Why can't I just love? von o0_Hidan_0o ================================================================================ Kapitel 1: 13. Mai ------------------ Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Aber was auch immer mich geritten hat, ich fange jetzt an, ein Tagebuch zu schreiben. Ich kann mir schon vorstellen, wie ich jetzt wahrscheinlich wirke, und bevor ihr auf falsche Gedanken kommt: Ich. Bin. Nicht. Schwul. Wozu auch? Männer stinken, haben stoppelige Haare im Gesicht und sind so sensibel wie ein Stück Wurst. Ich verstehe einfach nicht, wieso jeder von mir denkt, dass ich auf sowas stehen würde. Nur weil ich Pink mag, auf Hygiene achte (wie können Menschen nur überleben, ohne jeden Tag zu duschen?), Fußball nicht leiden kann, meine Haare blond gefärbt sind und noch nie eine Freundin hatte? Das ist doch lächerlich. Viele 16-Jährige hatten noch nie eine Freundin, richtig? ...Richtig? Wie auch immer. Mein Name ist Tobias Gerst und ich bin Rundumversager in Ausbildung. Naja, eigentlich mache ich mich jetzt schon ganz gut. Kaum ziehe ich um und lande in einer neuen Klasse, schon kennt mich die ganze Schule. Leider nicht als den Frauenschwarm oder Topsportler, sondern wie schon gesagt, als „Oberschwuchtel“ oder auch ab und zu mal „Schwulinator“. Ich bin nicht gerade an einer Hochbegabten-Schule gelandet, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als die hirnlosen Kommentare meiner Mitschüler zu ertragen. Meine Eltern haben sich vor kurzem getrennt und ich lebe bei meiner Mutter. Stopp – ich weiß, was ihr jetzt denkt! Meine Mutter hat nichts mit meiner Art zu tun, im Gegenteil. Sie hasst Homosexualität wie die Pest und bringt jedes Wochenende irgendein sympatisches Mädchen mit und erwartet, dass ich ihr sofort verfalle. Ohne Erfolg. Vor Kurzem hat sie dann schwerere Geschütze aufgefahren und ist – ohne Witz – mit einer Prostituierten nach Hause gekommen. Jetzt erwartet mich jeden Freitagabend irgendeine Tussi, die mehr Silikon als Hirn und wahrscheinlich schon ein Immunsystem gegen Botox aufgebaut hat, nur weil meine Mutter hofft, dass wenigstens Klein-Tobias eine Regung zeigt. Meine Mutter ist schon anstrengend, aber irgendwie habe ich sie deswegen auch gern. Aber auch nur irgendwie. Kapitel 2: 15. Mai ------------------ Heute war ein überraschend ruhiger Tag. Mein Morgen begann mit einem sanften Wecken meiner Mutter, die von der gegen die Wand knallenden Tür angekündigt wurde. »Tobias, steh endlich auf!« Sie betonte das ›endlich‹ so, als wäre ich bereits eine Stunde zu spät, also richtete ich mich panisch auf, wobei ich mit dem Kopf gegen die schräge Decke knallte und wieder in mein Kissen zurückfiel. Ich war wach, wenn auch mit unglaublichen Kopfschmerzen. Nach einigen Sekunden Selbstmitleid schwang ich meine Beine aus dem Bett und stand auf. Wie jeden Morgen duschte ich mich zuerst eine Stunde lang (morgens beeile ich mich etwas) und zog dann eine Röhrenjeans und ein lilanes T-Shirt an. Nachdem meine Haare gut lagen und ich sie mit 3-100 Litern Haarspray fixiert hatte, schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr zur Bushaltestelle, wo ich mit einem freundlichen »Na, Schwuchtel, alles fit im Schritt?« begrüßt wurde. Ich bemühte mich, emotionslos auszusehen und ging so weit von den Jungs weg, wie möglich. Kurz schaute ich auf meine Uhr. Der Bus würde in etwa 5 Minuten da sein. »Alter! Der Bus ist jetzt 10 Minuten zu spät, man!« Nico, ein Junge aus meiner Klasse, regte sich ordentlich über die Verspätung auf. Er schrie jedes Schimpfwort herum, dass ich kannte und einige, von denen ich noch nie gehört hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er wild mit den Armen herumfuchtelte. »In 10 Minuten gehe ich nach Hause, ey!« Ich schüttelte leicht den Kopf und schaute wieder weg. Ich holte schon mal mein Handy raus und steckte mir Kopfhörer in die Ohren. »Ey, Schwuchtel! Hörste wieder Boybands?«, lachte Nico laut und gab sich darauf einen High-Five mit seinem Nachbarn, als hätte er den genialsten Spruch der Welt gerissen. Ich rollte genervt mit den Augen, doch insgeheim ärgerte ich mich, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. Es waren inzwischen 10 Minuten vergangen und ich freute mich, dass Nico nach Hause gehen würde. »Okay, noch 10 Minuten und ich gehe echt!« Enttäuscht betete ich den Busfahrer an, dass er sich noch viel, viel Zeit lassen würde. Ich musste positiv denken. Bestimmt war der Bus umgekippt und würde noch mindestens eine halbe Stunde brauchen. Genau, das war logisch. Nach weiteren 10 Minuten war der Bus immer noch nicht da – doch Nico blieb mit der Aussage: »Jetzt wirklich, noch 5 Minuten und ich bin weg!« Gott, ich hätte heulen können. Zu meiner tiefsten Enttäuschung kam der Bus nach genau 5 Minuten. Ich verfluchte den Busfahrer und stellte mich an. »Scheiße!«, rief Nico, »ich wollte gerade nach Hause gehen!« Ich musste mich echt bemühen, nicht loszulachen, denn wenn ich das getan hätte, hätte ich später bestimmt Schläge einstecken müssen. Und das will ich weitgehend vermeiden, solange Nico gerade nicht von sich aus ankommt. Kapitel 3: 16. Mai ------------------ Zum Ausgleich für den leicht verdaulichen Tag gestern wurde es heute abenteuerlich und nervenaufreibend, mit einer Extraportion eklig. Wir hatten Biologie und unser Lehrer hatte einen Glaskasten bei sich auf dem Pult stehen. Es sah aus wie ein Aquarium, nur ohne Wasser, Terrarium heißen die Dinger glaube ich. Also ging ich davon aus, dass er irgendeine Reptilie, oder noch schlimmer, ein Insekt bei sich hatte. Schon alleine bei dem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich weiß noch, wie er einmal eine Schlange bei sich hatte und ich in Ohnmacht fiel. Vielleicht war das ja der Auslöser dafür, dass alle dachten, ich wäre schwul. Oder dass ich immer, wenn ich überrascht bin, sage ›Ach Gottchen‹. Ich weiß, es ist ein furchtbares Klischee, genau wie das mit-dem-Hintern-wackeln und all diese Dinge, bei denen man sofort denkt, ›Oh, der ist bestimmt schwul!‹, aber gerade weil es so ein Klischee ist, könnte es ja ein Grund dafür sein, oder? »Guten Morgen«, begrüßte der Lehrer uns. Wir nuschelten ein ›Guten Morgen‹ zurück und starrten den Glaskasten an. »Wie ihr seht, habe ich eine Freundin bei mir«, sagte Herr Wener stolz. Ach Gottchen, dachte ich überrascht, etwas weibliches kann ja nur etwas böses und ekliges sein! Herr Wener musterte den Glaskasten, konnte ›seine Freundin‹ aber anscheinend nicht finden. Er suchte noch eine Weile, sah uns dann wieder an und lächelte peinlich berührt. »Ahaha«, lachte er nervös, »meine kleine Vogelspinne ist wohl ausgebüxt...« Sofort ergriff mich die Panik. Vogelspinne?! Ich ließ meinen unmännlichsten Schrei heraus und sprang blitzschnell auf den Tisch. Danach herrschte beklemmende Stille und jeder starrte mich an. Nach der Stille folgte Gelächter und die Jungs rissen ein paar schwulenfeindliche Witze. Beleidigt mich, so sehr ihr wollt, dachte ich, ich gehe hier auf keinen Fall runter! Erst jetzt im Nachhinein schäme ich mich in Grund und Boden für diese Aktion. Auf einmal sah ich das Vieh auf meinem Tisch herumkrabbeln. Die Spinne war schwarz, riesig und haarig – mehr sah ich gar nicht, denn sofort war sie zwischen meinem Fuß und dem Tisch. Erst, als die Spinne Brei war, wurde mir klar, was ich getan hatte. »Tobias, bist du denn von allen guten Geistern verlassen!«, rief Herr Wener verzweifelt und hielt sich beide Hände an den Kopf. Er rannte zu der Vogelspinne – oder was davon übrig geblieben war – und sein Gesicht nahm eine tiefrote Farbe an. Ich blieb wie versteinert auf dem Tisch stehen und bewegte meinen Fuß nicht von dem toten Tier weg. »Geh doch endlich weg! Oh, meine arme Kleine!«, jammerte er. Er stieß mein Bein weg und als ich die Leiche der riesigen Spinne sah, musste ich mich bemühen, nicht in Ohnmacht zu fallen. Herr Wener war zwar verzweifelt, konnte mir aber verzeihen, nachdem ich mich ein paar Mal entschuldigt hatte. Aber es tut mir in Wirklichkeit gar nicht leid. Es gibt wegen mir ein haariges Rieseninsekt weniger auf der Welt – und ich bin stolz darauf! Etwa nach der Hälfte der zweiten Stunde klopfte es an der Tür und ein Junge aus meiner Klasse, Aksel Nikolai, kam herein. Aksel ist Norweger und hat schwarze, verwuschelte Haare und dunkelblaue Augen, die gleich doppelt so schön wären, wenn er wenigstens eine Sekunde lang interessiert gucken würde. »Was hab ich verpasst?«, fragte er mit gleichgültiger Stimme. »Die Schwuchtel hat Herr Weners Spinne zermatscht!«, schrie jemand und bekam erneut einen Lachanfall. Darauf lachte die ganze Klasse mit. »Und diesen Mädchenschrei, den er rausgelassen hat!«, prustete jemand. Ich sank etwas auf meinem Stuhl herunter (ich hatte es nach einiger Zeit geschafft, von dem Tisch herunter zu gehen) und wurde rot. Das werden die mir bestimmt noch ewig vorhalten. Wieso bin ich nur ein Idiot? Aksel ließ nur ein verächtliches Lachen heraus. »Schämst du dich eigentlich nicht?