Age quod Agis von Flordelis (Was du tust, das tu auch richtig ~ Castle of Shikigami) ================================================================================ Age quod Agis ------------- Ihre Hand zitterte. Das letzte Mal, dass dies geschehen war, lag bereits so lange zurück, dass sie geradezu erstaunt innehielt, in die Betrachtung ihrer Hand vertieft als würde sie dieser erstmals gewahr werden. Sie konnte von Glück reden, dass sie nicht gerade dabei war, einen Patienten zu operieren, sondern stattdessen einen Fleischspieß an ihren Mund zu führen gedachte. Trotz des geschäftigen Lärms um sie herum, glaubte sie, hören zu können, wie vorübergehende Passanten über sie zu tuscheln begannen, nachdem sie mit einem Lächeln und einer freundlichen Begrüßung an ihr vorbeigegangen waren. Sie konnte es niemandem verübeln. Eine Ärztin, die nicht nur einer Familie entstammte, die jahrelang die Unterwelt regiert hatte, sondern auch selbst viele Jahre als Auftragsmörderin anderen Menschen mit einer bloßen Berührung ihrer Hand das Leben raubte... sie wäre einer solchen Person gegenüber auch nicht sonderlich aufgeschlossen. Dennoch untersagte ihr knurrender Magen ihr, einfach so schnell wie möglich aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, sondern sich erst an dem Spieß satt zu essen, was sie auch direkt tat, ungeachtet ihrer noch immer zitternden Hand. Wenn sie genau darüber nachdachte, konnte sie von Glück reden, von all diesen Menschen als Ärztin akzeptiert zu werden – aber es hieß inzwischen nicht umsonst, dass ihre Hand auch Leben schenken konnte. Sie war eine überragende Medizinerin, besonders was Gifte anging. Mit einer leichten Kopfbewegung verwarf sie den Gedanken wieder, genau wie den Spieß, als kein Fleisch mehr daran war und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Praxis. Ihrer Praxis, ein noch immer ungewohnter Zustand für sie. Früher hätte sie jeden verlacht, der ihr eine solche Zukunft prophezeite und ihm gleich danach freundlich zum letzten Mal die Wange getätschelt. Aber inzwischen musste sie zugeben, dass es sich gut anfühlte wie es war. Und das alles wäre nie so gekommen, wenn sie nicht nach Japan gereist wäre, um dort einen weiteren Mord zu vollbringen. Es war nicht dazu gekommen, dafür war sie auf diesen Exorzisten getroffen. Einen seltsamen Kauz, wenn sie so an ihn zurückdachte, der ihr aber nach all der gemeinsamen Zeit und den Kämpfen, als sie Feinde im selben Boot gewesen waren, immer wieder in den Sinn kam. Auch eine sehr ungewohnte Erfahrung für sie. Doch die Gedanken und die Erinnerung verblassten, als sie durch die Tür trat und von einem vollen Wartezimmer empfangen wurde. Es würde ein geschäftiger Tag werden, so viel war sicher und auch, wenn man es ihrem Gesicht nicht ansah, so freute sie sich bereits darauf. Ihre Hand hörte unbemerkt wieder auf zu zittern. Die Sonne war längst untergegangen, als auch der letzte Patient aus ihrer Praxis ging und selbst ihre Assistentin sich schließlich verabschiedete und sie im Halbdunkeln allein ließ. So hell und freundlich diese Räume tagsüber wirkten, so düster und deprimierend waren sie in der Nacht. Keinerlei Laut außer dem Rascheln von Papier erfüllte die Räume, kein freundliches Gesicht sah mehr herein, um zu fragen, ob man noch einen Kaffee wollte... Doch hatte sie keine Zeit, nun in Melancholie zu versinken, immerhin war ihre Arbeit noch nicht getan. Zwar waren sämtliche Berichte über die heutigen Patienten bereits fertig, doch war sie in all der Aufregung nicht dazu gekommen, ihre Post durchzusehen. In den meisten Fällen waren es ohnehin unerhebliche Werbezettel oder Ankündigungen, die sie nicht interessierten – doch dieses Mal konnte sie ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken, als sie einen offiziellen Brief