The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 35: Kyurem ------------------ Jeder sah, was sich hoch oben am Himmel abspielte, aber nur langsam begriffen sie nacheinander, was es war. Melik klammerte sich vollkommen geschockt an Golgantes fest und sein Gesicht war beinahe so silberweiß wie seine Haare. „Das ist unmöglich, die Zerrwelt kann durch ein paar Attacken der Legendären nicht instabil werden.“ „Offensichtlich ist sie nicht mehr so stabil, wie wir alle dachten“, fügte Sarin hinzu, doch seine Stimme war noch immer leise und gepresst. Grace wich keinen Millimeter von seiner Seite und stützte ihn, aber das änderte nichts daran, dass er Schmerzen hatte und so erschöpft war, dass er an Ort und Stelle einschlafen könnte. Die Panik brach zuerst in den Reihen der Wachen aus, die ihren Herrscher alleine zurück ließen und schreiend zum Kristallpalast liefen, doch die Hoffnung, dass sie dort sicher wären, wurde ihnen genommen, als sich auch dort Strudel am Himmel bildeten, die langsam aber sicher alles in sich einsogen. Reshiram und Zekrom bekämpften sich ungeachtet dessen weiter und jedes Mal, wenn Kreuzdonner oder Kreuzflamme nicht den jeweils anderen trafen, sondern irgendwo in den Untiefen der Zerrwelt verliefen, schienen sich die Strudel ein Stück weiter auszubreiten. Von irgendwo tief unter ihnen rollte ein erstes Erdbeben heran, das den Boden an einigen Stellen aufplatzen ließ. Lyra und Cassandra stützten sich gegenseitig, um nicht zu fallen, doch als sich genau unter ihnen die Erde abrupt um einige Zentimeter nach oben verschob und ein Riss entstand, sprangen sie zu den anderen Wächtern, die ebenso machtlos waren wie sie. „Je länger die beiden Legendären kämpfen, desto schneller schreitet die Zerstörung voran“, sagte Lyra. „Du …!“ Melik wirbelte zu Cassie herum, kam aber nicht mehr hinter seinem Golgantes hervor. „Ich habe von Anfang an gewusst, dass dein Auftauchen die Zerstörung und Vernichtung bringt. Habe ich es nicht schon immer gesagt?“ Die beiden Minister nickten zögerlich, doch auch sie schienen ratlos zu sein und wenn man genau hinsah, konnte man Angst in ihren Blicken erkennen. „Ja, Hoheit, aber was sollen wir nun tun? Wir müssen die Legendären irgendwie stoppen und wir …“ „Und ihr was?“, bellte Melik sofort und funkelte die beiden vor wenigen Minuten noch so treuen Untergebenen an. „Wir sind uns nicht mehr sicher, ob wir Prinzessin Cassandra wirklich töten sollten. Das könnte Reshiram und womöglich einige andere Legendäre noch weiter anstacheln und die endgültige Vernichtung unserer Welt bedeuten“, beendete Eyvan den Satz, den Katleen zuvor begonnen hatte. „Vielleicht …“ Sein Blick wanderte zu Lyra und den anderen Wächtern. „Vielleicht müssen wir uns auf die alten Werte besinnen und die Wächter um Hilfe bitten. Sie haben die Grenzen dieser Welt schon seit Generationen beschützt, womöglich können sie etwas tun.“ „Elende Verräter und Deserteure“, fauchte der Prinz ungehalten, doch noch immer rührte er sich nicht. Meliks Verhalten verriet den Wächtern, dass er nicht mehr weiter wusste und die aktuelle Entwicklung keinesfalls geplant war. Lyra schaute zuerst Grace und dann Sarin an. „Du hast gesagt, dass die Zerrwelt nicht mehr so stabil ist, wie du dachtest. Was meinst du damit?