freundschaftlichen Kuss, während wir das Haus betraten. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen. Ich, der ich mein gesamtes Liebesleben an einem Kuss festmachte! Na schön... Wenn keiner ein Problem damit hatte, dann sollten sie doch küssen, wen immer sie liebten. War ich nur verklemmt? Im Haus betrat man als erstes eine Art kleinen Vorbau, mehr ein Durchgangszimmer, worin man sich aber kaum rühren konnte, denn der ohnehin knappe Platz wurde noch beschränkt durch einen Haufen Jacken und Mäntel, der rechts hing, und eine alte, an den Ecken mehrmals wieder zusammengezimmerte Truhe, aus der oben ein Schnürsenkel hing. Ich erfuhr später, dass da eigentlich die Schuhe gelagert werden sollten, obwohl die Hälfte immer im Zimmer des jeweiligen Besitzers stand. Die Regelung hatte nicht wirklich gefruchtet, und so war stillschweigend beschlossen worden, für die Schuhe, die immer getragen wurden, außerhalb des Vorbaus, am Eingang zum Wohnbereich, einen Schuhhaufen anzulegen, auf den jeder seine Treter schmiss, sobald er sie ausgezogen hatte. Aber ausgezogen wurden die Schuhe, weder Rose noch Sakuya verstanden da Spaß. Ich weiß nicht, wie ich mir das Haus vorgestellt hatte, aber mir gefiel es beim ersten Eindruck schon. Wenn man hereinkam, sah man direkt gegenüber auf eine Wand. Rechts von der Wand führte ein schmaler Gang weiter nach hinten, und man konnte eine Tür an der Seite ausmachen. Die Wand, so wurde bald deutlich, war nicht als eine an der eigentlichen Wand entlang nach oben führenden Treppe, die an dieser Stelle eine Ecke hatte und auf uns zu ins nächste Stockwerk führte. In der entstehenden Ecke befand sich eine weitere Tür, die in den Keller führte, wo Fuchs wohnte, den wir noch nicht kannten. Hinten rechts hatte der große Raum im Erdgeschoss eine weitere Ecke ins Zimmer herein, wo ein weiteres Zimmer abgetrennt war; das von Diego. Der Raum, in den man direkt trat, war wohl das Wohnzimmer; es übertraf alle meine Erwartungen. Die Fenster waren, von außen kaum auffällig, sehr groß, reichten bis an die Decke; waren allerdings getönt, der Raum war dadurch in ein permanentes ruhiges Dämmerlicht getaucht, solange niemand ein Feuer im Kamin entzündete. Vor dem Fenster stand ein altes, mit rotem Samt bezogenes Sofa; der Stoff war an vielen Stellen schon durchlässig und schimmerte im von außen kommenden Abendlicht. Ein Sessel dieser Sorte, dunkelgrün bezogen, zierte die andere Seite des Kamins. Vor den beiden thronte ein weiteres Sofa, frontal zum Kamin, ein Ungetüm jener Sorte, die eigentlich auch als etwas in festere Form gepresstes Kissen durchgehen können, mit einem schwarzen Bezug. Den Boden bedeckten Felle und Teppiche (darunter konnte man sehen, lag nur schlichter Beton, das allerdings nur, wenn man wirklich einen der Beläge anhob). Was für Tiere darin gesteckt hatten, wusste ich nicht, aber sie waren relativ weich; ich meinte auch Schafsfelle darunter zu erkennen, in den wohl eher zum Sitzen genutzten Ecken, daher ging ich davon aus, dass nicht alles davon Jagdbeute war. Überall waren kleine Schätze zu finden, die aussahen wie Beute einer ausgedehnten Plünderung; Figuren, die einst wohl Dächer zierten, saßen auf dem Kamin; elaborierte metallene Kerzenständer fanden sich, eine schwere Truhe die aussah wie die Herberge eines Piratenschatzes stand neben dem ersten Sofa, ich sah sogar eine alte Grubenlampe mit einer Kerze darin. Die Wände der Zimmer waren teils mit Plakaten zugehängt, Werbung für Musiker die ich nicht kannte, oder für Clubs die ich ebenfalls nicht kannte, die Aufmachung jedenfalls wirkte exzentrisch. Die Plakate waren größtenteils