«, fragte er dann völlig gleichgültig und ging auf seinen Platz. Er ist der Schlimmste in meiner Klasse. Okay, er sieht wahnsinnig gut aus: Seine pechschwarzen Haare, die dunkelblauen Augen, in denen man versinken konnte und er ist auch noch muskulös. Im linken Ohr hat er zwei schwarze Ringe, die ihn etwas rebellisch wirken lassen, was noch durch seinen immer emotionslosen Blick betont wird. Er sieht besser aus, als jedes weibliche Wesen, dass meine Mutter je angeschleppt hat, aber es gibt bei ihm ein Riesenproblem: Er ist das größte Arschloch, dass ich je kennenlernen musste. Die Anderen aus meiner Schule lachen einfach über mich, was mich nicht weiter stört, weil ich bei ihnen sagen kann, dass ihr Gehirn die Größe eines Kieselsteins hat, aber Aksel ist nicht dämlich, im Gegenteil. Er scheint mich besser zu kennen, als ich mich selbst und er weiß, was er sagen muss, damit ich mich scheiße fühle. Die perfekte Grundlage für ein harmonisches Miteinander. Kapitel 4: 18. Mai ------------------ Heute ist Freitag, Mama-bringt-ein-Flittchen-mit-nach-Hause-Tag, und trotzdem bin ich allein. Ich bin extra Geheimagent-mäßig in unser eigenes Haus eingestiegen, damit ich dem Wohnzimmer und somit einem weiteren Negativ-Beispiel der Frauenwelt entgehen kann. Wie ein Einbrecher um die Wohnung herumgeschlichen, eine Leiter neben mein Zimmerfenster gestellt und trotz Höhenangst raufgeklettert. Als ich ganz oben auf der Leiter stand, wollte ich durch das Fenster schauen, und habe mich ganz zurückgelehnt und bin auf einmal mit der Leiter nach hinten gekippt. Habe fast einen Herzinfakt bekommen und geschrien wie am Spieß, mich aber ganz tapfer an der Leiter festgekrallt, die sich schließlich am großen Kirschbaum gegenüber meines Zimmerfensters verfangen hat. Ganze zwei Stunden habe ich da festgesessen, bis Herr Schröder von nebenan mir endlich geholfen hat! In der Küche lag dann ein Zettel auf dem Tisch: Tobi, ich fahre heute zu meiner Schwester nach Köln, weil sie Geburtstag hat, und bleibe über Nacht. Stell nichts Blödes an und benimm dich! -Deine Mutter Ich werde nie wieder in mein eigenes Haus einbrechen. Das habe ich jetzt davon. Und am Ende der Nachricht ›Deine Mutter‹, wie liebevoll. Unglaublich, dass sie nicht ihren Vornamen hingeschrieben hat. Naja, zumindest kann ich meinen Abend jetzt verbringen, wie ich will, und nicht mit irgendeinem Luder. Das gefällt mir wirklich besser. Später Bin beim Fernsehen eingeschlafen, als ich irgendeine Doku über Delfine gesehen habe. Jetzt ist es mitten in der Nacht und ich wurde von Sex-Werbung geweckt, wo in Baustellen-Lautstärke »ruf fünf mal die Sechs an und verlange nach ›Lesben‹« rumgestöhnt wurde. Wie stellen die sich das eigentlich vor? Soll ich da anrufen und sagen »Ja, ähm, hallo, ich würde gerne mit den Lesben sprechen«, oder wie? Mein Weltbild wird immer mehr zerstört. Da guckt man ohne Bedenken einen Bericht über niedliche Delfine, und schon wacht man auf und hat eine Großaufnahme von Brüsten vor der Nase. Kapitel 5: 19. Mai ------------------ Heute ist meine Mutter wiedergekommen. Dass sie eine totale Fahne hatte, hat mich eher mäßig überrascht, auch war es nichts Neues, dass sie schlechte Laune hatte (es hätte mich eher überrascht, wenn sie gute gehabt hätte) und auch nicht, dass sie mir eine gescheuert hat, weil ich mir wieder meine Haare blond gefärbt habe, als sie weg war. Nein, total geschockt hat mich der Knutschfleck an ihrem Hals. »Mama!«, rief ich völlig erschüttert. »Dass du mir nicht vergessen hast, zu verhüten!« »Verhüden? Bissu schwul oder was?« Das ist ihre häufigste Ausrede. ›Bist du schwul oder was?‹ Das sagt sie immer, wenn ich ihr einen Fehler vorwerfe, um schnell von sich abzulenken und mich daran zu erinnern, wie missraten ich doch war und ich mir bloß schnell ein Mädchen anschaffen sollte. Egal wie unpassend diese Frage gerade ist, sie kommt mir immer damit. Na klar, ich bin schwul, weil ich mir Gedanken mache, dass meine Mutter in ihrem Alter und unserer Lebenslage noch schwanger werden könnte, anstatt einfach darauf zu scheißen und sie ihrem Schicksal zu überlassen und mich mit ein paar Mädels zu vergnügen, so siehts aus. »Nein, bin ich nicht! Außerdem geht es darum doch gar nicht!«, rief ich empört, doch sie hörte mir gar nicht weiter zu. So geht es jeden Tag bei uns zu. Wie soll ich bei ihr denn vernünftig aufwachsen, mich selbst finden und das Alles? Sie hat eine ganz genaue Vorstellung, wie sie mich haben will, und wenn ich auch nur ein bisschen abweiche, gibt es halt Schläge. Manchmal frage ich mich, ob es bei meinem Vater vielleicht besser wäre. Aber meine Mutter hat erzählt, er wäre ein riesengroßes Arschloch (was er ja sowieso ist, weil er sie verlassen hat) und wäre gleich nach der Trennung nach Schottland ausgewandert. Schottland. Nein, danke, ich verzichte auf Röcke ohne was drunter. Da kassiere ich lieber Ohrfeigen und gehe mit Nutten aus. Mit Vergnügen. Kapitel 6: 21. Mai & 23. Mai ---------------------------- Ich hasse meine Mutter!!! Ich will nicht mehr bei dieser dummen Kuh leben! Jawohl, ich haue ab und lebe auf der Straße! Dann wird sie endlich merken, was sie alles falsch gemacht hat und wenn sie dann angekrochen kommt, werde ich ihr bestimmt nicht verzeihen!! Oder ich gehe zu meinem Vater nach Schottland! Dann werde ich sagen »Ha, Mutter, ich trage Röcke und habe nichts darunter! Ist das nicht schwul?!« und sie auslachen! Genau, das mache ich!!! Später Okay, hab mich beruhigt. 23. Mai Ich bin verwirrt. Richtig verwirrt. Heute in der Schule hatten wir eine Freistunde, weil ich schon wieder eine Spinne von Herr Wener zertreten habe und er zu verzweifelt war, um weiter unterrichten zu können. Meine Mitschüler hätten ruhig mal nett zu mir sein können, aus Dankbarkeit, dass ich das Haustier unseres Lehrers ermordet und uns dadurch Freizeit beschert habe, aber so, wie sie nun mal sind, haben sie nur Andeutungen gemacht, dass sie mich in der Freistunde verprügeln würden. Als es geklingelt hat, bin ich also schnell abgehauen. Ich bin schnell die Treppen hochgerannt und bin dann im Flur des dritten Stockes herumgeschlichen und habe mir ein Versteck gesucht. Ich weiß, ich bin feige. Aber wie soll ich mich denn gegen fünf muskelbepackte Kerle wehren? Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als wegzurennen. Als ich den Flur entlang ging, hörte ich auf einmal leise Klaviermusik. Ich hätte es wahrscheinlich besser ignorieren sollen, aber ich war zu neugierig, also folgte ich dem Klang und dieser führte mich schließlich zum Musikraum. Ich drückte mein Ohr gegen die Tür. Es wurde ein wunderschönes, melancholisches Liebeslied gespielt, dass ich nicht kannte. Vielleicht war es sogar von dem Klavierspieler selbst geschrieben. Meine Neugierde war stärker als meine Angst, von Nicos Clique gefunden zu werden und ich öffnete die Tür des Musikraumes ganz leise und langsam. Als ich schließlich durch den Spalt schaute, traute ich meinen Augen nicht. Es war Aksel Nikolai, das unsensible Arschloch, der dort so wunderschön Klavier spielte, dass ich kurz davor war, meine Taschentücher herauszukramen. Ich beobachtete Aksel eine Weile lang mit wachsender Faszination. Er hatte ein seltsames Glitzern in den Augen, durch dass er Wärme und Geborgenheit ausstrahlte. Es war seltsam, sich bei ihm wohl zu fühlen, anstatt schon durch seine Anwesenheit Angst zu haben. »Ey, Schwuchtel!«, wurde ich plötzlich in die Realität zurückgerissen. Ich zuckte zusammen und Aksel beendete sein Spiel abrupt. Als sich unsere Blicke trafen, knallte ich die Tür zu. Schnell wirbelte ich herum und sah Nico und seine Kumpanen, alle fünf ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht. »Du hast dich doch nicht etwa vor uns versteckt?«, fragte Nico mit gespielter Unschuld und kam näher. Seine Bande tat es ihm nach. »Du brauchst doch keine Angst vor uns zu haben...«, trällerte Nico weiter. Er kam bedrohlich immer näher und mit jedem Schritt schlug mein Herz einen Takt schneller. Ich versuchte, Abstand zu schaffen, doch mein Rücken drückte nur gegen die Tür des Musikraumes. Es gab keinen Ausweg und ich hatte schreckliche Angst. Angst vor den Schmerzen, der Demütigung, der Hilflosigkeit. Als Nico dann schließlich vor mir stand und mit seiner Rechten ausholte, schloß ich die Augen, drückte mich gegen die Tür und drehte meinen Kopf weg. Ich ergab mich meinem Schicksal. Auf einmal wurde die Tür hinter mir geöffnet und ich fiel nach hinten. Ich landete auf dem blau-grauen Teppich vom Musikraum, natürlich mit dem Kopf zuerst. Als ich die Augen öffnete, sah ich in das Gesicht Aksels, der über mir stand und kurz auf mich herab sah, dann aber über mich hinweg stieg und auch an Nico und seiner Bande wortlos vorbeiging. »Ey, Aksel, wo willste denn hin?!«, rief Nico verwundert hinterher. »Ich hol mir was zu essen, die Pause ist gleich vorbei«, antwortete Aksel. Als die Fünf an Essen erinnert wurden, vergaßen sie mich und gingen begeistert Aksel hinterher. Was sollte das Ganze? Ist Aksel jetzt ein Arschloch oder nicht? Die ganze Klavierspielerei und dass er mir geholfen hat … das passt alles gar nicht zu ihm! Na gut, vielleicht hat er mir auch gar nicht geholfen. Vielleicht möchte er sich selber ja auch dafür in den Hintern treten, dass er die Bande von mir weggebracht hat. Wie auch immer, das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich gerade doch irgendwie froh bin, dass ich Aksel so scheißegal bin. Kapitel 7: 24. Mai ------------------ Aksel soll verdammt nochmal aufhören, so desinteressiert zu sein! Der treibt mich noch in den Wahnsinn!! Ich wollte heute nett sein, weil er mich ja irgendwie gerettet hat und so, aber er hat mich überhaupt nicht beachtet! Ich stand vor unserem Klassenraum, in dem sich der Rest der Klasse aufhielt. Aksel war mal wieder zu spät und in meinem Kopf ging ich einige Sätze durch, die ich sagen könnte. ›Hey Aksel, danke für die Rettung gestern!‹ Das klingt, als wäre er ein Bademeister und ich irgendeine Bikinimieze, die er vor dem Ertrinken gerettet hat. Unschöner Gedanke. ›Danke, dass du diese Idioten abgelenkt hast!‹ Was, wenn er mit den Idioten befreundet ist? Dann kann ich gleich mein Testament machen. Streichen wir das. ›Dein Klavierspiel war wundervoll, ich hätte heulen können!!‹ Woah, und ich wundere mich noch, warum man mich als Schwuchtel bezeichnet? Ich hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken, denn ein paar Meter vor mir sah ich Aksel bereits. Aufgeregt atmete ich ein paar Mal tief durch und versuchte, meine Gedanken zu sortieren, damit ich nicht blöd um den heißen Brei redete. Kurz ging mir ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. War es nicht völlig sinnlos, sich Gedanken zu machen? Er kannte mich doch sowieso besser als jeder Andere, würde er mir nicht anmerken, wie aufgewühlt ich war? Unglaublich, wie viel man denken kann, obwohl eine Person gerade mal 20 Schritte entfernt ist. Aber ich bin einfach zu höflich und ich wusste, ich würde ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich nicht bei ihm bedankte. Also wartete ich, dass Aksel an mir vorbeiging und ich ihn dann ansprechen könnte. Die Sekunden kamen mir ewig vor und ich begann, nervös hin- und herzuschaukeln, wie man es macht, wenn man vor der ganzen Klasse ein Referat halten muss. Schließlich ging Aksel an mir vorbei und ich sprach ihn zögerlich an: »Hey, Aksel.