Freundschaften, Feindschaften von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Verräter ------------------- I. Verräter „Mr. Kinney, es tut mir aufrichtig leid…“, beteuerte Mrs. Lennox. Brians Mund war leicht geöffnet, seine Augen weit aufgerissen. Nein. Nein, nein, nein, nein! „Das können Sie doch nicht machen!“ flüsterte Justin. „Ich muss! Bitte verstehen Sie. Wir müssen die Situation erst überprüfen. Es mögen zwar nur Anschuldigungen sein, aber…“ „Das sind Lügen!“ schrie Justin auf. „Wer hat das getan! Wer hat uns das angetan?!“ „Uns liegt uns ein anonymer Hinweis vor…“ „So läuft das also in diesem Land“, sagte Brian leise. „Jedermann kann jeden denunzieren. Ob es wahr ist oder nicht. Das ist gleichgültig geworden.“ „Die Anonymität soll dem Schutz der Betroffenen dienen und eine erhöhte Aufklärungsrate ermöglichen… Mr. Kinney, Sie wurden zweimal angezeigt, beide Male wegen sexuell motivierter Delikte. Einmal wegen Nötigung am Arbeitsplatz, einmal wegen Kindesmissbrauchs… Und Ihre Beziehung zu Ihrem Partner hat, so der Vorwurf, auch bereits begonnen gehabt, als dieser noch minderjährig war.“ Brian schloss gequält die Augen: „Alle Anklagen wurden zurück gezogen. Und wegen Justin wurde nie eine erhoben. Sieht er etwa so aus, als würde ich ihn unterjochen?“ „Den Eindruck habe ich nicht gewonnen, nein. Aber es geht hier um Gus‘ Wohlergehen, da geht die Jugend- und Sozialbehörde immer auf Nummer sicher.“ „Verstehe“, sagte Brian tonlos. „Aber natürlich verstehen wir - weil alle Schwulen potentielle Kinderschänder und sonst was sind, nicht wahr? Wie originell!“ zischte Justin bitter. „Mr. Taylor, das behauptet doch niemand!“ „Oh doch“, wütete Justin, sich hektisch durch das Haar streichend, „aber sie sind zu feige, es auszusprechen. Schieben lieber irgendwelche bürokratisch klingenden Regeln vor. Schon Mal auf die Idee gekommen, dass Brian diese Klagen aus haargenau denselben Gründen am Halse hatte? Und jetzt verwenden sie das als Argument! Das ist doch absurd!“ Mrs. Lennox seufzte. „Ich verstehe Sie ja. Und die Sache ist auch ganz und gar nicht meine Idee. Und es ist auch nur vorübergehend. Sie müssen ein psychologisches Gutachten vorlegen, und dann…“ „Wie war das noch? Im Zweifel für den Angeklagten? Die Regeln haben sich anscheinend geändert“, sagte Brian bitter. „Es geht nicht mehr darum, jemandens Schuld zu beweisen – jetzt ist es sogar schon so weit, dass man seine Unschuld beweisen muss.“ „Es geht lediglich um Gus‘ Wohlergehen…“ „Fantastisch!“ fuhr Justin sie an. „Er hat seine Mütter verloren. Was meinen Sie denn, wie es ihm dabei wohl ergeht, von uns fort geschleift zu werden? Wir sind seine Eltern! Glauben Sie, das will er?!“ „Bitte, Mr. Taylor…“ „Taylor-Kinney!“ „Mr. Taylor-Kinney. Ich bin mir der Brisanz der Lage durchaus bewusst. Gus hat ein enges emotionales Band zu ihnen beiden. Ich konnte bisher nur Gutes über Sie berichten. Mich erstaunt diese Sache kaum weniger als Sie! Aber ich repräsentiere hier den Staat, ungeachtet meiner persönlichen Meinung. Sie müssen das Gutachten einholen, dann bekommen Sie Ihren Sohn zurück!“ „Ich fass es einfach nicht!“ sagte Justin. „Und was passiert jetzt?“ fragte Brian müde. „Sie sind vorübergehend von ihren Pflichten und Rechten als Gus Schutzbefohlener entbunden und dürfen keinen Kontakt mit ihm pflegen, bis ein positiver Bescheid erfolgt ist, wovon ich jedoch ausgehe. Ihr Partner behält fürs erste das Sorgerecht, es sei denn der Vorwurf der Verführung eines Minderjährigen kann erhärtet werde. In diesem Falle würde es Mr. Und Mrs. Peterson als im Testament Zweitgenannten zufallen.