“ Sarin schaute auf. „In der Geschichte der Zerrwelt kam es hin und wieder zu Aufständen oder kleinen Auseinandersetzungen zwischen den Pokémon oder den Legendären, aber es gibt keine einzige Schrift, die davon erzählt, dass es so schnell solche Folgen hatte. Die Geschwindigkeit, mit der die Zerrwelt gerade ihre Stabilität verliert, deutet darauf hin, dass sie auch vorher schon sehr instabil war.“ Einen Moment lang dachte Lyra darüber nach. „Also bedeutet das, dass Cassie gar nichts damit zu tun hat?“ „Genau, das vermute ich. Diese Prophezeiung … Sie sagt zwar, dass Cassandra irgendetwas auslöst, aber vielleicht …“ „Was denkst du, Sarin? Sag schon.“ „Bedränge ihn nicht so! Du siehst doch, wie schwach er ist“, griff Grace Lyra sofort von der Seite an und schmiegte sich dabei noch enger an Sarin. Der junge Adelige schüttelte leicht seinen Kopf und stöhnte leise vor Schmerzen. „Vielleicht ist das Schicksal der Zerrwelt ohnehin schon besiegelt. Es liegt in der Natur der Zerrwelt, dass sie sich immer wieder verändert und eine eigene Dimension bildet. Dass dieser Teil über lange Zeit so stabil war, dass wir hier leben konnten, ist an sich schon etwas ganz Besonderes. Vielleicht ist unsere Zeit einfach abgelaufen und die Prophezeiung hätte uns richtig darauf vorbereiten können.“ „Das ist Unsinn!“, rief Melik ihnen sogleich zu und warf dabei immer wieder nervöse Blicke nach oben. Mittlerweile bedeckten die Wirbel schon den halben Nachthimmel und pulsierten dabei tief aus ihrem Inneren. Es sah beinahe so aus, als könnten sie einen Blick in den instabilen Teil der Zerrwelt erhaschen, in dem Giratina lebte. „Eure Hoheit, mit Verlaub, aber Prinz Sarins Worte scheinen nicht aus der Luft gegriffen zu sein, auch wenn das bedeutet, dass wir alle sterben werden.“ Eyvan und Katleen schauten sich dabei lange an, dann gingen sie zu den Wächtern herüber und knieten vor ihnen nieder. „Ehrenwerte Wächter, bitte verzeiht uns unser Handeln. Wenn es noch nicht zu spät ist, werden wir euch mit allem unterstützten, was wir zu bieten haben“, sprach Eyvan und Katleen nickte dabei, dann ergänzte sie: „Wir hätten die Wächter niemals verstoßen dürfen.“ Zunächst kamen aus Meliks Mund eine Reihe von undefinierbaren Flüchen, aus denen man nur teilweise Worte verstehen konnte wie „undankbarer Sohn eines Camerupt“ oder „stur wie ein Zebritz“, doch dann verstummte er allmählich, ließ die Schultern hängen und schien sich der Niederlage zu ergeben, die er erlitten hatte. Fünf Wächter, gesegnet mit der Kraft der Sterne, werden kommen und die zweigeteilte Macht wird wieder geeint. Unsicher schaute Lyra die anderen an. „Gibt es etwas, das wir tun können?“ Leo schaute zu Boden, Grace blickte zu Sarin, der lediglich seufzte. Finn mahlte mit den Zähnen und sah aus, als würde er lieber jetzt als gleich etwas ändern, aber auch ihm fiel nichts ein. „Die Wächter waren immer dafür da, um zwischen den Welten zu wechseln und diese Wege zu nutzen, um Energien in der Zerrwelt auszugleichen. Wir sind nicht stark genug, um sie zu retten.“ Tränen traten in Cassies Augen, als sie das hörte. „Aber wir können doch nicht einfach auf unser Ende warten! Wenn dieser Teil der Zerrwelt vernichtet wird, dann werden unzählige Pokémon und tausende Menschen sterben!