« Aksel blieb stehen, drehte sich um und sah mich an. Er sah natürlich nicht interessiert aus, sein Blick sagte mehr so etwas wie ›Mach schnell, ich will nicht mit dir reden‹. Sehr ermutigend. Ich wurde noch nervöser und starrte auf den Boden. »D-Danke wegen gestern«, stammelte ich. »Wie kommst du darauf, dass ich dir helfen wollte?« fragte er und ging weiter. Diese Frage war ziemlich schmerzhaft. Na klar, wieso dachte ich das überhaupt? Ich kam mir unglaublich dämlich vor, besonders, weil Aksel es auch gar nicht für nötig hielt, sich weiter mit mir zu beschäftigen. »Du kannst echt gut Klavier spielen!«, rief ich ihm noch hinterher und bereute es sofort. Aksel antwortete nicht und ging einfach weiter. Wie kann ein Mensch nur so ignorant sein?! Nicht, dass mir das was ausmachen würde. Kapitel 8: 26. Mai & 30. Mai ---------------------------- 26. Mai Habe mich richtig heftig mit meiner Mutter gestritten. Wir sind sogar so weit, dass sie meinte, ich solle ausziehen. Oder noch besser, von einer Pflegefamilie adoptiert werden, damit sie sich nicht mehr um solch ›nutzloses Zeug‹ wie mich kümmern müsse. Ihre Worte. Langsam werden solche Streitigkeiten schon zur Gewohnheit. Hm. Vielleicht ist Schottland ja doch ganz … cool? 30. Mai Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe heute in der Schule erfahren, dass wir auf Klassenfahrt fahren. AUF KLASSENFAHRT. Ich werde sterben!! Denn Klassenfahrt bedeutet eine versiffte Jugendherberge, in der die Betten auseinander fallen und das Essen zum Überlebensurlaub wird. Auf der letzten Klassenfahrt musste am laufenden Band der Resteeimer ausgetauscht werden. Und die Zimmeraufteilung wird die Hölle. Natürlich will keiner aus meiner Klasse mit mir ein Zimmer und dann schwafelt die Lehrerin irgendwas von Moral und Sozial-sein und ein Zimmer wird gezwungen, mich aufzunehmen. Aber ganz egal, wo ich am Ende lande, ich verbringe meine Nächte sowieso bei den Toiletten oder in einer Dusche und meine Sachen werden aus dem Fenster geworfen. Wozu geben sich die Lehrer also überhaupt die Mühe? Und zu Hause bleiben geht nicht, weil meine Mutter das nicht zulässt. Sie will mich unbedingt für die Woche aus dem Haus haben und erzählt meinen Lehrern, ich wäre vor Reisen nur etwas ›aufgeregt‹. Die Zimmeraufteilung wird erst morgen geklärt. Da bin ich wirklich aufgeregt. Kapitel 9: 1. Juni ------------------ Gestern habe ich es nicht fertig gebracht, über die Zimmeraufteilung zu schreiben. Ich war zu aufgewühlt und zu beschäftigt damit, in Selbstmitleid zu versinken. Natürlich bin ich immer noch zutiefst deprimiert, aber ich denke, ich kann es ertragen, hust. Schon bevor die Lehrerin hereinkam, war das einzige Thema die Zimmeraufteilung. Normalerweise kriegen die Leute aus meiner Klasse nichts gebacken, aber da gaben alle sich große Mühe, feste Zimmergruppen zu bilden, damit man mich nicht aufnehmen musste. Jeder redete wild hin und her, überall wuselte jemand herum, und ich saß mitten drin. Ich kam mir schrecklich überflüssig und fehl am Platz vor. Was soll ich in einer Welt, in der mich jeder hasst? Ich fühlte mich von allen Seiten angestarrt und überall hörte ich nur »mit dem will ich nicht auf ein Zimmer!«, als wäre ich die Unerträglichkeit in Person. Schließlich betrat die Lehrerin den Raum. Sie schlug einen Notizblock auf und fragte nach den Zimmergruppen. Alle streckten ihre Arme so hoch, wie sie konnten und wedelten dabei heftig mit ihnen. Sie konnten es nicht erwarten, eingetragen zu sein und keinen unerwünschten Gast, also mich, bei sich zu haben. Als alle eingetragen waren, bemerkte unsere Lehrerin: »Tobias ist aber noch übrig.« Zuerst herrschte Stille, doch dann traute sich jemand, ein zögerliches »Na und?« zu rufen. Man, war unsere Lehrerin sauer. Mit jedem Satz, den sie herumschrie, wie asozial die Klasse doch wäre, rutschte ich weiter meinen Stuhl herunter, in der Hoffnung, der Boden würde mich einfach aufessen. Oder so. Versteht sie denn nicht, dass sie alles nur noch schlimmer macht? Jedenfalls habe ich immer noch keine Ahnung, wo ich auf der Klassenfahrt schlafen soll. Wahrscheinlich muss ich wirklich in den Duschen übernachten. Wie scheiße muss ich denn sein, wenn mich keine Sau auf dem Zimmer haben will? Ich will nicht mehr. Vielleicht sollte ich einfach alles beenden – ich würde der Welt einen Gefallen damit tun. Nicht einmal meine eigene Mutter will mich haben. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich nicht mit auf die Klassenfahrt will, weil es die Hölle werden wird, aber es war ihr egal. Sie meinte, ich solle nicht den Anderen die Schuld geben, dass ich so ein armes, von der Welt gehasstes Würstchen bin, sondern mal die Schuld bei mir suchen. Klasse. Mein Selbstwertgefühl ist im Arsch. Wenigstens ist heute Freitag und ich muss morgen nicht zur Schule... Moment. Freitag? Komisch, meine Mutter hat gar kein Mädchen mitgebracht. Ob sie etwas Großes plant? Wahrscheinlich sucht sie sich eine ganze Truppe zusammen, und dann... schluck. Später Ich kann nicht schlafen. Ich will morgen nicht aufwachen und einen neuen Tag durchstehen müssen. Ich frage mich wirklich, wozu ich überhaupt lebe. Erfülle ich irgendeinen Zweck? Nein, ich glaube nicht. Andere Menschen erfüllen einen Zweck, sie bringen Andere zum Lachen, bieten ihnen eine Schulter zum Ausweinen oder sind intelligent und können Anderen damit helfen. Und ich? Ich nerve die Anderen nur, bin ihnen im Weg. Warum also lebe ich? Gibt es irgendeinen Gott, der sehen will, wie ich an der Last des Lebens zerbreche? Der neben all den Musterexemplaren auch mal ein Mängelexemplar auf die Welt schicken muss? Vielleicht ist es auch viel einfacher. Vielleicht gibt es gar keinen Gott und ich bin einfach hier und habe es schlicht und einfach verkackt. Habe irgendetwas an mir, dass man nur hassen kann. Was auch immer es ist, ich habe genug. Ich will nicht mehr. Kapitel 10: 2. Juni & 3. Juni ----------------------------- 2. Juni Hey, ich lebe doch noch. Das mit dem Weibertrupp hat sich erledigt – ich war heute mit einem Mädchen aus. Es hat natürlich ganz klasse angefangen. Ich war gerade aufgestanden und meine Haare standen in alle Richtungen ab, ich trug Herzchen-Boxershorts und hatte Augenringe bis zu den Knien. Als ich die Treppe herunterging – natürlich nicht, ohne auszurutschen und höchst elegant auf dem Gesäß zu landen – sah ich auf einmal dieses Mädchen neben meiner Mutter stehen. Sie musterte mich mit eher mäßiger Begeisterung und meine Mutter grinste wie ein Honigkuchenpferd. Sie schien besonders stolz auf das dieswöchige Exemplar zu sein. Na gut, ich konnte sie verstehen – das Mädchen war in meinem Alter, hatte ein schönes Gesicht mit klaren, großen Augen, eine zierliche Figur und leicht gewellte, dunkelbraune Haare, die sie locker hochgesteckt hatte. Obwohl ich aussah wie ausgekotzt, lächelte sie mich freundlich an. Sie war eine echte Traumfrau – nehme ich zumindest an. Bei mir hat sich nicht wirklich was getan, es war mir nur peinlich, erst wie ein Schmarotzer aufzutreten und dann mit ihr ausgehen zu müssen. Sie hatte doch sicher Besseres zu tun. »Melanie, schau doch etwas Fernsehen, bis Tobias fertig ist«, sagte meine Mutter und schob Melanie, wie ich gerade erfahren hatte, sanft zum Sofa. Dabei warf sie mir einen bösen Blick zu und nickte mit ihrem Kopf in Richtung Badezimmer. Schnell wie der Blitz machte ich mich ausgehbereit. Nach einer Stunde betrat ich das Wohnzimmer und Melanie saß immer noch geduldig auf der Couch und wartete. Als sie mich sah, lächelte sie wieder ihr unglaublich fröhlich aussehendes Lächeln und musterte mich von oben bis unten. Mir kam das alles etwas komisch vor. Wieso hatte sie sich nach dem Anblick meines morgendlichen Ichs nicht schnell aus dem Staub gemacht, sondern brav gewartet?, wunderte ich mich. Wurde sie von meiner Mutter erpresst oder so? »Bist du fertig?«, fragte Melanie, schien aber keine Antwort zu erwarten, sondern stand einfach auf und ging zur Tür. Sie öffnete diese aber nicht, sondern grinste mich nur die ganze Zeit an. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich verstand, dass sie von mir erwartete, dass ich ein Gentleman bin und ihr die Tür öffne. Frauen verlangen immer so unglaublich viel von einem. Aber glücklicherweise zählte eine Tür zu öffnen noch gerade so zu meinem Fähigkeitenbereich, und so verließen wir das Haus ohne weitere Probleme. Dachte ich zumindest. Ich und Melanie gingen herum, ich wusste nicht wohin, ich war mir sicher, sie würde das schon regeln, und sie hatte sich bei mir eingehakt und drückte sich an mich. Ich bekam fast Platzangst. Und auf einmal fiel es mir ein: Mein Portemonnaie. Ich hatte es in meinem Zimmer liegen lassen. Sofort malte ich mir wieder die schlimmsten Dinge aus. Ich Idiot, dachte ich aufgeregt. Was, wenn sie wollte, dass wir in ein teures Restaurant gingen und ich, als Gentleman, den sie ja anscheinend haben wollte, die Rechnung übernehmen musste? Ach Gottchen, wär das peinlich! Ich könnte ja nicht einmal für mich selbst bezahlen! »Tobias?«, fragte Melanie und riss mich aus meinen Gedanken. »Wie wäre es, wenn wir weiter spazieren gehen, durch den Park?« »Gerne.