Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Gestatten, Lilly --------------------------- VI. Gestatten, Lilly „Papa!!!“ brüllte Gus, die Eingangstreppe des Kindergartens runter stürmend. Brian ging in die Knie und fing ihn auf. Ein Kind, das sprechen konnte, herrlich. „Na du“, lächelte er in Gus Ohr. „Na endlich!“ meinte Gus. „Ist Justin auch wieder heil?“ „Gesund heißt das Gus… Ich habe Oma Joan Bescheid gesagt, wir fahren jetzt nach Hause!“ „Juhu!“ jubelte Gus und umklammerte Brians Hüften. „Da wartet eine Überraschung auf dich…“ „Echt?“ freute sich Gus. „Die neuen Spongebob-Folgen auf DVD?“ wollte er wissen. „Nein… viel besser… Ich habe etwas aus Mexiko mitgebracht…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Eine Schwester…?“ fragte Gus ungläubig, in Lillys Babybett zu Fuß Brians Armani-Collection stehend starrend. „Wo kommt die denn her…?“ „Mexiko….“, erklärte Brian lakonisch. „Oh. Die ist ja voll klein. Ein Bruder war nicht im Angebot…?“ „Nein… Das kann man sich nicht aussuchen.“ „Okay… Jetzt habe ich zwei Schwestern?“ „So ist es.“ „Aber sie kann nicht sprechen… Und Jenny sagt auch nur so doofen Kram…“, meinte Gus. „Als du so klein warst, konntest du auch nicht mehr“, verwies ihn Brian. Gus schaute kritisch. „Ich war nie so klein“, bemerkte er altklug. „Im Bauch von Mama Lindsay schon… Gus… Lilly ist deine Schwester, okay?“ „Ja…“ „Sie ist ein Baby, sie kann gar nichts allein, sie braucht Hilfe. Wir müssen uns um sie kümmern. Magst du vielleicht dabei helfen…?“ Gus lächelte stolz: „Ich kann helfen! Ich bin schon fast ein Schulkind! Was soll ich machen?“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Michael öffnete die Eingangstür. Es war Zeit für Gus‘ wöchentlichen Besuch. Der kleine Junge kam vertraut herein stolziert, Brians Lächeln auf dem Gesicht. Was für eine beängstigende Ähnlichkeit… Würde Jenny auch so nach ihm kommen? Seine Augen und seine Grübchen hatte sie auf jeden Fall. Brian trat gemessenen Schrittes hinter seinem Sohn über die Türschwelle. Er trug eine Trageschale in der Hand. Für so etwas war Gus definitiv viel zu groß, und Jenny war diesem Format auch entwachsen. Bevor Michael sich recht besinnen konnte, war Brian bereits an ihm vorbei ins Wohnzimmer gezogen und stellte sein kurioses Gepäckstück neben sich auf dem Sofa ab. Gus baute sich stolz neben seinem Vater auf und sagte: „Schau mal, Onkel Mikey. Papa hat noch eine Schwester für mich mitgebracht! Das ist Lilly!“ Michaels Gehirn setzte ein paar Sekunden vollkommen aus. Irgendwie trugen seine Füße ihn wie von selbst in Richtung Couch. Sprachlos starrte hinab. In der Schale schlief ein Baby, ein winziges Neugeborenes, unter einer blauen Mohair-Decke, die kleinen Fäuste halb geballt. Seine Lippen bewegten sich. „Was… was… was…?“ stammelte er. „Nicht was, wer“, korrigierte ihn Brian selenruhig. Dann wandte er sich an das Baby: „Darf ich vorstellen, Lilly, das ist dein Onkel Mikey. Entschuldige bitte seinen momentanen Mangel an geschliffener Rhetorik, normalerweise schlägt er sich da besser.“ „Brian!“ entfuhr es Michael, das Kind anstarrend. „Was… wie… was?!“ Brian antwortete nicht, sondern hob den Winzling aus dem Korb. Die Augen öffneten sich, große blaue Flecken geisterten durch den Raum und streiften Michaels. „Sie ist super, nicht?“ posaunte Gus heraus, nach Antwort heischend. „Ja… ganz super…“, murmelte Michael schwach. „Ich schau Mal nach Jenny“, verkündete Gus, „Ist das Lego in ihrem Zimmer?“ „Ja…“ „Okay, bis später!