“ „Wie… wie lange dauert sowas?“ presste Justin hervor. „Kommt drauf an. Sie müssen eine festgeschriebene Anzahl von Sitzungen, gesetzt in Relation zu den erhobenen Vorwürfen, bei einem psychologischen Gutachter unserer Behörde absolvieren, dann müssen das Gutachten geschrieben und akzeptiert werden. Dazu können desweiteren Befragungen der an den Vorfällen Beteiligten eingefordert werden. Schwer zu sagen, wie lange das in Anspruch nehmen wird, hängt vom Verlauf der Untersuchung ab. Selbst, wenn alles glatt läuft, sollten Sie mit mindestens vier Wochen rechnen.“ Vier Wochen! „Und was passiert“, fragte Brian, „wenn das Gutachten negativ ausfällt?“ Aber er kannte die Antwort bereits. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Fährst du in den Urlaub?“ fragte Gus erstaunt. Brian schluckte, während er Kleidung in Koffer räumte. „Für eine Weile“, antwortete er nur. „Aber wozu brauchst du so viele Sachen?“ fragte Gus irritiert. Brian schloss die Augen. Er fühlte sich innerlich wie gelähmt. Lügen? Nein, das würde die Sache nur noch schlimmer machen. „Irgendjemand hat behauptet, dass ich mich nicht gut um dich kümmere“, sagte er schließlich, seine Hosen zusammenfaltend. „Nein!“ schrie Gus auf, ließ Mr. George fallen und kam auf ihn zugerannt. Ehe Brian sich versah, hatte Gus seine Beine umklammert, drückte sich an ihn und starrte zu ihm hinauf. „Nein! Du darfst nicht weg! Bitte, Papa! Nein!“ „Gus…“, murmelte Brian hilflos, beugte sich herab und schlang sich, so sehr er es vermochte, um seinen Sohn. „Papa, nein!“ jammerte Gus und krallte sich an ihn. „Das darfst du nicht tun! Du darfst nicht weg gehen, bitte! Nein! Papa!“ Gus begann haltlos zu weinen. Brian war danach, einfach mit zu heulen. „Gus, ich muss das tun. Justin bleibt bei dir, okay? Und ich mache alles, alles, ich verspreche dir, damit ich so schnell es geht, wieder zurück zu dir darf, ja? Ich tue alles! Alles! Ich verspreche es dir! Es wird alles gut! Bitte, Gus…“ „Aber warum?“ schluchzte Gus. „Ich weiß es nicht. Irgendein böser Mensch hat das getan…“, versuchte es Brian kindgerecht zu erklären. „Der lügt! Der lügt doch! Du bist der beste Papa!“ Brian hatte das Gefühl, dass Gus kurz davor stand, ihm die Haare auszureißen, in die er sich geklammert hatte. „Natürlich lügt der!“ sagte er beschwichtigend. „Aber warum musst du dann weg!“ schniefte Gus am ganzen Körper zitternd. „Weil es leider Leute gibt, die ihm glauben wollen. Ich muss denen zeigen, dass sie sich irren“, antwortete Brian, während das Bedürfnis los zu schluchzen immer stärker wurde. „Ich sag es ihnen! Ich sag es ihnen, Papa!“ beteuerte Gus. „Das machst du. Und ich. Und Justin. Wir bekommen das wieder hin, hörst du? Sei brav und hör auf Justin, ja?“ Gus hörte einfach nicht auf zu weinen, während Brian ihn weiter wiegte. Ich bring ihn oder sie um. Wer auch immer das getan hatte. Ich ersäufe diese Person im eigenen Blut. …………………………………………………………………………………………………………………………………..