Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Bilanz ----------------- Die Büros von Kinnetic waren lichtdurchflutet, nicht umsonst hatte der Chef persönlich einen Lichtdesigner zur Gestaltung der Räume herangerufen. Vermutlich denselben, der ihm auch bei der Gestaltung seines berüchtigten Schlafzimmers mit seiner wechselfarbigen Beleuchtung zur Seite gestanden hatte. Das berühmteste Lotterbett Pittsburghs, zumindest was die Schwulenkreise anging. Das Licht in der Werbeagentur hingegen war indirekt, klar, aber dezent. Obgleich die Räume kaum Fenster nach außen hatten, ihrer ehemaligen Funktion als der einer äußerst unhygienischen und sündigen Herrensauna entsprechend, empfand man es fast wie ein angenehmes, etwas duffe Tageslicht, fand Ted. Er war früh dran heute, hatte schlecht geschlafen. Am Abend war er mit Blake Essen gewesen, ihr erstes richtiges Date. Sie kannten sich schon so lange, dennoch waren ihre Zusammentreffen bisher meist vom Geist der Katastrophe geprägt gewesen. Gestern saßen sie sich erstmalig als freie Menschen gegenüber. Frei von Abhängigkeiten, frei von der Geißel der Drogen, die sie beinahe in den Abgrund gerissen hatten. Beide waren sie ganz kurz vor der Klippe gewesen, und nur ein Wunder hatte sie davor bewahrt hinabzustürzen und sich endgültig das Genick zu brechen. Zunächst war das Gespräch etwas angestrengt gewesen, zu viele unschöne Momente standen zwischen ihnen. Dennoch hatte irgendwann jene Wärme Überhand gewonnen, die sie vom ersten Moment an auf eine unsichtbare und merkwürdig schöne Art und Weise miteinander verbunden hatte. Sie hatten sich über nichts Weltbewegendes unterhalten, über das Wetter, die Oper, die Arbeit. Dennoch war da immer diese Intimität gewesen, als würden sie die ganze Zeit über ihre tiefsten Gefühle reden. Sie hatten sich etwas verschämt mit einem keuschen Kuss voneinander verabschiedet. Ted hatte sich die ganze Nacht in Erinnerung an den Abend gewälzt. Wie sollte es weiter gehen? Fühle nur er diese Nähe und Blake nur die Verbundenheit mit einem alten Schicksalsgenossen und Ex-Freund? Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Im Büro des Geschäftsführers und Bosses brannte Licht. Immer noch oder schon wieder, fragte Ted sich. Vorsichtig schob er die milchige Glastür auf. Der Schreibtisch war nicht besetzt. Auf dem Sofa in der für lockere Geschäftskonversationen gedachten Sitzecke lag zusammengerollt eine Gestalt. Nicht schon wieder, dachte Ted. Brian hatte eine leichte Decke um sich gezogen, die er für Notfälle hier deponiert hatte, um ein kurzes Nickerchen halten zu können. Nur stellten sich diese Nickerchen in letzter Zeit als Nachtschlaf heraus. Und der Notfall als Dauerzustand. Seit Justin nach New Yirk gegangen war, lag Brian auf dem Sofa, nachdem er bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Ted schaute ihn an. Brians Züge hatten sich entspannt, seine Schulterblätter waren fast schützend zusammen gezogen, die Hände waren in die Decke gekrallt, als würde er etwas festhalten wollen. Plötzlich fühle Ted tiefes Mitleid mit Brian. Brian erschien immer wie der Fels in der Brandung, war souverän, hatte die Situation immer im Griff. Nun, fast immer. Ted zog den heruntergerutschten Zipfel der Decke hoch und wickelte ihn um Brian, ohne ihn zu wecken. ………………………………………………………………………………………………………… „Hier, probier mal, ist ein Lieblings-Rezept von Vic. Eine abso-lu-te Kalorienbombe – aber zum steeeeerben lecker“, lachte Debbie. Jennifer klappte ihre Mundwinkel höflich nach oben und probierte vorsichtig. Die Fähigkeit, leere Kalorien ohne Rückwirkung auf ihre Figur zu verbrennen teilte sie glücklicherweise mit ihrem Sohn. Aber in ihrem Alter musste sie dennoch vorsichtig sein. Sie stocherte vorsichtig in dem grellen Sahnehaufen auf ihrem Teller herum. Schon früh hatte sie gelernt, Debbies Geschmack, was Inneneinrichtung und Speisen anging, zu ignorieren. Andernfalls hätte sie beizeiten all die Clowns-Masken, Porzellan-Kätzchen und mit verschmelzenden Farben gearbeiteten Wandbehänge in einem flammenden Inferno untergehen lassen, einfach, um die Menschheit vor ihnen zu beschützen. Justin musste das, bei seinem absolutem Stilgefühl, auch beizeiten hinbekommen haben, schließlich hatte er hier gewohnt, inmitten auch von Michaels Captain Astro-Wandputz. Jennifer mutmaßte, dass einer der Gründe, die sie zumindest nachvollziehen konnte, warum ihr Sohn dereinst in Brian verliebt hatte, auch der Umstand gewesen war, dass dieser wirklich Geschmack besaß. „Nun erzähl schon, wie geht es Sonnenschein?