“ meinte Gus nur und hopste vergnügt die Treppe hoch, als sei gar nichts. Michael ließ sich neben Brian und Lillys Körbchen in die Polster fallen. Er starrte seinen Freund an, der das winzig kleine Persönchen im Arm hielt und ihn stumm zurück ansah. „Brian… Wer… wer ist Lilly?“ brachte er schließlich zustande. „Meine Tochter“, antwortete Brian knapp. „Deine… deine Tochter? Aber woher…? Ich dachte, du wolltest keine… Wieso…?“ „Hör zu Michael, bevor du dich wieder übergangen fühlst: Dieses Baby war nicht geplant, ich hätte dir erst vor ein paar Tagen nichts von ihr sagen können, weil ich selber nichts ahnte.“ Michael schluckte: „Nicht geplant? Wen hast du denn bitteschön versehentlich geschwängert?!“ „Haha, sehr witzig. Nein, so war es nicht. Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht so genau, wie das passiert ist. Ich weiß nur, dass ich plötzlich in der Situation war, mich um Lilly zu kümmern oder sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen.“ „Und dann hast du spontan beschlossen, sie zu adoptieren?!“ „Ja, so in etwa… Wie gesagt, mir ist auch nicht so ganz klar, wie es dazu gekommen ist. Aber ich konnte einfach nicht…“ „Verstehe.“ „Wirklich?“ „Ja. Denk an James. Wir hätten ihn auch sich überlassen können – und was wäre dann heute mit ihm? Weißt du, wessen Tochter sie ist?“ „Ja und nein… Ich bin mir nicht sicher…“ „Aber du hast eine Vermutung?“ „Ja. Aber, Mikey, ich kann es nicht sagen. Nicht zu dir… zu niemandem. Nicht weil ich das gerne möchte – oder dir nicht vertraue – aber diese Sache… Es ist besser, nicht darin herum zu stochern. Nicht jetzt. Okay?“ Michael zögerte kurz. Dann sagte er: „Gut… okay… Darf ich sie Mal…?“ Er streckte die Arme aus. Brian musterte ihn, dann reichte er ihm den Säugling und meinte: „Okay. Ich muss sowieso pinkeln. Aber lass sie ja nicht fallen!“ „Hah!“ sagte Michael leicht beleidigt. „Ich hatte schon eine längere Zeit Babys auf dem Arm als du zusammengerechnet gebraucht hast, halb Pittsburgh zu vögeln! Also mach hier nicht einen auf Panik!“ Brian verdrehte die Augen. „Ist ja gut! Bin gleich wieder da!“ Michael musterte das Neugeborene. Ein zartes kleines Mädchen. Brians Tochter. Lilly. Wie merkwürdig… ausgesprochen merkwürdig… aber mal wieder typisch Brian, Knall auf Fall mit sowas aufzukreuzen. Brian kam wieder herein gesegelt und knöpfte ihm Lilly wieder ab. Das konnte Michael durchaus begreifen. Als Jenny geboren worden war, hatte er die Finger auch nicht von ihr lassen können. Umso schmerzhafter war es gewesen, dass das nicht möglich gewesen war… Aber jetzt… Er schluckte den Gedanken hinunter. „Was sagt eigentlich Justin dazu?“ wollte Michael wissen. „Er hätte an meiner Stelle genauso gehandelt. Wir haben nicht danach gesucht… aber Lilly hat uns gefunden. So ist es eben.“ „Und rechtlich…?“ „Habe bisher nur ich das Sorgerecht.“ „Es wird schwer, daran etwas zu ändern… Bei Gus und Jenny hat das Testament geholfen, aber als Paar zu adoptieren ist… Naja, du kannst es dir denken…“ Brian senkte den Kopf. Darum würden sie sich kümmern müssen. Justin hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Lilly gleichfalls als sein betrachtete. Und es wäre nicht gut und auch in Lillys Interesse nicht sinnvoll, diese Verbindung nicht auch juristisch geltend zu machen. Er dachte an die Kämpfe, die Melanie und Lindsay hatten ausfechten müssen. Und das politische Klima hatte sich seitdem geändert – und zwar nicht eben zum Besseren… Sie würden sich etwas einfallen lassen müssen. Michael stellte das Babykörbchen auf den Wohnzimmertisch, rückte heran und legte Brian den Arm um die Schulter, Lilly jetzt anlächelnd. „Wo auch immer du sie her hast, sie ist wirklich unglaublich…“ „Jaja, ich weiß…“, unterbrach ihn Brian, doch sein brüsker Ton überzeugte nicht recht. „Hättest du das je gedacht?