schlicht und handgefertigt, wie ich es kannte, wenn auch mit großer Hingabe gemacht; einige waren aber auch gedruckt. Die andere Wand über dem Kamin war ein Sammelsurium, das sich auf den ersten Blick kaum übersehen ließ. Es schien, als hätten vor Jahren einige Leute die Wand bemalt, mit Motiven die jetzt kaum noch zu erkennen waren, da immer neue Bilder und Schriftzüge sie überdeckten; ich erkannte Gedichtfetzen in einer eher hastigen Handschrift, Namenszüge, Widmungen, kleine Gesichter, immer wieder Farbkleckse, sogar ein Katzenpfötchen meinte ich zu sehen; ganz links neben dem Kamin, von der Decke bis hinab zum Boden, dominierte ein Schriftzug in heller Farbe die Wand : We are the music-makers, And we are the dreamers of dreams, Wandering by lone sea-breakers, And sitting by desolate streams. World-losers and world-forsakers, Upon whom the pale moon gleams; Yet we are the movers and shakers, Of the world forever, it seems. With wonderful deathless ditties We build up the world's great cities, And out of a fabulous story We fashion an empire's glory: One man with a dream, at pleasure, Shall go forth and conquer a crown; And three with a new song's measure Can trample an empire down. We, in the ages lying In the buried past of the earth, Built Nineveh with our sighing, And Babel itself with our mirth; And o'erthrew them with prophesying To the old of the new world's worth; For each age is a dream that is dying, Or one that is coming to birth. Das, wie ich lernte, war Arthur O'Shaughnessy. Vorm Fenster standen ein Fernseher und eine Stereoanlage; beides sah ein bisschen so aus, als sollte man sie nicht unisoliert anfassen. Diegos Werke, wie ich vermutete. “Das Zimmer hinten ist von Ilja”, erklärte Yuki, der sich stolz zum Führer durch sein geliebtes Zuhause gemacht hatte. Diego, der seine Stiefel schon auf dem Haufen abgestreift hatte, lief zu einer Tür gleich links von uns und riss sie auf. “Yuen!” “Iiih! Erschreck mich nicht so! Was ist denn?”, kam eine empörte Stimme aus dem Raum, der uns als die Küche vorgestellt wurde. Die Stimme hatte sehr jung geklungen, und es lag ein Tonfall darin, der klar machte, dass ihr Besitzer wirklich mehr Respekt erwartete. “Sakuya ist wieder da! Kommt raus, ihr zwei!” “Haha, Diego, das glaubst du doch selbst nicht!” “Doch, ich bin hier”, rief Saku, woraufhin für eine Weile nachdenkliche Stille einkehrte. “Saku?”, erklang die Stimme dann ungläubig, und ein schüchternes Gesicht lugte heraus, jünger als ich, fast noch ein Kind, mit unnatürlich weißblondem, zerzausten Haar und großen braunen Mandelaugen; sein Körper war schmal, fast zerbrechlich. Eine zweite Gestalt erschien hinter ihm, von gleicher Statur, und mit exakt den gleichen Gesichtszügen, ich hätte fast gedacht, ich sähe doppelt, hätte der andere nicht violettes Haar. Beide jubelten, als sie Sakuya sahen, und fielen ihn von zwei Seiten gleichzeitig an, wo sie ihn auch sofort belagerten, und eine ganze Weile auf ihn einredeten, in einer Sprache, die ich nicht verstand, ehe sie den Armen zu Atem kommen ließen und sich uns zuwandten. „Hallo, ich bin Yuen!“, der Erste streckte uns die schmale Hand entgegen, ich ergriff sie, sie war eiskalt. „Das ist Minh.“ „Hallo!