“ bohrte Debbie. Ein stolzes Lächeln machte sich auf Jennifers Gesicht breit. „Oh, es geht ihm gut. Momentan hört er sich bei unterschiedlichen Galerien in New York um. Einige haben bereits ihr Interesse bekundet, schon allein wegen des Artikels im Art Forum. Lindsay war ihm wirklich eine große Hilfe, ich weiß gar nicht, wie ich ihr danken kann. Parallel jobbt er in einem Großhandel für Künstlerbedarf, mit dem Geld kommt er ganz gut über die Runden. Ich könnte ihm auch ein bisschen zuschießen, die Geschäfte laufen gut – aber davon will er nichts wissen. Er ist sehr stolz, was das angeht, da kommt sein Vater bei ihm durch. Craig war in dieser Hinsicht auch immer eisern – leider nicht nur in dieser.“ „Haben er und Justin noch Kontakt?“ fragte Debbie vorsichtig, während sie einen ordentlichen Haufen Sahne auf ihrem zweiten Kuchenstück auftürmte. „Nicht, dass ich wüsste. Craig hat seinen Sohn geliebt“, bemerkte sie bitter. „Bis … naja, das muss ich kaum sagen. Ich begreife einfach nicht, wie er ihn jetzt so ablehnen kann. Er ist doch immer noch derselbe Mensch. Sicherlich, es ist nicht einfach als Elternteil, damit klar zu kommen. Aber diese erbarmungslose Ablehnung… Ich weiß auch nicht.“ Debbie legte ihre Hand auf Jennifers. „Aber er hat dich. Und das weiß er auch.“ Jennifer lächelte als wüsste sie darum, sei aber glücklich, dass es ihr jemand bestätigte. „Ich danke dir“, sagte sie und sah Debbie direkt an, „für alles.“ ………………………………………………………………………………………………………… Das Telefon klingelte wie verrückt. Mehrere Leitungen blinkten. Cynthia rief ihm hektisch die Prioritätenlisten durch. Er nahm an, ließ seine Stimme je nach Bedarf in ein weiches Timbre, einen harten Tonfall oder in ein konziliantes Schmeicheln fallen. Wie hieß es so schön? Der Rubel rollte. Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Und dies hier war sein Spiel. Von morgens um Sieben bis Mitternacht. Dann schnappte er sich seine hellgraue Kaschmir-Decke, rollte sich auf dem Sofa zusammen und schlief den Schlaf der Halb-tot-Gearbeiteten. Er ließ sich inzwischen seine Wäsche von der Reinigung direkt in die Firma liefern. Sein Büro verfügte über einen Waschraum. Ted hatte mit einem neugierigen Blick erfassen können, dass Brian darin einen verdächtigen Großteil seiner nicht gerade kostengünstigen Pflegeprodukte deponiert hatte. Vielleicht hatte er ja auch noch einen zweiten Satz zu Hause. Wo immer das war. Das Loft? Dieser dekadente Schuppen, mit dem er Justin hatte beglücken wollen? Ted kannte Brians Bücher. Und er wusste um das Landhaus. Eins und eins hatte er auch noch zusammen zählen können. Das Konferenzzimmer war voll. Brian war in seinem Element. Sein Charme blitze durch den Raum. Die Kunden waren gebannt. Besonders der Junior-Chef hing in ziemlich eindeutiger Weise an Brians Lippen. Brian lächelte ihn strahlend an. Und ignorierte ihn dann. Ted seufzte. Musste er jetzt wieder ran? Als Ersatzbefriedigung musste er wahrscheinlich herhalten, um das Runder noch rumzureißen. Als zweite… oder vielmehr eher dritte… oder vierte? Wahl. Er hatte es so satt, Brian Kinney Fick-Dummie zu sein. Brian verabschiedete sich strahlend und warf ihm einen scharfen Blick zu. Na ganz toll. Warum musste er eigentlich ran, wenn der große legendäre Sexgott nichts andres zu tun hatte, gleich die Gucci-Latschen in die Ecke zu kicken und auf dem Sofa zu entschlummern? ………………………………………………………………………………………………………… Mmmm, so weich und fest und glatt… und gleichzeitig so hart, Muskelspiel unter der seidigen Oberfläch. Brian streckte die Zunge aus, um dieses unglaubliche Aroma zu schmecken, das nur Justin so absonderte. Ahhh… Er