Dire straits von Karma (Gavin & Damian) ================================================================================ 01 -- "Wir sind heute hier zusammengekommen, um in gemeinsamer Trauer Abschied zu nehmen von Giselle Amalie Heimann. Sie war gerade erst siebzehn Jahre alt ..." Fröstelnd schob ich die Hände in die Taschen meiner Jacke, obwohl es eigentlich gar nicht wirklich kalt war. Die nächsten Worte des Pfarrers rauschten einfach an mir vorbei. Mein Blick hing wie festgeklebt am offenen Grab – hauptsächlich, damit ich meine Eltern nicht ansehen musste, die sich weinend und untröstlich in den Armen lagen. Schon seit ich vorgestern hier angekommen war, taten sie eigentlich nichts anderes. Selbst mein Vater, den ich mein ganzes Leben lang nur als kühl, beherrscht und unnahbar gekannt hatte, konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Der Anblick war seltsam und befremdlich für mich, ebenso wie diese ganze Situation. Ich fühlte mich wie ein Außerirdischer. Und vielleicht war ich das irgendwo auch. Ich gehörte nicht hierher. Nicht mehr. Dieses Leben hatte ich eigentlich schon vor zwei Jahren hinter mir gelassen, aber trotzdem war ich zurückgekehrt. Nicht wegen meinen Eltern, wohlgemerkt, sondern wegen ihr. Wegen Giselle. Wegen meiner kleinen Schwester, die jetzt in dieser schneeweißen, mit einem Kranz aus weißen Rosen geschmückten Holzkiste lag, die neben dem offenen Grab stand. Mühsam unterdrückte ich ein Kopfschütteln. Giselle war nicht da drin. Zumindest nicht das, was sie wirklich ausgemacht hatte. Nur ihre sogenannten ›sterblichen Überreste‹ befanden sich in dem weißen Sarg. Giselle selbst war fort. Und sie hatte nichts zurückgelassen als Trauer, Erinnerungen und Fragen, die niemand mehr beantworten konnte. Niemand konnte sich erklären, warum sie nicht mehr da war. Niemand wusste, was sie in ihren letzten Momenten gedacht hatte. Niemand hätte sagen können, warum sie an diesem für sie so schicksalhaften Tag den Entschluss gefasst hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Carina, ihre beste Freundin, machte sich schreckliche Vorwürfe deswegen, das hatte ich in den zwei Tagen seit meiner Rückkehr in meine alte Heimatstadt mitbekommen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass es einzig und allein ihre Schuld war, dass Giselle jetzt tot war – wegen eines dummen, unbedeutenden Streits, den die beiden am Morgen dieses bestimmten Tages miteinander gehabt hatten. Es waren, hatte Carina meinen Eltern und mir unter Tränen erzählt, einige sehr hässliche Worte gefallen und sie hatte Dinge gesagt, die meine Schwester wohl sehr verletzt hatten. Trotzdem konnte ich einfach nicht glauben, dass das der Grund für Giselles Entscheidung gewesen war. Ein simpler Streit unter eigentlich besten Freundinnen konnte doch nicht solche extremen Auswirkungen haben, oder? Carina war allerdings längst nicht die Einzige, die sich Vorwürfe machte. Auch Giselles Freund oder Exfreund oder was auch immer er war – ich kannte peinlicherweise nicht einmal seinen Namen; dabei war er fast ein Jahr lang mit meiner kleinen Schwester zusammengewesen – schien förmlich von seinem schlechten Gewissen aufgefressen zu werden. Er hatte, wie mir nach meiner Ankunft gleich brühwarm zugetragen worden war, erst an dem Tag, als meine Schwester sich das Leben genommen hatte, mit ihr Schluss gemacht. Natürlich lag da der Verdacht nahe, dass die Trennung sie tief getroffen hatte, aber dass Liebeskummer der Grund für ihre Entscheidung gewesen sein sollte, kam mir genauso abwegig vor wie der Streit mit Carina. Das erschien mir einfach so ... so falsch und unsinnig. Jeder Schmerz ging schließlich irgendwann einmal vorbei. Und immerhin war Giselle siebzehn und nicht mehr sieben gewesen. Sicher musste doch auch sie schon längst gewusst haben, dass die Zeit zwar vielleicht nicht alle Wunden heilen mochte, aber dass es nach ein paar Wochen oder Monaten sicher aufgehört hätte zu schmerzen. Das Gesicht des armen Jungen, mit dem er Giselles Sarg fixierte, war tränenüberströmt und so von Leid gezeichnet, dass ich mich unwillkürlich schlecht zu fühlen begann. Alle hier Anwesenden trauerten um meine Schwester. Meine Eltern mussten sich gegenseitig stützen und auch Giselles Klassenkameraden und ihre Lehrer waren allesamt vollkommen aufgelöst. Allen liefen die Tränen praktisch in Sturzbächen über die Wangen, nur ich stand stumm und unbewegt etwa einen halben Meter von der Trauergemeinde entfernt, so als würde ich gar nicht richtig dazugehören. Als wäre ich nur zufällig über den Friedhof spaziert, ebenso zufällig hier gelandet und wüsste gar nicht so recht, was ich hier eigentlich tat. Wenn ich es genau betrachtete, beschrieb das meine derzeitige Gemütslage wirklich erstaunlich gut. Ich kam mir vor wie ein gefühlloser Klotz, aber so sehr ich mich auch bemühte, die Tränen wollten bei mir einfach nicht fließen. Es war so ... so surreal und so falsch, hier am Grab meiner kleinen Schwester zu stehen, dem Pfarrer bei seiner Grabrede zuzuhören und all die Menschen zu sehen, die Giselle so viel besser gekannt hatten als ich. Fast war es, als hätte ich gar nicht das Recht, um sie zu trauern, obwohl ich doch ihr Bruder gewesen war. Eigentlich hätte sich doch bei dem Gedanken daran, dass ich meine kleine Schwester nie wiedersehen und nie wieder ihre Stimme oder ihr Lachen hören würde, irgendetwas in mir regen müssen, aber das tat es nicht. Ich fühlte mich seltsam fehl am Platze und irgendwie taub. So, als hätte ich gar keine Gefühle mehr. Vielleicht war das ja auch einfach nur meine Art, mit Giselles Tod fertig zu werden. Ich wusste es nicht. Seit ich vor gut zwei Jahren von hier fortgezogen war, um möglichst weit weg zu studieren, hatte ich so gut wie gar keinen Kontakt mehr zu meiner Familie gehabt. Mein Vater, ein angesehener Rechtsanwalt, war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich nach meinem Abitur in seine Fußstapfen treten würde. Ob ich das wirklich wollte, ob Jura mich überhaupt interessierte oder ob ich nicht vielleicht andere Interessen hatte, all das hatte ihn nie gekümmert. Und genau deshalb war ich schlussendlich gegangen. Ich hatte mich heimlich an einer Uni weit, weit weg eingeschrieben – für einen Studiengang, der mich wirklich interessierte. Natürlich war mein Vater nicht sehr erfreut gewesen, als er davon erfahren hatte, und seitdem hatten wir kaum noch ein Wort miteinander gewechselt. Auf den wenigen Familienfeiern, die zu besuchen ich mich selbst genötigt hatte, war er mir noch kühler gegenübergetreten als früher schon. Anstatt auch nur ein bisschen stolz darauf zu sein, dass ich mit meinen Noten beinahe ständig unter den Top Ten rangierte, hatte er mich nur immer wieder ausgesprochen ›dezent‹ darauf hingewiesen, dass Mathematik nun mal eben nicht Jura war und damit natürlich auch nicht wirklich zählte. Und auch meine Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie mir mein ›egoistisches Verhalten‹, wie sie es nannte, nicht verzieh. Sie hatte schon früher immer hundertprozentig hinter meinem Vater gestanden, bei allen seinen Entscheidungen, und auch bei dieser Sache hatte er selbstverständlich auf ihre Unterstützung bauen können. Ich hingegen war seit meinem Auszug aus meinem Elternhaus das schwarze Schaf der Familie – einfach nur, weil ich meinen eigenen Weg beschreiten wollte. Ganz anders meine kleine Schwester. Giselle war schon immer der Augenstern unseres Vaters und auch der ganze Stolz unserer Mutter gewesen. Ihre Noten waren immer besser gewesen als meine – nur nicht in Mathematik; das war schon immer mein Spezialgebiet gewesen –, ihr Benehmen hatte nie zu wünschen übrig gelassen und sie war alles in allem einfach ein lieberes, pflegeleichteres Kind gewesen als ich. Ich hatte früher schon rebelliert, aber niemals so offen wie als ich mich gegen den ausdrücklichen Wunsch unseres Vaters für ein Mathematikstudium eingeschrieben hatte. Diesen Ungehorsam hatte er mir nie verziehen und würde es auch nie tun, das wusste ich. Aber inzwischen kümmerte es mich nicht mehr. Seit zwei Jahren war ich endlich unabhängig und frei. Ich konnte mein Leben so leben, wie ich es für richtig hielt, und das verschaffte mir auch jetzt und hier, am Grab meiner kleinen Schwester, eine ungeheure Genugtuung. So sehr er es auch versucht hatte, letztendlich war es meinem Vater doch nicht gelungen, meinen Willen zu brechen. Ob der Druck, den unsere Eltern immer auf uns beide ausgeübt hatten, wohl auch einen Teil zu Giselles Entscheidung beigetragen hatte, ihrem Leben auf so drastische Art und Weise ein Ende zu setzen? Ich wusste es nicht und würde es auch nie erfahren, aber es hätte mich keinesfalls überrascht. Unsere Eltern hatten schon immer von uns verlangt, in allem die Besten zu sein. Sowohl Giselle als auch ich sollten klüger, höflicher, wohlerzogener, hübscher und charmanter sein als die Kinder sämtlicher Bekannten und Verwandten, damit unsere Eltern sich allem und jedem überlegen fühlen konnten. Ich war immer davon ausgegangen, dass dieser Druck Giselle nichts ausgemacht hatte, aber vielleicht hatte ich mich da getäuscht. Eigentlich, erkannte ich seltsam emotionslos, hatte ich meine eigene Schwester kaum gekannt. Mein Blick schweifte über die Trauernden und unwillkürlich fragte ich mich, ob irgendjemand von ihnen Giselle vielleicht besser gekannt hatte als ich. Hatte irgendjemand möglicherweise geahnt, was sie vorgehabt hatte? Hatte jemand die Warnzeichen gesehen? Ein Lehrer vielleicht? Oder einer ihrer Mitschüler? Hatte es überhaupt Anzeichen gegeben? Eins nach dem anderen musterte ich die Gesichter, die ich von meiner Position aus sehen konnte, aber ich konnte nichts in ihnen lesen. Ungewollt entfuhr mir ein Seufzen, das jedoch glücklicherweise leise genug war, so dass es niemand hörte. Meine kleine Schwester würde wohl auf ewig ein Mysterium für mich bleiben. Früher, als ich noch mit ihr und unseren Eltern unter einem Dach gelebt hatte, hatte ich es versäumt, sie kennen zu lernen, und jetzt war das nicht mehr möglich. Dafür war es zu spät. Wir waren, erinnerte ich mich, schon immer sehr unterschiedlich gewesen und hatten deshalb nie viel zusammen unternommen. Während meiner Klavierstunden – die ich gehasst hatte wie sonst nichts auf der Welt – hatte Giselle Ballettunterricht und Reitstunden bekommen, aber ich hatte keine Ahnung, ob sie aus freien Stücken getanzt hatte oder nur, weil man es von ihr erwartet hatte. Hatten das Tanzen und das Reiten ihr wirklich Spaß gemacht oder war sie nur zu höflich gewesen, um sich gegen die Erwartungen unserer Eltern zu stellen? Hatte sie überhaupt ein Hobby gehabt, das ihr wirklich Freude bereitet hatte? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Genauso wenig konnte ich mich daran erinnern, ob ich überhaupt jemanden von den Leuten hier kannte, von meinen Eltern und Giselles bester Freundin mal abgesehen. Aber selbst meine Erinnerungen an Carina waren bestenfalls verschwommen zu nennen. Ich hatte sie als bebrilltes Mädchen mit Zahnspange und – besonders in meiner Nähe damals – beinahe ständigem, nervigem Gekicher in Erinnerung gehabt, aber natürlich hatte auch sie sich in den letzten zwei Jahren verändert. Die Brille war geblieben, aber die Zahnspange gab es nicht mehr und auch von Gekicher konnte heute keine Rede sein. Aber das konnte ich wohl auch nicht erwarten. Schließlich hatte sie ihre beste Freundin verloren. Kichern wäre wohl noch unangebrachter als meine eigene emotionslose Reaktion auf den Tod meiner Schwester. Als meine Mutter mich am vergangenen Samstagmorgen um kurz nach sieben aus dem Bett geklingelt hatte, war ich so müde gewesen, dass nicht mal die ungewöhnliche Tatsache, dass meine Mutter mich von selbst und freiwillig anrief, mich in Besorgnis versetzt hatte. Wegen einer anstehenden Prüfung hatte ich die Nacht zuvor den Schlaf zugunsten einer Nachtschicht ausfallen lassen und so hatte ich eine Weile gebraucht, um den Sinn der Worte, die ich statt einer Begrüßung zu hören bekommen hatte, zu erfassen. "Giselle ist tot", war einfach nichts, was ich so früh am Morgen hatte begreifen und verarbeiten können. Nicht, nachdem ich in der Nacht zuvor jede Menge komplizierte Gleichungen förmlich in mein Hirn geprügelt hatte. Erst das Schluchzen am anderen Ende der Leitung hatte mich wirklich wachgerüttelt und mir mit erschreckender Deutlichkeit klargemacht, dass diese Worte meiner Mutter weder meiner Einbildung entsprungen noch ein schlechter Scherz gewesen waren. Es war seit Jahren das erste Mal gewesen, dass ich live miterlebt hatte, wie meine sonst immer so unerschütterliche Mutter die Fassung verloren hatte. Das letzte Mal davor hatte ich sie am Grab ihres Vaters weinen sehen. Mein Großvater, an dem ich sehr gehangen hatte und an den Giselle wohl kaum Erinnerungen gehabt haben dürfte, war kurz nach meiner Einschulung gestorben. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis die Erkenntnis, dass meine kleine Schwester tatsächlich tot sein sollte, wirklich bis in den letzten Winkel meines Hirns durchgesickert war. Aber selbst dann hatte ich weder geweint noch sonst etwas getan, was man gemeinhin tat, wenn man um ein verstorbenes Familienmitglied trauerte. Was hätte das auch schon genützt? Giselle war tot und daran hätte sich auch dann nichts geändert, wenn ich heulend zusammengebrochen wäre. Damit hätte ich sie auch nicht wieder ins Leben zurückholen können, also hatte ich das getan, was mir am sinnvollsten erschienen war: Gar nichts. Der Tod meiner kleinen Schwester war schließlich eine ebenso unabänderliche Tatsache wie dass es zwischen zwei Parallelen einfach keinen Berührungspunkt gab. Obwohl es mir auch heute, hier an ihrem offenen Grab, noch unwirklich erschien, so war es dennoch real. Giselle hatte sich am vergangenen Freitagabend umgebracht, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen oder vorher noch irgendjemanden zu kontaktieren. Mir war klar gewesen, dass ich für die Beisetzung in meine mir so verhasste Heimatstadt zurückkehren musste, aber dennoch hatte ich die Fahrt so lange vor mir hergeschoben, wie es nur irgendwie möglich gewesen war. Alles in mir hatte sich dagegen gesträubt, aber dennoch war ich jetzt hier als der brave, pflichtbewusste Sohn. Nur, dass ich das ganz sicher nicht war. Und noch immer fühlte ich mich, als gehörte ich nicht hierher. Ich hatte in Giselles Leben doch keine wirkliche Rolle gespielt. Schon seit Jahren nicht mehr. Oder nein, eigentlich nie. Was also sollte ich hier? Kurzzeitig spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach umzudrehen und zu gehen, ehe der Pfarrer seine Rede beendet hatte, aber ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen. Warum genau ich schlussendlich doch blieb, wusste ich nicht. Die Behauptung, dass ich es für Giselle tat, war ebenso lächerlich wie zu sagen, dass ich meinen Eltern durch meine bloße Anwesenheit Trost spenden wollte. Sie hatten einander. Sie brauchten mich nicht. Eigentlich brauchte mich hier niemand wirklich, aber dennoch blieb ich stehen, zog fröstelnd die Schultern hoch und starrte weiterhin den Sarg an, der mir allerdings auch keine Antworten auf die Fragen gab, die mir durch den Kopf geisterten. Nicht, dass ich überhaupt Antworten erwartet hätte. Weder vom Sarg noch von sonst jemandem. Nur meine Schwester hatte die Gründe für ihre Entscheidung gekannt, und sie war tot. Sie konnte niemandem mehr sagen, warum sie sich dazu entschlossen hatte, in genau dem Moment den Schritt von der Bahnsteigkante zu machen, als es für den Fahrer der S-Bahn zu spät zum Bremsen gewesen war. "Wenn noch jemand ein paar Worte über die Verstorbene sagen möchte, so mag er oder sie jetzt die Gelegenheit nutzen", unterbrach der Pfarrer meine Gedanken und ich löste meinen Blick kurz von dem weißen Holz des Sarges, um ihn ein weiteres Mal über die Trauergemeinde schweifen zu lassen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass der Pfarrer erst meine Eltern und dann mich ansah, doch ich reagierte nicht auf die stumme Aufforderung. Ich hatte nichts zu sagen. Was hätte ich auch sagen sollen? Sicher, Giselle war meine Schwester gewesen, aber ich wusste nicht viel von ihr oder über sie. Und sie hatte es nicht verdient, dass ich jetzt irgendwelche Dinge erfand oder Gefühle vortäuschte, die ich einfach nicht hatte. Wenn ich mich recht erinnerte, dann hatte sie Heuchler immer verabscheut. Wahrscheinlich, dachte ich bei mir, hätte ihr meine Anwesenheit auf ihrer Trauerfeier also auch nicht gefallen. Was für eine Ironie. Zu meinem Erstaunen löste sich tatsächlich jemand aus einer der hintersten Reihen der Menschentraube und drängelte sich in Richtung des Pfarrers durch. Ich erhaschte einen Blick auf leuchtend rot gefärbte Haare, aber mehr konnte ich erst erkennen, als die Person – offenbar einer der Jungen, mit denen meine Schwester zur Schule gegangen war – ihr Gesicht der Menge zuwandte. Sehr blaue Augen huschten über die Anwesenden und als ich den Blick dieser blauen Augen auffing, war es mir, als hätte ich den Jungen früher schon mal gesehen. Allerdings wollte mir partout nicht einfallen, wie sein Name lautete. Ich wusste nur, dass ich ihn irgendwoher kannte. Wer war er? Diese Frage beantwortete er mir, ohne dass ich sie laut aussprechen musste. "Ich bin Damian", stellte er sich vor, obwohl die meisten der Leute hier ihn zweifellos kannten. Erneut huschte sein Blick kurz zu mir und spätestens jetzt wusste ich wieder, warum er mir gleich so bekannt vorgekommen war. Ich kannte ihn tatsächlich, auch wenn seine Haare, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, noch hellbraun gewesen waren und nicht knallrot. Er war, erinnerte ich mich, früher eine Zeitlang mit Giselle befreundet gewesen. Das war jedoch nicht der Grund, aus dem ich mich so gut an ihn erinnerte. Der Grund dafür war ein anderer: Ich hatte Damian fast zwei Jahre lang Nachhilfeunterricht in Mathematik gegeben. Als ich mir diese Zeit wieder ins Gedächtnis rief, huschte, ohne dass ich es wollte, ein kurzes Grinsen über meine Lippen. Damian, der Kampfgnom. So hatte ich ihn damals immer genannt, denn er war, als wir uns kennen gelernt hatten, mehr als zwei Köpfe kleiner gewesen als ich – eine Tatsache, die ihn ungemein geärgert hatte. Ich hatte es immer sehr genossen, ihn mit seinem kleinen Wuchs aufzuziehen, und er war regelmäßig deswegen an die Decke gegangen. Trotzdem hatte ich es mir nie nehmen lassen, ihn zu ärgern, denn dafür hatte es einfach zu viel Spaß gemacht, sein explosives Temperament zum Vorschein zu bringen. Er hatte damals endlich etwas Farbe und Leben in unser tristes, steifes Elternhaus gebracht. Ich hatte ihn wirklich gemocht, den Kleinen, der in den vergangenen zwei Jahren augenscheinlich tatsächlich etwas gewachsen war. Nicht besonders viel, aber es fiel doch ins Auge, wenn man genau hinsah. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich ihn so lange nicht gesehen hatte. "Und ich war früher mal mit Giselle befreundet. Ziemlich eng sogar." Damians Stimme hatte einen seltsam angestrengten Unterton bei diesen Worten, der mich unwillkürlich die Stirn runzeln ließ. Wieder fing ich seinen Blick auf, aber er sah schnell wieder weg. Einen Moment lang wirkte er fast unsicher, aber dann atmete er noch einmal tief durch und richtete sich noch etwas gerader auf, ehe er weitersprach. "Aber das ist lange her. In den letzten zwei Jahren hatten wir eigentlich kaum noch Kontakt miteinander. Das ist nach und nach eingeschlafen. Irgendwann hatten wir uns einfach nichts mehr zu sagen. Wir waren zwar immer noch Klassenkameraden, aber längst keine Freunde mehr." Damians Worte klangen verbittert, aber den Grund dafür verstand ich nicht so recht. Ich bekam die Antwort auf meine Fragen jedoch auch dieses Mal schneller und direkter, als ich erwartet hatte. "Sicher erwartet jetzt jeder von mir, dass ich mein Bedauern darüber, dass es so gekommen ist, zum Ausdruck bringe, und dass ich sage, wie leid es mir tut, dass Giselle tot ist", fuhr er fort und in seiner Stimme schwang etwas mit, das ich nicht recht zu deuten wusste. Er klang ein bisschen so, wie er früher geklungen hatte, wenn ich ihn mal wieder so lange geärgert hatte, bis er kurz davor gewesen war, völlig auszuflippen. Sein Gesicht war eine starre Grimasse und seine blauen Augen schienen mit einem Mal förmlich Blitze zu schleudern, als er in Richtung des Sarges blickte, in dem das lag, was vor einer Woche noch meine kleine Schwester gewesen war. "Aber das werde ich nicht sagen. Ich werde ganz bestimmt nicht lügen. Nicht für sie. Giselle war ein ganz mieses, egoistisches Miststück." Bei diesen Worten schnappte die gesamte Trauergemeinde kollektiv nach Luft. Selbst ich war baff. Ich hatte mit allem möglichem gerechnet, aber nicht damit. Was mochte Giselle angestellt haben, dass der Kampfgnom so unübersehbar wütend auf sie war, obwohl sie tot war? Ich stutzte. Oder war das etwa der Grund? War er etwa wütend darüber, dass sie sich das Leben genommen hatte? Machte er sich ebenso wie Carina und Giselles namenloser Freund-Exfreund-wasauchimmer Vorwürfe, dass er nichts von ihren Absichten geahnt hatte, obwohl sie doch früher mal befreundet gewesen waren? "Es ist mir scheißegal, dass sie sterben wollte. Es ist mir auch scheißegal, warum sie sterben wollte. Was mir aber verdammt noch mal nicht egal ist, ist, wie sie unbedingt sterben musste! Es gibt tausendundeine Möglichkeit, sich umzubringen. Aber nein, Madame Giselle muss ja unbedingt den krassesten Weg nehmen – den, der ihr die meiste Aufmerksamkeit einbringt! Wie viele andere Leben sie damit ruiniert hat, war ihr doch scheißegal. Sie hat keine einzige Sekunde lang daran gedacht, wie das für den Fahrer der Bahn war, als sie einfach vom Gleis gesprungen ist. Nein, sie hat nur ihr Elend oder was weiß ich gesehen! Wenn es wirklich so was wie eine Hölle gibt, dann schmort sie jetzt hoffentlich bis in alle Ewigkeit darin. Giselle, ich hasse Dich!" Die letzten Worte zischte Damian förmlich in Richtung des Sarges und wischte sich dann fahrig mit einem Ärmel seiner grauschwarz karierten Kapuzenjacke über die Augen, ehe er zielgenau in das offene Grab spuckte. Ein paar Schritte neben mir schrie meine Mutter entsetzt auf, aber ansonsten herrschte eine fast schon unheimliche Stille. Nicht mal die Blätter der umstehenden Bäume raschelten noch. Es war, als hätte selbst die Natur den Atem angehalten. Damians Worte waren voll Hass und kalter Verachtung und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – trafen sie mich wesentlich tiefer als die Rede des Pfarrers, der ich nicht einmal richtig zugehört hatte. "Wie kannst Du es wagen, so über meine Tochter zu sprechen?!" Mein Vater stützte meine vollkommen aufgelöste Mutter noch immer, aber seine Tränen waren einem derart wutverzerrten Gesichtsausdruck gewichen, wie ich ihn noch nie an ihm gesehen hatte. Seine gesamte zornige Aufmerksamkeit war voll auf Damian konzentriert, der sich kein Stück vom Fleck bewegt hatte. Der Pfarrer neben ihm war fast ebenso bleich wie Giselles Sarg und die Rosen, aber Damian ließ das augenscheinlich völlig kalt. Das Einzige, was zeigte, dass ihn das alles doch mitnahm, waren das Zittern seiner zu Fäusten geballten Hände und das Beben seines Körpers. "Was denn? Können Sie's etwa nicht ertragen, dass mal jemand die Wahrheit über Ihre ach so tolle und perfekte kleine Prinzessin sagt?", spie er meinem Vater förmlich ins Gesicht und wenn meine Mutter sich nicht immer noch an diesem festgeklammert hätte wie eine Ertrinkende, dann hätte er sich sicher auf Damian gestürzt und den Jungen windelweich geprügelt. Der Drang war da, das sah ich ihm deutlich an, aber noch beherrschte er sich. Allerdings konnte ich förmlich dabei zusehen, wie sein Geduldsfaden immer dünner wurde. Der Kampfgnom stand auf sehr dünnem Eis, aber der Blick seiner blauen Augen besagte deutlich, dass er das ganz genau wusste. Trotzdem schien er nicht bereit zu sein, auch nur einen Millimeter von seiner Meinung abzuweichen. "Verschwinde! Sofort! Verlass auf der Stelle den Friedhof und komm mir nie wieder unter die Augen!", brüllte mein Vater und noch ehe ich so recht wusste, was ich eigentlich tat, hatte ich auch schon zwei Schritte in Richtung des offenen Grabes gemacht und packte Damian am Ärmel seiner Jacke. "Komm mit", forderte ich ihn auf, aber er schlug meine Hand weg und stapfte mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen auf meinen kochenden Vater zu, wohl um diesen noch weiter zu reizen. Ich sah keinen anderen Ausweg, als den Kampfgnom an der Hüfte zu fassen, hochzuheben und ihn mir über die Schulter zu werfen, bevor er etwas noch Dümmeres tun konnte, als es seine Ansprache schon gewesen war. Er war, stellte ich dabei fest, noch genauso leicht wie früher. Oder wenn er doch zugenommen hatte, dann fiel mir das einfach nur nicht auf. Ich mochte vielleicht Mathematik studieren, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ein unsportlicher Nerd war. Ich hatte schon früher regelmäßig Sport getrieben und auch wenn ich durch mein Studium inzwischen weniger Zeit dafür hatte, so trainierte ich doch immer noch ab und zu. "Lass mich runter! Ich mein's ernst, Gavin! Lass mich sofort wieder runter, oder Du wirst es bereuen!" Damian strampelte empört mit den Beinen und trommelte gleichzeitig mit seinen Fäusten auf meinem Rücken herum, aber ich schleppte ihn unbeirrt weiter auf den Ausgang des Friedhofs zu. Dabei konnte ich fühlen, wie meine Lippen sich zu einem eigentlich ganz und gar unangebrachten Lächeln kräuselten. Damian hatte ja früher schon über ein sehr farbiges Vokabular verfügt, aber offenbar hatte er in den vergangen zwei Jahren noch ein paar neue, sehr kreative Beleidigungen aufgeschnappt, die er mir jetzt alle nach und nach an den Kopf warf. Scheinbar war er immer noch der gleiche temperamentvolle Kampfgnom wie damals. Es gab wohl doch ein paar Dinge, die sich nicht so einfach änderten. Ich stellte Damian erst wieder auf seine Füße, als wir den Friedhof hinter uns gelassen hatten. Ich war mir ganz sicher, dass ich morgen ein paar sehr schmerzhafte blaue Flecken von seinen Fäusten haben würde, aber das war nicht so wichtig. Viel wichtiger war jetzt, die unübersehbare Wut des Kampfgnoms unter Kontrolle zu bringen und ihn vor allem davon abzuhalten, wieder zurück auf den Friedhof zu stürmen. Wenn mein Vater ihn in die Finger bekam, dann würde es nämlich ganz sicher unschön werden. "Beruhig Dich erst mal", forderte ich Damian daher auf, erntete dafür jedoch nur einen Blick, der beinahe so hasserfüllt war wie der, den er dem Sarg meiner Schwester zugeworfen hatte. "Halt bloß die Schnauze, Gavin!", fuhr er mich an, aber ich ließ mich davon nicht aus der Ruhe bringen. Das hatte er früher schon nicht geschafft und gerade heute würde ich ihm ganz sicher nicht den Gefallen tun und auf seine Provokation eingehen. Dafür war ich zugegebenermaßen auch viel zu neugierig. Was in aller Welt mochte Damian dazu gebracht haben, sich auf der Beerdigung meiner kleinen Schwester so daneben zu benehmen? Er war zwar früher schon ein Temperamentsbolzen allererster Güte gewesen, aber als taktlos oder bewusst grausam hatte ich ihn eigentlich nicht in Erinnerung. Es musste also logischerweise einen guten Grund für sein unmögliches Verhalten geben. Und genau dieser Grund interessierte mich ungemein. Warum war Damian so unglaublich wütend? Was hatte Giselle getan, um diesen scheinbar grenzenlosen Zorn zu verdienen? "Du hast doch keine Ahnung, was hier überhaupt los ist! Du hast Dich doch einfach abgesetzt und Dich zwei Jahre lang nicht mehr blicken lassen und Dich auch nicht gemeldet, also erzähl mir jetzt nicht, dass ich mich beruhigen soll, wenn Du nicht mal weißt, was Dein sauberes Miststück von Schwester eigentlich getan hat!" Damian trat einen Schritt näher, um wieder mit seinen Fäusten auf mich einzuschlagen, aber dieses Mal ließ ich ihn nicht gewähren. Stattdessen fing ich seine Hände ab und hielt sie so fest, dass er sich nicht befreien konnte. Sofort begann er wieder zu fluchen und zu zappeln, aber ich ignorierte das. "Dann erklär's mir", verlangte ich stattdessen und Damian stellte seinen fruchtlosen Versuch, sich aus meinem Griff zu winden, ein, um mich aus großen Augen anzustarren. "Wie jetzt?", fragte er vollkommen überrumpelt und ich widerstand mühsam dem Drang, ihm so durch die Haare zu wuscheln, wie ich das früher hin und wieder gemacht hatte, wenn er mich so überrascht angesehen hatte, wie er es jetzt gerade tat. Allerdings wollte ich lieber keinen erneuten Ausbruch riskieren, also gab ich einfach nur seine Hände frei und bedachte ihn mit einem auffordernden Blick. "Wie Du gerade schon ganz richtig festgestellt hast, hab ich absolut keine Ahnung, was eigentlich los ist. Ich weiß nicht, warum meine Schwester das gemacht hat. Ich hab keinen Plan, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, aber Du weißt ganz offensichtlich mehr darüber, also erzähl's mir", wiederholte ich meine Forderung und Damian ließ langsam seine Fäuste sinken. Als wäre mit einem Mal alle Spannung aus ihm gewichen, sackten auch seine Schultern ab und sein Kopf fiel ein Stück nach vorne, so dass sein Pony seine Augen verdeckte. "Willst Du das wirklich wissen?", erkundigte er sich seltsam zaghaft dafür, dass er sich gerade noch beinahe erst mit meinem Vater und dann mit mir geprügelt hatte, und ich nickte, obwohl er das durch seine Ponyfransen hindurch sicher nicht richtig sehen konnte. "Ja, will ich. Aber nicht hier. Lass uns zu mir gehen. Da kannst Du mir dann in Ruhe alles erzählen." Meine Worte brachten ihn dazu, doch wieder aufzublicken. "Ich soll mit zu Dir kommen? Zu Deinen Eltern nach Hause? Nach allem, was ich vorhin an Giselles Grab gesagt hab?", hakte er nach und in seinem Blick stand pure Verwirrung zu lesen, doch ich nickte nur ein weiteres Mal. "Solange ich hier bin, schlafe ich in meinem alten Zimmer", erklärte ich ihm den Grund für meinen Vorschlag. "Wir können aber auch woanders hingehen, wenn Dir das lieber ist", schob ich noch hinterher, doch er schüttelte den Kopf. "Nein, ist schon okay", erwiderte er leise und zog fröstelnd die Schultern hoch. Mit dem Abflauen seiner Wut schien auch seine gesamte Energie verraucht zu sein, denn er schlurfte mehr neben mir her, als dass er wirklich lief. Dabei starrte er die ganze Zeit auf seine Schuhspitzen und presste seine Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch ein schmaler Strich waren. Augenscheinlich stand ihm vorerst nicht der Sinn nach Konversation, also blieb ich ebenfalls stumm. Ihn zu drängen würde ganz sicher nichts bringen. 