der Ärztekammer öffnete. Wie so oft ärgerte sie sich darüber, dieser überhaupt beigetreten zu sein, statt eine heimliche Praxis laufen zu haben, zwar immer der Gefahr ausgesetzt, entdeckt und geschlossen zu werden, aber immerhin unabhängig von all den Verordnungen. Die Neueste sah doch tatsächlich vor, dass sie irgendeinem Medizinstudenten, der noch grün hinter den Ohren war, einweisen und ihm Erfahrungen ermöglichen sollte. Sie, Mihee Kim, sollte Aufpasserin für irgendein verwöhntes Balg spielen! Das stand so gar nicht in ihrem Interesse, aber dieser Student sollte nur kommen – wenn sie Glück hatte, würde es sich bei diesem vielleicht sogar um eine hübsche Frau handeln – sie würde ihm alsbald lehren, dass die Medizin harte Arbeit war, die von viel zu vielen nicht gewürdigt wurde. Schon hörte sie wieder die Stimme des Exorzisten in ihrem Kopf, wie er erst murmelnd anmerkte, dass Frauen unheimlich seien, nur um danach lautstark zu verkünden, dass er sie von ihrer Krankheit – welche auch immer das sein sollte – heilen würde. Dieser verdammte Exorzist...! Selbst nach einem Jahr war es ihr nicht gelungen, ihn zu vergessen. ... Vielleicht hätte sie ihn doch töten sollen. Möglicherweise sollte sie das bei ihrer nächsten Begegnung mit ihm wirklich tun. Doch vorerst warf sie all die Post in den Papierkorb, löschte das Licht und verließ nun selbst die Praxis, um nach Hause zu gehen. Ihre Hand hatte den ganzen Nachmittag nicht wieder zu zittern begonnen. Am nächsten Morgen herrschte offenbar große Aufregung in der Praxis. Menschen versammelten sich im Halbkreis vor dem Eingang und unterhielten sich mit halblauten Stimmen über das, was sie beobachteten. Länger als es ihr eigentlich hätte erlaubt sein dürfen, stand Mihee unentdeckt hinter dieser Menge. Sie wusste nicht, ob sie darauf wartete, erkannt zu werden, damit man sie hindurchließ oder ob sie sich erhoffte, aus dem Gehörten aufzufangen, was geschehen war. Doch alles, was sie aus den Stimmen und den Blicken schließen konnte war, dass ein furchterregender Ausländer sich im Wartezimmer aufhielt. Sofort kam ihr wieder der Exorzist in den Sinn. Sein imposanter Körperbau, das grimmige Gesicht, die Augenklappe... ja, sie konnte sich gut vorstellen, dass jemand ihn als furchterregend einstufen würde und Ausländer war er auch. Aber das wäre doch ein zu großer Zufall. Er würde sich mit Sicherheit nicht in Korea befinden und selbst wenn, dann bestimmt nicht in ihrer Praxis. Wem sollte er dort auch Dämonen austreiben? Mit einem Räuspern machte sie schließlich auf sich aufmerksam. Augenblicklich lichtete sich der Halbkreis, so dass sie zwischen den Versammelten hindurchgehen konnte, um sich selbst zu überzeugen, ob diese Person das Spektakel wert war. Im ersten Moment konnte sie niemanden entdecken, alle Plastikstühle schienen leer – doch als ihr Blick zum Fenster wanderte, war ihr für einen kurzen Moment als würde ihr die Luft wegbleiben. Die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt, das einzige noch funktionierende Auge stur auf das Fenster gerichtet, stand dort tatsächlich der unglückselige Exorzist, mit dem sie das Schwanenschloss erkundet und zerstört hatte. Erst glaubte sie, an Einbildung, suchte weiter nach dem richtigen Ausländer, doch als er schließlich den Mund öffnete und seine Stimme das Wartezimmer erfüllte, war sie sich vollkommen sicher, dass es nicht nur eine Sinnestäuschung war: „Du hast dir aber ganz schön viel Zeit gelassen. Tauchst du immer so spät auf?“ Quälend langsam erarbeitete ihr Gehirn eine Antwort auf seine Frage: „Ein unausgeschlafener Arzt hat mehr Todesopfer zu beklagen.“ Angespannte Stille trat nach ihren Worten ein – doch dann legte er den Kopf in den Nacken und stieß ein bellendes Lachen aus, ehe er sich ihr zuwandte. „Eine solche Antwort habe ich von dir erwartet.