The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 18: Verwirrung ---------------------- Cassandras Augenlider fühlten sich so unendlich schwer an, als sie mitten in der Nacht aufwachte und sich mühselig von dem Rücken auf die Seite drehte. War sie schon jemals so müde gewesen? Sie war sofort eingeschlafen, nachdem Leia ihr eine Wolldecke über das Sofa gelegt und ihr Bettzeug gebracht hatte. Nur langsam wurde Cassie so wach, dass sie an ihr hungriges Golbit im Pokéball dachte. Das Ärmste hatte noch nichts gegessen, da Cassie nicht wusste, wie Leia auf ihr Pokémon reagieren würde – sie konnte schließlich nicht einmal genau erklären, woher sie Golbit nun hatte. Langsam schwang Cassandra die Beine aus ihrem provisorischen Bett und rieb sich über die Augen, um den Schlaf aus diesen zu vertreiben, dann entließ sie Golbit aus dem Pokéball und tätschelte ihrem Pokémon den Kopf. „Warte hier, fass nichts an und bleib ruhig“, wies sie ihr Pokémon an, das gähnte und sich auf den Boden setzte, während Cassie barfuß durch den Raum zur Küche ging. Irgendwo hier musste Leia doch das Essen aufbewahren, von dem Fisch war schließlich noch genug übrig geblieben und Kuchen gab es auch noch. Im Halbdunkeln – es schien von draußen nur der Mond durch die Fenster – tastete sie sich bis zum Backofen vor, dessen Tür sie leicht öffnete, doch nichts fand. „Verdammt“, murmelte sie leise, schloss vorsichtig die Backofentür und öffnete einen der Schränke. Vor ihr standen unzählige kleine Gläschen, die mit einer sauberen Handschrift beschriftet waren. Wahllos griff Cassie sich eines der vordersten Gläser, drehte es ins Mondlicht und im selben Moment weiteten sich ihre Augen vor Schreck. „Schlafpudertee?“ Sie schraubte den Deckel ab und roch kurz daran, dann zog sie die Nase kraus, verschloss das Gefäß und stellte es zurück. Dieser Tee roch im ersten Moment so wie der, den Leia ihr am Abend zum Essen gemacht hatte, aber sie musste sich irren. Leia war gastfreundlich, weshalb sollte sie ihr so einen Tee geben. Kurz darauf entdeckte Cassie den Fisch, nahm ein großes Stück mit den Fingern aus der Auflaufform und ging zurück zu Golbit, dem sie den Fisch in die Hand drückte. „Ich weiß, es ist kein Pokémonfutter, aber ich will nicht die ganze Küche auf den Kopf stellen.“ Irgendwo hatte Leia sicher Futter für Pokémon, immerhin besaß sie ein Milotic, das sich wohl kaum jeden Tag seine Ration selbst im See fing. Seufzend ließ sie sich auf dem Sofa nieder und krabbelte wieder unter die warme Decke, während sie Golbit beim Kauen zusah. Leias Haus war so anders als die Häuser, die sie aus Johto kannte. Nicht nur, dass es von außen ein klassisches, altes Fachwerkhaus war, auch hier drinnen wirkte alles viel rustikaler mit vielen Holzmöbeln. Plötzlich machte sich ein Lichtschein im Erdgeschoss breit und Cassie zog Golbit sofort zurück in den Pokéball. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und lauschte mit klopfendem Herzen. „Sie schläft tief und fest“, sprach Leia leise vom oberen Ende der Treppe, die in den ersten Stock führte. In ihrer Hand hielt sie eine Kerze und leuchtete sich den Weg aus, als sie nach unten ging. Dicht hinter ihr lief ein älterer Mann mit einem weißen Bart. Er hielt sich am Geländer fest und war langsamer als Leia, weshalb sie alle paar Stufen auf ihn wartete. Unten angekommen führte Leia ihren nächtlichen Besucher zur Haustür. „Du kümmerst dich um alles?