“ fragte Michael ihn, Lillys Gesicht nachzeichnend. „Was?“ „Das wir einmal hier so sitzen würden…? Verheiratet… Väter…?“ Brian seufzte innerlich. Michael war doch immer so ein elendig sentimentales Kitschopfer. „Nicht Mal in meinen schlimmsten Träumen“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Blödmann“, meinte Michael dazu nur. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Gus folgte ihm etwas missmutig, als Brian schließlich zum Aufbruch blies. Er war anscheinend gerade damit beschäftigt gewesen, mit Jenny zu „spielen“, indem er eine Burg aus ihren Legosteinen baute und sie gefälligst zuschauen sollte. Jenny hatte kurzen Prozess gemacht und sein fast fertiges Werk mit einem Krabbelkinder-Kickbox-Move auseinander genommen. Gus hatte fast geheult. Jenny hingegen lag auf dem Bauch und lachte herzlich. Sie mochte zwar erst rudimentär sprechen können, dennoch machte sich Melanies Erbteil in Hinblick auf die Behandlung von Kinney-Männern offensichtlich bereits bemerkbar. „Ich hab jetzt eine neue Schwester!“ hatte er sie angefahren. „Und die ist nicht so doof wie Du!“ „Hey, Gus!“ hatte Brian ihn zurecht gewiesen, auch wenn er die herzliche Wut seines Sprösslings bestens nachvollziehen konnte. Auch er bekam Anfälle, wenn man seine Arbeit zerdepperte. „Du hast zwei Schwestern, verstanden! Und Lilly kann noch nichts kaputt machen, das ist also kein fairer Vergleich!“ „Mir doch egal!“ murmelte Gus störrisch so leise, das es fast nicht zu verstehen war. „Wie bitte?!“ „Ja….! Natürlich, Papa…!“ antwortete er derart gedehnt, dass es nicht besonders glaubwürdig herüber kam. Brian ließ sich auf keine weitere Diskussion ein und verdonnerte Gus dazu, das Spielzeug aufzuräumen. „Ungerecht!“ moserte der kleine Junge, zog einen Flunsch und schaufelte lustlos die Steine wieder zurück in die Verpackung. Brian ließ sich nicht erweichen. Wieder hinter dem Steuer hakte er seine innere Checkliste ab. Michael würde die Buschtrommeln in Bewegung setzten, das ersparte ihm zunächst die Stippvisite bei Debbie, Carl und Emmet. Die würden schon früh genug über sie herfallen. Jennifer kümmerte sich um Craig und Molly. Bei Ted reichte ein Anruf um ihn zu informieren, solange die Geschäftsleitung an ihm hing. Ihm war zwar nicht gerade wohl dabei, aber Alternativen waren nicht in Sicht. Morgen würde er es für ein paar dringende Termine zu Kinnetic schaffen. Gott sei Dank hatte er ein fähiges Team. Blieb nur noch eine Station. Ihm grauste jetzt schon. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Brian.“ „Guten Tag, Mutter.“ „Was führt dich zu mir? Wenn ich auf Gus aufpassen soll, ruf vorher an.“ „Nein, deine Qualitäten als Babysitterin sind heute nicht gefragt.“ „Ich bin kein Baby! Hallo Oma.“ „Hallo Gus.“ „Nein, weswegen ich hier bin, ist das hier.“ Er schritt, gefolgt von den anderen ohne Umwege ins Wohnzimmer und hielt dort Joan den Tragekorb unter die Nase. „Das ist Lilly!“ verkündete Gus. Joan starrte auf das Baby. „Ist das deins?“ „Sieht so aus.“ „Von dem schwangeren Mädchen?“ „Kann sein.“ „Wie bitte soll ich das verstehen?! Du hast mir doch die ganze Zeit weisgemacht, dass du nur mit Männern…“ Sie verstummte. „Gus… Ich glaube Jack hat was an deinem Garten gemacht… Schau doch mal nach…“ „Ihr wollt bloß Erwachsenengespräche führen! Jaja, ich geh ja schon!“ Heute war definitiv nicht Gus‘ Tag. Er trollte sich nach draußen in Richtung Sandkiste. Es war Vormittag, die anderen Hausbewohner waren unterwegs. „Falls es dich beruhigt: Ich war immer schwul, bin es noch und werde es immer sein.