“ Kalte Hand Nummer zwei. „Ähm...hi...ich bin Jamie. Das ist Junya“, kopierte ich automatisch. Ich sah ein wenig verunsichert zwischen den beiden hin und her; Gott, die sahen sich wirklich ähnlich. Minh kicherte in sich hinein, Yuen, wohl der Extrovertiertere der zwei, grinste verschwörerisch und wandte sich wieder zu Saku. “Sag, dass du diesmal bleibst!” Sakuya nickte, und Yuen lachte. “Ich hätte nicht erwartet, dich je wiederzusehen!” Sakuya hob hilflos die Schultern. Er sah ein bisschen mitleiderregend aus. “Ich war mir nicht sicher, ob ihr mich überhaupt wieder haben wollt.” Ilja stöhnte. “Bitte, Saku...” “Stimmt. Wir hassen dich alle”, sagte Yuki ruhig. “Diego – geh! Hol Teer und Federn! Ich gehe Valentin wecken.” “Stimmt, der ärgert sich, wenn er das verpasst”, gab Diego munter zurück. “Lass nur, ich hole ihn. Bei dir weiß man nie.” “Was soll das heißen?”, rief der Japaner dem Spanier empört hinterher, der die Treppe hinauf verschwand. “Hey! Ich hab dich was gefragt, du Ferkel!” Während Diego in den zweiten Stock hastete, um Valentin zu wecken, wurden Junya und ich nochmal in Ruhe vorgestellt. Die Zwillinge wirkten fröhlich und ziemlich kindlich, vor allem Yuen; Minh war wirklich sehr still und überließ lieber seinem Zwilling das Reden. Trotz ihrer Jugend, erfuhr ich, ließen sie es sich nicht nehmen, für alle zu kochen, sofern Yuens Krankheit es erlaubte. An den anderen Tagen war das meist Roses Aufgabe. Junya schien die beiden gleich zu mögen; aber ich gebe zu, es war schwer, nicht in ihr Lachen einzufallen. Nur eine kurze Weile später hörte man das Geräusch von eiligen Schritten auf der Treppe, und dann sah man einen jungen Mann herunterstürmen, der fast genauso schmal war wie ich; seine Kleidung war dunkel, er trug eine ähnliche Lederhose wie Saku gerade und ein ärmelloses Hemd, dazu Stiefel; seine Nägel waren schwarz, und er trug die vorderen Strähnen seiner schulterlangen silberblonden Haare am Hinterkopf zu einem kleinen Schwänzchen zusammengebunden, um sie aus dem Gesicht zu halten. Als er näher kam konnte ich sein Gesicht erkennen, ein schmales Gesicht mit ziemlich jungenhaften Zügen, dominiert von seinen strahlend blauen Augen. Links und rechts in seiner Unterlippe trug er je einen Ring. Sein Blick hatte etwas Aufrichtes; er schaute so, als sei er beständig an etwas interessiert, und das war er meist auch, was eine Unterhaltung mit ihm so angenehm machte. Ich hielt ihn später für einen fast besseren Zuhörer als Ilja, auch wenn Ilja im Gegensatz zu Valentin nicht die Angewohnheit hatte, einem mit Kritik ins Wort zu fallen. Sein Blick war durchdringend; auch als er Sakuya sah, wie Diego es ihm wohl versprochen hatte, und stumm strahlte. Er rannte auf meinen Bruder zu und flog ihm förmlich in die Arme, und Sakuya drückte ihn kurz eng an sich, ehe er ihn zu Atem kommen ließ. Ich wusste, dass die beiden gut befreundet waren, so gut wie Sakuya und Ilja. Valentin musste erst mal wieder Luft holen, ehe er vor Begeisterung sprechen konnte. Ich hatte ihn danach nur selten wieder so vor Lebensfreude sprühen sehen; er war sonst eher der stille Typ. “Muss ich dir deine CDs jetzt etwa zurückgeben?” “Natürlich! Ich hoffe, du hast gut darauf aufgepasst.” Valentin schmollte. “In Anbetracht der Umstände, dass ich es ungebeten getan habe...” Sakuya trat einen Schritt zur Seite, um uns schon wieder vorzustellen. Ich war froh, wenn ich alle acht endlich kannte. “Dein leiblicher Bruder?”, vergewisserte sich Valentin, der nicht so recht an Zufälle wie diesen glaubte. Aber schließlich akzeptierte er uns freundschaftlich. Valentin schloss ich schnell ins Herz. Bald kam Diego wieder die Treppe herunter. Weder in der Küche noch auf dem Sofa war genug Platz für uns alle, also blieben wir stehen, denn unsere Beine waren ja noch jung und kräftig, wie Ilja meinte. Ich war zwar erst drei Tage gewandert, aber Junya protestierte mit keinem Laut, und ich wollte nicht hinter ihm zurückstehen; und sowieso war meine Müdigkeit erstmal zur Seite gedrängt. “Wo ist Fuchs?”, hörte ich Ilja leise Valentin fragen. “Auf dem Dach”, raunte der zurück. “Ich denke nicht, dass er nicht bemerkt hat, dass Wolf wieder da ist. Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Ich hatte so gehofft, dass er runterkommen würde.” Ilja schüttelte leicht den Kopf. “Das hat keinen Sinn”, flüsterte er. “Er ist verletzt. Er wird erwarten, dass Saku sich entschuldigt.” “Das wird er nicht, und das weißt du auch. Dazu ist er zu stolz; außerdem ist die Sache für ihn damit lange nicht erledigt. Wenn...” Valentin bemerkte, dass wir ihn hören konnten, und schloss mit: “...wenn sie sich nicht von sich selbst aus aussprechen, können wir nichts tun.” Er blickte hoch und sah traurig zu Saku. “Ich kann das nicht glauben”, murmelte Ilja tonlos, der seinem Blick gefolgt war. “Dass es je einen Bruch zwischen diesen beiden geben könnte... Es ist, als würde eine Welt zusammenbrechen. Ich verstehe es nicht. Ich will es nicht verstehen.” Ich sah zu Sakuya. Yuen und Viljami versuchten gerade gemeinsam, für ihn die Ereignisse der letzten sechs Monate zusammenzufassen, wobei sie das Thema Fuchs wohlweislich überhaupt nicht anschnitten. In dem Moment hörte man oben an der Treppe Schritte, und wir wandten den Kopf, als es plötzlich ganz still wurde um uns herum und aller Blicke sich entweder auf die Treppe oder meinen Bruder richteten. Ein junger Mann etwa in Sakuyas Alter kam einige Stufen herab, blieb dann auf der Hälfte etwa stehen und starrte stumm zu uns herüber. Er war etwas kleiner als Saku, und etwas zierlicher vielleicht; aber ebenso katzenhaft geschmeidig. Er hatte seidiges rotblondes Haar, das ihm glatt auf die schmalen Schultern fiel, und der Blick aus seinen grünen Katzenaugen war jetzt reglos und kalt. Seine Kleidung war dunkel. Er trug ein dünnes Lederband mehrfach ums Handgelenk gewickelt, und wie er da so auf der Treppe stand und stumm wie ein Felsen zu uns herabsah, sah er abweisend und verletzlich zugleich aus. Ich warf einen Blick zu Saku. Der rührte sich ebenfalls nicht, und erwiderte den kalten Blick ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Blick war hart wie Stein. “Du bist ja doch nicht tot”, sagte der junge Mann auf der Treppe nach einer Weile. Seine Stimme war ruhig, sehr ruhig, und die Bewegung erreichte nicht seine Augen. “Gut erkannt”, erwiderte Saku ebenso kühl. Der Fremde starrte ihn noch eine Weile stumm an, dann wandte er sich um und verschwand mit einigen Sätzen wieder im oberen Stockwerk. Sakuya ballte die Hände zu Fäusten. Ich sah, dass sie zitterten. Yuki schien etwas sagen zu wollen, brach dann aber in einem traurigen kleinen Seufzer ab. “Na gut”, meinte er nach einer Weile, um das bedrückende Schweigen zu brechen. “Das war immerhin ein Anfang... Dann müssen wir trotzdem noch klären, wo ihr drei schlaft. Da ich nicht davon ausgehe, dass Saku und Fuchs sich noch ein Zimmer teilen wollen”, konnte er sich nicht verkneifen, von Sakuya stur ignoriert. “Oben sind noch die zwei Zimmer frei”, sagte Valentin. “In einem ist noch eine Matratze, und ich weiß, dass Fuchs unten auch noch eine hat.” “Aber passen die denn in die Zimmer?”, wunderte sich Rose. “Sind die nicht doch zu groß?” “Nein, das passt.” “Dann können Jamie und Jun die Zimmer oben haben”, schnurrte Yukio und nahm schnell Sakuyas Arm. “Und Saku schläft bei mir.” “Das war mir neu”, sagte jener leise. Er wachte erst langsam wieder auf, und zögernd kehrte ein trauriges Lächeln in seinen düsteren Blick zurück. “Doch, doch.” “Na ja”, meinte Ilja trocken. “Wenn du willst, Wolf, kannst du ja auch bei mir schlafen, oder bei Valentin oder Rose...” “Oder Diego”, fügte Rose an. Der schüttelte sehr