“ „Natürlich“, erwiderte der Mann und sein Blick fiel auf Cassie, die gerade noch rechtzeitig die Augen geschlossen hatte, um so zu tun, als würde sie noch immer schlafen. „Es war gut, dass du die Ministerin abgewimmelt hast, ein zweites Mal wird uns das nicht so leicht gelingen, fürchte ich.“ „Wir werden sehen, was sich ergibt“, sprach Leia mit sanfter Stimme. „Bis es soweit ist, sorge ich dafür, dass Cassandra hier bleibt.“ „Unterhalte sie, Leia. Langeweile bringt Torheit und Dummheit.“ Mit diesen Worten verabschiedete der ältere Herr sich von der Bürgermeisterin und trat hinaus in die kalte Luft. Leia verriegelte die Tür hinter ihm, pustete die Kerze aus und ging in der Dunkelheit die Treppe hoch zurück in ihr Zimmer. Cassies Herz klopfte noch immer wie wild. Hatte sie das, was sie gehört hatte, richtig verstanden? Sie war verwirrt von den Worten der beiden – und wieso lief dieses Treffen augenscheinlich heimlich ab? Sollte das bedeuten, dass Leia ihr tatsächlich ein Schlafmittel in den Tee gemischt hatte? War sie eine Gefangene hier? Aber weshalb? Sie hatte doch niemandem etwas getan und sie war noch nicht einmal freiwillig hier. Cassie drehte sich auf die Seite, zog die Knie bis an den Bauch an und krallte sich dabei in das Kissen, wobei sie ihre Tränen unterdrückte. Alles, was sie wollte, war doch nur wieder nach Hause zu können. Es hatte nicht lange gedauert, bis Cassie trotz ihrer massiven Aufregung wieder eingeschlafen war, der Tee wirkte noch immer in ihrem Körper nach. Zuerst hatte sie Leia am nächsten Morgen auf ihren Verdacht ansprechen wollen, doch die Frau mit den dunkelroten Haaren benahm sich so freundlich wie eh und je, dass Cassie dieses Vorhaben in ihren Hinterkopf verdrängte. Obwohl irgendetwas nicht stimmte – sie wusste nur nicht, was es war –, war sie auf Leia angewiesen. Zumindest hatte sie es bei der Bürgermeisterin warm und sie bekam Essen und Trinken, während diese gewisse Ministerin nach ihr zu suchen schien. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen“, flötete Leia, während sie einige Eier an der gusseisernen Bratpfanne aufschlug und Spiegeleier machte. „Wie ein Stein“, erwiderte Cassie und ließ Leia nicht aus den Augen. Für den Anfang wollte sie sich nicht anmerken lassen, dass sie mehr wusste, als sie sollte, trotzdem musste sie sich freundlich und dankbar benehmen, was ihr im Moment etwas schwer fiel. „Ich bin nur einmal kurz aufgewacht, als ich dachte, dass ich Schritte gehört hätte.“ Für einen winzigen Moment hielt Leia inne, dann verfrachtete sie die fertigen Spiegeleier auf zwei Teller, die bereits mit kleinen Tomaten, Gurkenscheiben, Bohnen und Toastbrot belegt waren. „Schritte? Du hast geträumt, hier läuft nachts niemand durch das Haus. Milotic kann nur kriechen, es macht keine Geräusche.“ Mit einem charmanten Lächeln servierte Leia das Frühstück und reichte Cassie einen Krug mit Kakao, aus dem sie sich bereits selbst etwas eingegossen hatte. Cassie kam zu dem Schluss, dass wohl weder der Kakao noch das Essen vergiftet waren, also langte sie ordentlich zu, denn ihr Magen fühlte sich schon wieder vollkommen leer an. „Sag, hast du auch eigene Pokémon?“ Neugierig blickte Leia zu ihrem Gast und nahm einen Bissen von ihrem Toastbrot. „Nein“, meinte Cassandra entschlossen, senkte jedoch den Blick, um nicht beim Lügen erwischt zu werden. Sie hatte sowohl Josephine als auch Lyra versprochen, dass sie sich immer um Golbit kümmern würde und solange sie nicht wusste, was genau Leia im Schilde führte, wusste sie auch nicht, ob Golbit hier sicher war. Man hatte ihr schließlich gesagt, dass Golbit ein seltenes Pokémon war und sie wollte kein Risiko bei diesen Dorfbewohnern eingehen. „Oh das ist schade“, sprach Leia zwischen zwei weiteren Bissen und einer Tomate. „Pokémon können wundervolle Partner und Beschützer sein. Je nach Saison wimmelt es im See nur so von Barschwa, vielleicht willst du dir eins fangen? Milotic ist ein starkes Wasserpokémon.