“ Sie schluchzte, dann sank sie auf die Knie und ergab sich der Verzweiflung. Lyra schaute hinab auf die bebenden Schultern ihrer besten Freundin. „Nein, Cassie hat recht. Wir müssen irgendetwas versuchen. Das ist besser als uns einer blöden Prophezeiung zu ergeben, von der wir nicht einmal wissen, wie sie zu deuten ist. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand außer mir selbst mein Schicksal bestimmt. Wir sind die Wächter dieser kaputten Welt, also lasst uns endlich etwas unternehmen!“ Sie zog Cassie zurück auf die Beine, gab Finn einen Klaps auf den Rücken und blickte sie dann nacheinander mit festem Blick an. Niemand zweifelte daran, dass Lyra in diesem Augenblick zu ihrer Anführerin geworden war. Leier leuchtet hell, „Aber was sollen wir tun, Lyra? Was?“ Grace‘ Mund war leicht geöffnet. Lyra überlegte fieberhaft. „Wenn der Teleportationsmechanismus, den wir nutzen können, von den Energien der Legendären gespeist wird und gleichzeitig als Ventil für die Zerrwelt dient …“, überlegte sie laut und auf einmal hellte sich ihr Gesicht auf. „Das ist es!“ Finn konnte ihren Gedanken sofort folgen. „Verdammt, ja, das könnte funktionieren! Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?“ „Könnt ihr uns bitte aufklären?“ Leo verschränkte die Arme vor dem Körper. „Die Zerrwelt ist instabil und wird zusammenbrechen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Instabilität auf einem Ungleichgewicht der Energien basiert, ist es uns vielleicht möglich, dass wir diese Energien ausgleichen können, indem wir die Tore zu unserer Welt öffnen. Wie bei Diffusion. Dort, wo zu viel von einer Energie ist, wird sie durch die geöffneten Tore in die andere Welt fließen, um sich eigenständig auszugleichen – und umgekehrt.“ Niemand hatte bemerkt, dass Melik auf einmal direkt hinter ihnen stand. „Das ist viel zu riskant.“ Bei seinen Worten zuckten sie alle zusammen und wandten sich zu ihm um. Seine Körperhaltung war die eines geschlagenen Mannes, doch in seinem Blick funkelte noch immer etwas von der fehlgeleiteten Leidenschaft, mit der er seine Welt retten wollte, und mit beiden Händen fest umklammert hielt er das Schwert, das zuvor schon Sarin verwundet hatte. „Wenn ihr die Tore achtlos öffnet, wird die Menge an Energie den Teleportationsmechanismus zerstören. Ihr werdet nie wieder in der Lage sein zwischen der Zerrwelt und der richtigen Welt zu wechseln. Damit gleicht ihr vielleicht die aktuelle Krise aus, aber solange die Legendären nicht wieder an einem Strang ziehen, wird es wieder passieren – und was dann?“ „Wir haben keine Zeit, um uns darüber Gedanken zu machen, Bruder.“ Sarin versuchte sich an einem matten Lächeln, bekam jedoch nur eine Grimasse zustande. „Wenn wir nichts versuchen, sterben wir sowieso alle.“ „Dann macht es doch keinen Unterschied, wenn wir meinen Weg gehen?“ Melik hob ein letztes Mal das Schwert und ließ es direkt in Cassandras Richtung schwingen. Blut spritzte, dazu ein Schmerzenslaut. Leo hatte Cassie zur Seite gestoßen und das Schwert für sie abgefangen, dessen Klinge sich in seinen Oberschenkel geschlagen hatte. Im Fall hatte er Melik ebenfalls zu Boden gerissen und diesem einen letzten, blutigen Kinnhaken verpasst, der ihn ohnmächtig zusammensinken ließ. Löwe ist der unscheinbare Beschützer, „Leo!