“ Es war eindeutig derselbe Exorzist. Nun, da er sie so direkt ansah, konnte sie das ohne jeden Zweifel sagen. Der Klang seiner Stimme brachte ihr außerdem auch wieder seine letzten Worte ihr gegenüber ins Gedächtnis: „Ich finde, du bist sehr schön. ... Das Gesicht, das du eben gemacht hast, war besonders schön.“ Unsinn!, schalt sie sich selbst. Ich bin alles andere als schön! Er hatte nur Mitleid! „Was willst du hier?“, fragte sie. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich alle heilen will, oder?“ Sie stutzte, sah ihn einen Moment nur ungläubig an, während ihr Gehirn ihr bereits die Antwort auf ihre eigene Frage gab. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Warum kommst du ausgerechnet zu mir?“ „Man sagte mir, du wärst eine der besten Ärztinnen – und da ich dich immerhin schon kenne, warst du die beste Wahl.“ Von allen Medizinstudenten auf der Welt, allein in Korea, musste ausgerechnet er seinen Weg zu ihr finden. Sie war wirklich verflucht, es war offensichtlich. „Bist du nicht schon zu alt für so was?“, versuchte sie, ihn aus der Reserve zu locken, doch er winkte nur lässig ab. „Mit dem Alter kommt die Weisheit, das gilt sogar für einen Kerl wie mich. Also, bring mir bei, wie man Leute heilt. Je früher ich damit anfangen kann desto besser.“ Sie wusste bereits, dass dieser Tag übel werden würde, als ihre Hand wieder zu zittern begann. Zu ihrem eigenen Erstaunen war die Zusammenarbeit mit Batu gar nicht so übel. Er begriff erstaunlich schnell, besaß offensichtlich bereits etliche Vorkenntnisse und trotz seiner grimmigen Art kam er überraschend gut mit Kindern aus. Wäre das gelegentliche Murmeln nicht gewesen, mit dem er immer wieder verkündete, dass er alle heilen würde, wäre er auch wesentlich weniger unheimlich für alle gewesen. Aber nichtsdestotrotz verdankte sie es seinem selbstständigen und zielstrebigen Arbeiten, dass sie die Praxis die nächsten Tage wesentlich früher verlassen konnte als sonst und sie sogar zum gemütlichen Abendessen kam – zumindest wäre es gemütlich geworden, wenn Batu sich ihr nicht ungefragt angeschlossen hätte. Ihr erster Impuls war es, ihn fortzuscheuchen, doch schließlich siegte doch die Neugier, da sie einige Dinge in Erfahrung bringen wollte. Gemeinsam mit ihm in einem geschäftigen Restaurant zu sitzen, war eine weitere, sehr neue Erfahrung für sie, die sie allerdings interessant fand. Während sie von all den Menschen um sie herum ein wenig nervös wurde, ließ er sich beim Trinken seines Tees nicht aus der Ruhe bringen. „Warum willst du Arzt werden?“ Ihre Frage schaffte es, seine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Er hob einen Mundwinkel, was wohl seine Form eines Lächelns sein sollte. „Hab ich dir schon gesagt. Ich will alle Leute heilen.“ „Ein aussichtsloses Unterfangen“, erwiderte sie kühl, um ihm gleich klarzumachen, dass sie von seinem Idealismus nichts hielt. Doch zu ihrem Erstaunen nickte er zustimmend. „Das ist richtig. Wahrscheinlich mache ich es auch nur, um mein Gewissen zu beruhigen.“ Als seine Stimme plötzlich einen melancholischen, bedächtigen Klang bekam, der so gar nicht zu ihm passen wollte, schien es Mihee als würden sämtliche andere Geräusche ausgeblendet werden, wie in einem dieser Filme, die sie manchmal ansah, wenn sie nicht schlafen konnte. Es fehlte nur noch irgendeine besonders traurige Melodie, um diesen Moment zu unterstreichen. „Ich konnte weder meine Frau noch meinen Sohn beschützen“, fuhr er fort, so verletzt, dass sie ihn am Liebsten in den Arm genommen hätte, um ihn zu trösten – und ihn dann mit ihrer vergifteten Hand zu berühren, war sie doch überzeugt, dass er im Leben kein Glück mehr finden könnte. Ungeachtet ihrer Gedanken, denen er sich nicht bewusst war, sprach er weiter: „Und ich war nicht in der Lage, sie im Schwanenschloss wiederzusehen.