« Puh, gerettet. Mädchen reden viel. Die ganzen emanzipierten Weiber würden mich für diese Aussage wahrscheinlich grün und blau schlagen, aber es stimmt. Jede Verabredung, die ich bisher hatte, und das waren viele (hui, ich klinge wie ein Aufreißer), hat ohne Punkt und Komma gelabert. Sie fragten nach meiner Meinung, und als ich meinen Mund öffnete, quasselten sie munter weiter und ich schloß meine Luke wieder. Warum fragen Frauen etwas, wenn sie sich eh keine Antwort anhören wollen? Naja, ich schweife ab. Wie gesagt – Frauen reden viel. Aber Melanie nicht. Sie sagte nichts Uninteressantes oder Unwichtiges, und wenn sie etwas fragte, wartete sie sogar auf meine Antwort. Melanie war so anders als all die anderen hirnlosen Dates, die ich hatte … Sie war toll. Wieso, verdammt nochmal, stand ich also nicht auf sie?! Es regte sich gar nichts. Ich war nicht nervös, ich fühlte mich nicht wohl bei ihr, kein Herzklopfen, sogar Klein-Tobias ließ sie völlig kalt. Und als wir da so standen und es mir fast schon egal war, dass ein tolles Mädchen sich an mich presste, meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf. »Du stehst eben doch auf Männer.« »Tue ich nicht! Melanie ist total geil!« Irgendwie finde ich das Wort ›geil‹ eklig, aber ich musste dieses nervige kleine Stimmchen ja irgendwie überzeugen. »Klein-Tobias sagt da aber etwas anderes.« »Lass meine Genitalien aus dem Spiel! Die gehen dich gar nichts an!« »Ich bin nur eine Stimme in deinem Kopf – deine Genitalien sind meine!« »Wie kann eine Stimme in meinem Kopf Genitalien haben?« Ich führte in Gedanken ein Gespräch über Genitalien mit einer Stimme in meinem Kopf. Die Parkluft tat mir wohl nicht gut. »Schluss damit! Denk doch mal nach. Wieso hast du bei keinem Mädchen je etwas gefühlt?« »Weil sie nicht mein Typ waren.« »Und was ist dein Typ?« »Keine Ahnung...« Verdammt, dieses kleine Stimmchen ist echt anstrengend. »Ich sag's dir: Männer sind dein Typ.« Ich schluckte. Ich wusste nicht, wie ich das Stimmchen noch vom Gegenteil überzeugen konnte. Schließlich war ich selbst ja noch nicht einmal wirklich überzeugt. Auf einmal spürte ich, wie mein Arm zusammengequetscht wurde. Melanie hatte sich noch stärker eingehakt und ihren Kopf auf meine Schulter gelegt. Ich hatte sie schon fast vergessen. Als ich nach vorne sah, sah ich den gelb-roten Horizont. Uhh, ein Sonnenuntergang, wie romantisch. Musste sie mir deswegen gleich den Arm abklemmen? Melanie starrte mich an. Ich sah zwar nicht zu ihr hin, aber ich spürte ihren Blick deutlich. Plötzlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir ins Ohr: »Ich stehe total auf Metrosexuelle.« Ich sah sie verwirrt an. Metrosexuell? Sehe ich aus, wie einer, der es am liebsten in Zügen treibt, oder wie? Und während sie das sagte, grinste sie auch noch. Auf einmal sah ihr Lächeln aber gar nicht mehr so fröhlich aus, es hatte etwas perverses. Sofort sah ich wieder weg. Hatte ich also doch ein Luder an der Angel – mal wieder! Gut gemacht, Klein-Tobias. Da hast du den richtigen Riecher gehabt. Wie auch immer, aus Angst, an Ort und Stelle missbraucht zu werden, beendete ich die Verabredung mit der äußerst einfallsreichen Ausrede »Oh, es ist ja schon so spät, ich muss los« und lief um mein Leben. Sie rief mir noch hinterher: »Ich melde mich!« Meine Mutter hatte ihr anscheinend unsere Telefonnummer gegeben. Auch das noch. 3. Juni Ich habe gerade herausgefunden, dass ein ›Metrosexueller‹ ein Kerl ist, der sich schwul anzieht und schwul benimmt, aber auf Frauen steht. Hmpf. Kapitel 11: 4. Juni ------------------- Hurra, es ist Montag. Und direkt neben unserem Haus wird irgendetwas an der Straße gemacht, heißt also: Baustelle. Aber naja, jeden Morgen von lautem Gehämmere und Motorengeräuschen geweckt zu werden, hat ja auch irgendwie was. In der Schule ist nichts wirklich Besonderes passiert. Okay, okay, ich will mir ja nichts vormachen. Es ist etwas passiert. Und wie etwas passiert ist! Ich werde das wahrscheinlich nie wieder vergessen können. Wollte nur mal gucken, ob ich es schaffe, das zu verdrängen. Also, heute hatten wir Biologie, mein bevorzugtes Fach für peinliche Aktionen. Doch ich tötete keines von Herr Weners Tierchen, alle Beteiligten blieben unverletzt. Bis auf mein Ego natürlich. »Liebe Klasse, heute beginnen wir mit einem neuen Thema!«, verkündete Herr Wener begeistert. Bei meinem Talent dürfen wir jetzt Frösche sezieren oder so, dachte ich mir. Aber es sollte viel schlimmer kommen. »Es ist ein Thema, dass besonders Menschen in eurem Alter sehr interessieren dürfte. Ich weiß nicht, ob alle von euch bereits praktische Erfahrungen sammeln konnten, doch das ist nicht so sehr von Bedeutung. Wir können uns ja sowieso nur mit der Theorie beschäftigen!« Herr Wener lachte laut. Ich wunderte mich, wer zur Hölle in seiner Freizeit denn schon mal einen Frosch aufgeschnitten haben sollte. Und vor allem, wieso wir nur theoretisch sezieren würden. Andere Klassen haben das doch schon längst gemacht. »Ihr ahnt es vielleicht schon – wir haben nun Sexualkunde!«, klärte Herr Wener uns schließlich auf. Endlich verstand ich den Witz mit der Theorie und der praktischen Erfahrung. Ach Gottchen, Herr Wener, Sie schlimmer Finger, Sie!, dachte ich kurz. Nach diesem Gedanken sah ich mich verwirrt um. Hoffentlich kann niemand in meiner Klasse Gedanken lesen. Das war ja wohl gerade mehr als peinlich. Aber meine Mitschüler waren nicht verstört oder ähnliches, also schloß ich das mit dem Gedanken lesen aus. Wie nicht anders erwartet freuten sich die Jungs aus meiner Klasse riesig, stießen sich gegenseitig mit dem Ellenbogen an und grinsten pervers. Die Mädchen waren weniger erfreut und trugen es mit Fassung. Mir ging es ähnlich. Was war schon dabei. »Nun, dann fangen wir mal an«, murmelte Herr Wener und schaltete den Tageslichtprojektor an. Es wurde ein Bild des weiblichen Geschlechtsteils auf die Wand projeziert. Die männliche Hälfte der Klasse brach in Begeisterung aus, als hätten sie derartiges noch nie gesehen, die weibliche Hälfte räusperte sich verlegen. »So, was ist das?« fragte Herr Wener und ich dachte mir kurz, dass eigentlich sogar der größte Idiot Lehrer werden könnte, dumme Fragen stellen kann schließlich jeder und am Ende sind wir, die Schüler, die, die sie beantworten müssen. Die Jungs meldeten sich eifrig und die Mädchen hielten sich zurück. Meine Güte, die stellten sich vielleicht an. Herr Wener nahm schließlich Nico dran, der noch gerade so das Wort ›Vagina‹ herausbrachte und schließlich laut losprustete. Ja, dann ist das halt eine Vagina, dachte ich gelassen. Was ist schon dabei. »Und was...«, fragte Herr Wener und legte das Bild des männlichen Gliedes auf, »...ist das?« Ich schluckte und rutschte meinen Stuhl ein Stück herunter. Die Jungs hoben ihre Hand und kicherten ein bisschen, die Mädchen meldeten sich ohne ein Wort. Nur meine Arme blieben, wo sie waren, nämlich unten. Nicht, dass ich nicht wüsste, was das war, aber ich hatte so etwas wie eine Blockade. »Tobias, was ist das denn?« Oh mein Gott, dachte ich panisch. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber kein Laut entrang meiner Kehle. Die Jungs grölten und lachten, als ich nur mit offenem Mund da saß und nichts sagte. Ich hörte einen Chor leise ›Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuchtel!‹ rufen. Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Herr Wener schmunzelte. »Tobias, du wirst doch wissen, was das ist, oder?« Das Gelächter wurde noch lauter und jetzt konnten sich nicht einmal die Mädchen zurückhalten. Danke, Herr Wener, dachte ich, sie sind echt eine große Hilfe. »E...E-ein... P...«, stotterte ich los. Jeder lauschte gespannt. Aber ich konnte das Wort einfach nicht aussprechen. Was war denn los mit mir? Auf einmal kam mir eine Idee. Ich musste einfach nur eine alternative Antwort finden. Genau, dann würde auch das Gelächter aufhören und dann könnt ihr mich alle mal! »Weiß ich nicht«, sagte ich, »hab ich noch nie gesehen.« Stille. Auf einmal wurde mir klar, dass diese Antwort ja noch viel, viel dämlicher war. Ich könnte mir immer noch den Kopf dafür abreißen. Die ganze Klasse lachte laut los und sogar Herr Wener schien sich zurückhalten zu müssen. »Tobias, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so einer bist. Dann frage ich jemand anderes.« Hm, was er wohl mit ›so einer‹ meinte? Kapitel 12: 9. Juni ------------------- Heute wollte ich einkaufen gehen. Also bin ich zu dem Supermarkt ein paar Straßen weiter geradelt und durfte feststellen – er ist weg. Einfach weg. Jetzt steht da so ein anderes Gebäude von einer gewissen Beate Uhse. Keine Ahnung, wer das sein soll, aber wieso lässt die einfach meinen Stamm-Supermarkt abreißen und baut so einen Laden auf, den wahrscheinlich eh niemand kennt? Für wen hält die sich? Naja, ich muss ja sagen, dass ihr Laden schon ziemlich gut besucht war. Ich habe sogar Herr Wener dort einkaufen sehen. Komisch, dabei wohnt er doch bestimmt eine halbe Stunde entfernt von hier. Ob Beate Uhse seinen Supermarkt auch abgerissen hat? Ich frage mich, wann die dieses riesige Supermarktgebäude abgerissen und ein anderes hingebaut haben sollen. Ich meine, an unserer kleinen Straße bauen sie immer noch und sind nicht einmal annähernd fertig, aber den Abriss eines Supermarktes und den Bau eines auch nicht gerade kleinen Gebäudes schaffen sie innerhalb von ein paar Tagen, oder wie? Und jetzt, wo der Supermarkt weg ist, muss ich zu einem anderen fahren. Klingt jetzt wahrscheinlich nicht weiter schlimm, aber schon der Weg zu dem anderen Laden ist … abenteuerlich. Erstmal geht es bergab. Nicht so entspannend bergab, sondern so richtig steil bergab. Und dann, wenn die Straße auf einmal wieder gerade ist, kommt eine Ampel. Also muss man sich den ganzen Weg runter an dem Lenker festkrallen und bremsbereit sein. Zumindest, wenn man nicht in einen LKW reinkrachen will. Was mir natürlich passiert ist. Und anstatt besorgt auf mich zuzurennen, mich von der Rückwand des LKWs abzukratzen und zu fragen, ob ich verletzt bin, gehen die Fußgänger einfach weiter und lachen dabei auch noch. Sehr lustig, der Typ, der da am LKW klebt. Mal sehen, ob der ihn noch bis nach Polen mitschleift. Wie auch immer, ich habe es dann irgendwie doch noch bis zum Supermarkt geschafft. Vor dem Eingang lauerten ein paar