……………………… Sie standen an der Haustür, nach langen Mühen hatten sie Gus dazu gebracht einzuschlafen. Er wälzte sich unruhig in den mit kleinen Eisenbahnlokomotiven bedruckten Bezügen. Brian hatte neben ihm gelegen, ihm immer und immer wieder beteuert, dass er nicht fort wolle, dass er wiederkommen werde. Er konnte nicht daran denken, was würde, wenn nicht. Justins Gesicht war bleich, in seinen Augen schien das Feuer ungebändigter Wut zu glühen. Schweigend half er Brian, sein Gepäck in das Auto zu räumen. Der Januar hatte noch mehr Schnee gebracht, einige der kahlen Büsche an der Grundstücksgrenze waren kaum noch auszumachen. „Ich komme dich Morgen bei Kinnetic besuchen.“ „Gus kann jetzt nicht in den Kindergarten…“ „Ich weiß. Debbie kocht ein Familienessen im Hause Novotny-Bruckner. Ich fahre mit ihm hin und komme dann kurz rüber.“ „Scheiße.“ „Es macht mir auch Schiss. Was ist, wenn er denkt, dass ich jetzt auch verschwinde? Ich erkläre es ihm. Und fahre dann schnell zurück.“ „Du musst mich nicht besuchen.“ „Vergiss es.“ Brian lehnte sich, fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, gegen die Seite der Corvette und zündete sich eine Zigarette an. Justin nahm sie ihm aus den Fingern und zog daran. Im Licht der Frontbeleuchtung glänzten die inzwischen steinhart überfrorenen Weihnachtshasen. Justin räusperte sich: „Das, was du Gus gesagt hast, stimmt. Du kommst bald nach Hause. Es wird gut.“ „Können wir nicht wissen.“ „Hat das je einen Unterschied gemacht?“ Nein, hatte es nicht. Sie hatten trotzdem weiter gekämpft. „Welches abartige Riesenarschloch hat das verbrochen?“ fragte Justin zum wiederholten Male. „Klein Plan. Meine Mutter? Niemals, es geht um Gus. John? Glaube ich auch nicht, zu raffiniert. Claire? Viel zu schlapp. Dein Vater? Unwahrscheinlich, es sei denn, er ist jetzt chronisch auf Droge. Ein Missverständnis oder Versehen? Niemand bringt so etwas mal so eben vor.“ „Das Ganze ist so… persönlich“, meinte Justin und vergrub die Hände in den Taschen. „Hat wer noch eine Rechnung mit uns offen?“ „Bestimmt. Aber so? Das trifft ja nicht nur mich oder dich – sondern uns und ganz besonders Gus. Ich zermartere mir das Hirn darüber, wer überhaupt von den ganzen Geschichten weiß? Kaum einer alles. Und die, die es wissen, würden niemals…“ Justin grub nachdenklich die Zehenspitze in den Schnee. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Die schwere Eisentür glitt auf. Brian trat ein und ließ seine Koffer auf den Boden fallen. Die Luft war kalt und abgestanden. Die Putzfrau kam zwar noch, aber hier lebte schon lange niemand mehr. Nur die Erinnerung. Er war da. Aber nicht zuhause. Er drehte den Warmwasserboiler und die Heizung an, aber es würde dauern, bis man hier wieder im T-Shirt durch die Gegend spazieren würde können. Er bezog das Bett, räumte seine Waschsachen ins Bad – eine kleine Auswahl – und hängte seine Anzüge in den Schrank. Da hatten sie immer gehangen. Jetzt wieder. Die Küche war leer, Justin hatte alle brauchbaren Utensilien annektiert. Fernseher und Stereoanlage waren auch nicht mehr hier. Er versuchte sich an die Nummer des Thai-Lieferservice zu erinnern. Es war still. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Novotny-Bruckner.“ „Mikey? Hier ist Brian.“ Schweigen in der Leitung. „Was soll das werden, Smalltalk? Darf ich jetzt etwa aus meinem Schäm-Eckchen wieder heraus kommen oder was?“ fragte Michael schließlich. „Nein…“, sagte Brian. Michael lauschte mit zusammen gekniffenen Augen. Dann sagte er: „Was ist los?“ „Kannst du rüber kommen?“ fragte Brian nur. „Jetzt?“ fragte Michael verblüfft. „Die Straßen sind überfroren, da brauche ich fast eine Stunde bis nach Green Tree. Und Jenny muss ins Bett…“ „Ich bin im Loft. Ist Ben nicht da?