schnell den Kopf. “Ich hab nur ein Bett; und danke, nein.” “Hasi, du weißt Sakus vielfältige Vorzüge auch gar nicht zu schätzen. Aber du kennst schon den Unterschied zwischen ‘bei’ und ‘mit’, oder?” Yuki. “Jap, ich schon. Du etwa auch?” Sakuya schüttelte unterbrechend den Kopf. “Ist schon okay; ich schlafe bei Yu.” “Na, wie du meinst”, sagte Ilja. “Aber notfalls kannst du zu mir kommen.” “Sein Bett ist dein Bett”, warf Yuki fröhlich ein. “Yukio!!” “Oder zu mir”, fügte Valentin hinzu. Rose nickte. “Gleichfalls.” Sakuya sah sich ein wenig konsterniert um. “Ganz ruhig, Jungs. Ich bin ja noch eine Weile hier.” Der Japaner legte den Arm um ihn. “Aber jetzt ist er meiner, harr”, grinste er lasziv, doch seine hellen Augen blitzten ironisch. “Keine Sorge, Sakulein, ich rühr dich nicht an.” Saku lachte kurz auf. “Den Versuch würde ich aber zu gerne sehen!” “Ooh, du machst mir Angst. Keine Panik. Ich bin vielleicht geil, aber nicht blöd.” Er klopfte ihm auf die Schulter. Saku sah ihn solange abwartend an, bis er hinzufügte: “Na gut, schon gut, deine Brüder sind auch tabu.” “Ich bin nicht sein Bruder”, warf Junya schüchtern ein. Seine dunklen Augen füllten sich langsam mit Müdigkeit. “Ist doch egal, Schatz. Das kommt im Endeffekt aufs Gleiche raus.” Während wir uns irgendwie zu neunt in die kleine Küche quetschten, wo wir drei Wanderer sitzen und die Zwillinge mit ihrer Arbeit des Abtrocknens fortfahren konnte, ohne weggehen zu müssen, zog Valentin los nach oben, um Fuchs zu suchen und ihn soweit zu bringen, dass er ihm die übrige Matratze gab und ihm vielleicht half, oben die Zimmer wenigstens erst einmal provisorisch für uns herzurichten. Ich war mir nicht sicher, was ich von Fuchs halten sollte; er mochte sehr lieb sein, und die anderen hatten ihn alle ins Herz geschlossen und vertrauten auf seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, aber mir persönlich machte er ein wenig Angst mit der kalten Art, mit der er vorhin auf der Treppe gestanden hatte. Das mochte eine Ausnahme gewesen sein, weil er sich mit Sakuya gestritten hatte, und er war vielleicht sonst ein sensibler, fröhlicher Mensch; aber erstens hatte ich davon noch nicht allzu viel bemerkt, und zweitens würde ich mich nicht trauen, ihn anzusprechen. Vielleicht wollte er mir den Fuchs, den die anderen kannten, nicht offenbaren, weil er mich irgendwie mit Saku verband, den er so hart angestarrt hatte. Fuchs war mir ein bisschen unheimlich. Ich kannte ihn nicht, und ich hatte nur Positives von ihm gehört, aber seine Begrüßung war nicht gerade herzlich ausgefallen, und auch jetzt kapselte er sich von seinen Freunden ab, wo Sakuya wieder da war. Ich wünschte, die beiden würden sich wieder vertragen. Es war doch offensichtlich keiner von ihnen einverstanden mit der Situation, so wie sie war! Warum hatten sie nur so ein Problem, sich zu versöhnen? Ich kannte Saku; vielleicht war ihm Fuchs nur zu ähnlich. Sakuya war stolz und leicht zu verletzen. Wahrscheinlich verstanden sie sich nicht einmal selbst. Junya und ich saßen auf je einem der vier Stühle, Sakuya auf einem dritten; und Yukio, Ilja und Diego hatten sich auf die Bank neben der Tür platziert. Rose stand daneben, die Arme verschränkt. Es wurde draußen rapide dunkel, und das Licht, das durch die zwei Fenster zur Gasse und zum Hof noch hereinfiel, war gerade ausreichend, um nicht das Licht einschalten zu müssen. In diesem Haus sparte man an Licht, um mehr Strom für Musik zu haben. Einige der Bewohner waren eh Nachteulen, die nicht viel Licht brauchten. Saku und Valentin schalteten angeblich nie das Licht ein, wenn sie auch in stockfinsterer Mitternacht