“ Lyra kniete neben ihm nieder, doch Leo stieß sie von sich und biss die Zähne zusammen, während er die Hand fest auf sein Bein drückte. „Ist nur ‘ne Fleischwunde“, nuschelte er und keuchte, als er sich aufsetzte. „Wir dürfen trotzdem keine Zeit verlieren.“ Katleen kontrollierte Melik, dann legte sie ihn in die stabile Seitenlage und nickte den Wächtern zu. „Wir werden euch unsere schnellsten Panzaeron geben. Mit denen werdet ihr die Höhle in einer halben Stunde erreicht haben. Mehr können wir nicht für euch tun, Wächter. Viel Glück.“ Eyvan händigte ihnen verschiedene Aprikokobälle aus und sogleich entließen sie sechs stattliche Panzaeron, deren glänzende Körper sich kalt anfühlten. Auf ihren Rücken waren Sättel angebracht, die aus einem dünnen, leichten Material waren. Bei der Erinnerung an ihren ersten und einzigen Panzaeron-Flug wurde Cassie zwar flau im Magen – nicht zuletzt, weil sie damals eine Gefangene war. Dennoch stieg sie sofort auf den Rücken eines Panzaeron und winkte den anderen zu es ihr gleichzutun. „Bist du sicher, dass du mit uns kommen willst?“ Finn musterte die Prinzessin skeptisch. „Wir wissen nicht, wie gefährlich es wird.“ „Das ist mir egal“, entgegnete Cassie prompt. „Ich lasse Lyra ganz sicher nicht alleine – euch alle nicht. Wir stehen das gemeinsam durch oder gar nicht.“ „Also gut.“ Finn gab sich geschlagen, zuckte mit den Schultern und stieg ebenfalls auf den Rücken eines Panzaeron. Das Pokémon schnaubte und wiegte seinen Kopf sanft hin und her. Grace, die sich bis dahin zurückgehalten hatte, half Sarin auf sein Panzaeron, dann musterte sie ihn ganz besorgt. „Bist du sicher, dass du fliegen kannst?“ „Ich bin zwar ziemlich angeschlagen, aber das kriege ich noch hin.“ Er brachte sogar die Kraft auf zu lächeln und ihr zuzuzwinkern. Grace nickte, stieg dann selbst auf, wirkte aber noch immer wie ein Häufchen Elend. Jeder hatte gesehen, wie sehr ihr Sarins Verletzung zugesetzt hatte. Als sie gedachte hatte, dass er sterben würde, war etwas in ihr zerbrochen und Lyra vermutete ganz stark, dass es Grace‘ Herz gewesen war. Gleichzeitig erhoben sie sich alle auf den Rücken der Panzaeron in die Luft. Die Pokémon brauchten einen Moment, um mit dem Gewicht ihrer Reiter abzuheben, dann schraubten sie sich in größeren und kleineren Kreisen immer weiter in die Höhe. Unter ihnen wurden Melik und die beiden Minister immer kleiner und ein erneutes Erdbeben zog weitere Risse durch den Boden, wobei es sich dieses Mal nicht mehr nur auf ihre direkte Umgebung bezog. Unter lautem Grollen brachen die ersten Stücke aus den Felsklippen und als die Wächter und Cassandra den Bergkamm überquerten, hörten sie aus der Ferne das Krachen einer Turmspitze des Kristallpalasts, die zu Boden stürzte und den halben Garten unter sich begrub. Die Panzaeron waren schnell, aber schon nach den ersten zehn Minuten wurden sie langsamer, weil sie nicht auf Ausdauer, sondern auf Tempo flogen. Überall auf der Erde knickten Bäume um und die Strudel am Himmel hatten sich über das gesamte Land ausgebreitet. Nach einer Viertelstunde überquerten sie das Fischerdorf am See, in dem Yegor und Leia lebten. Die Oberfläche des Sees kräuselte sich sehr stark und einzelne Häuser stürzten bereits in sich zusammen. Wenigstens drangen die panischen Schreie und Rufe der Menschen kaum bis zu ihnen nach oben. „Wir schaffen das“, murmelte Lyra immer wieder vor sich hin. Es war ein Wettlauf mit der Zeit und die Panzaeron verlangsamten schon wieder ihr Tempo, breiteten dann ihre Flügel ganz aus, brachten sie in eine waagerechte Position und begannen zu gleiten. „Wir schaffen das!