“ Bei Michael schrillten die Alarmglocken: „Was ist los, Brian? Hast du dich mit Justin gezofft?“ „Nein!“ „Ich komme rüber.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Die Spongebob-Nachtleuchte grinste ihn übertrieben heiter an. Ansonsten war es dunkel im Haus, draußen heulte der kalte Winterwind in den Ästen. Gus lag zusammen gerollt in seinen Armen. Justin schloss die Augen, immer wieder sanft über den kleinen Körper streichelnd. Gus roch so gut. Er konnte einfach nicht einschlafen. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Die Tür zum Loft war nicht abgeschlossen. Zuerst dachte Michael, Brian habe es sich anders überlegt und habe wortlos das Weite gesucht. Dann entdeckte er ihn. Brian lag auf der Couch, eine hell beige Decke über sich gezogen und starrte ins Leere. Vor ihm standen die Reste eines Thai-Imbisses und eine angebrochene Flasche Whiskey. Rasch eilte Michael zu ihm hinüber. „Scheiße, Brian, was ist hier los!“ Brian blickte hoch zu ihm, ein gestelltes Lächeln spannte seine Züge: „Ich feiere!“ „Bist du irre geworden? Was, bitte schön, feierst du!“ „Meine Ernennung zum Perversen den Monats – ach was, des Jahres. Drück mir die Daumen, vielleicht schaffe ich auch den Preis für den des Jahrzehnts oder Jahrhunderts oder Jahrtausends!“ „Brian! Was zum Teufel ist mit dir los?“ stotterte Michael entsetzt. Brian rappelte sich hoch und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. „Sieh mich an, Mikey. Da siehst du jemanden, dem man kein Kind anvertrauen kann. Nicht einmal das eigene.“ „Oh Gott, Brian!“ stieß Michael aus und ließ sich neben seinen alten Freund in die Polster fallen. „Was ist passiert? Was in Gottes Namen ist passiert?“ „Ich darf nicht mit ihm sprechen. Nicht in seine Nähe kommen“, sagte Brian nur und legte den Kopf in den Nacken. Er atmete schwer. „Wem? Brian, um Himmels willen, sag doch endlich, was hier los ist!“ Brian drehte den Kopf zu ihm. Seine Augen glänzten durch den Whiskey: „Gus. Ich darf nicht zu Gus. Ich darf nicht…“ Er begann Laute von sich zu geben, in denen sich ein hässliches Gelächter mit einem abgrundtiefen Keuchen mischte. Michael rutschte näher und schlang seine Arme um die widerstrebenden Schultern. Brian fiel schwer gegen ihn, nur sein Atem verriet, dass er noch da war. Michael streichelte ihn hilflos. „Wer?“ flüsterte er. „Wer will dir Gus weg nehmen?“ „Ich weiß nicht. Wenn ich’s wenigstens wüsste. Dann wüsste ich wenigstens gegen wen… Irgendwer hat anonym Meldung gemacht. Anzeige wegen sexueller Nötigung am Arbeitsplatz, Anzeige wegen Kindesmissbrauchs, Verführung Minderjähriger… So jemand kann doch kein Vater sein, nein nein…“ Michaels Unterkiefer fiel fassungslos herab: „Aber das ist doch Blödsinn! Das ist doch alles fallengelassen worden! Und du hast nie jemanden zu irgendetwas gezwungen. Hattest du doch auch gar nicht nötig! Und selbst wenn, hättest du es nicht gemacht. Und Verführung Minderjähriger… Justin?“ Brian murmelte zustimmend. „Himmel, der hatte doch ein Schild an die Stirn getackert: Nimm mich! Wer hat da bitteschön wen… Und deswegen ist doch keiner zur Polizei gerannt, oder? Mal abgesehen davon, dass du ihn schlussendlich geheiratet hast!“ „Ja genau, das hat dann einen ehrbaren Jungen aus ihm gemacht!“ sagte Brian und begann humorlos zu lachen, während er erneut zur Whiskey-Flasche griff. „Stell dich nicht dumm! Aber das zwischen euch ist wohl kaum nur ein kleiner Fick!