“ „Du hättest nur Tsukiko nachgeben müssen. Sie hat dir doch angeboten, dich auch träumen zu schicken.“ Die Hexe, die über das Schwanenschloss regiert und unzählige Menschen bis zu ihrem Tod hatte träumen lassen, war nicht verlegen gewesen, ihnen auch dieses Angebot zu unterbreiten. Doch beide waren sich einig gewesen, dass, egal wie unbarmherzig die Realität war, sie diese einem Traum vorzögen. Auf ihre Erwiderung musste er schmunzeln, da er sich offenbar ebenfalls erinnerte, was sie damals zu Tsukiko gesagt hatten. „Ein Traum wird aber niemals Realität sein können. Selbst wenn sie mir darin vergeben hätten, wäre das nicht echt gewesen. Da bevorzuge ich doch eher das harte Leben – und erarbeite mir meine Vergebung.“ Ein wenig verwirrt neigte sie den Kopf, fragte sich, ob das für ihn wirklich so wichtig war, dass er sogar von Exorzist auf Arzt wechselte, nur um diese von Menschen zu erhalten, die nicht mehr am Leben waren. Sie, als Auftragsmörderin kannte solche Probleme nicht. Sie war nicht Ärztin geworden, um Vergebung, von wem auch immer, zu erhalten, sondern um sich selbst besser zu fühlen. Möglicherweise wollte sie also, dass sie sich selbst vergibt... „Außerdem hatte ich die Ausbildung zum Arzt bereits einmal angefangen“, plauderte er weiter. „Damals habe ich es nicht geschafft, aber dieses Mal bin ich zuversichtlich.“ „Warum?“ Er musste doch den Schmerz einer Niederlage bei der Prüfung bereits kennen, warum tat er sich das freiwillig noch einmal an und glaubte, dieses Mal etwas ändern zu können? Seine Lippen verzogen sich zu einem siegessicheren Grinsen, das sie selbst bei all den gemeinsam ausgefochtenen Schlachten noch nie an ihm gesehen hatte. „Dieses Mal werde ich einem Leitspruch treu bleiben, den mir die Gesellschaft der Exorzisten beigebracht hat.“ Sie war selbst am meisten darüber überrascht, dass sie tatsächlich neugierig war, die Worte zu hören, die ihn so sehr motivierten – und er enttäuschte sie nicht: „Age quod Agis.“ Ihre Hand zitterte erstmals seit seiner Ankunft nicht mehr. Er erklärte ihr, dass diese Worte Latein waren und eigentlich nur bedeuteten, dass man sein Bestes geben sollte, wenn man schon etwas tat. „Was du tust, das tu auch richtig“, hatte er hinzugefügt, als ihm klar geworden war, dass sie das nicht verstand. Eine Weisheit, die ihr bislang nicht sonderlich geläufig gewesen war. Zwar ging sie davon aus, immer das Beste zu geben, egal, was sie tat – aber seitdem sie diese Worte gehört hatte, grübelte sie öfter darüber, ob das auch wirklich der Fall war. Und wenn sie Batu dabei beobachtete, wie er Patienten behandelte und bis spät in die Nacht Bücher las, kam es ihr so vor als würde sie eben nicht genug tun, als würde es nichts geben, was sie ihm beibringen könnte. Aber möglicherweise war er auch gar nicht deswegen hier. Vielleicht hatte er sie ausgesucht, um ihr etwas beizubringen – oder um sie zu heilen. Allein der Gedanke machte sie krank. Sie brauchte mit Sicherheit niemanden, der sie zu heilen versuchte und schon gar keinen Mann. Ihre Jahre in der Unterwelt hatten ihr das wahre Gesicht der Männer gelehrt, ihr beigebracht, sich vor ihnen in Acht zu nehmen und lieber einem zu viel als einem zu wenig das Leben zu nehmen. Nein, sie wollte seine Heilung nicht, genausowenig wie sein Mitleid. Sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ und wieder aus ihrem Leben verschwand, damit sie ihn vergessen könnte, am Besten für immer. Mit diesem Anliegen zerrte sie ihn wenige Wochen später nach der Arbeit in eine Kneipe am Hafen, in der Absicht, ihm diese Nachricht bei ausreichend Alkohol mitzuteilen. Tatsächlich fiel es ihr nicht schwer, Batu schnell in einen angeheiterten Zustand zu versetzen, aber noch viel mehr