“ „Danke, ich denke darüber nach.“ Cassie musste an das Streitgespräch mit Lyra denken. Sie hatte Lyra vorgeworfen, dass diese sich Nebulak nur gefangen hatte, um ebenfalls ein Geistpokémon zu besitzen. Im Trotz wollte sie sich deshalb unbedingt ein Mauzi fangen. All das schien so unendlich weit hinter ihr zu liegen, dabei war es doch erst wenige Tage her. „Oh Lyra…“ „Hast du was gesagt?“ „Nein“, erwiderte sie schnell und nahm einen großen Schluck Kakao. „Ich habe nichts gesagt.“ Nach dem Frühstück bot Leia Cassie an, dass diese ihr ein wenig im Garten helfen könnte. „Ich baue den Großteil von meinem Gemüse selbst an und auch die Obstbäume müssen regelmäßig beschnitten und gepflegt werden. Du kannst die Erde umgraben.“ Lächelnd drückte sie Cassie eine Schaufel in die Hand und holte eine große Kiste mit Blumenzwiebeln, die sie vor dem Haus einpflanzen wollte. „Ich komme zwischendurch mal schauen, wie du dich so machst.“ „Alles klar, ich helfe doch gerne.“ Die Ironie in ihrem Ton unterdrückte die Weißhaarige. Eigentlich war sie ja dankbar dafür, dass Leia sie bei sich aufgenommen hatte, obwohl sie sie nicht kannte und auch keine Fragen stellte, woher sie kam. Wieso eigentlich nicht? Widerwillig machte sie sich also an die Arbeit und grub mit der kleinen Schaufel die Erde um. Leias Garten war riesig, größer als die Fläche, die das Haus einnahm, aber zumindest war der Garten durch große, immergrüne Hecken geschützt, sodass sie niemand sehen konnte. Das war wohl besser so und vermied nervige Fragen. Abgesehen davon schien zumindest der seltsame, alte Mann von letzter Nacht die Wahrheit gesagt zu haben – solange Cassie etwas zu tun hatte, konnte sie sich nicht auf andere Gedanken konzentrieren. Zum Mittagessen rief Leia Cassandra zurück ins Haus. Es gab – wie schon am Vorabend – Fisch, dieses Mal jedoch ein wenig anders zubereitet. „Essen Sie immer so viel Fisch hier?“ „Wir sind ein Fischerdorf, der Fisch ist unser Kapital und wir leben von dem Handel damit. Er ist gesund, also beschwer dich nicht.“ Leia schien sich wirklich ein wenig über Cassies Frage aufzuregen, denn sie verteilte die beiden Portionen unsanft auf den zwei Tellern, von denen sie einen zu Cassie schob. Cassie stocherte erst einige Sekunden lang in dem überbackenen Fisch herum, dann probierte sie und begann zu essen; es schmeckte ja nicht schlecht. Während sie schweigend an dem Holztisch saßen, überlegte die Jungtrainerin, wie sie mehr Informationen aus Leia herausquetschen konnte ohne zu auffällig zu wirken. „Leia?“ „Hm?“ „Könnte ich mal Ihr Telefon benutzen? Ich würde gerne nach Johto telefonieren, damit meine Freunde wissen, wo ich bin. Sie würden mich bestimmt holen kommen. Nicht dass ich Ihre Gastfreundschaft nicht schätze, aber ich würde gerne so schnell wie möglich nach Hause.“ Leia schaute sie mit einem undefinierbaren Blick an, dann kaute sie weiter und schluckte das Stück in ihrem Mund runter. „Telefon? So etwas gibt es hier nicht. Wir könnten ein Tauboga mit der Botschaft schicken, wenn dir das hilft.“ „Taubogapost, ernsthaft?“ Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen – wo auch immer sie hier gelandet war, die ganze Gegend schien technisch weit hinter den ihr bekannten Regionen zurück zu liegen. „In welcher Region sind wir hier eigentlich? Johto und Kanto wohl kaum. Vielleicht irgendein Randgebiet von Sinnoh oder Hoenn?