“ Brian ließ ihn los und streckte sich erneut nach hinten: „Klein sowieso nicht.“ „Also zieh dir gefälligst den Schuh nicht an! Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob da nicht auch dein Gesöff aus dir spricht. Hast du eine Ahnung, wer dich angeschwärzt hat?“ Brian schüttelte den Kopf. Er studierte das Etikett der Flasche, bevor er erneut trank. „Gus“, sagte er schließlich stattdessen. „Hast du eine Ahnung, was das Gus antut? Seine Mütter sind weg! Ich bin weg!“ Michael konnte ihn nur tonlos anstarren. „Ist Justin bei ihm?“ Brian nickte. „Aber nur, solange sie nicht beschließen, dass er die von mir geschändete Unschuld ist.“ „Das ist doch Wahnsinn! Das können die doch nicht machen!“ entfuhr es Michael. „Und ob die können. Wir werden geduldet bestenfalls, mehr nicht“, meinte Brian bitter und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Nein, Brian, es gibt auch andere…“ „Aber die haben momentan wohl weniger das Sagen, befürchte ich. Wir marschieren wieder zurück in die Steinzeit, das Fähnchen moralischer Überlegenheit vor uns her schwenkend. Und die Welt hasst uns dafür. Wir sind im Krieg, schon vergessen? Da brauchen wir keine Freiheit mehr. Und Anderssein stört. Halte die Fresse, sonst bist du dran.“ „Nein, das…“ „Ist so.“ „Willst du das etwa hinnehmen?“ Brian schaute ihm unergründlich ins Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. Michael rückte wieder näher und schlang seinen Arm um Brians Schultern: „Siehst du. So bist du doch. Du lässt dich von diesen Arschlöchern nicht klein kriegen. Du bist doch… Rage.“ Brians Körper bebte, als würde er lachen. Aber er lachte nicht. Er weinte regungslos. „Ich bin nicht Rage“, sagte er. „Ich will nach Hause. Auch wenn ich sie dafür alle fertig machen muss.“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Mrs. Kinney?“ „Bitte?“ „Ich bin Mrs. Gregory und dies ist mein Partner Mr. Jennox, wir sind vom Jugend- und Sozialamt.“ Joan starrte sie ohne zu zwinkern an. „Ja und?“ „Können wir reinkommen, bitte?“ „Ich wüsste nicht, wieso.“ „Es geht um ihren Sohn, Mr. Brian Aidan Taylor-Kinney.“ „Was ist mit ihm?“ „Können wir das bitte drinnen besprechen?“ „Wenn es sein muss. Kommen Sie rein.“ Joan ließ sie ein und führte sie auf direktem Wege ins Wohnzimmer. Die beiden setzten sich, ohne dass sie es ihnen angeboten hätte. Aber das wäre auch nicht geschehen. Joan platzierte sich in ihren Lesesessel und sagte kein Wort. „Also, Mr. Kinney… Sie hatten vor ein paar Jahre Anzeige gegen ihren Sohn erhoben, weil er ihren Neffen missbraucht habe.“ „Das habe ich“, sagte Joan ungerührt, „aber es war ein Fehler.“ „Könnten Sie uns das bitte genauer erläutern?“ „Warum bitte sollte ich? Die Anzeige wurde zurück gezogen.“ „Wir führen eine Untersuchung durch, die beleuchten soll, ob ihr Sohn als Sorgeberechtigter für Gus Peterson, jetzt Gus Taylor-Kinney, geeignet ist. Vorwürfe wie die des Kindesmissbrauchs wiegen da schwer.“ „Was soll das bitte heißen?“ „Es liegt eine anonyme Anschuldigung vor, die auf Delikte seinerseits hinweisen, die ihn als Schutzbefohlenen für seinen Sohn diskreditieren.“ „Anonym? Feigheit! Und dem rennen Sie nach?“ „Das müssen wir. Wir müssen sicher stellen, dass für Gus Wohlergehen gesorgt ist.“ „Schön“, sagte Joan, „das muss ich auch. Ich habe mich damals geirrt. John, mein Enkel, hat damals gelogen. Die Anschuldigung war haltlos. Mein Sohn hat sich an keinem Kind vergriffen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Was ist mit Gus?