02 -- Den Weg bis zu meinem Elternhaus legten Damian und ich in vollkommenem Schweigen zurück. Unsere Schritte waren das einzige Geräusch neben dem Rauschen der wenigen noch vorhandenen Blätter im Herbstwind. Wie immer befiel mich auch dieses Mal beim Anblick der protzigen Villa, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, der altbekannte Widerwille dagegen, sie zu betreten, aber ich ließ mir nichts davon anmerken. Stattdessen zwang ich mich, meinen Schlüssel herauszukramen, die Tür aufzuschließen und sie für Damian aufzuhalten. Er zögerte auf der Schwelle, so als hätte er Angst, sie zu übertreten, aber noch ehe ich ihn dazu auffordern konnte, gab er sich selbst einen Ruck und trat in den Flur. Ohne mir die Mühe zu machen, meine Schuhe auszuziehen, ging ich voraus zu meinem alten Zimmer, das noch immer haargenau so aussah, wie ich es vor zwei Jahren verlassen hatte. Meine Jacke warf ich einfach achtlos auf mein Bett. Ich hatte damals bei meinem Auszug nur das Allernötigste von hier mitgenommen, denn den Großteil der Dinge, die mich an meine Eltern erinnerten, hatte ich nicht weiterhin um mich haben wollen. Wie sollte man auch ein neues Leben anfangen, wenn man den ganzen Ballast aus seinem alten Leben mitschleppte? "Willst Du was trinken?", erinnerte ich mich an die Grundregeln des Gastgebertums, aber Damian schüttelte nur den Kopf. Dabei schweifte sein Blick durch das Zimmer und für einen Moment huschte ein winziges Grinsen über seine Lippen. Offenbar war ihm auch aufgefallen, dass sich seit seinem letzten Besuch hier rein gar nichts verändert hatte. Mir kam das Zimmer bei jeder erzwungenen Rückkehr ein bisschen vor wie eine Zeitkapsel, aber diesen Gedanken behielt ich für mich. Immerhin hatte ich Damian nicht mit hierher genommen, um mit ihm über alte Zeiten zu plaudern, sondern weil ich hoffte, dass er mir einige Dinge erklären konnte, die sich bisher noch meinem Verständnis entzogen. "Setz Dich", forderte ich ihn also erst mal auf und er nahm zögerlich auf der reichlich unbequemen Couch Platz, die meine Eltern mir zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Ich überlegte einen Moment, dann ließ ich mich neben ihn fallen und sah ihn erwartungsvoll an. "Okay, schieß los." Geduld war nicht unbedingt meine größte Stärke. Zumindest dann nicht, wenn ich etwas unbedingt wissen wollte. Und der Grund für Damians Verhalten auf dem Friedhof interessierte wirklich mich über alle Maßen. Was mochte zwischen meiner Schwester und ihm vorgefallen sein, dass er ihretwegen so ausrastete? "Das war mein voller Ernst. Das, was ich vorhin am Grab gesagt hab, meine ich." Damian sah mich nicht an, aber seine Stimme klang fest und auch ein bisschen trotzig. "Ich werd mich auch nicht dafür entschuldigen. Nicht mal bei Dir. Deine Schwester war ein Miststück und ich hasse sie. Auch jetzt noch", schob er noch hinterher und warf mir einen schiefen Seitenblick zu, der etwas Misstrauisches bekam, als ich nicht weiter darauf einging. Anscheinend erwartete er, dass ich mich schon aus Prinzip auf Giselles Seite schlug, einfach weil sie meine Schwester gewesen war, aber ich wusste ja nicht mal, was sie in seinen Augen so Schlimmes getan hatte. Wie sollte ich sie verteidigen, wenn ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie falsch gemacht hatte? "Dein gutes Recht", sagte ich schließlich, weil Damian augenscheinlich auf irgendeine Reaktion von mir wartete. Allerdings überraschten meine Worte ihn offenbar ziemlich, denn sein Kopf ruckte hoch und er starrte mich aus großen blauen Augen ungläubig an. "Wie jetzt? Aber ... Sie war doch Deine Schwester", stammelte er verwirrt und ich rutschte ein wenig auf der Couch herum, so dass ich ihn besser ansehen konnte. "Sicher war sie das", bestätigte ich dann, "aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht auch ihre Fehler hatte. Die hatte sie ganz bestimmt. Außerdem kannte ich sie doch so gut wie gar nicht. Ich hab nicht die leiseste Ahnung, was in ihrem Leben so los war oder warum sie das gemacht hat. Wie soll ich mir da ein Urteil bilden?" Daraufhin schwieg Damian eine ganze Weile und starrte mit gerunzelter Stirn auf den dunkelblauen Teppich, mit dem mein altes Zimmer ausgelegt war. Seine Finger spielten unablässig mit dem Reißverschluss seiner Kapuzenjacke, so als bräuchten sie unbedingt eine Beschäftigung, während ihr Besitzer scheinbar konzentriert nachdachte. "Ich weiß auch nicht, warum sie sich umgebracht hat", kam es schließlich leise und Damian kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum, ehe er mich doch wieder ansah. "Ich glaub nicht, dass sie überhaupt mit jemandem darüber gesprochen hat, was sie vorhatte. Aber wenn, dann hätte sie ganz bestimmt nicht mit mir geredet. Wir ... wir haben uns mit der Zeit einfach auseinandergelebt. Nachdem Du weg warst, hatten wir immer weniger Kontakt miteinander. Und irgendwann haben wir uns dann kaum noch gegrüßt, wenn wir uns in der Schule über den Weg gelaufen sind. Sie hatte ihren eigenen Freundeskreis und ich meinen", fuhr er fort und ich bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er weitersprechen sollte. "Ich ... ich bin nicht sauer auf sie, weil sie sich umgebracht hat. Ich meine, wer hat noch nicht darüber nachgedacht?" Blaue Augen huschten kurz über mein Gesicht, dann wandte Damian den Kopf ab und ließ seinen Blick stattdessen wieder durch mein Zimmer schweifen. Ich schwieg, denn ich wollte seine Gedanken nicht unterbrechen. "Ich glaub, das ist irgendwie normal oder so. Und wenn jemand es wirklich tut ... Ja, ist halt scheiße für die, die zurückbleiben, aber ... ach, ist ja auch egal." Er winkte ab, sah mich aber noch immer nicht wieder an. Offenbar war ihm das Thema unangenehm, aber das konnte ich ihm nicht verdenken. Wer sprach denn auch schon gerne über solche Dinge? Ich konnte mir bei weitem angenehmere Gesprächsthemen vorstellen, aber die standen gerade nun mal nicht zur Debatte. "Aber Giselle ...", fing Damian an, brach ab und rutschte ans andere Ende der Couch – und damit noch ein Stück weiter weg von mir, registrierte ich ganz automatisch. Fast wirkte er, als hätte er Angst vor dem, was er im Begriff war, mir zu erzählen. Ich war versucht, ihm zu sagen, dass es auch okay wäre, wenn er nicht darüber reden wollte, aber ich sprach die Worte nicht aus. Dafür war ich, wie ich mir zu meiner Schande eingestehen musste, inzwischen eindeutig viel zu neugierig. Ich wollte mittlerweile wirklich unbedingt wissen, womit Giselle sich Damians Zorn zugezogen hatte. "Weißt Du ... Erinnerst Du Dich noch daran, dass mein Vater bei der Deutschen Bahn arbeitet, Gavin?" Fragend blickte er mich jetzt doch wieder an und ich wollte schon den Kopf schütteln, als mir dämmerte, was er mir damit sagen wollte. Und jetzt, wo ich so darüber nachdachte, erinnerte ich mich tatsächlich dunkel daran, dass Damian mir vor Jahren mal irgendwann erzählt hatte, dass sein Vater bei der Deutschen Bahn als Lokführer beschäftigt war. Er fuhr S-Bahn ... "Oh Scheiße!", war alles, was ich dazu sagen konnte. Meine Augen weiteten sich, während das Blut in meinen Ohren zu rauschen begann. Meine kleine Schwester hatte sich am vergangenen Freitagabend vor eine S-Bahn geworfen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, und Damians Vater ... "Hat sie ...? Sie hat ...? Oder?", krächzte ich erstickt und Damian nickte. Tränen traten in seine Augen, doch er blinzelte sie zornig zurück. Mir presste die Erkenntnis sämtliche Luft aus den Lungen. Damians Vater war derjenige, der meine Schwester praktisch auf dem Gewissen hatte. Er hatte Giselle sterben sehen. Wie meine Eltern und ich von der Polizei erfahren hatten, hatte der – bis vor zehn Sekunden noch gesichts- und namenlose – Fahrer zwar versucht zu bremsen, aber dafür war es bereits zu spät gewesen. Giselle hatte noch nie dazu geneigt, halbe Sachen zu machen. Das war zu Lebzeiten nicht ihre Art gewesen und selbst im Tod hatte sich das scheinbar nicht geändert. "Oh Gott. Oh mein Gott. Damian, ich ... Es tu–" Weiter kam ich nicht. Mit einer harschen Bewegung schnitt Damian mir das Wort ab. "Sag jetzt bloß nicht, dass es Dir leid tut, Gavin!", pflaumte er mich an, während die gerade noch erfolgreich zurückgedrängten Tränen ihm jetzt doch über die Wangen liefen und hektisch von den Ärmeln seiner Kapuzenjacke fortgewischt wurden. "Kannst Du Dir eigentlich vorstellen, wie das ist, wenn so was passiert? Mein Vater ist mit den Nerven total am Ende. Er hat eine Notbremsung gemacht, obwohl er ganz genau wusste, dass es zu spät dafür war! Trotzdem hat er's versucht, aber es hat nichts mehr genützt. Und dann hat einer seiner Kollegen per Funk die Nachricht durchgegeben, dass die Strecke gesperrt werden muss – wegen eines ›Personenschadens auf den Gleisen‹. Weißt Du, was diese vier Worte bedeuten?" Er gab sich redlich Mühe, wütend zu klingen, aber durch das unterdrückte Schluchzen in seiner Stimme klang das nicht so glaubwürdig, wie er das sicher beabsichtigt hatte. "Mein ... mein Vater ist einfach zusammengebrochen, als er diese Worte gehört hat. Einfach so. Und seitdem ..." Damian schluchzte auf und biss sich auf die Unterlippe. Sein ganzer Körper bebte und seine Stimme zitterte, als er weitersprach. "Seitdem ist er ... nicht mehr ansprechbar. Er ist immer noch im Krankenhaus. Körperlich fehlt ihm nichts, aber seelisch ... Er hat sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Er erkennt weder meine Mutter noch mich. Wir ... wir kommen einfach nicht mehr an ihn ran." Das Schluchzen wurde lauter und Damian erstickte es mit dem Ärmel seiner Kapuzenjacke, aber die Tränen wollten einfach nicht aufhören zu fließen. "Er reagiert auf nichts mehr. Auf gar nichts. Meine Mutter ist total fertig deswegen. Sie ... Sie muss seitdem Tabletten nehmen, damit sie nicht auch noch ... damit sie den Alltag überhaupt noch irgendwie auf die Reihe kriegt. Meine Familie ist seit letztem Freitag total im Arsch. Und die ganze Zeit reden alle nur von der ›armen Giselle‹, sagen, dass es ja so schade um sie ist und dass es ja überhaupt keine Warnzeichen gab. An meinen Vater denkt niemand. Kein Mensch interessiert sich dafür, dass er vielleicht nie wieder richtig gesund wird. Alle interessieren sich nur für Giselle. Mein Vater, meine Mutter und ich sind ja scheißegal. Verstehst Du jetzt, warum ich Deine Schwester so sehr hasse?" Ja, das verstand ich allerdings. Nur zu gut sogar, wenn ich ehrlich war. Wäre ich an Damians Stelle gewesen, dann hätte ich wahrscheinlich nicht viel anders gehandelt als er es heute auf dem Friedhof getan hatte. Ich konnte ihm nicht verübeln, dass er seinem Zorn und seinem Frust freien Lauf gelassen hatte. Nicht mehr. Nicht nach dem, was ich jetzt wusste. Mein Magen zog sich zu einem eisigen Knoten zusammen. Was hatte meine Schwester nur getan? Ich verstand jetzt noch weniger als zuvor, warum sie ausgerechnet diesen Weg gewählt hatte. Eigentlich war Giselle doch immer ein aufmerksames Mädchen gewesen, das niemandem absichtlich weh getan hatte. Wieso also hatte sie jemanden in diese Sache hineingezogen, der vollkommen unbeteiligt gewesen war? Niemand hatte so etwas verdient. Was musste Damians Vater sich für Vorwürfe machen – völlig zu Unrecht, denn immerhin war es ja nicht seine Schuld gewesen. Er hatte schließlich, wie die Polizisten meinen Eltern und auch mir versichert hatten, alles in seiner Macht Stehende getan, um Giselle noch zu retten – leider umsonst. Mein Blick irrte zu Damian, der noch immer leise schluchzte. Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen oder tun sollte. Was konnte ich sagen, was nicht wie eine hohle Phrase klang? Noch nie zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht, irgendetwas ungeschehen machen zu können – nicht nur für Giselle selbst oder für unsere Eltern, sondern vor allem für Damian und seine Familie. Giselle hatte mit ihrem Selbstmord – es war das erste Mal, dass ich mir selbst erlaubte, dieses Wort wirklich zu denken – so viel mehr als nur eine einzige Familie zerstört. Gut, bei unserer Familie gab es nicht mehr viel, was man noch hätte zerstören können, aber wir waren ja nicht die einzigen, die unter dieser furchtbaren Sache zu leiden hatten. "Mein Vater ist kein Mörder." Ich wusste nicht, wie Damian darauf kam, aber es tat weh, ihn so etwas sagen zu hören. Wie oft mochte er das schon zu hören bekommen haben? Ob seine Mitschüler wussten, dass sein Vater derjenige gewesen war, der meiner Schwester – unfreiwillig zwar, aber dennoch – das Leben genommen hatte? Falls ja, dann erklärte das seine Wut und seinen Hass auf sie nur noch besser. Welcher Sohn, der seinen Vater liebte, wollte einen solchen Vorwurf schon hören? Noch ehe mir so recht bewusst war, was ich da eigentlich tat, war ich auch schon näher zu Damian gerückt und zog ihn in meine Arme. Er wehrte sich zwar halbherzig dagegen, aber ich ließ ihn trotzdem nicht los. "Ich weiß, dass er kein Mörder ist", flüsterte ich in die weichen, leuchtend roten Haare und konnte fühlen, wie Damians Gegenwehr langsam zu erlahmen begann. Weiteres Schluchzen schüttelte seinen Körper und mein Pullover wurde feucht. Ich schloss meine Augen und spürte ein wohlbekanntes Brennen hinter meinen Lidern, doch das unterdrückte ich. Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür. "Er ist kein Mörder", wiederholte ich mit fester Stimme und legte so viel Überzeugung in die Worte, wie ich nur aufbringen konnte. Ich wollte, dass Damian mir glaubte, dass ich seinen Vater nicht für einen Mörder hielt, denn das war er schließlich wirklich nicht. Er war ein Opfer, genau wie Giselle. Und in seinem Fall war es meine kleine Schwester gewesen, die ihn dazu gemacht hatte, auch wenn das ganz sicher nicht ihre Absicht gewesen war. "Es tut mir leid, was Giselle getan hat. Und es tut mir unendlich leid, dass sie Deinen Vater in diese ganze Sache mit hineingezogen hat. Ich wünschte, sie hätte das nicht getan. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Ich wünschte, ich könnte überhaupt irgendetwas tun." Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so schrecklich hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Das kleine Häufchen Elend in meinen Armen wollte sich einfach nicht beruhigen lassen und ich stellte wieder einmal fest, dass ich absolut kein Talent zum Trösten hatte. Auf diesem Gebiet war ich wohl so ziemlich der größte Loser, den die Welt je gesehen hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Damians Schluchzer langsam abebbten. Ich hielt ihn die ganze Zeit fest, weil ich einfach nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Ich konnte für ihn genauso wenig tun wie für meine kleine Schwester. Ich war für Giselle ihr ganzes Leben lang ein grauenhafter großer Bruder gewesen, ich war noch immer ein grottenschlechter Tröster und ich schämte mich für beides. Damian wirkte mitgenommen und verlegen zugleich, als er sich schließlich aus meiner Umarmung wand und sich wieder mit dem Ärmel seiner Kapuzenjacke über die inzwischen deutlich geröteten Augen wischte. "Danke", nuschelte er leise in den Stoff seiner Jacke und ich erstarrte. Wofür bedankte er sich denn jetzt bei mir? Ich hatte doch gar nichts getan. Jedenfalls nichts, was Andere nicht um Längen besser gekonnt hätten als ich. Während ich noch völlig perplex nach einer Erwiderung suchte, schien Damian mit sich selbst zu hadern. Nervös spielte er wieder an dem Reißverschluss seiner Jacke herum, sah dann jedoch zu mir auf. In seinem Blick lag eine Mischung aus Entschlossenheit, Trauer und Angst, die ich nicht so recht verstand. Ich bekam die Erklärung für diesen Blick jedoch postwendend, nachdem Damian sich kurz geräuspert hatte. "Du ... Du hast gerade gesagt, Du wünschtest, Du könntest irgendwas tun. Hast ... hast Du das wirklich ernst gemeint, Gavin?", wollte er leise wissen und ich nickte. Natürlich war das mein Ernst gewesen. "Wenn das so ist, dann ... Würdest Du mitkommen? Ins Krankenhaus, zu meinem Vater? Und würdest Du ihm sagen, dass ... Würdest Du ihm das sagen, was Du mir gerade gesagt hast?" Wieder schwammen Tränen in den blauen Augen, aber dieses Mal blinzelte Damian sie hastig weg und schob noch ein leises "Bitte" hinterher, das mir förmlich die Kehle zuschnürte. Ich sollte ...? Oh Mann. Die Vorstellung, das wirklich durchzuziehen, war irgendwie ziemlich heftig, aber so flehend, wie Damian mich ansah, kam mir nicht einmal für einen Moment der Gedanke, Nein zu sagen. Das brachte ich einfach nicht übers Herz. "Okay", hörte ich mich stattdessen selbst antworten. "Dann lass uns gehen." Damit stand ich von der Couch auf, schnappte mir meine Jacke vom Bett und zog sie wieder über. Wenn schon, dann wollte ich das am besten jetzt gleich erledigen, solange ich noch den Mut dazu hatte. Es war nicht so, dass ich Damians Vater nicht helfen wollte. Ich bezweifelte nur, dass ich es wirklich konnte. Aber ich wollte Damian auf keinen Fall enttäuschen. Er hatte ganz offenbar schon genug durchgemacht seit letztem Freitag. "Wirklich? Du kommst echt mit?", echote er ungläubig und ich nickte. "Wenn Du Dich heute noch aufraffst, dann ja." Ich wollte nicht unbedingt hier sein, wenn meine Eltern vom Friedhof heimkamen. Und schon gar nicht wollte ich riskieren, dass sie Damian hier vorfanden. Ganz bestimmt würde mein Vater dann nämlich vollends ausrasten. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Damians Vater weder von ihm noch von meiner Mutter auch nur das kleinste bisschen Schonung zu erwarten hatte – selbst dann nicht, wenn sie erfahren würden, was ich jetzt wusste. Für meine Eltern zählte einzig und allein, dass ihr Augenstern nicht mehr da war. Sie verschwendeten ganz sicher nicht einen Gedanken daran, wie es wohl dem Mann gehen mochte, der unabsichtlich Giselles Leben beendet hatte. So oder so, ich war wahrscheinlich der Einzige aus meiner Familie, der vielleicht ein bisschen Mitgefühl oder Verständnis für die andere Seite dieser Tragödie aufbringen konnte. "Hab ich doch gesagt." Ich bedachte Damian mit einem bemüht aufmunternden Lächeln, das er ungewohnt zaghaft erwiderte, ehe er sich selbst auch von meiner Couch hochhievte. Gemeinsam verließen wir mein Elternhaus wieder, traten hinaus in die Oktoberkälte und als ich am Ende der Straße noch mal einen Blick zurückwarf, atmete ich unwillkürlich auf. Gerade bog nämlich der Wagen meiner Eltern in die Auffahrt ein. Wären Damian und ich also nur fünf Minuten später aufgebrochen, hätte es unschön werden können – und zwar für uns beide. Ich wäre in den Augen meiner Eltern ganz bestimmt ein Verräter gewesen, wenn sie mitbekommen hätten, dass ich Damian nicht einfach nur des Friedhofs verwiesen, sondern stattdessen ganz normal von Angesicht zu Angesicht mit ihm geredet hatte. Sollten sie jemals erfahren, was ich gerade im Begriff war zu tun, dann wäre ich sicher endgültig für sie gestorben. Unwillig schüttelte ich diesen Gedankengang ab, schob meine Hände in die Taschen meiner Jacke und folgte Damian, der mich zielstrebig zu einer Bushaltestelle in der Nähe lotste. Da er ja wusste, mit welchem Bus wir fahren mussten, verließ ich mich ganz auf ihn. Er würde mir den Weg schon zeigen, da war ich sicher. Warum hätte er mich sonst fragen sollen, ob ich mitkommen würde, um mit seinem Vater zu sprechen? Die Fahrt zum Krankenhaus verlief ebenso schweigend wie der Weg zu meinem Elternhaus – ich bezeichnete die Villa meiner Eltern nie als mein ›Zuhause‹, denn das war es für mich nicht; mein wirkliches Zuhause war meine winzige Wohnung – verlaufen war, aber dieses Mal war das Schweigen zumindest ein bisschen entspannter als vorhin. Zwar warf Damian mir immer mal wieder verstohlene Blicke zu, aber er sprach mich nicht an und auch ich blieb stumm. Ich hätte auch nicht gewusst, worüber ich mit ihm hätte reden sollen. Smalltalk erschien mir unangebracht, also hing ich einfach nur schweigend meinen eigenen Gedanken nach, bis Damian mich antippte und mir leise mitteilte, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Nach dem Aussteigen übernahm er wieder die Führung. Noch immer sagte er nichts und ich wappnete mich innerlich für das, was mir jetzt bevorstand. Ich hatte Krankenhäuser noch nie besonders gemocht. Der sterile Geruch, das allgegenwärtige Weiß und die fast schon greifbare Verzweiflung, die in manchen Flügeln vorherrschte – all das schlug mir jedes Mal auf den Magen, aber ich zwang mich, diese Dinge jetzt nicht weiter zu beachten. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die paar roten Strähnen, die unter der Kapuze von Damians Jacke hervorlugten. Das Rot war eine willkommene Ablenkung von all den Dingen, die ich an Krankenhäusern so sehr verabscheute. Aber es war nicht genug. Als wir gemeinsam den Fahrstuhl betraten und ich mich mit zwei Pflegern und einer Ärztin konfrontiert sah, die einen bettlägerigen Patienten offenbar auf eine andere Station begleiteten, wurde mir doch noch übel. Ich biss meine Zähne so fest zusammen, wie ich nur konnte, schluckte hart und zupfte Damian dann ohne nachzudenken seine Kapuze vom Kopf. In dem grellen Licht der Fahrstuhlbeleuchtung schienen seine Haare förmlich aufzuleuchten und mir entfuhr unwillkürlich ein erleichtertes Seufzen. Das war schon viel besser. Damians leise Beschwerde – "Sag mal, spinnst Du, Gavin?", fuhr er mich im Flüsterton an; offenbar wollte er den Kranken nicht stören – ignorierte ich einfach und tat, als hätte ich sie nicht gehört. Mir hätte klar sein müssen, dass der Kampfgnom mich nicht so einfach davonkommen lassen würde. Kaum dass wir aus dem Fahrstuhl ausgestiegen waren, hielt er mich am Arm fest und warf mir einen bösen Blick zu, als ich ihn ansah. "Was sollte der Scheiß denn gerade?", verlangte er aufgebracht zu wissen und ich verkniff mir ein weiteres Seufzen. Einen Moment lang wog ich ab, was ich sagen sollte, doch dann entschied ich mich für die Wahrheit. Er war vorhin ehrlich zu mir gewesen, obwohl es ihm sicher nicht leicht gefallen war, also schuldete ich es ihm eindeutig, ebenso ehrlich zu ihm zu sein. Das war das Mindeste, was ich tun konnte. "In Krankenhäusern wird mir immer schlecht", gab ich also widerwillig zu und Damians Augen wurden groß. "Warum hast Du mir denn nichts davon gesagt?", fragte er und ich winkte ab, aber dass er das er als Antwort nicht gelten lassen würde, sah ich an seinem Blick. "Weil ich Dir versprochen hab, dass ich mitkomme", erwiderte ich daher und hoffte, dass er es jetzt endlich dabei bewenden ließ. Wenn wir noch lange hier stehen blieben, dann würde ich mich sicher über kurz oder lang doch noch übergeben müssen. Das passierte mir leider Gottes mit peinlicher Regelmäßigkeit, wenn ich mich für längere Zeit als Besucher in einem Krankenhaus aufhielt. Nicht, dass es besser war, wenn ich mich als Patient in einem befand. Ich war diesbezüglich einfach ein hoffnungsloser Fall. "Du bist doch echt bescheuert, Gavin", attestierte Damian mir und ich versuchte mich an einem spöttischen Grinsen, das mir sehr zu meiner Erleichterung sogar gelang. "Als ob Du das nicht schon seit Jahren wüsstest", konterte ich, aber ehe das hier in eine der Frotzeleien ausarten konnte, wie sie bei uns beiden früher zu unseren Mathenachhilfe-Zeiten an der Tagesordnung gewesen waren, besann ich mich wieder auf den eigentlichen Grund meines Hierseins. "Und, wo genau ist das Zimmer Deines Vaters?" Das winzige Grinsen, das für einen Moment über Damians Gesicht gehuscht war, verblasste bei meiner Frage sofort wieder. Ich hätte mich nur zu gerne dafür geohrfeigt, aber stattdessen folgte ich ihm einfach nur schweigend, als er nach links nickte und sich gleich darauf in Bewegung setzte. "Es kann sein, dass meine Mutter jetzt gerade bei ihm ist", informierte er mich dabei leise. Seine Stimme hatte einen angespannten Unterton und er wagte scheinbar nicht, mich anzusehen. Ich grübelte darüber nach, was ich tun würde, falls das tatsächlich der Fall sein sollte, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Ich wusste ja nicht mal, was ich eigentlich genau zu Damians Vater sagen wollte. Gerne hätte ich mir zumindest schon mal eine grobe Rede zurechtgelegt, aber mein Gehirn war wie leergefegt. In solchen Dingen war ich einfach grottenschlecht. Das war schon früher so gewesen und es hatte sich bis heute nicht geändert. Viel zu schnell für meinen Geschmack erreichten wir das Zimmer, in dem sich Damians Vater befand. Die Tür war ebenso weiß wie alle anderen auf diesem Gang und mich schüttelte es unwillkürlich. Gab es eigentlich noch eine schlimmere Farbe als Weiß? Ärztekittel, Schwesterntrachten, Krankenhäuser im Allgemeinen, die äußere Fassade und die Wände beinahe sämtlicher Zimmer in meinem Elternhaus, Giselles Sarg, der Rosenschmuck – all die Dinge, die mir Unbehagen bereiteten, waren seltsamerweise weiß. Für einen Moment kam mir das wie eine riesige Verschwörung vor, aber als Damian erst kurz an die Tür klopfte und sie dann, als er von drinnen keine Antwort erhielt, leise und vorsichtig öffnete, verschwand dieser Gedanke aus meinem Kopf, als wäre er nie da gewesen. Mit unnatürlich laut klopfendem Herzen betrat ich hinter ihm den Raum und schluckte erst einmal, ehe ich mich in dem – natürlich ebenfalls ganz in Weiß gehaltenen – Zimmer umsah. Damian war bereits vorgegangen zum Bett und hatte sich auf die Bettkante gesetzt, so dass der einzige Stuhl neben dem Bett für mich frei blieb. Ich fühlte eine irrwitzige Erleichterung, weil Damians Mutter nicht hier war, denn ich hätte nicht gewusst, wie ich mich ihr gegenüber hätte verhalten sollen. Was sagte man zu einer Frau, deren Mann durch den Selbstmord der eigenen Schwester so sehr traumatisiert worden war, dass er mit niemandem mehr sprach? Ich wusste es nicht und war daher mehr als froh, dass mir diese Erfahrung erspart blieb. "Hallo, Papa. Ich hab Dir Besuch mitgebracht." Damians Stimme klang sanft, aber sie zitterte hörbar und mir wurde klar, dass er schon wieder mit den Tränen kämpfte. Ich betrachtete ihn einen Moment lang, dann überwand ich mich und trat näher ans Bett, um ihm von hinten eine Hand auf die Schulter zu legen. Etwas erschrocken blickte er zu mir auf, aber ich sagte nichts, sondern strich ihm einfach nur kurz tröstend über den Rücken. Erst dann, nachdem ich mich noch einmal gewappnet hatte, wagte ich einen Blick zu der Gestalt, die halb aufrecht in dem mit – oh Wunder – weißer Bettwäsche bezogenen Bett saß. Den Mann, der die gleichen Augen hatte wie sein Sohn, konnte man nur mit einem einzigen Wort wirklich treffend beschreiben: Gebrochen. Die blauen Iriden starrten blicklos ins Leere, scheinbar ohne Damian oder mich überhaupt wahrzunehmen, und die wirren dunklen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, von denen ich mir aus einem Grund, den ich nicht hätte benennen können, absolut sicher war, dass sie vor dem vergangenen Freitag noch nicht da gewesen waren. "Guten Tag", grüßte ich förmlich und ungewohnt steif für meine Verhältnisse, aber auch dieses Mal kam keine Reaktion. Ich konnte nicht einmal sagen, ob Damians Vater meine Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, den ich nur mit allergrößter Mühe wieder herunterschlucken konnte. Allein die Vorstellung, dass Damian und seine Mutter schon seit fast einer Woche jeden Tag damit konfrontiert wurden, verschaffte mir ein schlechtes Gewissen. Die Lachfältchen um die Augen von Herrn Neunert – unfassbar, dass mir erst jetzt und hier wieder einfiel, wie Damians Nachname lautete – erinnerten mich daran, dass er, als ich ihn vor gut zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte, eigentlich ein sehr offener, fröhlicher Mensch gewesen war. Jetzt war von diesem Menschen jedoch nicht mehr übrig als nur noch eine leere Hülle. Mit wackligen Beinen ging ich hinüber zu dem Besucherstuhl, zögerte einen Moment und setzte mich dann doch. Mir war immer noch etwas flau – oder vielleicht auch schon wieder, das konnte ich nicht so genau eingrenzen. Aber das war auch egal. Ich war nicht hier, um mir über meine Verfassung Gedanken zu machen, sondern aus einem anderen Grund. Ich war hier, weil ich Damian ein Versprechen gegeben hatte, und ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. "Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Neunert", begann ich also. Meine Stimme klang etwas kratzig, aber dagegen konnte ich nichts tun. "Ich bin Gavin. Gavin Heimann", stellte ich mich sicherheitshalber vor und schob, als auch darauf keine Reaktion folgte, noch hinterher: "Giselle war meine kleine Schwester." Für einen Moment hätte ich schwören können, dass es bei der Nennung von Giselles Namen in Herrn Neunerts Gesicht kurz gezuckt hatte, aber schon einen Sekundenbruchteil später war ich mir dessen nicht mehr wirklich sicher. Aber wahrscheinlich hatte ich mir das ohnehin nur eingebildet. "Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin keinesfalls hier, um Ihnen Vorwürfe zu machen", beeilte ich mich dennoch zu versichern. Es tat weh, Herrn Neunert so zu sehen. Aber noch schmerzlicher war es für mich, dass Damian, den ich eigentlich nur als laut und temperamentvoll kannte, schon wieder stumm zu weinen begonnen hatte. Seine Schultern bebten und Tränen liefen ihm über die Wangen, aber dieses Mal gab er dabei nicht das leiseste Geräusch von sich. Ich hasste es, ihn so zu sehen und zu wissen, dass ich ihm nicht helfen konnte. "Das, was passiert ist, war nicht Ihre Schuld." Ich sprach mit der gleichen Eindringlichkeit zu Herrn Neunert, mit der ich in meinem alten Zimmer zu seinem Sohn gesprochen hatte. "Sie haben alles getan, was Sie konnten. Sie haben nichts falsch gemacht. Ich weiß, dass Sie sich deswegen schlecht fühlen, und ich kann wahrscheinlich nicht mal im Ansatz nachempfinden, wie schrecklich das für Sie gewesen sein muss, aber ... Giselles Tod ist nicht Ihre Schuld. Sie haben sie nicht auf dem Gewissen. Sie sind kein Mörder – ganz egal, was Andere sagen. Glauben Sie niemandem, der Ihnen die Schuld für Giselles Tod geben will. Auch nicht sich selbst. Sie können nichts dafür. Und ... es tut mir leid. Es tut mir wahnsinnig leid, dass Sie und Ihre Familie das alles durchmachen müssen. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Ich weiß, das sind alles nur leere Worte und die helfen Ihnen kein bisschen, aber Sie sollen trotzdem wissen, dass ich Sie nicht für das hasse, was passiert ist. Sie sind genauso ein Opfer wie meine Schwester und es tut mir leid, dass sie Ihnen das angetan hat. Ich bin sicher, sie hat das nicht gewollt. Sie ... Sie hat wahrscheinlich einfach nicht darüber nachgedacht, was für Konsequenzen ihr Entschluss haben würde – für unsere Eltern, für ihre Freunde und vor allem für Sie, Ihre Frau und den Kampfgnom hier." 03 -- "Hey!", empörte sich Damian schwach über seinen alten Spitznamen. Noch immer schwammen Tränen in seinen Augen und ich war einen Moment lang versucht, ihn wie vorhin in meinem Zimmer in den Arm zu nehmen, aber ich tat es nicht. Stattdessen bedachte ich ihn nur mit einem kurzen Lächeln, das ihm zeigen sollte, dass ich es keinesfalls böse meinte. Dann wandte ich mich wieder an seinen Vater. Ehe ich jedoch noch mehr sagen konnte, wurde die Tür geöffnet und eine rundliche Frau mittleren Alters trat ein. Sie trug eine Schwesterntracht in dem mir so verhassten Weiß und ihr mitleidiger Blick ruhte für ein paar Sekunden auf Damian, ehe er zu mir weiterschwenkte. Sie wirkte überrascht, jemanden, der nicht unmittelbar zur Familie Neunert gehörte, hier vorzufinden. Die Frage, wer ich wohl sein mochte, stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben, aber sie sprach sie nicht laut aus. "Ihr müsst jetzt leider gehen", sagte sie stattdessen leise zu Damian und in ihrer Stimme schwang etwas mit, das in meinen Ohren verdächtig nach Mitgefühl mit dem Jungen und seinem Vater klang. Vielleicht, dachte ich bei mir, waren doch nicht alle Krankenschwestern so abgebrüht, wie ich bisher immer geglaubt hatte. Damian erwiderte nichts, sondern nickte nur und erhob sich. "Ich komm morgen wieder, Papa", versprach er seinem Vater, strich diesem zum Abschied noch einmal über die schlaff über der Bettdecke gefalteten Hände und warf mir dann einen Blick zu, den ich als Aufforderung auffasste, mich ihm anzuschließen. Sobald wir aus dem Zimmer heraus waren, atmete ich unwillkürlich auf und fühlte mich noch im gleichen Augenblick schlecht deswegen. Damian und seine Mutter ertrugen das hier jeden Tag und ich hielt noch nicht mal eine schlappe Viertelstunde durch, ohne mir zu wünschen, dieses Zimmer nie mehr betreten und Herrn Neunert nie wieder so sehen zu müssen. Was war ich doch für ein erbärmlicher Schwächling. "Danke, Gavin", kam Damian meiner Entschuldigung zuvor und ich blieb wie vom Donner gerührt mitten in dem in scheußlichem Weiß und kaum weniger hässlichem Mintgrün gehaltenen Krankenhausflur stehen. "Wofür?" Ich verstand beim besten Willen nicht, warum Damian sich ständig bei mir bedankte. Meine Worte hatten doch schließlich nicht das Geringste bewirkt – ganz wie ich befürchtet hatte. Herr Neunert war noch immer vollkommen apathisch gewesen, als wir ihn verlassen hatten, also warum um alles in der Welt dankte Damian mir? Ich hatte doch gar nichts getan. "Dafür, dass Du mitgekommen bist. Und ... eben einfach dafür, dass Du Dein Versprechen gehalten hast." Damians Stimme war leise, aber zu meiner Erleichterung klang sie deutlich fester als vorhin. Die Gefahr, dass er wieder in Tränen ausbrechen würde, war also wohl zumindest vorerst gebannt. Wieder atmete ich auf, bemühte mich aber, das so unauffällig wie möglich zu tun. Als Kampfgnom gefiel Damian mir wesentlich besser als so aufgelöst und fertig. Das passte einfach nicht zu ihm. Ich fand, Lachen oder auch Toben standen ihm so viel besser zu Gesicht als Tränen. Das hatte ich früher schon so empfunden und ich stellte fest, dass auch die zwei Jahre, in denen wir uns nicht gesehen hatten, nichts daran geändert hatten. Selbstverständlich behielt ich diese Ansichten für mich. So etwas zu sagen wäre im Augenblick wohl ganz und gar unangebracht, also schob ich diese Gedanken in den hintersten Winkel meines Bewusstseins und sah Damian stattdessen auffordernd an. "Komm, lass uns von hier verschwinden." Ich wollte nichts lieber als aus dem Krankenhaus rauszukommen, um endlich wieder frei atmen zu können. Der allgegenwärtige Geruch nach Desinfektionsmitteln und Leid machte mich einfach fertig. "Ich bring Dich noch nach Hause", beschloss ich und erntete dafür einen Blick, den ich nicht so recht zu deuten wusste. Irgendetwas war da in Damians blauen Augen, aber bevor ich nachfragen konnte, was es war, hatte er sich schon abgewandt und steuerte den Fahrstuhl an, mit dem wir hier heraufgekommen waren. In Ermangelung einer besseren Alternative – und weil ich wirklich dringend aus dem Krankenhaus rauswollte – schloss ich mich ihm an und war froh, dass wir dieses Mal ganz alleine im Aufzug waren. Mein Magen war noch immer etwas in Aufruhr, aber das besserte sich beinahe sofort, als wir gemeinsam erst den Fahrstuhl und dann auch das Krankenhaus verließen. Kaum dass wir vor dem Gebäude standen, schloss ich die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Die kalte Oktoberluft war ein Genuss nach der widerlichen Geruchsmischung im Inneren des Krankenhauses. Zwar brannte mir die Kälte in den Lungen, aber dennoch fühlte ich mich hier draußen wesentlich besser. Und auch meine Übelkeit verschwand, so als hätte es sie nie gegeben. Die ganze Zeit, während ich meinen rebellierenden Magen wieder unter Kontrolle brachte, spürte ich, wie Damian mich beobachtete, aber er sagte nichts. Er wartete einfach nur ab, bis ich mich einigermaßen erholt hatte, und schlenderte dann neben mir her in Richtung der Bushaltestelle. Wieder legten wir den Weg schweigend zurück, aber dieses Mal war nicht ich derjenige, der völlig in Gedanken versunken zu sein schien. Es war fast, als hätte Damian vergessen, dass ich neben ihm her ging. Trotzdem kam ich nicht mal auf die Idee, mich abzusetzen und ihn alleine nach Hause fahren zu lassen. Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihn begleiten würde, und genau das würde ich auch tun. Das war zwar wahrscheinlich unnötig – es dämmerte zwar bereits, aber wirklich dunkel war es noch nicht –, aber irgendwie widerstrebte es mir einfach, Damian jetzt schon gehen zu lassen. Wir hatten uns immerhin mehr als zwei Jahre lang nicht gesehen. Es gab so vieles, was ich ihn eigentlich noch fragen wollte. Zwar war heute wohl kaum der richtige Zeitpunkt dafür, aber ich wusste nicht, wie lange ich es noch in meinem Elternhaus aushalten würde. Ich hatte also keine Ahnung, wie oft ich noch die Gelegenheit haben würde, mit Damian zu sprechen. Ich wollte nicht, dass wir einfach so auseinander gingen und uns wieder so aus den Augen verloren, wie es nach meinem Auszug vor zwei Jahren geschehen war. "Du hast Dich echt nicht verändert, Gavin. Kein bisschen", drang Damians Stimme irgendwann in meine Gedanken und als ich ihn irritiert anblickte, legte sich die minimale Andeutung eines Lächelns auf seine Lippen. "Ich mein das ernst. Du bist noch ganz genauso wie früher", bekräftigte er seine Aussage und ich nahm mir einen kurzen Moment Zeit, darüber nachzudenken, ehe ich langsam den Kopf schüttelte. "Nicht hundertprozentig, nein", widersprach ich ihm dann. "Ich hab mich schon verändert. Sicher nicht in allem, aber ..." "Aber das Wesentliche ist gleich geblieben", unterbrach er mich und sein Lächeln vertiefte sich noch etwas. Ich begriff nicht so recht, weshalb ihm diese Feststellung so wichtig war, beschloss aber, ihm den kleinen Triumph zu lassen. Außerdem war es gar nicht so abwegig, dass er Recht hatte mit seiner Behauptung. Ich hatte mich zwar durchaus verändert, aber einige meiner alten Gewohnheiten hatte ich immer noch nicht abgelegt – manche, weil ich sie nicht ablegen wollte und manche, weil ich es einfach nicht konnte. "Früher hast Du mich nach der Nachhilfe auch immer nach Hause gebracht", schwenkte Damian auf ein anderes Thema um und die Erinnerung daran brachte mich unwillkürlich zum Schmunzeln. "Ja, hab ich. Und Du hast Dich jedes Mal ganz furchtbar darüber aufgeregt und rumgezetert, dass Du kein Kleinkind mehr wärst und keinen Babysitter bräuchtest." Was nur dazu geführt hatte, dass ich umso energischer darauf bestanden hätte, ihn nach Hause zu begleiten. Es hatte einfach einen Heidenspaß gemacht, neben dem murrenden Kampfgnom herzulaufen und ihn schon allein durch meine bloße Anwesenheit zu ärgern. Eine Weile schwieg Damian, aber als ich schon dachte, er wäre wieder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, meldete er sich doch wieder zu Wort. "Ich mochte das", sagte er leise, so als wäre es ihm irgendwie unangenehm, das zuzugeben. Ich war einigermaßen erstaunt und das schien er an meinem Gesichtsausdruck zu erkennen, denn in sein Lächeln mischte sich eine Spur Verlegenheit. "Ich wollte nur nicht, dass Du das merkst, deshalb hab ich mich jedes Mal darüber beschwert. Aber wenn ich ehrlich bin, dann fand ich's gut, dass Du Dich nie von meinem Gemotze hast abschrecken lassen." "Eigentlich hast Du mich damit nur noch mehr angestachelt", gestand ich und verkniff mir ein Grinsen, als ich Damians ungläubigen Blick sah. Schon wieder verspürte ich den Drang, ihm wie früher durch die Haare zu wuscheln, aber ich unterdrückte ihn auch dieses Mal. "Ich hab das eigentlich nur gemacht, weil Du Dich immer so herrlich darüber aufgeregt hast", gab ich stattdessen weiter zu und Damian blinzelte überrascht, ehe er leise zu lachen begann. "Dann hab ich ja genau das erreicht, was ich wollte – auch, wenn ich das so eigentlich nicht geplant hatte", kicherte er und ich gab meinen Kampf gegen das Grinsen endgültig auf. "Sieht so aus." Irgendwie gefiel mir das Wissen, dass Damian die halbe Stunde, die wir nach der Nachhilfe noch jedes Mal für den Weg bis zu ihm nach Hause gebraucht hatten, ebenso sehr genossen hatte wie ich. Einen Moment lang zögerte ich noch, dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen: Ich hob eine Hand und wuschelte dem Kampfgnom durch die Haare. Die leuchtend roten Strähnen fühlten sich genauso weich an wie früher und erinnerten mich unwillkürlich daran, warum ich Damian so gerne auf diese Weise geärgert hatte. Und sie erinnerten mich auch wieder daran, warum es eigentlich besser gewesen wäre, diesem Drang lieber doch nicht nachzugeben. Diese Vertraulichkeit beschwor weitere alte Bilder und Erinnerungen herauf, die ich äußerst erfolgreich verdrängt gehabt hatte – bis jetzt. Ich war doch wirklich ein Trottel. Mit einiger Mühe zwang ich das Grinsen, auf meinen Lippen zu bleiben, als mich Damians halb überraschter, halb verärgerter Blick traf. "Scheint, als hättest Du Dich auch nicht allzu sehr verändert", spielte ich darauf an, dass er mich schon früher immer so angesehen hatte, wenn ich es gewagt hatte, mich an seinen Haaren zu vergreifen. Seine Haare waren ihm auch damals schon nahezu heilig gewesen und er war jedes Mal vollkommen ausgeflippt, wenn irgendjemand – meistens ich – sie ungefragt angefasst hatte. Die erwartete Schimpftirade für meine Dreistigkeit blieb jedoch zu meinem Erstaunen aus. Stattdessen grinste Damian nur schief und zuckte dann mit den Schultern. "Ich hab mich in den letzten zwei Jahren wohl genauso viel oder wenig verändert wie Du", meinte er dazu, seufzte und schüttelte den Kopf, wie um einen ungebetenen Gedankengang zu vertreiben. Gerade als die Stille, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte, unangenehm zu werden begann, kam glücklicherweise endlich der Bus und ich atmete unwillkürlich auf. Ich war jedoch nicht der Einzige, der so reagierte. Auch Damian entspannte sich merklich, kletterte vor mir in den Bus und ich folgte ihm zu einem freien Viererplatz, den er für uns okkupierte. Ich nahm ihm gegenüber Platz, aber er sah mich nicht an, sondern blickte stattdessen nach draußen in die immer weiter fortschreitende Dunkelheit. Ich richtete meinen Blick ebenfalls nach draußen, aber bereits nach ein paar Sekunden veränderte sich mein Fokus und ich beobachtete nicht mehr die vorbeiziehenden Straßenlaternen, sondern Damians Spiegelung in der Fensterscheibe. Er hatte sein rechtes Bein angezogen, seinen Arm auf seinem Knie abgestützt und tippte sich abwesend mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. Alles in allem sah er aus, als wäre er ganz tief in Gedanken versunken – Gedanken, die mich zugegebenermaßen ungemein interessierten. Was mochte wohl jetzt gerade in seinem Kopf vorgehen? Nur zu gerne hätte ich genau das in Erfahrung gebracht, aber ich behielt meine Fragen für mich und betrachtete nur weiterhin stumm sein Spiegelbild. Mit dem Bus brauchten wir eine knappe Viertelstunde, bis wir unser Ziel – die Haltestelle ganz in der Nähe von Damians Elternhaus – erreichten. Kurz bevor der Bus hielt, erwachte Damian wieder aus seiner Trance, stand auf und schlängelte sich schweigend zum Ausstieg durch. Wieder folgte ich ihm, die Hände in den Taschen meiner Jacke vergrabend, und seufzte unwillkürlich, als die mir auf seltsame Weise immer noch so ungemein vertrauten Umrisse des Mietshauses, in dem die Neunerts damals schon gewohnt hatten, vor mir auftauchten. In merkwürdig melancholischer Stimmung lief ich neben Damian her bis zu seiner Haustür. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte, und ihm schien es ganz ähnlich zu gehen. Schweigend kramte er seinen Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss, aber anstatt die Tür zu öffnen, drehte er sich zu mir um und sah mich an. In seinen blauen Augen lag wieder dieser Ausdruck, den ich heute schon mehrmals an ihm gesehen hatte und den ich einfach nicht zu deuten vermochte. Nur zu gerne hätte ich gewusst, was Damians Augen mir scheinbar zu sagen versuchten, aber aus irgendeinem Grund wagte ich nicht, ihm diese Frage zu stellen. Ich fühlte mich seltsam befangen, wie ich hier so gemeinsam mit ihm vor seiner Haustür stand, und hätte mich am liebsten selbst dafür ausgelacht. Früher hatte ich ihn mindestens dreimal pro Woche nach Hause gebracht, wenn er wegen der Nachhilfe bei mir gewesen war, aber heute war mir das plötzlich peinlich? Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht mit mir. Und unglücklicherweise wusste ich auch ganz genau, was das war. Ich hätte ihm wirklich nicht durch die Haare wuscheln sollen. Das hatte mich nur an Dinge erinnert, an die ich eigentlich ganz und gar nicht mehr denken wollte. Vor allem aber sollte ich wirklich nicht darüber nachdenken. Das war ganz und gar nicht gut. Ein leises Seufzen holte mich aus meinen Grübeleien wieder in die Realität zurück. Einen Moment lang glaubte ich, dass mir selbst das Geräusch ungewollt entschlüpft war, aber dann registrierte ich, dass es nicht aus meinem, sondern aus Damians Mund gekommen war. Irritiert sah ich ihn an und auf seine Lippen legte sich ein schiefes Grinsen, das ich beinahe ebenso gut kannte wie den genervten Gesichtsausdruck, den er früher so oft zur Schau getragen hatte – meistens meinetwegen. Unschlüssig blickte er mich an und ich konnte förmlich sehen, wie er mit sich selbst haderte. Allerdings hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was genau gerade in ihm vorging. "Tja, ich sollte dann wohl mal so langsam wieder abhauen", setzte ich an, nur um überhaupt irgendwas zu sagen. Beinahe zeitgleich schien Damian auch endlich seine Sprache wiedergefunden zu haben. "Wie lange bleibst Du noch?", erkundigte er sich und ich runzelte die Stirn. Mit dieser Frage hatte ich ganz und gar nicht gerechnet, deshalb hatte ich auch keine wirkliche Antwort darauf parat. "Keine Ahnung", gab ich daher schulterzuckend zurück. "Wahrscheinlich nicht mehr allzu lange." Allein der Gedanke daran, noch mehrere Tage mit meinen Eltern unter einem Dach verbringen zu müssen, war für mich das pure Grauen. "Ich muss ja schließlich auch bald wieder zurück zur Uni", redete ich mich raus und Damian nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. "Ja, klar", murmelte er leise und ich bildete mir ein, einen enttäuschten Unterton aus seiner Stimme herauszuhören. Aber das war sicher Unsinn. Dafür gab es doch schließlich auch gar keinen Grund. Es war ja nun nicht so, als wären wir irgendwie besonders eng befreundet. Genau betrachtet hatten wir eigentlich gar nichts mehr miteinander zu tun – ein Gedanke, der mir zugegebenermaßen nicht besonders gut gefiel. Erst nachdem ich ihn heute durch Zufall wiedergetroffen hatte, war mir aufgefallen, wie sehr ich Damians Gegenwart in den vergangenen zwei Jahren eigentlich vermisst hatte. Mit dem Kampfgnom war es einfach nie langweilig gewesen. Oft, sehr oft in den letzten beiden Jahren hatte mir irgendetwas gefehlt, aber ich hatte nicht genau zu sagen gewusst, was es gewesen war. Jetzt wusste ich es wieder, aber was nützte mir das? Gar nichts. Ich würde morgen oder spätestens übermorgen zurück nach Hause fahren. Dann würden Damian und ich jeder wieder unser eigenes Leben weiterleben und es wäre ungewiss, ob wir uns überhaupt noch einmal über den Weg laufen würden. Irgendwie war der Gedanke deprimierend, aber ich bemühte mich, mir das nicht anmerken zu lassen. Was würde der Kampfgnom auch von mir denken, wenn er wüsste, was mir gerade durch den Kopf ging? "Dann mach's mal gut." Es hatte ja keinen Sinn, den Abschied länger als nötig hinauszögern zu wollen. Ich wollte mich auf den Weg machen, kam aber keine drei Schritte weit, ehe Damians Stimme mich einholte. "Du auch", wünschte er mir leise, zögerte und rang sich dann, als ich ihn über meine Schulter hinweg ansah, ein weiteres schiefes Grinsen ab, das auf mich irgendwie gezwungen wirkte. Aber vielleicht sah ich auch bloß Gespenster. Nach allem, was an diesem Tag vorgefallen war, hätte mich das keinesfalls überrascht. Was mich jedoch sehr wohl überraschte, waren Damians nächste Worte. "Warte mal kurz, Gavin. Bevor Du gehst, muss ich Dir unbedingt noch was sagen", hielt er mich auf, als ich mich endgültig zum Gehen wenden wollte, und sobald ich mich wieder komplett zu ihm umgedreht hatte, atmete er noch einmal tief durch, wie um sich für das zu wappnen, was er im Begriff war zu tun. Ich verstand nicht, was hier los war, aber als er wieder sprach, zog mir das, was er sagte, beinahe den Boden unter den Füßen weg. "Wusstest Du eigentlich, dass ich vor zwei Jahren ganz schrecklich in Dich verliebt war?" Die Worte hingen fast greifbar in der Luft zwischen Damian und mir. Nervös spielte er mit dem Reißverschluss seiner Kapuzenjacke herum, blickte mich aber dennoch unverwandt an, als wartete er auf eine Reaktion von mir. Allerdings war ich viel zu überrumpelt von dem, was ich da gerade zu hören bekommen hatte, als dass ich in der Lage gewesen wäre, irgendetwas auch nur halbwegs Intelligentes von mir zu geben. Ich konnte Damian nur aus großen Augen anstarren, als wäre er ein Außerirdischer oder eine Erscheinung, die mir mein Hirn vorgaukelte. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Hatte Damian – mein kleiner Kampfgnom – mir gerade wirklich erzählt, dass er vor zwei Jahren in mich verliebt gewesen war? "Äh ..." Mehr brachte ich beim besten Willen nicht heraus. Ich war viel zu erschlagen von der Erkenntnis, dass es ihm damals ebenso gegangen war wie mir. Wie oft, fragte ich mich unwillkürlich, hatte ich mir damals gewünscht, diese Worte von ihm zu hören? Wie oft hatte ich mir selbst im letzten Moment auf die Zunge gebissen und ihn einfach nur geärgert, anstatt ihm zu gestehen, was ich in seiner Nähe wirklich empfunden hatte? Wie oft war ich während der Nachhilfestunden nicht wirklich bei der Sache gewesen, weil ich mir stattdessen vorgestellt hatte, ihn an mich zu ziehen und zu küssen? Wie oft hatten diese Gefühle mir ein schlechtes Gewissen beschert, weil ich immerhin fast vier Jahre älter war als er? "Du hattest Recht, weißt Du?", drang Damians Stimme in meine wirren Gedanken. Ich zwang mich, mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach. "Hatte ich?", fragte ich stumpfsinnig nach und er nickte. "Ja. Manche Sachen ändern sich einfach nicht. Auch dann nicht, wenn man eigentlich zwei Jahre Zeit hatte, um sie zu vergessen." Nach diesen Worten traf mich noch ein letzter langer Blick, dann schloss Damian die Tür auf und verschwand so schnell im Inneren des Hauses, dass ich keine Möglichkeit mehr hatte, etwas darauf zu erwidern. Ich blieb wie vom Donner gerührt mitten auf dem Weg zum Hauseingang stehen, als mir langsam dämmerte, was der Kampfgnom mir damit hatte sagen wollen. Konnte das wirklich wahr sein? Konnte es wirklich sein, dass er auch nach zwei Jahren immer noch so für mich empfand? Und warum schlug mein eigenes Herz so verräterisch laut und schnell beim bloßen Gedanken daran, dass es möglicherweise so sein könnte? Das war doch nicht normal! Mein erster Impuls, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, war, bei den Neunerts zu klingeln, raufzugehen und Damian zu erzählen, dass er nicht der Einzige war, der so fühlte. Meine Hand hatte den Klingelknopf schon beinahe erreicht, aber im letzten Moment zögerte ich. Was würde es bringen, wenn ich Damian jetzt von meinen Gefühlen erzählte? Wahrscheinlich würde er mir sowieso nicht glauben – nicht nach meiner unglaublich dämlichen Reaktion auf sein Geständnis. Aber selbst wenn er mir doch glauben sollte, was dann? Ich lebte seit gut zwei Jahren praktisch am anderen Ende Deutschlands. Selbst wenn Damian mir glauben würde, dass ich es ernst meinte, konnte das einfach nicht gut gehen. Wie sollte das denn auch funktionieren? Ich war vier Jahre älter als er und wohnte knappe siebeneinhalb Stunden Zugfahrt von ihm entfernt. Auf diese Entfernung konnte eine Beziehung dauerhaft einfach nicht funktionieren. Als mir klar wurde, dass ich tatsächlich ernsthaft darüber nachgrübelte, wie es wohl wäre, richtig mit Damian zusammenzusein, hätte ich mich am liebsten selbst ausgelacht. Zwei Jahre lang – oder nein, eigentlich fast drei, wenn man das letzte Jahr vor meinem Auszug mitzählte – hatte ich alles Mögliche unternommen, um diese Gedanken so weit wie möglich in den hintersten Winkel meines Bewusstseins zu schieben. Ich hatte das Ganze bis heute erfolgreich verdrängt gehabt, aber kaum dass ich meinen Kampfgnom wiedergesehen und ein bisschen Zeit mit ihm verbracht hatte, waren all die törichten Wünsche von früher wieder da. Aber, beschloss ich, ich würde ihnen nicht nachgeben. Auf gar keinen Fall. Das konnte einfach nicht gut gehen. Ich würde uns nur beide unglücklich machen, wenn ich jetzt etwas Unüberlegtes tat. Die Erinnerung an Damians traurigen Blick machte mir jedoch klar, dass es dafür eigentlich schon längst zu spät war. Ich hatte es schon geschafft, meinen Kampfgnom unglücklich zu machen. Wahrscheinlich saß er jetzt gerade oben in seinem Zimmer und war felsenfest davon überzeugt, dass ich sein Geständnis entweder nicht ernst genommen hatte oder dass es mich anwiderte. Ich wusste, es wäre besser, ihn in diesem Glauben zu lassen und einfach zu gehen, aber das konnte ich nicht. Es hatte Damian eine Menge Überwindung und Mut gekostet, mir seine Gefühle zu gestehen, das hatte ich gesehen. War ich ihm da nicht ebenfalls Ehrlichkeit schuldig? Ehe ich mich überhaupt bewusst dazu entschieden hatte, lag mein Finger auch schon auf dem Klingelknopf neben dem Namen ›Neunert‹. Ich drückte ihn wie früher zwei Mal und musste nicht mal zehn Sekunden warten, bis der Summer ertönte. Ohne einen wirklichen Plan zu haben, was ich eigentlich genau sagen oder tun wollte, schob ich die Haustür auf, betrat den noch immer mit gelben und braunen Fliesen ausgelegten Hausflur und stieg die Treppen hoch in die zweite Etage. Es war beinahe so, als wären nicht zwei Jahre, sondern höchstens zwei Tage seit meinem letzten Besuch hier vergangen. Alles sah noch genauso aus wie früher. Selbst das Tonschild neben der Wohnungstür der Neunerts, das Damians Mutter irgendwann einmal selbst getöpfert hatte, hing noch an seinem angestammten Platz. Unwillkürlich lächelte ich, doch das Lächeln verging mir, als mich statt Damian seine Mutter an der Tür empfing. Im ersten Moment schien Frau Neunert nicht zu wissen, wer ich war, doch schon eine Sekunde später sah ich das Erkennen in ihren Augen. Mit einem Schlag wich sämtliche Farbe aus ihrem ohnehin schon blassen Gesicht und ihre Augen, unter denen dunkle Ringe von viel zu vielen schlaflosen Nächten in der letzten Zeit zeugten, weiteten sich vor Schreck. "Du ... Sie sind ... Sie sind doch Gavin ... Herr Heimann, oder?", stammelte sie und ich nickte langsam, während ich gleichzeitig versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Eigentlich war ich nur hergekommen, um mit ihrem Sohn zu reden, aber scheinbar musste das noch warten. Vorher musste ich Frau Neunert unbedingt beruhigen, denn sie sah aus, als wäre sie kurz davor, wegen meines unangemeldeten Auftauchens in Ohnmacht zu fallen. Es war nicht zu übersehen, dass die letzte Woche an ihren Nerven gezerrt und ihre Kräfte beinahe vollständig aufgebraucht hatte. In meiner Erinnerung war Frau Neunert immer eine lebhafte Frau gewesen – Damian hatte sein Temperament eindeutig von ihr geerbt –, aber wie bei ihrem Mann war von dieser Frau nicht mehr viel übrig. Die Frau, die ich jetzt vor mir sah, war nur noch ein Schatten ihres früheren Ichs. "Ja, bin ich. Aber Sie müssen mich nicht siezen, Frau Neunert." Das hatte sie früher schließlich auch nie getan. Und ich, erinnerte ich mich ungewollt wehmütig, hatte mich bei ihr, ihrem Mann und ihrem Sohn immer wesentlich willkommener und heimischer gefühlt als in meinem eigenen Elternhaus. Hier hatte mir nie jemand mangelnde Leistungen in der Schule vorgeworfen oder in irgendeiner Art und Weise Druck auf mich ausgeübt. Wann immer ich hier gewesen war, hatte ich mir insgeheim gewünscht, ein Teil dieser Familie sein zu können statt zu meiner eigenen gehören zu müssen. Ich hätte mit Freuden auf das gesamte Geld meiner eigenen Eltern verzichtet, wenn ich dafür nur einen Bruchteil der Liebe bekommen hätte, mit der die Neunerts ihren einzigen Sohn immer überschüttet hatten. "Und ich bin auch nicht hergekommen, um Ihnen oder Ihrem Mann irgendwelche Vorwürfe zu machen", kam ich Frau Neunert zuvor, ehe sie mich nach dem Grund meines Hierseins fragen konnte. "Ich weiß, dass das, was passiert ist, nicht seine Schuld war. Das habe ich ihm vorhin auch schon gesagt. Eigentlich bin ich nur hier, weil ich mit Damian sprechen muss", fuhr ich fort und ihr Mund klappte