Acht- bis Zehnjährige, die irgendetwas durch die Gegend brüllten, dass ich nicht verstand. Keine Ahnung, was für eine Sprache die gesprochen haben. Und im Laden sah es genau so aus. Hier ein paar Asiatinnen, die aussahen, als kämen sie aus einem Anime, dort ein paar Türken, die lachend vor dem Obstregal standen. Egal, wohin ich ging, ich hörte kein einziges deutsches Wort. Bis auf ein paar Wörter, die ich lieber nicht aufschreiben möchte. Sogar die Kassiererin leierte den Preis für meine Sachen erst auf türkisch, russisch und was-weiß-ich-für-Sprachen runter. Bis sie verstanden hat, dass ich als Deutscher auch nur deutsch spreche. Konnte sie ja auch nicht ahnen. Und da soll ich in Zukunft einkaufen? Ich habe ja nichts gegen Ausländer, ach Gottchen, nein, aber ein bisschen suspekt ist mir dieser Laden doch. Allgemein versuche ich Gegenden zu meiden, in denen es scheint, dass die Menschen vergessen haben, in welchem Land sie sich eigentlich befinden. Vielleicht sollte ich es ja doch mal mit Beate Uhse versuchen. Kapitel 13: 12. Juni & 13. Juni ------------------------------- 12. Juni Wir müssen in Deutsch jetzt dichten und reimen üben. Es werden Zufallsgruppen gebildet und jede Gruppe bekommt einen Anfangssatz, mit dem sie dann ein Gedicht anfangen. Ist das nicht klasse? Naja, das mit den Zufallsgruppen ist gar nicht schlecht, dann bleibt mir dieses als-Letzter-übrig-bleiben erspart. Da kommt man sich immer so blöd vor, wenn man dann alleine auf seinem Platz sitzt und der Lehrer einen so mitleidig anguckt. Wenn man schon das Mitleid der Lehrer hat, weiß man, dass man versagt hat. Wie auch immer. Rate mal, mit wem ich in einer Gruppe war. Mit Aksel. Ich war darüber ja schon nicht sonderlich begeistert, aber Aksels Blick sagte mehr als tausend Worte. Mit tausend Worten kann man schließlich auf verschiedenste Arten und Weisen sagen: »Mich packt das Verlangen, jemanden qualvoll und langsam zu töten.« Also war ich mit Aksel in einer Gruppe. Das war eigentlich schon Tortur genug, aber der Rest meiner Gruppe bestand aus hirnlosen, in den Farbtopf gefallenen Zicken, die sich während der gesamten Stunde nur die Nägel feilten. Einfach grandios. Hier das Gedicht, dass am Ende herausgekommen ist: »Klaus ging in die Schule und seine Freundin heißt Jule. Klaus kauft sich etwas zu Essen, dabei wird gesessen. Ich mag Pink, weswegen ich meiner Oma wink. Klaus geht nach Hause denn er hat gerade Pause.« Man, wir sollten das beruflich machen. Wir sind Naturtalente. Besonders gefällt mir die Stelle, bei der das Gehirn von einem der Mädchen anscheinend einen Aussetzer hatte und sie einfach ihre Lieblingsfarbe, die selbstverständlich Pink ist, in die Runde warf. Wirklich tiefgründig. Ich hoffe, wir müssen nie, nie wieder so eine Aufgabe machen. 13. Juni Ich habe gerade erfahren, dass unser Telefon kaputt war. Und zwar fast eineinhalb Wochen. Man, ich habe ja echt kein Leben, wenn ich nicht mal merke, dass unser Telefon nicht funktioniert. Aber es gibt nun mal niemanden, der mich anruft. Oder den ich anrufen könnte. Jedenfalls, es hat geklingelt und ein nervöser, bärtiger Mann stand vor unserer Haustür. War total nervös und hat sich für die Umstände entschuldigt. Verwundert fragte ich: »Was für Umstände?« »Hast du es denn nicht mitbekommen?«, fragte er zurück. »Wie deine Mutter sich aufgeregt hat?« »Nö, also nicht mehr als sonst, denke ich.« Auf einmal hatte der Mann Tränen in den Augen. Er schniefte einmal laut und klopfte mir auf die Schulter. »Du bist ein starker Junge. Viel Glück.« Ach Gottchen, der arme Mann. Meine Mutter muss ihm ganz schön zugesetzt haben. Aber ich bin gerade auch ziemlich bemitleidenswert. Jetzt, wo das Telefon wieder funktioniert, habe ich keine ruhige Minute mehr. Die Meldung der dreißig verpassten Anrufe, alle von der selben Nummer, hätte mir vielleicht schon zu denken geben sollen. Aber naiv wie ich bin, dachte ich mir nichts dabei. Und wem gehört die Nummer wohl? Melanie. Du weißt schon, dieses Weib, das auf Metrosexuelle abfährt. Sie ruft jeden verdammten Tag an, mindestens drei mal. Das treibt mich noch in den Wahnsinn. Ich meine, okay, sie ist nett. Ein bisschen. Aber- Moment, meine Mutter ruft. Ich schreibe gleich weiter. Was sie jetzt wohl wieder will? Später Ich schreie mal kurz, okay? AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!!! So, das war unmännlich. Und meine Hand tut weh. Aber das musste jetzt sein. Meine Mutter hat einen neuen Freund. Okay, das ist zwar seltsam, aber nicht der Weltuntergang. Und dass ihr Freund blond und blauäugig, braungebrannt und mindestens zwanzig Jahre jünger ist, kann mir ja egal sein. Schließlich ist sie es, die ihn dann mit irgendeiner Achtzehnjährigen im Bett erwischt und enttäuscht ist. Naja, letzten Endes bin ich der, der ihre Launen abkriegt. Aber verdrängen wir das mal. Sie wollen heiraten. Sie kennen sich seit einer Woche und wollen heiraten! Und dazu fliegen sie mal schnell nach Mallorca, ohne mich natürlich, wäre ja zu teuer, und bleiben nebenbei noch zwei Wochen, wo sie ja schon mal da sind. Warum auch nicht. Vielleicht entscheiden sie sich ja auch noch, gleich dort zu bleiben. Ich bin ja schließlich alt genug und komme gut allein zurecht. Wenn ich mir das so überlege, ist das vielleicht sogar besser, als wenn ihr Macker bei uns einziehen würde. Was soll ich mit so einem Schönling im Haus? Der braucht doch bestimmt zwei Stunden im Badezimmer, bis seine künstliche Bräune perfekt ist und seine Haare sitzen. Und das Bad zu besetzen ist meine Aufgabe! Das ist die einzige Sache, die ich perfekt beherrsche, und die lasse ich mir nicht nehmen! Kapitel 14: 14. Juni & 15. Juni ------------------------------- 14. Juni Ich habe es fast geschafft, morgen ist endlich Freitag. Nicht, dass das Wochenende entspannender wäre, schließlich bin ich da die ganze Zeit mit meiner Mutter zusammen, aber hey, auf irgendwas muss ich mich ja freuen. Und die Verabredung, auf die freue ich mich sicher nicht. Hoffentlich muss ich nicht nochmal mit Melanie ausgehen, das wäre ja schrecklich. Ich will meine Unschuld nicht an so eine Perverse verlieren. Moment, ist sie pervers? Bin ich nicht noch perverser, weil ich nicht weiß, auf welches Geschlecht ich stehe und trotzdem mit so vielen Frauen ausgehe? Na gut, ich mache das ja nicht freiwillig. Würde ich glaube ich auch gar nicht, Frauen sind ungeheuer anstrengend. Männer aber auch. Ach, was weiß ich. Vielleicht bin ich ja asexuell. Also gar nicht interessiert an Liebe und diesem ganzen Kram. Genau, dass muss es sein... Ha, und schon sind all meine Probleme gelöst! Ich kann gar nicht auf Frauen stehen, weil es in meinen Genen so festgelegt ist! Und schwul bin ich auch nicht – wie gefällt dir das, kleines nerviges Stimmchen?! Ach, was mache ich mir vor. Ich bin nicht asexuell. Ich heule bei Liebesfilmen, ich will umarmt werden, ich werde neidisch, wenn ich ein glückliches Paar sehe, ich will einfach lieben und geliebt werden. Ist das Geschlecht dabei nicht völlig egal? 15. Juni Und ich musste doch wieder mit Melanie ausgehen. Meine Mutter meinte, sie wäre ›ein guter Umgang für mich‹. Ha, wenn die wüsste! Diesmal sind wir ins Kino gegangen. Natürlich liefen heute nur Liebesfilme … und ein Horrorfilm. Ich hätte vielleicht total euphorisch vorschlagen sollen, dass wir den gucken, aber ich habe Angst vor Horrorfilmen. Lacht nicht, es gibt auch andere Jungs, die Angst vor sowas haben und trotzdem nicht schwul sind! (Glaube ich zumindest...) Also mussten wir uns einen Liebesfilm angucken und ich wusste nicht, wovor ich mich mehr fürchten sollte: dem Moment, in dem sich die beiden Hauptdarsteller küssen und Melanie sich inspiriert fühlt, oder dem Moment, in dem es romantisch wird und ich anfange, zu heulen. Ich weiß, ich weiß. Ich werde mich jetzt nicht vor dir rechtfertigen, Tagebuch. Ich und Melanie betraten den Kinosaal. Die Lichter waren noch eingeschaltet und egal wohin ich sah, überall saßen nur Paare. Melanie bestand darauf, in der letzten Reihe zu sitzen und so namen wir neben zwei Männern Platz, nach diesen beiden wechselten sich die Geschlechter ab. Mann, Frau, Mann, Frau und so weiter. Alles Paare, wie ich bereits sagte. Der arme Kerl, dachte ich noch, ob seine Freundin ihn versetzt hat? Melanie und ich saßen schweigend nebeneinander. Bis jetzt konnte ich zum Glück jeden Körperkontakt vermeiden, aber für die Kussszene brauchte ich einen Plan. Doch so sehr ich auch überlegte, mir fiel einfach nichts ein. Auf einmal legte der Mann neben mir dem anderen Mann seinen Arm um die Schulter und sie küssten sich. Geschockt starrte ich die beiden an. Das mit dem Plan konnte ich vergessen, meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Paar neben mir. »Eklig, oder?«, flüsterte Melanie neben mir. Man, diese Zicke! Ich war zu geschockt, um etwas zu sagen, ich guckte nur blöd aus der Wäsche. Das hatte ich nicht erwartet. Sie steht auf Metrosexuelle, aber hasst Schwule, oder wie jetzt? Und ihr wundert euch noch, dass ich Frauen nicht verstehe? »Also, hör mal...«, fing ich an, »Du...das...äh...« Doch bevor ich ihr gehörig die Meinung sagen konnte, wurde es dunkel und der Film fing an. Vielleicht besser so, sonst hätte sie noch angefangen zu weinen, weil ich so hart und skrupellos bin, und ich wäre der Böse gewesen. Naja, okay, wahrscheinlich wäre ich am Ende der gewesen, der heult, aber man kann ja mal träumen. Melanie schnappte sich meinen Arm, bevor ich reagieren konnte, und drückte sich an mich. Die ersten Minuten des Films vergingen sehr schleichend, da es der ganz typische Anfang einer Schnulze war, und während ich langsam Platzangst bekam, schielte ich immer wieder zu den beiden Männern neben mir rüber. Irgendwie bewunderte ich die beiden. Sie schämten sich nicht für das, was sie waren und zeigten sich einfach so in der Öffentlichkeit. Ich weiß nicht, ob ich das tun würde, wenn ich schwul wäre. Was ich selbstverständlich nicht bin. Ich doch nicht! Die Handlung des Films war recht einfach. Eine hübsche Frau, die Pech mit Männern hat, zumindest in Beziehungen. Ihr bester Freund, von dem sie natürlich nichts will, ist nämlich schon – wer hätte das erwartet – seit langer Zeit in sie verliebt, hat aber Angst, die Freundschaft zu gefährden. Man, was für eine neue, einzigartige Idee. Das ich da nicht selbst drauf gekommen bin. Und obwohl es total klar war, dass die beiden am Ende zusammenkommen, krallte Melanie sich so fest, dass ich Angst hatte, meinen Arm auch nur einen Millimeter zu bewegen, weil mir sonst wahrscheinlich die Haut abgerissen worden wäre. Ein Glück, dass wir nicht in den Horrorfilm gegangen sind! Das Finale rückte immer näher und langsam bekam ich Panik. »Warte, Eva, geh nicht!