“ „Das Sorgerecht ihres Sohnes ist augenblicklich außer Kraft gesetzt, bis wir die Lage geklärt haben.“ Joan blickte sie scharf an: „Wie bitte?“ „Ihr Sohn ist aktuell nicht Gus‘ Erziehungsberechtigter und darf ihm weder nahe kommen noch mit ihm kommunizieren.“ „Wer kümmert sich um meinen Enkel?“ „Der Partner Ihres Sohnes, Mr. …“ „Justin.“ „Ja, äh, genau.“ „Sie haben meinem Enkel dem Vater und meinem Sohn das Kind fort genommen, weil irgend so eine feige… Missgeburt ihn beschuldigt hat?“ „Hinweise dieser Art müssen wir ernst nehmen!“ „Das tue ich auch. Sie ahnen gar nicht wie sehr.“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Ted folgte Brians Bewegungen aus dem Augenwinkel. Sie hatten heute Morgen eine wichtige Vertragsbesprechung mit einer Boutique-Kette aus New Jersey, für die sie schon eine Weile arbeiteten. Brians Bewegungen wirkten fahrig. Er sah aus, als habe er einen Kater. Ted hatte ihn schon ewig nicht mehr in einem derart erkennbaren angeschlagenen Zustand gesehen. Sobald das Meeting begann, war Brian wie ausgewechselt, strahlte, wand sich dynamisch, überzog die Anwesenden mit seiner einschmeichelnden Rhetorik. Aber Ted konnte ihm die Anstrengung dahinter ansehen, wenn sie auch niemand sonst bemerkte. Kaum waren alle aus dem Konferenzraum, biss Brian in einen seiner Äpfel und sank erschöpft in seinen luxeriös gepolsterten Lederstuhl. „Brian? Alles okay?“ fragte Ted. Brian schaute durch ihn hindurch. „Ja, könnte kaum besser sein, Theodore.“ Er blätterte gedankenversunken in seiner Aktenmappe. Cynthia trat ein. „Justin ist da“, sagte sie, „er wartet in deinem Büro auf dich.“ Brian sprang auf. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Er wusste nicht, wie er da hin gekommen war, aber Justin hing an seinem Hals und fühlte sich, trotz der leichten schmelzenden Schneeschichte auf seinen Haaren, warm an. Er sagte nichts, er stand nur da, die Arme um Brian geworfen. „Alles okay…?“ flüsterte Brian. Justin schluckte. „Wie sollte das sein? Ich tue mein Bestes. Aber es geht ihm nicht gut.“ Brians Gesichtsmuskeln zuckten: „Sag ihm… sag ihm, dass ich ihn lieb habe, okay?“ „Mache ich“, würgte Justin hervor. „Aber was ist mit dir?“ Brian versuchte mit den Schultern zu zucken. „Geht schon. Ich mache Druck, meine Termine beim Psycho-Doc möglichst fix zu bekommen. Hätte nie gedacht, dass ich mal dermaßen scharf darauf sein könnte, mich auf die Couch zu legen.“ „Du gehörst auch nicht auf die Couch. Die gehören das!“ „Das sieht die Welt anscheinend entschieden anders. Außerdem wird das nicht einfach werden. Ich habe John nicht betatscht. Und ich habe auch diesen Typen bei der Arbeit nicht erpresst. Aber dich gefickt habe ich schon.“ „Ich weiß. Und den Typen bei der Arbeit… Kipp?... den hast nicht du, sondern ich erpresst.“ „Wie bitte?“ fragte Brian verständnislos. „Ich habe ihn abgeschleppt und ihm den Vorschlag unterbreitet, dich doch lieber in Ruhe zu lassen. Sonst würde mein böser Papi kommen und ihn alle machen, weil ich ja sowas von minderjährig war.“ Brian starrte ihn sprachlos an: „Du… warst das?“ „Ja, aber das ist Schnee von gestern. Und du hast mich gefickt, als ich noch minderjährig war. Aber kann das wer beweisen?