erstaunte sie, dass er in einem solchen offenbar redselig wurde. So erzählte er ihr in aller Ausführlichkeit von seiner Frau und seinem Sohn und in jedem einzelnen Wort schwang die Liebe mit, die er für diese beiden Personen empfand. Es war ein derart mitreißendes Gefühl, dass sie sich für den Bruchteil einer Sekunde dabei ertappte, wie sie sich wünschte, seine Liebe würde ihr gelten. Doch erbarmungslos zog sie sich selbst in die Wirklichkeit zurück. Sie brauchte keine Liebe und sie verdiente auch keine! Und schon gar nicht seine! Schlagartig wurde er plötzlich ernst. „Weißt du, dass Reika gesagt hat, dass ich erst in zwanzig Jahren ein Arzt sein werde?“ Mihee verzog ihr Gesicht, als sie an dieses offensichtlich geisteskranke Mädchen zurückdachte, das von sich selbst behauptet hatte, eine Polizistin aus der Zukunft zu sein. „Bis dahin werde ich ein alter Mann sein“, klagte er und leerte ein weiteres Glas mit einem Zug. Sie wollte ihm erwidern, dass er das doch jetzt schon sei, doch stattdessen handelte ihre Zunge schneller, um ihn zu trösten: „Ich würde nicht so viel auf ihre Worte geben. Ihre Vorhersage für mich war ähnlich sinnbefreit.“ So sehr, dass sie lieber nicht einmal daran zurückdachte. Doch ihn schien das nicht im Mindesten aufzumuntern, er schien ihr nicht einmal zugehört zu haben. „Und was, wenn ich es bis dahin nicht einmal geschafft habe, dich zu heilen? Wie soll ich das dann bei allen anderen schaffen?“ Sie stutzte. Also stimmte es tatsächlich und es war von Anfang sein Ziel gewesen, ihr selbst gegen ihren Willen zu helfen! Wie unhöflich und unverschämt das war! Ihre unter dem Tisch verborgene Hand begann wieder zu zittern. Der sich in ihr aufstauende Ärger zeigte sich nicht auf ihrem Gesicht, so dass er von ihrer Gefühlsregung nichts ahnen konnte, nicht einmal, als er sie direkt ansah. „Dabei wollte ich dich unbedingt heilen. Damit ich dir sagen kann-“ Sie ließ ihn nicht aussprechen, wollte nicht zulassen, dass er weitersprach. Die Gier nach seiner Seele verschleierte ihr Bewusstsein – und als sie wieder klar denken konnte, lag ihre linke, immer noch zitternde Hand bereits auf seiner Wange, so sanft wie eine zärtliche Berührung. Und doch erkannte sie an seinem ernsten und gefassten Blick, dass er genau wusste, was nun mit ihm geschehen würde. Es gab kein Gegenmittel, keine Heilung – wer mit ihrem Gift in Berührung kam, starb innerhalb weniger Minuten und das war ihm genauso bewusst wie ihr. „Du hast recht“, sagte er plötzlich nach einer bedrückenden Pause. „Auf Reikas Worte sollte man nicht zu viel geben... ich werde wohl kein Arzt mehr.“ Erschrocken zog sie ihre Hand zurück als ob sie sich an ihm verbrannt hätte. „Aber weißt du“, fuhr er fort als würde das Gift sich im Moment nicht durch seinen Körper fressen und dafür sorgen, dass die Organe ihren Dienst einstellten, „als ich damals sagte, du wärst sehr schön, war das nicht gelogen. Ich fand dich immer wunderschön... und unheimlich.“ Starr vor Schreck konnte sie nichts darauf erwidern und beobachtete ihn stattdessen nur, wie er nun auch ihr Glas noch leerte. Ohne jedes weitere Wort, einen letzten Blick oder ein Lächeln, legte er den Oberkörper auf dem Tisch als würde er schlafen wollen – und hörte auf zu atmen. Die Erkenntnis sickerte nur langsam in ihr Bewusstsein, während sie ihn weiterhin ansah und schon fast verzweifelt hoffte, dass er sich gleich wieder aufrichten und alles lachend als Scherz deklarieren würde, ehe er sich ein weiteres Glas bestellte. Doch er rührte sich nicht mehr. Da lag er nun, der einzige Mann, der sich je um sie gekümmert hatte und ihr sogar helfen wollte – und zum Dank hatte sie ihn umgebracht, gemäß der Regeln, die ihr die Unterwelt gelehrt hatten. Aber was sie an dieser Sache am meisten erstaunte war, dass sie es