hellwach waren. Das war so etwas wie ein privates Gerücht innerhalb der WG. Der Haushalt war so vielfältig, dass er seine eigenen Legenden entwickelte, so kam es einem manchmal vor. Jeder der Bewohner bot genügend Stoff für viele. Ob sie nun stimmten oder nicht, war egal. Wo blieb denn sonst der Spaß? Rose stand neben uns, sah sich wie im Traum in der Küche um und strich sich in Gedanken eine breite pinke Haarsträhne aus der Stirn. Im schwachen Licht wirkte seine Haut sehr zart und bleich. Ich merkte, dass Rose meinen Blick bemerkte, und er lächelte mir zu. Ich fühlte mich gezwungen, etwas zu sagen, und außerdem hatte ich eine Frage an den pinkhaarigen Jungen. “Sag mal, Rose, darf ich dich was fragen?” “Klar. Sprich dich aus.” “Wieso heißt du Rose? Ist das nicht eigentlich ein Mädchenname?” Yukio und Sakuya wechselten einen knappen Blick, und ich fragte mich betroffen, ob ich nicht etwas Falsches gesagt hatte, aber Rose gab nach einem kurzen Zaudern Auskunft: “Ja, das ist richtig. Mein richtiger Name ist nicht Rose. Meine Mum hat... Also, geboren bin ich unter dem Namen... Thomas.” Er sprach den Namen aus, als gehörte er einem längst verstorbenen Freund. “Aha...” Ich zögerte. Das beantwortete nicht meine Frage. “Wieso...” Ich brach ab. Schön, das ging mich eben nichts an. Rose antwortete aber trotzdem auf meine unausgesprochene Frage, während seine Freunde mich im Auge behielten. “Den Namen Rose habe ich erhalten von einigen Jungs, die ich früher in London gekannt habe. Sie meinten Thomas sei zu gewöhnlich, wenn man auf den Strich geht. Aber das ist lange her. Naja, der Name ist geblieben, und er gefällt mir.” Ich sah ihn an, sein durchaus anziehendes Äußeres, seine leuchtenden seidigen Haare, seine melancholischen eisblauen Augen, und spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. “Ja, ach so...” Yuki sprang ein, um die Situation aufzulockern. “Ja”, sagte er mit einem Zwinkern, um mir die Scheu zu nehmen. “Rose ist der einzige hier außer mir, der ein Paar vernünftiger Fickmich-Stiefel besitzt.” Ich schaute nur groß; aber Junya konnte nicht anders, als zu lachen; und Rose selber grinste leicht sarkastisch. Der Japaner wies zur Verdeutlichung durch die offene Tür auf die anderen Stiefelpaare, die draußen an der Eingangstür lagen: Sakuyas schwarze Lederstiefel mit je drei Schnallen und Miguels abgetragene, staubige Motorradstiefel. “Saku hat Fick-mich-trotzdem-Stiefel und mein Schatz Diego hat Fick-dich-selber-Stiefel.” Jetzt lachte ich auch, was Yukio freute. Saku hörte ich nur sehr tief aufseufzen. “Na hör mal”, meinte Ilja fröhlich. “Hast du das nicht vermisst?” “Ich würde es nicht vermissen”, sagte Diego griesgrämig. Yuki nickte ihm zu. “Genau die Einstellung meinte ich doch gerade!” Man hörte von draußen ein Rumpeln, als zwei Leute versuchten, eine Matratze die Treppe hinauf zu schleifen, und ein dumpfer Schlag ertönte, gefolgt von einer heftigen Beschimpfung in einer weichen, aber irgendwie heiseren Stimme. Sakuya sah gezwungen beiläufig aus dem Fenster, vor dem es zappenduster war. “Mach mich nicht an; ich hab dir nichts getan”, hörte man von draußen Valentins beleidigte Stimme. Eine Weile herrschte Stille. Dann sagte die weiche Stimme kleinlaut: “Entschuldige, Valentin. Ich hab’s nicht persönlich gemeint, ehrlich.” Ilja stand auf. “Ich helfe den beiden, sonst kriegt Fuchs noch einen Nervenzusammenbruch.” Er verschwand aus der Küche und wandte bewusst den Kopf von meinem Bruder ab; man konnte deutlich seine Missgunst für das Verhalten beider Parteien spüren. Diego folgte seinem Beispiel. Er hielt den Kopf gesenkt; es war klar, dass er die