“ „Michael hat es mehr oder minder mit bekommen, aber der schweigt wie ein Grab. Ted und Emmet sind nicht so blöde, was zu sagen, auch wenn sie streng genommen nur vermuten können. Debbie, auch nicht, obwohl sie durch die Wand einiges mitbekommen haben dürfte. Man muss nur aufpassen, dass sie keine Reden über das Recht auf Sex für minderjährige Schwule hält… Der halbe Darkroom? Die hatten besseres zu tun, da erinnert sich kein Schwein mehr klar dran. Deine Eltern…?“ „Meine Mutter sagt nichts, obwohl es ihr damals ziemlich gestunken hat. Mein Vater…?“ „Rede mit ihm! Ich glaube nicht, dass er uns ans Messer liefern will, aber er hat es auch immer noch nicht völlig verdaut. Nicht dass er die Dildo-Geschichte wieder aufwärmt!“ „Also ich würde sie bei Gelegenheit gerne wieder aufwärmen…“ „Kann ich mir vorstellen – du versautes Stück! Super, da werfen sie mir Übles vor und übersehen völlig, was für eine Schlampe du genau genommen bist!“ Justin grinste zum ersten Mal seit einigen Tagen breit: „Aber ich bin deine Schlampe. Und ich kann auch nichts dafür, dass alle mich immer für die Unschuld vom Lande halten.“ „Die, die dich kennen, garantiert nicht… Haben wir wen übersehen?“ „Niemand, der was Entscheidendes weiß oder ein Plappermäulchen ist, glaube ich. Daphne sagt auch kein Wort, sie ist schließlich nicht blöde nur schwanger.“ „Sie hat es dir gesagt?“ „Ja. Was? Dir auch?“ „Ja. Aber ich durfte nicht petzen.“ „Schon schräg. Sie wollte mir nicht mal sagen, wer der glückliche Vater ist.“ „Sie wird schon wissen, warum. Wenn wir es wissen sollen, wird sie sich schon melden. Und jetzt…“ Brian schnappte ihn und drückte seinen Mund auf Justins, der vor Überraschung nur mit den Armen rudern konnte. „Küss mich“, flüsterte Justin schließlich heiser. „Küss mich!“ Brian sog alles in sich hinein, gab ihm Lippen und Zunge und Zähne. Justin musste zurück zu Gus. Ihnen blieb keine Zeit. Und er würde heute Abend wieder im Loft sein Allein. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Justin stand in seinem Atelier im Dachgeschoss. Die Geschäfte liefen blendend. Nächste Woche würde ein neuer Artikel über sein Schaffen in einem international gelesenen Kunstmagazin erscheinen. Die New Yorker Regionalzeitschriften hatten mehrere kurze, aber überaus positive Berichte über ihn verfasst. Er war ein gut vermarkteter Geheimtipp, dank des Managements von Katlin‘s. Da würde er sich bald auch mal wieder blicken lassen müssen. Gus ließ lustlos seine Spielzeugeisenbahn über den Boden tuckern. Innerlich fühlte er sich genauso deprimiert wie der kleine Junge. Und wütend. Maßlos wütend. Er schnappte nach Luft und explodierte auf die Leinwand. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian lag im Halbschlaf und suchte nach der vertrauten Haut. Aber da war nichts. Nur kaltes Kissen. Es roch nach nichts, nur Staub, kein Justin. Wie sollte man da denn bitte vernünftig schlafen? Konnte er schon nicht mehr richtig schlafen ohne…? Er dachte an die Zeit auf der Couch bei Kinnetic. Das Bett war leer gewesen und nicht zu füllen, und Justin hatte in seinen Träumen geduftet. Nach was eigentlich? War das irgend so ein Atavismus? Justins bescheuerter Körpergeruch hatte ihn von Anfang an halb wahnsinnig gemacht. Nichts und niemand roch wie er. Und Gus… Er könnte seinen Kindergeruch aus einer Million Sechsjähriger heraus erkennen, da war er sich sicher. Er krallte sich in sein Kissen. Gus und Justin schliefen nur ein paar Kilometer entfernt von ihm. Es waren Lichtjahre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)