“ „Nein. Wie gesagt, mach dir keine Sorgen, es wird sich schon alles regeln. Noch ein paar Kartoffeln?“ Murrend nahm Cassie sich einen Nachschlag. In ihr brannten so viele Fragen, dass sie kaum wusste, welche sie zuerst stellen sollte, aber für den Moment wollte sie alles auf eine Karte setzen. „Als ich im Garten war, habe ich zwei Dorfbewohner hinter der Hecke reden gehört. Sie sagten etwas von einer Ministerin, die nach einem Flüchtling sucht. Was genau ist denn da dran? Sind wir in Gefahr?“, log sie gekonnt, mittlerweile fiel es ihr einfacher. Leia verschluckte sich an ihrem Fisch und stürzte eilig ein Glas Wasser ihren Hals hinunter. „Bei Kyurem, nein!“ Kyurem? Diese Redewendung hatte sie noch nie gehört. Sie wusste nur, dass ein paar ältere Leute aus Ebenholz City gerne „Bei Arceus“ sagten. Augenblicklich setzte Leia sanfte Gesichtszüge auf und nahm Cassies Hand, um diese ein wenig zu tätscheln. „Liebes, mach dir darüber doch keine Gedanken. Es ist alles in bester Ordnung. Du musst dich verhört haben, wir sind doch nicht in Gefahr!“ „Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich mich nicht verhört habe.“ „Aber so muss es sein. Ich bin die Bürgermeisterin, wüsste ich über eine Gefahr nicht Bescheid?“ Cassandra hielt dem starken Blick stand, dann erhob sie sich. „Danke für das leckere Essen, ich bin jetzt aber satt und mache mich im Garten wieder an die Arbeit.“ „Sicher, viel Spaß.“ Sie schaute nicht zurück, als sie das Haus verließ und wieder in den Garten ging. Leia wollte also nicht, dass sie davon wusste – aber wer genau war diese Ministerin eigentlich? Sie hatte einen gefährlichen Eindruck gemacht und ihr Panzaeron sah sehr stark aus. Im nächsten Moment wurde sie eiskalt von hinten mit einer Ladung Wasser erwischt. „Igitt, kalt!“ Milotic schlängelte sich durch den Garten und warf Cassie einen verachtenden Blick zu. „Wieso hast du das getan, verdammt!“ In Gedanken fügte sie noch ein paar Beleidigungen für das Wasserpokémon hinzu. „Ist alles in Ordnung?“ Leia erschien besorgt schauend im Garten. „Du bist ja ganz nass. Komm lieber sofort rein, ich bringe dir ein paar trockene Sachen von mir.“ „Milotic hat das mit Absicht gemacht!“ „Wohl kaum“, sprach Leia und um ihre Mundwinkel bildete sich ein Lächeln. „Ich habe ihm gesagt, dass es den Garten bewässern kann. Du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Na komm, sonst erkältest du dich. Ich mache dir einen Tee.“ Tee? Cassie sträubte sich dagegen noch einmal Tee von Leia anzunehmen, doch im Moment triefte sie vor kaltem Wasser – alles dank Leias Milotic, das ihnen hinterher schaute. Was schadeten schon der Rest des Tages und die Nacht, wenn sie wieder alles verschlief, eine Erkältung konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Resigniert und mit hängenden Schultern wartete sie in der Küche auf Leia, die ihr eine dicke Stoffhose, ein blaues Hemd und ein besticktes Gewand zum Umhängen brachte. „Zieh dich oben im Badezimmer um, derweil koche ich dir einen schönen Tee.“ „Alles klar.“ Cassie nahm die Sachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie zurück kam, stand die Tasse bereits auf dem Tisch und unter Leias wachsamen Blick trank sie alles bis auf den letzten Tropfen aus. Es war doch nur ein Tag, der ihr verlorenging. Sie würde schon noch ihre Antworten bekommen – oder nicht? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)