Situation als unangenehm empfand. Yukio seufzte und stützte den Kopf auf beide Hände. “Dich geht das alles hier nichts an, oder?”, fragte er Saku langgezogen. Der zuckte die Schultern. “Die kommen doch zurecht zu viert.” “Entschuldige mal! Du verhältst dich wirklich kindisch, weißt du das?” “Du kannst ihm nicht ewig aus dem Weg gehen, das ist dir doch klar, oder?”, warf Minh ruhig ein, mit dem Gesicht zur Spüle, wo er schnell Ordnung schaffte. Saku zuckte wieder bloß die Schultern. “Ehrlich, Saku”, meinte Rose sanft und traurig und trat hinter ihn, um ihm die gepflegten Hände auf die Schultern zu legen. Sakuya senkte den Kopf und sackte ein wenig auf seinem Stuhl zusammen. “Kannst du dich nicht einfach ganz normal ihm gegenüber verhalten? Ihr müsst ja nicht miteinander reden; aber ihr könnt euch doch einfach freundlich behandeln, als wenn ihr euch wenigstens nicht gut kennen würdet!” “Das kann ich nicht”, sagte Saku mit gesenktem Blick. Seine Stimme war beinah unhörbar. “Das verstehst du nicht.” Rose schüttelte den Kopf. Die pinken Strähnen fielen ihm über die Augen. “Stimmt. Das verstehe ich wirklich nicht.” Er seufzte traurig auf und ließ Saku wieder los. Während er zum Fenster ging und gedankenverloren in die frühe Nacht hinausstarrte, fing Yukio wieder an: “Findest du es richtig, dass Fuchs die Matratze für deinen Bruder trägt und du hier hockst und dich weigerst, seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen?” “Als ob er das für mich tun würde, Yu...!” “Ich kann auch selbst mit der Matratze helfen”, warf ich schnell ein, denn seine Worte hatten nicht Sakuya, sondern mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Yukio schüttelte energisch den Kopf: “Ihr zwei geht so schnell wie möglich hoch und ruht euch aus. Ihr solltet euch sehen; starrt auf den Tisch wie zwei Eulen. Hat er euch so durch’s Land gejagt?” Sakuya stand auf. “Ich gehe duschen, Yu. Ich komme dann zu dir.” Der Japaner richtete sich hastig auf. “Hey, sei bitte nicht beleidigt jetzt! Bewegung ist auch was Gutes!” Saku wandte sich in der Tür um und lächelte ihm schwach zu. “Schleim soviel du willst; ich nehm dich trotzdem nicht mit.” Yukio grinste. Mir wurde gerade bewusst, dass Sakuya uns ganz alleine mit den Jungs gelassen hatte - ich mochte sie wirklich, aber noch immer waren wir so gut wie Fremde, und ich fühlte mich ein bisschen unwohl, zumal ich so müde war, dass ich kaum mehr die Augen offenhalten konnte - da klopfte Valentin an den Türrahmen und trat ein. Er musste leise lachen, als er Junya und mich sah. “Tja, wie gut, dass ich euch gleich eure neuen Zimmer zeigen wollte. Kommt mit; es sind zwar winzige Kammern, aber zum Schlafen sind sie mehr als ideal, glaubt mir.” Wir tappten hinter dem Blonden her die Treppe hoch. Er ließ uns im ersten Stock kaum Zeit, uns umzublicken; gut, auch ich wollte schnell schlafen gehen, für eine Besichtigung war immer noch Zeit genug; nur gegenüber des Treppenabsatzes war eine Tür, und neben dem anderen, den wir danach betraten, eine weitere. Wir betraten oben einen schmalen Flur; wir mussten uns jetzt in dem linken Giebel befinden, den ich von der Gasse aus gesehen hatte. Links von uns waren mehrere Türen, und unser Führer wies auf die beiden, die am weitesten links lagen; direkt neben der Treppe. Alle Türen lagen ziemlich dicht beieinander. Aber ich hatte in den letzten Monaten gar kein Zimmer für mich alleine gehabt. “Ihr könnt euch natürlich aussuchen, wer von euch welches Zimmer haben will”, erklärte er. “Es sehen beide ziemlich gleich aus. Das daneben ist der Zugang aufs Dach; das kann ich euch alles morgen zeigen, oder Saku. Daneben