“ Dieses Mal rief sie laut genug, damit die anderen sie hören konnten. Grace, die zwischen Sarin und Lyra flog, nickte schwach und auf einmal schien ein Schalter in ihrem Inneren umgelegt zu werden. „Wir schaffen das!“, erwiderte sie. „Bei Arceus, wir kriegen das hin! Ich werde Sarin kein zweites Mal verlieren!“ Das Leuchten in ihren Augen kehrte zurück und unter Grace‘ Antreiben mobilisierten die Panzaeron noch einmal ihre letzten Kräfte. Kranich steigt wie Phönix aus der Asche, Der Vorsprung vor der Höhle war zu schmal zum Landen, daher mussten die Panzaeron eines nach dem anderen dicht über dem Vorsprung schweben und ihre Reiter abspringen. Lyra sprang zuerst und auch wenn es nur gut eineinhalb Meter waren, klopfte ihr Herz wie verrückt. Sollte sie beim Aufprall falsch aufkommen und über die Kante rollen, wäre es das gewesen. Aller Ängste zum Trotz landetet sie perfekt, zog das erschöpfte Panzaeron in den Aprikokoball zurück und ging in den Höhleneingang, um Finn Platz zu machen. Gemeinsam lotsten sie Leos Panzaeron möglichst nah an den Boden heran. Leo presste bei der Landung die Lippen fest aufeinander und ihm stiegen Schmerzenstränen in die Augen, doch er gab keinen Laut von sich und humpelte ebenfalls in die Höhle. Gemeinsam schafften sie es dann irgendwie Sarin zu helfen und zuletzt kam Grace. Von dem Eingang der Höhle aus bot sich ihnen ein weiter Blick über das Tal. Die Bergspitzen waren noch immer mit Schnee bedeckt, obwohl es mittlerweile Mai war. Eigentlich war es ein ziemlich idyllischer Anblick, doch wenn man genau hinsah, breiteten sich die Risse im Himmel und der Erde immer weiter und tiefer aus. Immer wieder zerrissen Erdbeben die nächtliche Stille und irgendwo unter ihnen flatterten Vogelpokémon orientierungslos umher. Dann ein weiteres Beben, dieses Mal ganz in der Nähe. Felsen lösten sich aus den Bergen, polterten den Abhang herunter und schlugen dabei direkt auf dem Vorsprung auf, auf dem sie kurz zuvor gestanden hatten. Lyra und die anderen lösten sich vom Anblick des Himmels, der aus sich heraus violett und rötlich zu leuchten schien. „Schnell.“ Lyras Anmerkung war überflüssig, denn sie alle wussten, dass die nächsten Minuten entscheidend waren. Auf halbem Weg zum Höhleninneren riss ein Erdbeben sie von den Füßen und Steine rieselten von den Wänden und der Decke auf sie herab. Sie rannten weiter so schnell sie konnten, erreichten dann den Raum, in dem sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgewacht waren. Grace‘ Arkani entzündete die Fackeln an den Wänden und sträubte knurrend sein Fell, doch Grace zog es gleich wieder in seinen Pokéball zurück. „Stellen wir uns im Kreis auf. Cassie, du bleibst hinter uns.“ Sarin wies jedem eine Position zu, dann nahmen sie sich an den Händen und schlossen die Augen. Nur durch Sarins Stimme geleitet konzentrierten sie sich und spürten, wie sich in ihrer Mitte das Tor öffnete. Zunächst war es ein schwacher Windhauch, dann drang Licht durch ihre Augenlider hindurch. Als Lyra die Augen öffnete, sah sie, dass auch die anderen zu dem Licht in ihrer Mitte schauten, das sich vom Boden bis zur Höhlendecke wie eine Säule ausgebreitet hatte. Direkt aus dieser Lichtsäule wehte ein warmer Wind, der ihre Haut prickeln ließ. „Wenn man es so macht, wirkt es gar nicht mehr so bedrohlich wie beim letzten Mal.