ein paar Mal auf und zu, ehe sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. "Sie ... Du warst bei ... meinem Mann?", erkundigte sie sich leise und trat zögerlich zwei Schritte zur Seite, damit ich eintreten konnte. Ich folgte ihrer stummen Aufforderung und nickte dann, sobald sie die Wohnungstür hinter mir zugeschoben hatte. "Ja, ich ... ich war vorhin zusammen mit Damian da." Dass er mich darum gebeten hatte, mit seinem Vater zu sprechen, ließ ich unter den Tisch fallen. "Ich bezweifle, dass er meine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen hat, aber ich wollte ihm trotzdem persönlich sagen, dass ihn definitiv keine Schuld am Tod meiner Schwester trifft. Und ich wollte mich dafür entschuldigen, dass Giselle ihm, Ihnen und Damian das angetan hat." Ich hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da traten auch schon Tränen in Frau Neunerts Augen. Vergeblich versuchte sie, sie zurückzublinzeln, aber ehe ich noch mehr sagen oder tun konnte, zog sie auch schon ein Taschentuch aus der Tasche ihrer Strickjacke und tupfte sich damit fahrig über die Wangen. Dabei wagte sie scheinbar kaum, mir ins Gesicht zu sehen, aber das konnte ich ihr nicht verdenken. Wie unangenehm musste es für sie sein, mich hier so plötzlich vor sich zu haben – nach allem, was passiert war? Ich bemühte mich um ein möglichst aufmunterndes Lächeln, war mir aber nicht sicher, ob mir das wirklich gelang. Frau Neunert erwiderte meine Geste etwas gequält, riss sich dann jedoch sichtbar zusammen. "Damians Zimmer ist ganz hinten links am Ende des Flurs. Genau wie früher", informierte sie mich und ich nickte ihr dankbar zu, ehe ich an ihr vorbei in die angegebene Richtung ging. 04 -- Mir klopfte das Herz bis zum Hals und als ich meine Hand hob, um an Damians Zimmertür zu klopfen, zitterten meine Finger. Ich schalt mich selbst einen Idioten, atmete noch einmal tief durch und klopfte dann, bekam aber keine Antwort. Auch ein zweites Klopfen brachte mir keine Reaktion, aber nach dem dritten Klopfen hörte ich von drinnen Genuschel, das ich einfach als "Herein" interpretierte, obwohl es genauso gut "Hau ab" bedeutet haben konnte. Etwas befangen öffnete ich die Tür und betrat zum ersten Mal seit meinem Weggang wieder das Zimmer des Kampfgnoms. Im Gegensatz zu meinem alten Zimmer hatte sich hier in den vergangenen zwei Jahren einiges verändert, das sah ich schon auf den ersten Blick. Ich nahm mir jedoch nicht die Zeit, mich lange umzusehen und alle Veränderungen zu registrieren. Deshalb war ich schließlich nicht hergekommen. Ich war hier, um ein dummes Missverständnis auszuräumen und Damians Ehrlichkeit mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Das war allerdings wesentlich leichter gesagt als getan. Jetzt, wo ich hier mitten in seinem Zimmer stand, brachte ich kein einziges Wort über die Lippen. Es war absolut lächerlich, aber ich wusste einfach nicht, wie ich das, was ich ihm zu sagen hatte, am besten ausdrücken sollte. Und was noch viel wichtiger war: Ich war mir nicht sicher, ob Damian mir überhaupt glauben würde. So peinlich es auch war, das zuzugeben, aber ich war mir durchaus im Klaren darüber, warum ich den Mund partout nicht aufbekam: Ich hatte Angst. Angst vor seiner Reaktion und zugegebenermaßen auch Angst davor, dass alles, was ich so lange verdrängt hatte, nur noch realer werden würde, wenn ich es erst mal laut aussprach. "Wolltest Du nicht eigentlich schon längst wieder zu Hause sein, Gavin?" Ich war mir nicht ganz sicher, ob Damians Stimme eher feindselig oder traurig klang. Was es auch war, es gefiel mir nicht. "Das Haus meiner Eltern ist nicht mein Zuhause", korrigierte ich ihn ganz automatisch und seufzte dann abgrundtief. Das hier versprach eindeutig noch sehr viel schwerer zu werden, als ich es mir vorgestellt hatte. Und Damian, der mit angezogenen Beinen auf seinem Bett hockte und mich beim Reden nicht mal wirklich ansah, machte es mir auch nicht gerade leichter. Aber daraus konnte ich ihm nach meiner Reaktion auf sein Geständnis wohl kaum einen Vorwurf machen. "Was auch immer", nuschelte er, aber ich ging nicht darauf ein. "Stört's Dich, wenn ich mich setze?", erkundigte ich mich stattdessen, erhielt jedoch nur eine vage Geste zur Antwort, die alles und nichts bedeuten konnte. Ich beschloss, sie als Erlaubnis auszulegen und nahm auf dem wackligen Stuhl Platz, der vor Damians reichlich chaotischem Schreibtisch stand. Wäre nicht die beinahe greifbare Spannung im Raum gewesen, hätte ich ganz bestimmt schmunzeln müssen, denn der Kampfgnom war früher schon ein Chaot gewesen und das hatte sich offenbar nicht geändert. Wie oft hatte er sich für seine Nachhilfestunden bei mir Giselles Mathebuch ausleihen müssen, weil er sein eigenes mal wieder verbummelt gehabt hatte? Ich wusste es nicht mehr genau, aber es musste mindestens an die tausend Mal passiert sein. "Damian, ich ...", setzte ich an, aber er ließ mich gar nicht erst ausreden. "Du musst nichts sagen. Ich hab's schon kapiert", murmelte er und dieses Mal war der bittere Unterton in seiner Stimme weder zu überhören noch falsch zu deuten. Ich schüttelte den Kopf, obwohl er mich noch immer nicht ansah. "Wie wär's, wenn Du mich einfach ausreden lassen würdest?", schlug ich vor. Seine Antwort darauf bestand in einem leisen Murren, aber da er mich noch nicht aus seinem Zimmer geworfen hatte, fasste ich das als Aufforderung auf, weiterzusprechen. "Ich weiß, dass meine Reaktion gerade unter aller Sau war, und das tut mir ehrlich leid. Aber Du hast mich einigermaßen überrascht mit dem, was Du gesagt hast", begann ich also und ein schiefes Grinsen schlich sich auf meine Lippen. "Nicht zum ersten Mal heute, das muss ich zugeben, aber das gerade war irgendwie ... Ich hätte nie damit gerechnet, dass ..." Wieder fiel Damian mir ins Wort. "Dass ich mal in Dich verliebt war? Tja, ist aber so", warf er mir schnippisch an den Kopf, aber ich ignorierte seinen patzigen Tonfall. "Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ich nie damit gerechnet hätte, dass ich nicht der Einzige bin, der so fühlt." Ich sprach absichtlich nicht in der Vergangenheitsform. Immerhin hatten die letzten paar Stunden mir mehr als deutlich vor Augen geführt, dass diese ganzen Gefühle noch lange nicht Geschichte waren – jedenfalls nicht für mich. Und allein dem Blick nach zu urteilen, mit dem Damian mich auf meine Worte hin doch endlich wieder ansah, war ich damit augenscheinlich nicht alleine. Soviel dazu, dass er ›mal in mich verliebt gewesen‹ war. "Verarsch mich nicht, Gavin!" Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, sprang Damian von seinem Bett, baute sich vor mir auf und fuchtelte so aufgebracht mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum, dass ich unwillkürlich ein paar Zentimeter zurückwich. Ich legte nicht unbedingt Wert darauf, mir eine versehentliche Ohrfeige einzuhandeln. "Das ist kein bisschen witzig, also spar Dir den Scheiß, klar? Ich kann echt darauf verzichten, dass Du mich anlügst und Dich über mich lustig machst. Mann, hätte ich doch bloß meine blöde große Klappe gehalten!" "Wieso glaubst Du bitte, dass ich Dich anlüge?" Der Vorwurf traf mich ganz schön, aber ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich konnte zwar verstehen, dass Damian mir nicht glaubte, aber dennoch tat es weh. Ich versuchte, ehrlich zu ihm zu sein und ihm von meinen Gefühlen zu erzählen, aber er bezichtigte mich der Lüge. Beinahe hätte ich über die Absurdität dieser Situation gelacht, aber ich tat es nicht. Stattdessen stand ich von dem Stuhl auf, auf dem ich während meines eigenen Geständnisses gesessen hatte. Dadurch musste Damian gezwungenermaßen zu mir aufsehen, denn noch immer war ich ein ganzes Stück größer als er – eine Tatsache, die ihn genau wie früher zu ärgern schien, denn seine blauen Augen wurden schmal und blitzten gefährlich in meine Richtung. "Wieso wohl?", fauchte er mich an und stemmte die Hände in die Hüften, aber mir entging nicht, dass sein erster Impuls ein anderer gewesen war. Anstatt jedoch wie vor dem Friedhof auf mich loszugehen, atmete er mehrmals zittrig durch, um sich zu beruhigen. Allerdings schien das seinen Ärger nicht wirklich zu mindern, denn er bebte sichtbar vor unterdrückter Wut. "Erst stehst Du nur da und kuckst mich an wie 'ne Kuh wenn's donnert und dann kommst Du her, weil Dir ganz plötzlich einfällt, dass es Dir genauso geht wie mir? Und da soll ich mir nicht verarscht vorkommen? Du hast sie doch nicht mehr alle!" "Ich verarsche Dich aber nicht." Verdammt, wie konnte ich Damian nur beweisen, dass ich das, was ich gesagt hatte, wirklich ernst meinte? Wie konnte ich ihn davon überzeugen, dass ich mich keineswegs über ihn lustig machen wollte? Mir fiel nur eine einzige Möglichkeit ein, aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Höchstwahrscheinlich würde er mich dafür erst recht schlagen wollen. Aber was sollte ich sonst tun? Eine andere Idee hatte ich nicht, also trat ich einen Schritt näher zu ihm, beugte mich vor und legte meine Lippen auf seine, um jeglichen weiteren Widerspruch gleich im Keim zu ersticken. Der plötzliche Kontakt meiner Lippen mit Damians traf mich wie ein Schlag. Ich hatte mir diesen Moment schon so unglaublich oft vorgestellt, hatte früher sogar nicht selten davon geträumt, aber die Realität übertraf die Fantasie ganz eindeutig. Und zwar bei weitem. Das hier war viel, viel besser als meine Fantasie – aus dem einfachen Grund, weil es echt war. Ich konnte das Zittern von Damians Körper fühlen, spürte seinen Atem in meinem Gesicht und die Wärme seiner Lippen und wäre am liebsten noch einen Schritt weitergegangen, aber das tat ich nicht. Stattdessen löste ich mich widerstrebend wieder von ihm, trat vorsichtshalber einen halben Schritt zurück und musste mich erst einmal räuspern, ehe ich meine Stimmbänder dazu überreden konnte, ihren Dienst wieder aufzunehmen. "Glaubst Du jetzt immer noch, dass ich Dich nur verarschen will, Damian?" Meine Stimme klang deutlich rauer als gewöhnlich bei dieser Frage. Nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, Damian noch einmal zu küssen. Ich wusste, es wäre keine gute Idee, das zu tun, aber sein verklärter Blick machte es mir alles andere als leicht, bei meinem Vorsatz zu bleiben. Alles in mir schrie nach einer Wiederholung, aber ich verbot mir selbst, diesem Drang nachzugeben. Das konnte einfach nicht gut gehen. Ich hatte schon wesentlich mehr getan, als ich hatte tun wollen, aber trotzdem fiel es mir schwer, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu begehen. "Du Arsch!" Scheinbar hatte Damian seine Sprache wiedergefunden, aber seine Reaktion fiel ganz und gar nicht so aus, wie ich es mir erhofft hatte. Ehe ich mich allerdings entschuldigen konnte, sprach er auch schon weiter. "Wie soll ich das denn jetzt alles wieder vergessen? Das ist so verdammt unfair von Dir!", maulte er mich an und ich musste unwillkürlich grinsen, obwohl die Situation eigentlich ganz und gar nicht zum Grinsen war. "Glaubst Du, mir geht's anders?", erwiderte ich, haderte kurz mit mir und gab dann doch dem Drang nach, Damian wie in meinem alten Zimmer in meine Arme zu ziehen und ihn einfach nur ein bisschen festzuhalten. Innerlich schalt ich mich einen Idioten, weil ich ganz genau wusste, dass ich es dadurch nur noch schwerer für uns beide machen würde, aber ich konnte einfach nicht anders. Viel zu lange hatte ich mir das hier schon gewünscht, hatte es mir viel zu oft ausgemalt. Ich wollte jetzt einfach nicht vernünftig sein. Nur ein paar Minuten, redete ich mir ein und wusste doch im gleichen Atemzug schon, dass ich mich selbst belog, dann lasse ich ihn wieder los und wir vergessen das Ganze, als wäre es nie passiert. "Eigentlich sollte ich das hier wirklich nicht tun", murmelte ich in Damians rote Haare. Es war purer Wahnsinn, aber ich konnte und wollte ihn nicht loslassen. Dabei war mir die ganze Zeit über bewusst, dass ich genau das auf jeden Fall tun musste – je eher, desto besser. "Das ist die dümmste Idee überhaupt." Zwei Jahre lang hatte ich es geschafft, nicht mehr an all diese törichten Wünsche, Hoffnungen und Träume zu denken, aber ich wusste, dass mir das jetzt nicht mehr gelingen würde. Ich war doch so ein unverbesserlicher Trottel. Warum tat ich mir das an? Und was noch wichtiger war: Warum tat ich Damian das an? Ich war der Ältere von uns beiden. Ich sollte der Vernünftigere sein. Stattdessen zog ich ihn nur noch etwas fester an mich und schloss die Augen, um mir seine Nähe besser einprägen zu können. Ich wollte nie wieder vergessen, wie es sich angefühlt hatte, ihm so nah zu sein. Damians warmer Atem, der durch den Stoff meines Pullovers an meine Haut drang, verschaffte mir eine Gänsehaut. Er schlang seine Arme um meine Hüfte, drückte sich so noch näher an mich und mir wurde klar, dass es für Vorsicht und Rücksichtnahme eindeutig zu spät war. Sobald ich ihn losließ, würde es anfangen weh zu tun – nicht nur mir, sondern vor allem auch ihm. Ich hatte alles falsch gemacht, was ich nur hatte falsch machen können. Aber das Schlimmste daran war, dass es mir nicht mal gelang, das wirklich zu bereuen. Dafür fühlte es sich viel zu gut an, meinen Kampfgnom im Arm zu halten und zu wissen, dass er das Gleiche empfand wie ich. Eine gefühlte Ewigkeit lang blieben wir einfach nur schweigend und eng umschlungen in seinem Zimmer stehen. Irgendwann jedoch gewann meine Vernunft langsam wieder die Oberhand über meine aufgewühlten Gefühle und obwohl ich es eigentlich nicht wollte, löste ich die Umarmung doch. Damian schien den stummen Wink zu verstehen, denn er ließ mich ebenfalls los, brachte einen Schritt Abstand zwischen uns und seufzte abgrundtief, ehe er mich von unten herauf fest ansah. "Wag es bloß nicht, Dich jetzt zu dafür entschuldigen, Gavin!", drohte er mir und kam damit der Entschuldigung zuvor, die mir schon auf der Zunge lag. Ich nickte nur, schluckte die Worte ungesagt wieder herunter und zwang mir ein Grinsen ins Gesicht, das allerdings keinesfalls so unbekümmert ausfiel, wie ich es mir erhofft hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen oder wie ich mit der Situation umgehen sollte. Ich wollte nicht gehen, aber ich hatte wohl kaum eine andere Wahl. Ich konnte nicht hier bleiben, so gerne ein Teil von mir sich genau das auch wünschte. Aber es ging einfach nicht. Ich hatte mir so mühsam ein neues Leben weit weg von hier aufgebaut – ein Leben, das ich ganz plötzlich nur zu gerne wieder aufgegeben und gegen mein altes