ist ein kleines Bad; das dürft ihr natürlich benutzen. Wenn ihr noch was brauchen solltet, dann klopft einfach bei mir”, er wies auf die Tür am weitesten links, hinter der sich einige Meter freier Wand anschlossen, “oder unten bei einem der anderen, das ist eigentlich egal. Yukis Zimmer ist das gegenüber der unteren Treppe, falls ihr Sakuya sucht. Ich jedenfalls bin wahrscheinlich erstmal wach; falls ich nicht antworten sollte, kommt einfach rein; entweder schlafe ich oder höre Musik. Ihr könnt immer reinkommen, wenn nicht abgeschlossen ist. Ansonsten ruht euch erstmal aus - ihr seht echt fertig aus.” Ich lächelte ihm schwach zu. “Danke.” Junya rieb sich die müden Augen. Sie waren ganz glasig geworden. Valentin nickte uns zu. “War ein bisschen viel auf einmal gerade eben. Kann ich verstehen. Noch eine letzte Frage, ehe ihr geht; entschuldigt: Kommt ihr eigentlich klar mit uns? Ich meine; ich weiß, dass einige der Jungs nicht ganz normal sind, ich selber ja auch nicht...” Ich schüttelte den Kopf. “Nein; ich mag euch alle sehr gerne. Wirklich. Ihr seid ein bisschen sonderbar, aber man fühlt sich wohl bei euch.” Valentin lächelte geschmeichelt. “Danke schön. Das geht uns auch so. Wir haben wahrscheinlich zu viel durchgemacht früher; und wir sind alle nur froh, dass wir nicht mehr alleine sind. Das ist der eigentliche Zweck dieser WG. Wir hocken enger als normal zusammen, weil wir nicht mehr ertragen können, alleine zu sein. Nur falls ihr euch wundern solltet. Du sahst ein bisschen erschrocken aus bei Roses Eröffnung eben.” Ich nickte ein wenig verschämt. “Es kam schon ziemlich überraschend...” “Nein, ist ja okay. Bloß hatten wir es nicht immer leicht im Leben. Wir sind ein bisschen eigen, was unser kleines Rudel angeht. Es ist immerhin unser Zuhause. Für einige das erste richtige.” Langsam verstand ich mehr und mehr, dass das sogenannte Rudel für alle Mitglieder das gleiche bedeutete. Nämlich alles. “Ich wollte nur sichergehen, dass ihr kein Problem mit einem von uns habt. Wenn doch, müsst ihr es sagen; das ist okay.” Wir schüttelten stumm den Kopf. Valentin hob die Schultern. “Na gut, ich sehe schon, ihr wollt nur schlafen. Alles klar; dann sehen wir uns morgen. Wie gesagt, wenn ihr was braucht, oder wenn ihr einfach nur ein bisschen quatschen wollt, dann klopft einfach irgendwo. Irgendjemand ist immer da.” Er winkte uns zu und verschwand dann in seinem Zimmer. Junya und ich standen uns eine Weile mehr oder weniger reglos auf dem dunklen Flur gegenüber, dann wagte Junya ein schüchternes Lächeln. “Na, dann... Schlaf gut, ja?” Ich nickte zögernd. “Du auch.” Er nickte ebenfalls und stand dann einige Sekunden lang unschlüssig auf dem Flur. Ich wartete, ob er noch etwas sagen wollte, aber er tat es nicht. Stattdessen trat er wortlos zu mir und schlang eng die Arme um mich. Ich stand vor Überraschung ganz still und hörte nur mein Herz laut schlagen in der Dunkelheit. Junya hielt sich eng an mich gedrückt. “Tut mir leid...”, flüsterte er atemlos in mein Ohr. “Jamie, bitte, nur... Darf ich dich küssen? Nur einmal...” Ich stand eine Weile starr, dann nickte ich überrumpelt, aber widerspruchslos. Junya sah mir kurz tief in die Augen, dann zog er mich an sich und drückte mir einen zarten Kuss auf die Lippen. Als das süße Gefühl wie ein stechender Blitz durch mich fuhr, löste er sich auch schon wieder von mir und murmelte ein verlegenes “...Nacht...”, woraufhin er sich umdrehte und eilig in dem linken Zimmer verschwand. Ich stand noch eine Weile stumm auf dem Flur und starrte ins Leere. Meine Lippen brannten. Ende 02/? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)