“ Oder wie damals in der Turmruine in Teak City, als Cassandra verschwunden war. Sarin nickte. „Konzentration ist alles. Ich weiß nicht, ob wir alle Pfade auf einmal anzapfen können, aber wir müssen es versuchen. Stellt euch vor, wie euer Geist durch diese Lichtsäule in alle Regionen wandert und lasst diesen Weg hinter euch nicht abreißen.“ Es war leichter gesagt als getan, aber nach einigen Minuten verstärkte sich der Wind und das Licht breitete sich in der gesamten Höhle aus. Sie mussten sich fester an den Händen packen, denn jedes Mal, wenn ein Windstoß voller Energie aus ihrer Mitte nach draußen drang, wurden sie mitgerissen. Plötzlich und vollkommen unvorbereitet wurden sie von einem riesigen Knall auseinander gerissen. Lyra spürte, wie sie an die Höhlenwand geschleudert wurde. Irgendwo gegenüber von ihr schrie Leo schmerzerfüllt auf und auch Sarins Stimme klang gequält. Finn und Grace halfen ihr auf die Beine, aber sie mussten die Augen gegen Lichtblitze abschirmen und der Wind drückte sie so stark nach hinten, dass sie ihren ganzen Körper dagegen stemmen mussten. „Was ist passiert?“ Leos Stimme von gegenüber. „Ich weiß nicht genau“, antwortete Sarin hustend. „Wir haben die Kontrolle verloren!“ Sie alle kämpften sich vorwärts und versammelten sich bei Cassandra, die auf ihrer Unterlippe kaute. „Also hat es nicht funktioniert?“ Die Erde hob und senkte sich und tief aus dem Inneren des Berges grollte es so tief, dass kein Zweifel daran bestand, dass sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr bestanden. Zenterschwere Felsen brachen einfach aus der Decke herunter und es war pures Glück, dass die Wächter verfehlt wurden. „Der Berg“, keuchte Cassie panisch. „Der Berg bricht zusammen!“ „Wir müssen das Tor wieder versiegeln!“, rief Sarin über den Lärm hinweg und griff dabei nach Grace‘ Hand. „Cassandra, versuche irgendwie die Legendären zu erreichen und wir kümmern uns darum, dass die Zerrwelt versiegelt wird!“ Mit Mühe und Not nahmen sie sich wieder an den Händen und jeder von ihnen versuchte die Lichtsäule durch Gedankenkraft wieder einzudämmen, während um sie herum alles in Chaos und Zerstörung verschwand. Lyra sah Bilder vor ihrem inneren Auge aufblitzen: Die Turmruine in Teak City, der Schrein der Ernte in Einall, das Feld der Besinnung im Ewigenwald und weitere Orte, die sie nicht erkannte, aber wusste, dass es sich um mögliche Teleportationsziele handelte. Alles verschwamm zu einer einzigen bunten Masse, dann riss die Höhlendecke ein. „Passt auf!“ Finn sprang nach vorne, mitten in das Zentrum der Lichtsäule hinein. Einen Moment lang sah es so aus als würde sein Körper in der Luft schweben, dann drang das Licht durch ihn hindurch und der Wind, der an seinem Körper gebrochen wurde, schleuderte einen riesigen Felsbrocken, der sie beinahe erschlagen hätte, nach draußen. Keine Sekunde später wurde Finns Körper vom Licht geschluckt. Delphin rettet die Todgeweihten, Aus dem Licht heraus formte sich der Schatten eines Wesens, das inmitten des Chaos wie ein Ruhepol wirkte. Lyra sah in die gelben Augen von Kyurem, das die Wächter und Cassandra betrachtete und sein Maul leicht geöffnet hatte. Es sah irgendwie … traurig aus. „Kyurem, hilf uns!