nicht bereute. Nein, sie wollte sogar mehr! Mehr Leute umbringen! Am besten alle, die sich mit hier in dieser Taverne aufhielten, alle, die sich in dieser Stadt befanden. Mehr, mehr, mehr, mehr...! Die Worte hämmerten in ihrem Kopf, ließen unmenschliche Schmerzen darin erwachen und verdrängten alle anderen Geräusche. MEHR MEHR MEHR MEHR MEHR!!! Sie legte die Hände auf ihren Kopf und zog verzweifelt an ihren Haaren, in der Hoffnung, dass diese Worte dann verstummen würden, doch... MEHRMEHRMEHRMEHRMEHRMEHRMEHR- All ihr Frust und ihre Verzweiflung entluden sich in einem lauten Schrei, der ihre Kehle zu sprengen schien – und ihre Hand hörte wieder auf zu zittern. Entgegen ihrer Worte zu Batu war sie nun sicher, dass Reikas Vorhersage zumindest für sie richtig gewesen war. Die Erinnerung an sein Gesicht und seinen Blick, als ihre Hand auf seiner Wange gelegen hatte, hielt sie wach, obwohl sie den ganzen Tag nur auf eintönige Gitterstäbe starren konnte. Ihre Zelle besaß kein Fenster. Jene auf der anderen Seite des Ganges war seit Tagen leer, es gab nicht mehr viele Gefangene im Todestrakt, dementsprechend wenig Abwechslung gab es für sie. Reika hatte ihr gesagt, dass sie hingerichtet werden würde, doch war es ihr wie ein schlechter Scherz vorgekommen, aus Verlegenheit, dass sie die Zukunft Mihees nicht kannte. Aber ganz offensichtlich war es doch kein Scherz gewesen, egal ob gut oder schlecht. Irgendwo im Gang tickte eine Uhr unbarmherzig vor sich hin, mit jeder Sekunde, die verstrich, rückte ihr Ende näher. Niemand würde ein Gnadengesuch erlassen, niemand würde für ihr Leben protestieren, mit Sicherheit versammelten sich vor dem Gefängnis nur Verwandte ihrer bisherigen Mordopfer, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich sterben würde. Sie war bereit dazu. Ihr war bewusst geworden, dass sie eine Mörderin war, egal wie viele Leben sie rettete. Sie liebte es zu töten, das konnte sie nicht verbergen und das war auch das einzige, was sie richtig tat. Age quod Agis... in ihrem Fall bedeutete das, so viele Menschen wie möglich zu töten, immerhin war sie eine Mörderin. Sie war es immer gewesen und würde es auch immer bleiben, egal wie viele Leben sie als Ärztin rettete, es würde nie etwas an der Tatsache ändern, dass sie auch unwiderbringlich welche ausgelöscht hatte und es wurde Zeit, sich den Konsequenzen zu stellen. Vielleicht war das die Heilung, die Batu sich erhofft hatte. Vielleicht würde sie ihn im nächsten Leben wiedersehen und ihn danach fragen können. Vielleicht würde er sich sogar darüber freuen, dass er sein Ziel selbst nach seinem Tod noch erreichen konnte. ... Vielleicht... Immer wieder rotierten diese Gedanken in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, wie viele Tage oder gar Wochen sie bereits in ihrer Zelle verbrachte, es interessierte sie auch nicht. Wichtig war nur der Tag, an dem man endlich die Tür öffnen und ihr sagen würde, dass die Vorbereitungen abgeschlossen seien. Mit hocherhobenem Haupt würde sie den Gang hinunterschreiten, um ihre Strafe zu akzeptieren, so viel war sie nicht nur ihren Opfern, sondern auch ihrer Familie schuldig. Sie würde in das Publikum sehen, dem erlaubt worden war, bei ihrer Hinrichtung anwesend zu sein und sie würde sich entschuldigen, ehe man sie exekutierte. Das war ihr Plan, um mit gutem Gewissen – jedenfalls so weit es möglich war – aus dem Leben zu scheiden, als Wiedergutmachung für all ihre Opfer und um andere davor zu bewahren, zu einem solchen zu werden. Dies war die richtige Entscheidung, das wusste sie genau und das erfüllte sie mit einem tiefen, inneren Frieden, den sie all die Jahre so schmerzlich vermisst hatte. Bald schon würde sie geheilt sein – und ihre Hand würde nie wieder zittern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)