“ „Was für eine Erleichterung. Und wo kommt das Baby dann bitte her?“ „Vielleicht hat es der Storch gebracht…? Ja, das wird es wohl sein.“ „Brian, treib hier keine Späße! Woher hast du das Kind?“ Brian erzählte ihr eine abgespeckte Version und ersparte ihr vorerst Spekulationen über die Vaterschaft. „Sie ist einfach weg gegangen und hat ihr Kind zurück gelassen! Was für eine… unglaublich!“ „Mutter, sie hatte Gründe. Vor allem hatte sie Angst um Lilly. Frag mich nicht, wieso, ich weiß dass, aber nicht warum. Sie hat sie zurück gelassen, um sie zu beschützen. Und deshalb ist es absolut wichtig, dass du niemandem etwas von Daphne erzählst, ganz besonders nicht, dass sie Lilly geboren hat!“ „Das gefällt mir gar nicht.“ „Wirst du es bitteschön trotzdem tun?“ „Ja. Aber ich erwarte, dass du mir reinen Wein einschenkst, sobald du mehr weißt. Wenn ich schon lüge, dann will ich auch wissen, ob das auch zu rechtfertigen ist.“ „Jaja… Sonst hagelt es Blitze, verstehe…“ Joan verpasste ihm lediglich einen abschätzigen Blick. „Zeig mal her!“ orderte sie und deutete auf Brians Anhängsel. Brian hob den Korb, so dass sie Lilly betrachten konnte. Joan musterte das Baby eingehend, dann schnappte sie sich Lilly mit geübtem Griff, bevor Brian auch nur zucken konnte. „Sie hat deine Augen“, sagte sie schließlich, die leise quietschende Lilly mit kundigem Griff haltend. „Was?!“ „Sie hat deine Augen. Deine Augen sahen genauso aus bei der Geburt, die Wimpern und ganz blau. Sie sind erst später dunkel geworden. Wie kann das bitte sein, wenn du das Mädchen nicht angerührt hast?!“ „Daphne… Sie hat irgendwas gemacht… Sie war, ist Medizinerin in der Forschung im Bereich Fortpflanzungsmedizin…“ „So hat Gott das bestimmt nicht gewollt.“ „Schau mich da bloß nicht an! Ich kann mir das nur zusammen reimen, meine Idee war das absolut nicht! Du.. du meinst, sie ist meine biologische Tochter?“ „Natürlich kann ich mich irren. Aber für mich sieht es so aus. Die Haut ist heller und die Gesichtsknochen sind feiner geschnitten… War diese Daphne nicht Afroamerikanerin?“ „Ja… Darüber zerbrechen wir uns auch den Kopf…“ „Hat sie etwas mit dem Baby gemacht…? Man hört da ja so allerlei, wie irgendwelche Weißkittel Schindluder mit Gottes Ordnung treiben…?“ „Ich weiß es nicht! Ich vermute es. Wahrscheinlich musste Daphne das hier auch deshalb machen… damit es nicht auf Lilly zurück fällt.“ „Lilly kann nichts dafür. Auch sie ist ein Kind Gottes, die Schuld ihrer Mutter – und ihres Vaters – ist nicht die ihre. Dennoch ist sie, wie wir alle, in Sünde geboren und bedarf der Erlösung.“ „Na klasse.“ „Gut. Wann ist die Taufe?“ „Mutter! Was soll das! Gus ist ja schließlich auch nicht getauft!“ „Gus ist nicht getauft?!!!“ Als Brian es endlich schaffte, die heiligen Hallen seiner Kindheit zu verlassen, fühlte er sich erneut wie durch die Mangel gedreht. Lilly und Gus in den Bottich zu tunken, ohne dass sie das selbst so hätten entscheiden können – nur über seine Leiche! Joan war da anderer Meinung. Musste er seine Kinder jetzt mit satanistischen Amuletten behängen, damit seine Mutter nicht den nächsten unbeobachteten Augenblick für ihre Christianisierung-Kampagne nutzte? Das könnte Ärger mit dem Kindergarten geben. Aber immerhin würde Joan die Klappe halten. Und Lilly…? Heute Nachmittag hatte er seinen Termin für den Vaterschaftstest, der halbwegs wieder lebendige Justin war Morgen dran. Dann hieß es warten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)