“, rief Cassandra dem Legendären zu, doch dieses legte nur leicht seinen Kopf schief. „Die Zerrwelt bricht zusammen!“ Kyurems Kopf wechselte die Position zurück in den Normalzustand, dann zog es sich wieder tiefer ins Licht zurück. „Nein, geh nicht, wir brauchen dich!“ Kyurem gurrte und dieses eine, sanfte Geräusch wischte die Ängste mit einem Mal weg. Kyurem war traurig, aber es schien ihnen nicht schaden zu wollen. Es berührte ihre Herzen und die Bilder der Zerstörung, die sie gesehen hatten, verwandelten sich in Visionen einer Zerrwelt, die ganz alleine Giratina gehörte, so wie es schon immer sein sollte. Die Legendären zerstörten diese Welt nicht, sie reinigten sie. Lyra sah die anderen an. Was sollten sie tun? „Ich vertraue Kyurem.“ Alle schauten zu Sarin, als er diese Worte aussprach. „Ich glaube fest daran, dass die Legendären uns helfen. Wir müssen das Tor versiegeln, Kyurem wird uns helfen.“ Herkules kniet nieder. Kyurem gurrte erneut zur Bestätigung, dann löste es sich wieder im Lichtschein auf. Ein anderer, kälterer Wind ergriff von ihnen Besitz. Leo, der der Lichtsäule am nächsten war, wurde einfach eingesogen, dann folgte der Rest. Lyra ruderte mit den Armen in der Schwerelosigkeit und erhaschte einen Blick auf ihre Begleiter. Sie alle schwebten in einem unendlichen Raum aus Licht, über ihnen Kyurem, das schützend seine Flügel über sie hielt. So schnell, wie die Schwerelosigkeit gekommen war, so schnell wurden sie auseinander gezogen. Leo schleuderte es in die eine Richtung und sein Körper verschwand im Nichts, Finn zog es in die entgegengesetzte Richtung. Grace ergriff Sarins Hände, dann zog eine unsichtbare Macht auch sie auseinander, doch sie wollte ihn einfach nicht loslassen. „Sarin, lass mich nicht alleine!“ „Wir müssen Kyurem vertrauen. Ich glaube, es bringt uns an den Ort zurück, an den wir gehören.“ Oder in die Welt? Er sah so unendlich traurig aus und ein weiterer Ruck sorgte dafür, dass sie sich nur noch an den Fingern berührten. Grace begann zu weinen. „Ich möchte dich nicht verlieren!“ Sarin zog sich näher zu ihr heran und ihre Lippen berührten sich in einem flüchtigen Kuss, dann wurden sie beide fortgeschleudert – Sarin in Finns Richtung, Grace in eine andere. Lyra wusste, dass nun sie und Cassie an der Reihe waren. „Cassie, es tut mir leid …“ Cassie schüttelte leicht den Kopf. „Egal wo du bist, ich werde dich finden, Lyra. Beste Freundinnen für immer, schon vergessen?“ Sie lächelte ihr zu. Lyra erwiderte dieses Lächeln. Sarin hatte recht, sie mussten Kyurem vertrauen. „Beste Freundinnen für immer.“ Das Licht umfing sie, warf ihren Körper in die Ungewissheit. Sie wehrte sich nicht dagegen, sah einen Moment lang unter sich die Zerrwelt kollabieren, dann wurde es still. Der Wind ließ nach und Lyra schloss die Augen. Das letzte, was sie sah, war Kyurems gütiger Blick, bevor warme Sonnenstrahlen ihre Haut kitzelten und die eisige Kälte vertrieben, die das Legendäre Pokémon umgab. Der Glücksstern des Königs überlebt die Flut, der Seherin Unheil bringt die Vernichtung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)