eingetauscht hätte, wenn ich dafür das hätte behalten können, was ich mir so lange gewünscht hatte. Damian war schließlich derjenige, der das Schweigen zwischen uns brach. "So eine verdammte Scheiße!", befand er leise und ich konnte ihm nur aus tiefstem Herzen beipflichten. Ganz genau das war es, aber es war einfach nicht zu ändern. Es konnte einfach nicht gut gehen. Nicht bei den Hunderten von Kilometern, die spätestens ab morgen oder übermorgen wieder zwischen uns liegen würden. "Vielleicht wär's doch besser gewesen, wenn ich nicht hochgekommen wäre", murmelte ich, aber Damian schüttelte sofort hektisch den Kopf. "Wäre es nicht!", widersprach er mir heftig und umarmte mich so plötzlich und so ungestüm, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und hintenüber gekippt wäre. "Sag das bloß nicht!", verlangte er von mir, vergrub sein Gesicht in meinem Pullover und klammerte sich so fest an mich, dass es sich anfühlte, als wollte er mich nie wieder loslassen. Ich kämpfte einen Moment lang mit mir, dann legte ich meine Arme wieder um ihn und hielt ihn einfach nur fest. "Wenn Du nicht raufgekommen wärst, dann würde ich jetzt immer noch denken, dass Du mich nicht willst", nuschelte Damian in meinen Pullover und ich strich ihm probeweise mit einer Hand sanft über den Rücken. Sofort begannen meine Finger zu kribbeln und als er daraufhin leise seufzte, verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich es uns beiden unbedingt noch ein bisschen schwerer hatte machen müssen. Scheinbar konnte ich, was meinen Kampfgnom betraf, einfach nichts richtig machen. Dieses Mal war Damian derjenige, der die Umarmung beendete. Sofort vermisste ich die Wärme, die von ihm ausgegangen war, und sein unglückliches Gesicht zeigte mir deutlich, dass es ihm nicht anders ging als mir. "Krieg ich wenigstens Deine Handynummer, wenn Du schon unbedingt wieder abhauen musst?", erkundigte er sich ungewohnt schüchtern für seine Verhältnisse und ich nickte nur, denn ich bekam keinen Ton heraus. Schweigend ließ ich mir sein Handy anreichen, tippte meine Nummer ein, speicherte sie und gab es ihm dann zurück. "Ich sollte wirklich besser langsam gehen." Es war nicht so, dass ich das tatsächlich wollte, aber es brachte ja nichts, es noch länger aufzuschieben. Dadurch würde es nur noch schmerzhafter werden – für uns beide. Damian nickte nur und versuchte probeweise zu lächeln, aber besonders überzeugend fiel der Versuch nicht aus. Ich wusste, dass ich es selbst garantiert nicht besser hinbekommen würde, also ließ ich es lieber gleich ganz bleiben. "Okay. Ich ... ich meld mich dann morgen oder so bei Dir, wenn das in Ordnung ist." Zaghaft blickte er mich an und biss sich auf die Unterlippe, als ich ihm einfach nur stumm mein Einverständnis signalisierte. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, der mir das Sprechen ziemlich erschwerte. "Pass gut auf Dich auf, ja?", brachte ich trotzdem irgendwie heraus. Meine Stimme klang gepresst und ich konnte sehen, wie Damian hart schluckte, ehe er ein weiteres Mal nickte. "Mach ich", versprach er mir und ich bemühte mich zu lächeln, aber wie ich nicht anders erwartet hatte, misslang mir das gründlich. Ich wollte wirklich nicht gehen, aber je länger ich jetzt blieb, umso schwerer würde mir der Abschied später fallen, das wusste ich. Aus diesem Grund riss ich mich zusammen. Ehe ich mich jedoch zum Gehen wenden konnte, hielt Damian mich am Arm fest und noch bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte er mich auch schon zu sich gezogen und presste seine Lippen forsch auf meine. Einen Moment lang war ich zu überrumpelt zum Reagieren, aber dann schoss ich alle Vernunft in den Wind und erwiderte den Kuss nicht nur, sondern vertiefte ihn sogar noch. Ich wusste, es war egoistisch von mir, aber ich wollte meinen Kampfgnom wenigstens ein einziges Mal richtig küssen, ehe ich wieder aus seinem Leben verschwand. Damians Hände krallten sich haltsuchend in meiner Jacke fest, aber das registrierte ich nur am Rande. Ich war viel zu berauscht von dem Gefühl, das dieser Kuss in mir auslöste. Mein ganzer Körper kribbelte und das Verlangen, Damian festzuhalten und ihn nie wieder loszulassen, wurde beinahe übermächtig. Nur mit allergrößter Willensanstrengung gelang es mir, mich doch wieder von ihm zu lösen. "Ich muss jetzt wirklich los", flüsterte ich gegen seine Lippen und er sah mich aus glasigen Augen an. Um ein Haar hätte ich ihn noch einmal geküsst, aber ich kämpfte den Drang erfolgreich nieder und verfluchte mich noch im gleichen Atemzug dafür. "Okay." Damians Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber dennoch brachte er im Gegensatz zu mir genug Geistesgegenwart auf, ein paar Schritte zurückzutreten. "Dann ... komm gut nach Hause ... und so", sagte er leise und schenkte mir ein letztes trauriges Lächeln, ehe er eilig den Blick abwandte. "Mach's gut", erwiderte ich und stürzte dann praktisch fluchtartig aus dem Zimmer, denn ich wollte ihn auf gar keinen Fall noch einmal weinen sehen. Nicht, wenn ich der Auslöser dafür war. Das hätte ich einfach nicht ertragen. Ich verabschiedete mich ausgesprochen knapp von Damians Mutter, dann verließ ich die Wohnung der Neunerts endgültig. Draußen verfiel ich in einen Laufschritt, der mich binnen weniger als zwanzig Minuten zur Villa meiner Eltern führte. Leicht außer Atem und mit von der Kälte geröteten Wangen kam ich dort an, schloss die Tür auf und verzog mich gleich in mein altes Zimmer, ohne meine Eltern zuvor auch nur zu begrüßen. Ich wollte und konnte ihnen jetzt nicht unter die Augen treten. Dafür war ich viel zu aufgewühlt. Vor allem aber wollte ich nicht riskieren, dass mein Vater mir Fragen wegen meiner Abwesenheit vom Friedhof stellte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Aufruhr in meinem Inneren nicht vor ihm würde verbergen können. Und auf gar keinen Fall wollte ich mich wegen Damian verplappern. Um mich von dem, was vor einer knappen halben Stunde geschehen war, abzulenken, begann ich ohne Umschweife damit, meine Sachen zu packen. Ich wollte nicht länger hier in meinem Elternhaus bleiben als unbedingt nötig. Vielleicht war es herzlos von mir, so zu denken, aber ich hatte meine Pflicht erfüllt. Jetzt wollte ich nur noch weg von hier, und das am besten so schnell wie möglich. Selbst wenn das bedeutete, dass ich den Nachtzug nehmen musste, beim Umsteigen sicher eine halbe Ewigkeit Aufenthalt haben und erst irgendwann im Laufe des morgigen Tages vollkommen erledigt zu Hause ankommen würde. Das alles war mir vollkommen egal. Sobald ich meine Sachen gepackt hatte, schnappte ich mir meine Reisetasche und wuchtete sie in den Flur. Ich gab mir Mühe, mich möglichst leise zu bewegen, aber mein Vater hörte mich doch. Er hatte schon immer außerordentlich gute Ohren gehabt – sehr zu meinem Leidwesen. Ich hatte die Haustür noch nicht erreicht, da tauchte er aus dem Wohnzimmer auf und zog gleich missbilligend eine Braue hoch, als sein Blick auf meine gepackte Tasche fiel. Innerlich fluchte ich. Die Tatsache, dass ich versucht hatte, mich wie ein Dieb heimlich davonzuschleichen, ging ihm unübersehbar gegen den Strich, aber mir hätte nichts egaler sein können. "Du willst schon wieder aufbrechen?" Es war mehr eine Feststellung als eine wirkliche Frage, dennoch nickte ich. "Ja. Wird Zeit, dass ich wieder nach Hause komme", gab ich gepresst zurück und der Blick meines Vater wurde merklich kühler. "Dein Zuhause ist hier", sagte er eine Spur zu förmlich, um es wirklich ehrlich zu meinen, und ich schüttelte den Kopf. "Ist es nicht. Und das war es auch nie", widersprach ich ihm, schulterte meine Reisetasche und hob eine Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern. "Sparen wir uns das doch, Vater." Seltsam, ging es mir in diesem Moment durch den Kopf. Damian hatte seinen Vater im Krankenhaus mit ›Papa‹ angesprochen, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, meinen eigenen Vater jemals so genannt zu haben. Solche ›unangemessenen Vertraulichkeiten‹ hatte er noch nie geschätzt, ebenso wenig wie meine Mutter. Auch zu ihr hatte ich nie ›Mama‹ oder ›Mutti‹ oder so etwas gesagt, sondern immer nur ›Mutter‹. Warum fiel mir das jetzt erst auf? Da ich darauf keine Antwort hatte, zwang ich mich, mich wieder auf das Gespräch mit meinem Vater zu konzentrieren. "Du willst mich doch ebenso wenig hier haben wie ich hier bleiben will. Es ist das Beste für uns alle, wenn ich einfach wieder verschwinde", teilte ich ihm meine Meinung mit und legte eine Hand auf die Klinke, hielt dann jedoch noch einmal inne und zog den Schlüssel für die Villa aus meiner Jackentasche, um ihn auf die Kommode im Flur zu legen. "Den werd ich wohl nicht mehr brauchen." Ich hatte definitiv nicht vor, noch mal hierher zurückzukehren. Mit diesem Haus verband mich nichts, ebenso wenig wie mit seinen Bewohnern. Wenn man von der Tatsache absah, dass wir rein zufällig genetisch miteinander verwandt waren, waren meine Eltern für mich ebenso Fremde wie ich für sie ein Fremder war. "Bestell meiner Mutter einen Gruß von mir." Damit wandte ich mich zum Gehen, ohne meinem Vater die Gelegenheit zu geben, noch etwas dazu zu sagen. Kaum dass die Tür hinter mir zugefallen war, fühlte ich mich, als wäre ein unsichtbares Gewicht von meinen Schultern genommen worden, dass mich seit meiner Ankunft hier niedergedrückt hatte. Das Wissen, dass ich mich eben praktisch von meinen eigenen Eltern losgesagt hatte, hätte mich wohl melancholisch stimmen sollen, aber eigentlich fühlte ich mich nur auf eine verquere Art und Weise erleichtert, wenn ich daran dachte, dass ich dieses Haus von heute an nie mehr würde betreten müssen. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, mitsamt meinem Gepäck zurück zu den Neunerts zu gehen, aber ich unterdrückte den Impuls und nahm stattdessen ein Taxi zum Bahnhof. Dort angekommen bezahlte ich den Fahrer, besorgte mir am Automaten ein Ticket für die Heimfahrt und schleppte dann meine Reisetasche zum Bahnsteig, um mir dort die zwanzig Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges zu vertreiben. Inzwischen war es stockfinster und eiskalt, aber das ignorierte ich, so gut es eben ging. Als mein Zug endlich am Gleis einfuhr, war ich dennoch ziemlich durchgefroren. Der Herbstwind war wirklich eisig und ich hatte keine Handschuhe bei mir, also beeilte ich mich, ins Warme zu kommen. Zu meinem Glück gab es genügend nicht reservierte Plätze, so dass ich meine Reisetasche in eins der Gepäckfächer wuchtete und mich dann in den Sitz gleich darunter fallen ließ. Der Zug fuhr an und ich schloss die Augen, denn bei der draußen herrschenden Dunkelheit hätte ich von der vorbeirasenden Landschaft sowieso nichts erkennen können. Krampfhaft bemühte ich mich, jeglichen Gedanken an das, was ich zurückgelassen hatte, zu verdrängen, aber das gelang mir nicht. Schon seit dem Moment, in dem ich die Augen geschlossen hatte, stand Damians Gesicht so präsent vor meinem inneren Auge, dass ich fast das Gefühl hatte, ihn berühren zu können, wenn ich nur die Hand nach ihm ausstreckte. Selbstverständlich wusste ich, dass das Schwachsinn war, also unterdrückte ich den Impuls. Stattdessen versuchte ich, mich mit Gedanken an meine in Kürze bevorstehenden Klausuren abzulenken, aber das wollte mir einfach nicht glücken. So sehr ich es auch zu verdrängen versuchte, ich musste die ganze Zeit an den Kuss und unseren Abschied denken. Ich verbrachte gute zwei Stunden mit dem fruchtlosen Versuch, die Erinnerung an Damian nicht allzu lebendig werden zu lassen. Zwischendurch musste ich, da meine Heimfahrt mich quer durch Deutschland führte, drei Mal umsteigen, aber dennoch lauerten die Gedanken die ganze Zeit in meinem Hinterkopf. Kaum dass ich mir in dem jeweiligen Zug, in dem ich mich gerade befand, einen Platz gesucht hatte, waren sie auch schon wieder bei dem Kampfgnom. Es war zum Verzweifeln. Aber das Schlimmste war, dass ich ganz genau wusste, dass niemand außer mir selbst die Schuld an dieser Situation trug. Ich war und blieb eben einfach ein unverbesserlicher Idiot. Es war kurz vor Mitternacht, als das Piepsen meines Handys mich aus der Endlosschleife meiner Gedanken riss. Ich warf einen Blick auf das Display, erkannte, dass ich eine SMS bekommen hatte, und mein Herz begann sofort, schneller zu schlagen. Ich beeilte mich, die Nachricht zu öffnen, und als ich den Text auf dem Bildschirm sah, musste ich unwillkürlich lächeln. ›Schlaf gut, Gavin. Ich vermisse Dich.‹ Ich brauchte den Vermerk ›unbekannt‹ als Absender gar nicht zu lesen um zu wissen, von wem die SMS stammte. ›Ich vermisse Dich auch. Träum was Schönes, Kampfgnom.‹ Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihn auch noch wissen lassen sollte, dass ich mich schon auf dem Heimweg befand, aber dann entschied ich mich dagegen, schickte einfach nur die Nachricht ab und speicherte schlussendlich die Nummer unter ›Kampfgnom‹. Die Überlegung, wie Damian wohl reagieren würde, wenn er diesen Eintrag jemals zu Gesicht bekommen sollte, brachte mich zum Grinsen, aber das hielt nicht lange an. Ich stellte mir vor, wie er mit seinem Handy in der Hand auf seinem Bett saß, meine Nachricht las und ebenso wie ich wusste, dass das zwischen uns einfach keine Zukunft hatte, und die Vorstellung brachte es fertig, was die Beerdigung meiner kleinen Schwester nicht geschafft hatte: Meine Augen begannen zu brennen, so dass ich sie eilig schloss und mein Handy wieder in meine Jackentasche schob. Dadurch, dass ich immer wieder umsteigen musste, hatte ich keine Möglichkeit, im Zug für längere Zeit die Augen zuzumachen und ein bisschen zu schlafen. Dementsprechend gerädert fühlte ich mich am nächsten Morgen, als ich gegen elf Uhr endlich heimische Gefilde erreichte. Ich hatte im Laufe der Nacht zwei längere Aufenthalte gehabt – einmal hatte ich eine Stunde, einmal fast zwei auf meinen Anschlusszug warten müssen –, also ließ ich meine Reisetasche einfach im winzigen Flur meiner ebenso winzigen Dachgeschosswohnung stehen, kippte in meinem Schlafzimmer bäuchlings auf mein Bett und fiel in einen totenähnlichen Schlaf, aus dem mich erst am Nachmittag eine weitere SMS von Damian weckte. Müde beantwortete ich seine Frage, wie es mir ging, teilte ihm mit, dass ich bereits wieder zu Hause war, und fühlte mich danach noch schlechter als am vergangenen Abend. Zwei Jahre lang hatte ich es relativ problemlos ohne ihn ausgehalten, aber jetzt vermisste ich ihn so sehr, dass es weh tat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)