«, rief der beste Freund im Film. »Aber, John, ich muss...«, weinte Eva. Ich schluckte. »Eva, ich wollte dir schon lange sagen: Ich...« »Ich muss mal auf's Klo!«, rief ich und rannte aus dem Saal. Brilliant, ich weiß. Aber hey, ich konnte entkommen. Und auf Toilette musste ich sowieso. Nun musste ich mich nur so lange irgendwie beschäftigen, bis der Kitsch vorbei war. Woah, das klang pervers. Nicht so beschäftigen! Einfach nur hin- und herlaufen oder so lange die Hände waschen, bis vier Hautschichten ab sind, oder sowas in der Art. Nicht das andere. Urgh. Wie auch immer, ich saß also auf der Toilette. Einzelheiten erspare ich euch mal. Und auf einmal hörte ich mehrere weibliche Stimmen. Ich wunderte mich, ob sie sich in der Toilette geirrt hatten und beschloß, erst dann rauszugehen, wenn die Frauen gegangen waren. Musste ja schließlich nicht sein. Doch nach einer Weile, nachdem die Frauen gegangen waren, hörte ich jemanden mit Stöckelschuhen die Toilette betreten. Okay, keine Panik, dass muss nichts heißen, redete ich mir ein. Doch als die Person mit einer anderen sprach, musste ich feststellen, dass es doch eine Frau war. Es war also doch der richtige Zeitpunkt für Panik: Ich war auf der Frauentoilette. Mein schlimmster Albtraum war Wirklichkeit geworden. Wie zur Hölle sollte ich da wieder raus? Naja, ich musste positiv denken: Ich war nicht gezwungen, Melanie zu küssen. Yay, anstatt mit einem gutaussehenden Mädchen rumzumachen, durfte ich auf der Frauentoilette gefangen sein. Was für ein Glückspilz ich doch bin! Angestreng lauschte ich. Es war niemand zu hören. Diese Gelegenheit musste ich nutzen – aber wie? Sollte ich mich langsam voranschleichen, mich hinter dem Mülleimer verstecken, mit einem Hechtsprung aus dem Versteck stürzen, die Tür eintreten und abhauen wie James Bond? Oder vielleicht doch einfach nur schreiend wegrennen? Während ich noch überlegte, wie ich aus diesem Raum entkommen könnte, vibrierte auf einmal etwas in meiner Hose und ich schrie laut auf. Dann wurde mir klar, dass mein Handy nur geklingelt hatte. War nur so eine SMS von meinem Anbieter, die immer dann kommen, wenn man sie gerade gar nicht gebrauchen kann, mitten im Unterricht zum Beispiel. Aber in dem Moment war ich doch dankbar – mein Handy, das hatte ich ja ganz vergessen! Ich konnte Hilfe rufen! Nur wen? Meine Mutter? Nee, lass mal stecken. Hm, andere Nummern habe ich eigentlich gar nicht. Irgendwie deprimierend. Oh, ich habe ja noch die Auskunft eingespeichert!, bemerkte ich. Besser als nichts. Schnell wählte ich die Nummer. »Guten Tag, Sie sind verbunden mit Sonja Müller, wie kann ich Ihnen helfen?« »Ähm, hallo, mein Name ist Tobias Gerst«, stammelte ich nervös. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Es regte mich etwas auf, dass sie mich weiter siezte, obwohl ich offensichtlich noch nicht volljährig war. Und ich hätte lieber einen Mann am Telefon gehabt. Okay, mit diesem Satz habe ich ein Eigentor geschossen. Mit Männern kann man sich einfach lockerer unterhalten, nichts weiter! »Naja«, fing ich zögernd an, »ich bin auf der Frauentoilette.« Ein paar Sekunden folgte Stille. »Und?«, fragte die Frau schließlich. »Ähm, ich würde gerne raus«, erklärte ich. »Ach, klemmt die Tür oder wie?« »Nein«, sagte ich ein bisschen genervt, »ich will einfach nur hier raus. Aus der Frauentoilette.« »Wenn die Tür nicht blockiert ist, können Sie das doch«, sagte die Frau verwirrt. »Ich bin männlich, gute Frau. Ich kann hier nicht einfach herausstolzieren.« Die Frau seufzte einmal genervt und meinte dann: »Ich verbinde Sie mit einem Kollegen.« »Hallo, Sie sprechen mit Joachim Krause, was kann ich für Sie tun?« »Mein Name ist Tobias Gerst und ich bin auf der Frauentoilette«, erklärte ich kurz. »Ah, ich verstehe. Mein Beileid. Wie Sie dort gelandet sind, wollen sie wohl nicht erzählen?« »Lieber nicht«, stimmte ich zu. »Es ist das beste, wenn Sie erstmal abwarten. Wenn sie nur eine Person hören, bleiben Sie, wo Sie sind. Es könnte eine andere Frau vor der Toilettentür warten.« Ich nickte. Frauen gehen eigentlich nie allein auf die Toilette. »Hören Sie zwei oder mehr Personen, warten Sie, bis die Türen verriegelt wurden. Dann können Sie gehen, Frauen brauchen meist mehrere Minuten auf der Toilette. Doch schauen sie erst nach, ob eine Frau vor dem Spiegel steht und vielleicht nur ihren Lippenstift nachzieht oder so etwas. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Ich danke Ihnen, Sie sind ein weiser Mann«, sagte ich voller Bewunderung. »Nein, ich habe nur die Erfahrung«, seufzte er und legte auf. Ich lauschte. Nach ein paar Sekunden hörte ich drei Personen die Toilette betreten und nach kurzer Zeit auch drei Türen zufallen. Ich linste unter meiner Tür hindurch. Nichts, nur Fliesen. Ich atmete tief durch und öffnete vorsichtig meine Tür. Es war wirklich keine Frau da. Erleichtert seufzte ich. Flink ging ich durch den Raum, doch auf einmal hörte ich eine Toilettenspülung, also beschleunigte ich meinen Gang und rannte so schnell ich konnte zur Tür. Ohne Rücksicht auf Verluste schmiss ich mich dagegen und flog fast aus der Frauentoilette, in die Freiheit. Ich unterdrückte einen Siegesschrei und lehnte mich erschöpft gegen die Wand. Als ich nach oben schaute, sah ich auf einmal einen Mann neben mir, der mich zu allem Überfluss auch noch dämlich angrinste. Ich wollte irgendeinen coolen Kommentar loslassen – doch stattdessen öffnete ich meinen Mund und guckte wie ein Auto. Ja, man kann wie ein Auto gucken. Es ist so ziemlich der am dämlichsten aussehende Blick, den man machen kann. Wie auch immer. Der Mann kam mir sehr bekannt vor. »Sie...Sie sind doch...!« Ich wusste, ich kannte ihn, aber mir fiel einfach nicht ein, woher. »Ich bin der schwule Sitznachbar«, klärte er mich auf. »Oh, ähm, entschuldigen Sie, dass ich so...gestarrt habe«, stammelte ich. Es war einfach nur eine furchtbar peinliche Situation. Er lachte. »Das muss dir nicht leid tun. Um ehrlich zu sein, ich und mein Freund haben auch oft zu dir rübergeguckt.« »W-Wieso?« Ich ahnte schreckliches. »Du sahst nicht sehr glücklich aus mit dem Mädchen. Sie ist doch nicht deine Freundin, oder?« »Ach Gottchen, nein!«, rief ich. Der Mann grinste mich an. Ich wette, sein Schwulenradar hatte mich schon längt geortet. Ich habe mir das eigentlich immer so vorgestellt, dass ein Schwuler sofort weiß, ob sein Gegenüber schwul ist. Und ich als Klischee-Schwuchtel fiel sicher sofort auf. Ich wollte das Missverständnis schnell aufklären. »Ich, ähm, bin nicht...sie wissen schon...« »Schwul?«, fragte er, als hätte er mich gerade nach der Uhrzeit gefragt. Wie kann er das nur so locker sagen, als wäre es das natürlichste auf der Welt? Naja, okay, das war es für ihn wahrscheinlich. »Junge«, fing der Mann an, »ich war früher genau so wie du. Ich habe immer versucht, mir zu beweisen, dass ich nicht schwul bin und mir eine Freundin nach der anderen angelacht. Aber als ich dann Matthias getroffen habe...« Er hielt kurz inne und lächelte. Man merkte, dass er wirklich verliebt war. »...da wusste ich erst, was wirklich Liebe ist. Und so hilflos, wie du neben dem Mädchen ausgesehen hast, willst du von ihr ganz bestimmt nichts. Denk mal drüber nach.« Mit diesen Worten ging er. Was er gesagt hat, hat sich wirklich in mein Gehirn gebrannt. Was, wenn er Recht hat? Was, wenn ich wirklich schwul bin? Ich bin total verwirrt. Vielleicht muss ich einfach nur warten, bis die Richtige kommt. Oder der Richtige. Ist ja eigentlich auch egal. Achja, Melanie hat sich bisher nicht gemeldet. Ihr ahnt es vielleicht schon. Ich war so in Gedanken, dass ich sie total vergessen hatte und einfach aus dem Kino ging und mit dem Bus nach Hause fuhr. Hoffentlich verzeiht sie mir das nie und lässt mich in Ruhe. Kapitel 15: 16. Juni -------------------- Ich war heute in der Bibliothek. Mir war langweilig, weil meine Mutter übers Wochenende weggefahren ist und ich nicht wusste, was ich machen sollte. Meine Mutter ist natürlich bei ihrem tollen Freund. Wie auch immer, ich war also in der Bibliothek. Und rate mal, wen ich getroffen habe. Ich stand gerade bei dem Regal mit den Liebesromanen (natürlich nur rein zufällig). Als ich nach rechts, zu den Musikbüchern schaute, sah ich ihn. Aksel. Er blätterte gerade in einem Buch mit Klaviernoten und studierte diese genau. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf eine der Seiten werfen und ich erkannte gar kein System oder gar Musik darin. Überall Noten, Linien, Kreise, Buchstaben und Bögen. In Musik bin ich ein totaler Versager. Naja, so wie in allem, eigentlich. Aksel schien aber nur an den Noten schon eine Melodie erkennen zu können, die er im Kopf bereits spielte. Bewundernswert. Wahrscheinlich hat er das Stück, dass ich damals gehört habe, wirklich selbst geschrieben. Dass ich Aksel einfach so in der Bibliothek treffen würde, damit hatte ich so gar nicht gerechnet. Also tat ich das, was ich immer tat, wenn ich nervös wurde: Durchdrehen. Ich wurde panisch und überlegte angestrengt, was ich tun sollte. Jetzt weiß ich, dass ich total überreagiert habe. Dann habe ich Aksel halt in einer Bibliothek getroffen – na und? Aber als ich dann dort war und Aksel in meiner Nähe stand und so weiter, da bekam ich halt irgendwie Angst. Ich weiß auch nicht so Recht, wovor. Aber ohne wirklichen Grund Panik schieben kann ich nun mal gut! Ich beschloß, mich einfach schnell und unauffällig aus dem Staub zu machen und so jede Konversation zu meiden. Also drehte ich mich schnell zur Seite und ging. Ich kam vielleicht einen Schritt weit, bis ich gegen ein Regal lief. Kurz stöhnte ich vor Schmerz auf und hielt mir die Stirn. Als ich wieder nach oben schaute, sah ich einige Bücher langsam aus ihren Regalen fallen. Anstatt wegzurennen, sah ich fasziniert dabei zu, wie die Bücher, einige mit mindestens sechshundert Seiten, auf mich zurasten. Es schepperte laut und ich lag auf dem Boden, begraben von Büchern. Mein Talent mal wieder. »Alles okay?