schreckte hoch. Und hustete. Er hatte den Mund voller Fussel. Kurz sah er sich verwirrt um. Oh mein Gott, er hatte die Decke abgeleckt. Es war zwar ein Modell höchster Qualität, darauf hatte er schon geachtet – aber dennoch blieb es eine Decke und nicht Justins Haut. Er fluchte leise. Wie erbärmlich war er doch geworden. Verdammter Mist. Seine Zähne knirschten. Justin war fort. Sie hatten darin überein gestimmt. Er musste gehen, auf seinen eigenen Füßen stehen, sich durchkämpfen, vorankommen. Und das würde er auch tun. Justin war stark. Und Justin war klug. Begabt. Er sah sich selbst in diesem Alter und seufzte. Er konnte von Glück sagen, dass er älter, erfahrener gewesen war, als sie sich trafen. Hätten sie von Anfang an auf gleicher Augenhöhe getroffen – der siebzehnjährige Brian und der siebzehnjährige Justin – der Junge hätte ihn nicht zweimal angeschaut, da war er sich sicher. Brian hatte jahrelang an sich gearbeitet, an seinem Image, seinem Aussehen, seinem Auftreten, dass er gar nicht mehr entscheiden konnte, was nun Wahrheit war und was nun Trug. Was war echt in seinem Leben? Gus, sein Sohn. Seine Mütter mochten noch so sehr darauf pochen, seine Eltern zu sein – er war es auch. Wenn auch nicht auf dem Papier – Gus war sein Fleisch und Blut. Melanie mochte seine soziale Mutter sein – aber auf einer ganz urtümlichen Ebene schien Gus zu wissen, wo seine Wurzeln waren. In ihm. In dieser merkwürdigen, cremigen Flüssigkeit, die aus ihm heraus schoss, wenn man ihn reizte. Die die Münder, die sie empfingen so gierig aufsaugten. Die er keuchend und seufzend und schreiend in Justins Arsch verströmt hatte, auch wenn sie letztlich im Latex landete. Aber er hatte es sich vorstellen können, wie… Nein. Lindsay. Seine Freundin. Seine Wendy. Die Mutter seines Sohnes. Die ihm ein Geschenk gemacht hatte, von dem er nie zu träumen gewagt hätte. Ein Leben. Ein Kind mit seinen Augen, das sich warm gegen ihn presste in einer bedingungslosen Liebe, deren Existenz er selbst fast vergessen hatte. Wenn er sich in kindlichem Überschwang so an seine Eltern gedrückt hatte, hatte er nur Reserviertheit und Zurückweisung erfahren. Niemals sollte Gus etwas Derartiges erfahren. Er, Brian, mochte zwar keine gr0ße Ahnung von Kindererziehung haben – aber das: Niemals! Michael, sein Freund. Sie waren sich nah gewesen, aber doch immer getrennt durch Michaels Begehren. Er hatte es nie erwidert, doch viele Jahre lang gern damit gespielt. Michael kannte ihn zu gut, seine Schwäche, seine Einsamkeit, seine Leere. Aber wirklich verstanden hatte er ihn nie und würde es auch nie tun. Er musste Probleme immer dinglich, konkret sehen, darüber hinaus ging sein Begreifen nicht. Er war Michaels Held, trotz aller Misslichkeiten. Aber er war kein Held, das hatte Michael nie wirklich begriffen. Auch jetzt, wo sein Freund sich mit Ben verbunden hatte, sah er es nicht wirklich. Er war sein Beschützer gewesen, schon in der Schule, die treibende Kraft hinter ihren Unternehmungen. Aber er war kein Held, kein Rage. Er war ein Meister darin, den Menschen vorzugaukeln, was sie gerne sehen wollten, ihr Verlangen zu wecken. Der einzige, der das jemals vollauf begriffen hatte, war Justin. Justin. Dieser kleine niedliche blonde Twink hatte eine Füllung aus Stahl und Lava. Er hatte ihn gesehen, wirklich gesehen – und hatte sich nicht schaudernd abgewandt. Er hatte ihn gesehen – und hatte ihn dennoch geliebt. Auch ein junger Löwe blieb immer noch eine Raubkatze. Er durfte nicht über Justin nachdenken, es war schon schlimm genug, dass er von ihm träumte. Jede verfickte Nacht. Auf der Coach bei Kinnetic war er schon schlimm genug, aber zu Hause, im Loft… überall schien sein Geruch zu sein, obwohl alles bereits mehrfach gereinigt worden war. Es war unmöglich, dort zu schlafen, ohne ständig das leere Rauschen mit seinen Lauten zu füllen, das Kissen zu umklammern, in der Gewissheit, dass er es sei… Oh Gott, das war so erbärmlich. Aber es würde gewiss aufhören. Justin war gegangen, das schuldete er sich, das schuldete er ihnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)