«, fragte jemand. Ich stöhnte nur als Antwort. Ich war von kiloschweren Büchern begraben – was sollte da okay sein? Als ich meine Augen öffnete, sah ich Aksel über mir stehen. Jetzt kam auch noch dazu, dass das ganze unglaublich peinlich war. Großartig, dachte ich, er wird es bestimmt der ganzen Schule erzählen, dann bin ich eine noch größere Lachnummer. Doch anstatt zu lachen, hielt Aksel mir seine Hand an. Ich zögerte ein paar Sekunden lang. Was hatte er vor? Konnte er wrestlen und wollte mich packen und wegschleudern? Würde er im letzten Moment seine Hand zurückziehen und mich auslachen? Oder würde er mich erst hochziehen, um mich dann fallen zu lassen? Doch schließlich nahm ich doch seine Hand und er half mir tatsächlich hoch, ohne irgendwelche miesen Tricks. Und gerade, als ich dachte, er wäre doch ein ganz netter Kerl, sagte er zu mir: »Boah, wie kann man nur so dämlich sein? Das schafft auch nur so ein Idiot wie du« und deutete auf den Berg von Büchern, von dem ich gerade noch begraben war. Völlig überrumpelt schwieg ich und sah ihn einfach nur an. Sah einfach nur in seine dunklen, fast schon schwarzen Augen. Und er schaute zurück, sagte kein Wort mehr. Nur seine Augen drückten aus, dass er genervt war. Doch nach ein paar Sekunden wurde auch sein Blick sanfter. Ich weiß nicht, wie lange ich seinem Blick stand hielt. Doch irgendwann ließ die Faszination nach und mir wurde klar, was ich eigentlich tat und meine Unsicherheit kehrte mit einem Schlag in ihrer vollen Pracht zurück. Erschrocken wich ich zurück und stotterte irgendwas davon, dass ich schnell los müsse und ließ Aksel und das Chaos, das ich verursacht hatte, allein zurück. Und so habe ich es wieder einmal geschafft, mich total vor Aksel zu blamieren. Dabei will ich doch eigentlich, dass er mich respektiert oder wenigstens in Ruhe lässt mit seinen ganzen fiesen Sprüchen. Aber da verlange ich anscheinend zu viel. Kapitel 16: 18. Juni & 21. Juni ------------------------------- 18. Juni Wir haben einen neuen Schüler. Normalerweise wäre mir das recht egal, weil er sowieso in einer Parallelklasse ist, aber der Junge ist etwas … anders. Am Morgen, als ich in der Klasse saß, war er das Gesprächsthema Nummer eins. Ich wunderte mich noch, warum alle so einen Tumult um ihn machten. Aber als ich ihn dann gesehen habe... Oho, die Aufregung war kein bisschen übertrieben! Naja, alles von Anfang an. Ich schnappte bei einem Gespräch von einigen Mädchen auf, dass er David hieß und in der Pause im Schulflur sein würde. Meine Neugier hielt sich eigentlich in Grenzen, aber hey, ich konnte ihn mir ja mal kurz ansehen. Das bedeutet gar nichts und das bestärkt auch nicht den Verdacht, dass meine Heterosexualität eine Lüge ist. Ich hätte mich auch nach dem neuen Schüler erkundigt, wenn es ein Mädchen gewesen wäre. Ganz bestimmt! Zum Klingeln verließ ich den Klassenraum und sah... niemanden. Nur ein Mädchen, dass mir den Rücken zugewandt hatte. Irgendwie war ich etwas enttäuscht. Ich hatte mit einer mehr oder weniger traumatisierenden Begegnung gerechnet. Ein umwerfender Mann, der mir alle Zweifel nimmt und mir klar macht, wie stockschwul ich doch bin. Oder halt ein abstoßendes Geschöpf, dass alle positiven Gedanken in meinem Gehirn, die mit Männern zu tun haben, für immer vernichtet, sodass ich mich voll und ganz auf die Frauen konzentrieren kann. Ist das etwa zu viel erwartet? Ich wollte gerade gehen, doch auf einmal drehte sich das Mädchen um und ich sah - es war kein Mädchen. Es war ein Junge in einem Rock. Ich unterdrückte einen Schrei und sah den Jungen verwirrt an. Er lächelte nur und winkte kurz. Wen grüßt er?, dachte ich und drehte mich um. Niemand stand hinter mir. Ich sah wieder zu dem Jungen, er lachte. Verwundert zeigte auf mich und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er nickte. Also hatte er tatsächlich mich gegrüßt. Einfach so, als wäre ich ein normaler Mensch (was natürlich ein total abwegiger Gedanke ist). Es ist das erste Mal, dass man mich normal behandelt hat und nicht gleich Vorurteile hatte. Ich hoffe, er ändert seine Meinung nicht noch... 21. Juni Mir tut alles weh. Ich bin heute zu dem Ausländer-Supermarkt gefahren und auf dem Weg ist ja das Gefälle, wo ich gegen den LKW geklatscht bin. Dieses Mal dachte ich mir, ha, heute nicht, Kreuzung, heute bin ich so schlau und bremse, ätsch! Blöd nur, dass ich die Vorder- mit der Hinterradbremse verwechselt habe. Und so bremse ich bei voller Geschwindigkeit, bleibe abrupt stehen und fliege mit voller Wucht über den Lenker. Meine ganzen Arme und Hände sind aufgerissen, das Kinn habe ich mir auch ordentlich auf dem Asphalt aufgeschlagen. Und meine Hose ist hin. Meine Knie auch. Aber das beste ist, dass keiner mir geholfen hat. Schon wieder. Ich liege auf der Straße, blute, und jeden Moment könnte mich ein Auto überfahren. Kommt da keiner auf den Gedanken, mal zu helfen? Ein »oh, da liegt ja jemand auf der Straße!« oder ein bisschen Mitleid hätten mir schon gereicht. Was für eine Ecke ist das nur? Schließlich bin ich nach Hause gegangen. Gegangen, weil irgendjemand mein Fahrrad überfahren hat und es jetzt ein totaler Schrotthaufen ist. Ich habe es auf der Straße liegen lassen, da war nichts mehr zu retten. Jedenfalls stand ich dann in der Haustür und sah meine Mutter im Wohnzimmer sitzen, wie sie telefonierte. Ich konnte mir schon denken, mit wem. »Mama?«, sagte ich zögerlich. Sie reagierte nicht und telefonierte weiter. Ich wusste, dass sie mich zwar gehört, aber keine Lust auf mich hatte. »Mama...«, rief ich noch einmal. Ich hatte einen kleinen Funken Hoffnung, dass sie doch etwas Interesse zeigen würde, wenn sie sah, dass ich mich verletzt hatte. Sie musste sich nur umdrehen. Und das tat sie auch. Nämlich um mich anzufauchen, dass ich die Klappe halten solle und sie wichtige Dinge zu tun habe. »Wichtige Dinge« also. Wichtiger als ihr eigener Sohn, der sich verletzt hat und nur ein paar aufmunternde Worte hören möchte. Aber sie telefoniert natürlich lieber mit ihrem braungebrannten Jungbrunnen, weil der ihr inneres Alter um gefühlte zwanzig Jahre runterschraubt, als sich um ihr Kind zu kümmern. Mir ein bisschen Aufmerksamkeit zu schenken, wird ihre Falten auch nicht tiefer werden lassen. Genauso wie ihr Macker sie nicht verschwinden werden lässt. Versteh' einer die Frauen. Ich habe jetzt notdürftig etwas Verband um meine Arme und Knie gewickelt und ein Pflaster auf mein Kinn geklebt. Da werde ich mir morgen wieder was anhören können, wenn ich in der Schule bin. Ich freu mich jetzt schon. Kapitel 17: 23. Juni -------------------- Ich habe es gestern nicht mehr geschafft, einen Tagebucheintrag zu schreiben. Was schließen wir daraus? Ich war beschäftigt. Und nicht mit meiner Mutter, Aksel, Melanie oder sonstigen Problemen, sondern mit einem ganz normalen Menschen! Aber mal von Anfang an. Also gestern. Schon, als ich an der Bushaltestelle ankam, dachte ich mir: Was für ein Scheißtag. Nico und seine Clique waren natürlich da, bereit, mich fertigzumachen. Ich hingegen war ganz und gar nicht vorbereitet. Ganz im Gegenteil, ich war froh, dass ich noch halbwegs ohne Probleme gehen konnte. Und da sollte ich mich gegen diese Typen wehren? Na gut, das habe ich sowieso nie getan. Immer alles über mich ergehen lassen. Was könnte ich denn schon gegen solche Kerle ausrichten? Mit genau diesen Gedanken näherte ich mich der Haltestelle. Meine Beine zitterten vor Angst, als ich mir in Gedanken ausmalte, was sie mit mir anstellen könnten. Und wie wehrlos ich sein würde. Dass es Freitag war, gab mir wenig Hoffnung. Aber da wusste ich noch nicht, was für ein tolles Wochenende es werden würde. Vielleicht sogar das beste meines Lebens. Als ich schließlich fast Schutz hinter dem großen Baum neben dem mit Graffiti beschmierten Glashaus gefunden hatte, drehte Nico seinen Kopf in meine Richtung. Perfektes Timing. »Hey, Schwuchtel! Hast es gestern Nacht wohl etwas übertrieben, was?« »Darauf fährt er also ab!« Grölendes Gelächter. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Diese Angst ist schrecklich. Sie ist wie eine dunkle Gestalt, die dich von hinten packt, die du einfach nicht loswerden kannst. Vielleicht kannst du sie kurz abschütteln – doch sie kommt wieder. Du hast das Gefühl, dass die Gestalt wächst und wächst, bis sie deinen Körper vollständig unter Kontrolle hat und ihn nie wieder loslässt. Bei mir ist es, denke ich, fast so weit. Bald bin ich komplett eingehüllt. Irgendwie ertrug ich die Busfahrt und war schließlich bei der Schule angekommen. Auch die Lehrer sprachen mich auf meine Verletzungen an und fragten, ob denn alles in Ordnung wäre. Ich konnte mir schon denken, worauf sie hinaus wollten. Am liebsten hätte ich allen ins Gesicht geschrien »Nein, es ist nicht in Ordnung! Ich werde verdammt noch mal von allen auf der Welt gehasst und Sie fragen doch auch nur, weil es Ihr scheiß Beruf ist!« aber ich nickte einfach nur. Alles okay. Ich würde nur gerade gerne sterben. Aber sonst geht’s mir gut, danke. Es klingelte zur ersten großen Pause. Ich hörte einige meiner Mitschüler wild umherschreien, dass wir bereits nach der vierten Stunde Schulschluss hätten. Toll, dachte ich mir, fühlte aber nichts dabei. Ich nahm meine Sachen und stand auf. Sogar dies tat höllisch weh. Wir hatten nun Biologie (bei Herr Wener, der es wie bekannt immer fertig bringt, meinen Tag noch ein bisschen mehr zu vermiesen) und ich musste mich irgendwie die Treppen hochquälen. Die ersten Schritte gingen noch ganz gut – doch dann stolperte ich über irgendetwas und schlug mit meiner Nase gegen die Treppenkante, wobei ein unbeschreiblich widerliches Knackgeräusch erklang. »Scheiße...« fluchte ich und hielt meine Hand unter die Nase, aus der Blut schwallte. Die Schmerzen versuche ich gar nicht erst, zu beschreiben. Hinter mir hörte ich Gelächter. Dann ging Nico an mir vorbei. Er sah noch einmal zu mir herunter und spreitze seinen Daumen und Zeigefinger zu einem L, dass er sich an die Stirn hielt. Looser. Genau das bin ich. Ich setzte mich auf die Treppe und ließ das Blut einfach fließen. Ich war wie betäubt. Die rote Flüssigkeit tropfte in beinahe regelmäßigen Abständen auf den Boden und ich sah dabei zu, fast schon fasziniert. Ich fand, dass es relativ viel Blut war, im Vergleich dazu, dass es nur aus einer kleinen Nase kam. Wie viel Blut würde wohl aus einem zerschnittenen Arm herausfließen?, fragte ich mich kurz und musste fast grinsen. So weit bin ich also schon, stellte ich kopfschüttelnd fest. Ich erbärmliche, kleine Schwuchtel... »Hey, ist alles in Ordnung mit dir?!«, ertönte eine männliche Stimme, die mir nicht bekannt war. Irgendwie logisch. Keiner, den ich kenne, würde sich darum kümmern, wie es mir geht. Als ich meinen Kopf langsam nach oben bewegte, sah ich zuerst einen Rock. Ich kombinierte kurz: Rock plus männliche Stimme ergibt... »David?« fragte ich. Meine Stimme klang erschreckend leblos und rau. Ich blickte in ein Gesicht mit feinen Zügen und klaren, grünen Augen, die besorgt aussahen. Ein paar braune Strähnen fielen über diese. Der Rest seiner Haare bedeckte die Ohren. Ich würde es als ›Pottschnitt‹ bezeichnen, würde es ihm nicht so gut stehen. David sah allgemein so aus, wie ich ihn mir ungefähr vorgestellt hatte. Sehr sanfte Züge, fast schon weiblich. Auch seine Beine sahen wie die einer Frau aus. Obwohl seine Haare auf dem Kopf relativ dunkel waren, die Haare auf seinen Beinen waren blond, kaum zu sehen. Und dazu noch die zierliche Figur. Er könnte ohne Probleme als Mädchen durchgehen. »Du siehst schlimm aus. Soll ich dich zum Krankenzimmer bringen?« Er bestätigte nicht, dass er David war. Er wusste wahrscheinlich, dass es mehr eine rhetorische Frage war. Und er fragte auch nicht nach meinem Namen. Alles was er wollte, war wissen, wie es mir geht. Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie fehlte mir die Kraft, zu sprechen. Und zum Krankenzimmer wollte ich auch nicht. Ich wollte nur sitzen bleiben und verbluten, auch wenn ich da sehr lange hätte warten können. David tat nichts. Wahrscheinlich wird er gleich abhauen und mich meinem Schicksal überlassen, dachte ich. Doch im Gegenteil, er blieb. »Na gut, dann werde ich...« Er kramte ein bisschen in seiner Tasche herum und holte eine Packung Taschentücher heraus. »Ich wische das Blut weg, okay?« Verwundert blinzelte ich ein paar mal. Warum tat er das? »O-okay...«, brachte ich schließlich doch heraus. Er legte eine Hand unter mein Kind und drückte meinen Kopf sanft nach oben. Genauso vorsichtig bewegte er das Taschentuch. Mein Herzschlag wurde schneller, doch gleichzeitig schien alles irgendwie in Zeitlupe abzulaufen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit er schweigend damit verbrachte, das weiterhin fließende Blut abzuwischen. Jegliches Zeitgefühl war mir verloren gegangen. Irgendwann schien er jedoch fertig zu sein und brachte das Taschentuch, dass sich stark rot verfärbt hatte, zu einem Abfalleimer, und reichte mir ein sauberes. »Du blutest immer noch ein bisschen. Halt dir das lieber unter die Nase«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. Doch auf einmal fiel das Lächeln, sein besorgter Blick war wieder da. »Ich hab gesehen, wie dieser Typ dir ein Bein gestellt hat. Nico, oder so. So habe ich ihn gar nicht eingeschätzt. Er ist anfangs auch nicht gerade nett zu mir gewesen, aber dass er so weit geht, dass hätte ich nicht erwartet.« David stand auf. »Ich weiß, du willst nicht, aber du solltest damit wirklich zum Arzt gehen. Sieht ziemlich schlimm aus.« Ich nickte, war völlig überwältigt von so viel Nettigkeit. Auf einmal hielt David mir seine Hand hin. Ich zögerte und sah ihn einfach nur an. Er lächelte geduldig, und so nahm ich seine Hilfe schließlich an und stand auf. In meinem Kopf schwirrten hunderte Fragen. Es gab so unendlich viel, was mich an ihm verwirrte. »W-warum?«, brachte ich schließlich besonders geistreich raus. »Was, warum?«, fragte er verwundert zurück. »Damit ist nicht zu spaßen, du solltest wirklich zum Ar-« »Nein, nein«, unterbrach ich ihn. »Warum bist du...so nett zu mir?« Er blinzelte ein paar Mal verwundert, doch dann lächelte er wieder. Für ihn schien das Antwort genug zu sein, denn er sagte bezüglich meiner Frage nichts mehr. Auf einmal fragte er mich etwas. »Willst du nach der Schule vielleicht noch in die Stadt gehen?« »Öh, also, eigentlich brauche ich nichts... und du?«, druckste ich nervös herum. Warum fragte er mich auf einmal so etwas? Er lachte. »Ich doch auch nicht...« Hä?, dachte ich verwundert. Hat die Sonne ihm zu stark auf den Kopf geschien? »Warum fragst du dann, ob ich in die Stadt gehe?« »Ob wir in die Stadt gehen wollen. Zusammen«, erklärte er schließlich geduldig. Endlich verstand ich, was er meinte. Er wollte mit mir, Tobias Gerst, zusammen in die Stadt gehen. Kurz überlegte ich. Das konnte doch nicht sein. Warum sollte so ein netter Kerl sich mit mir abgeben, auch noch freiwillig? Oder ist er doch einfach nur der netteste Mensch auf der Welt? »Hat Nico dich zu irgendwas angeheuert?«, fragte ich. Mein Kopf drehte sich etwas vom vielen hin- und herdenken. David sah mich überrascht an und sein Lächeln fiel. Wusste ich es doch, dachte ich mir schon, als er auf einmal meine Hände in seine nahm. Zuerst reagierte ich gar nicht, was da vor sich ging, aber nach der Erkenntnis schlug mein Hals mir bis zum Hals und ich bekam kein Wort mehr heraus. »Ich wusste ja, dass du hier nicht besonders beliebt bist, aber das hätte ich nicht erwartet“, gab er zu. Es schien ihm ziemlich peinlich zu sein. „Du scheinst nette Worte ja überhaupt nicht zu kennen. Wie kannst du denn leben, wenn du keine Freunde hast? Noch nicht mal ansatzweise das Gefühl von Geborgenheit kennst?« Gar nicht, schoss es mir durch den Kopf. Wann habe ich jemals wirklich in diesen sechzehn Jahren gelebt? Von Herzen gelacht oder mich wohl gefühlt? David erwartete keine Antwort von mir, er wusste wahrscheinlich, dass ich zu verwirrt dafür war. Also zog er mich einfach mit und sagte: „Wir gehen jetzt in die Stadt! Keine Widerrede!“ Zusammen mit jemandem in die Stadt zu gehen, einfach so aus Spaß, war eine ganz neue, unglaubliche Erfahrung. Und es war, glaube ich, das erste Mal, dass mich jemand lachen gehört hat. Den Rest des Tages habe ich nur herumgesessen und gestarrt. Als ich im Bett gelegen habe, habe ich dann herumgelegen und gestarrt. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Als Erinnerung habe ich mir eine weiße Tasse gekauft und darauf geschrieben: »Es war kein Traum.« Und an die Tür habe ich auch nochmal einen Zettel mit der Aufschrift »Das ist wirklich passiert« geklebt. An mein Regal, den Spiegel im Badezimmer und meine Schultasche auch. Sicher ist sicher. Kapitel 18: 27. Juni & 28. Juni ------------------------------- 27. Juni Ich sehe total bescheuert aus. Und nein, das ist keiner von meinen Selbstbewusstseins-Tiefpunkten, sondern ein nicht zu verleugnender Fakt. Wissenschaftlich bewiesen, sozusagen. Stiftung Warentest bestätigt, dass Tobias Gerst bescheuert aussieht. Wie auch immer. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe einen Nasengips. Jawohl. Ich bin dem Ratschlag von David nachgegangen und habe mich mal von einem Arzt durchchecken lassen. Der meinte dann, ich habe einen Nasenbeinbruch. Als er meine ganzen anderen Verletzungen gesehen hat, meinte er noch: »Du bist ein ganz Wilder, was?« Wenn der wüsste... 28. Juni Habe heute festgestellt, dass meine Klassenkameraden den Gips an meiner Nase total lustig finden. Durfte außerdem erfahren, dass es weh tut, wenn Nasenbeinbrüche angefasst werden. Besonders, wenn die, die dieses tun, nicht gerade sanft sind. Aber woraus ich immer noch nicht schlau werde, ist, welch Überraschung, Aksel. Wir hatten Sportunterricht und der Lehrer hat mir verboten, mitzumachen. Er war sichtlich schockiert, als ich erzählt habe, dass meine Mutter mir keine Entschuldigung schreiben wollte und meinte, er würde mal mit ihr darüber reden. Na, da kann er sich ja auf was gefasst machen... Ich saß also auf der Bank und fühlte mich mehr oder weniger sicher. Der Sportunterricht war nicht besonders spannend, weil unser jetziges Thema Fußball war und die ganzen zwei Stunden dementsprechend auch nichts anderes gemacht wurde. Aber wie es typisch für mich war, musste mir ja wieder etwas passieren. Nach etwa dreizig Minuten Fußball wurde mir das ständige von-einer-Seite-zur-anderen-dem-Ball-hinterher-rennen zu blöd und ich begann, die Bretter an der Wand zu zählen. Ich war gerade bei zweiundvierzig angekommen, als der Sportlehrer auf einmal meinen Namen schrie. Ich drehte mich zu ihm um – und sah für den Bruchteil einer Sekunde den Fußball auf mich zufliegen. An den Aufprall erinnere ich mich kaum, nur an den Schmerz, den ich immer noch etwas spüre. Der Ball musste natürlich genau meine Nase treffen. Sofort schossen mir Tränen in die Augen und ich musste vor Schmerzen aufschreien. Bis auf meine schwere Atmung herrschte Totenstille. Keiner traute sich zu lachen, solange unser Sportlehrer noch anwesend war, der gerade zu mir eilte. Meine Sicht war verschwommen, darum nahm ich zumindest an, dass er es war. Ich konnte mir diesbezüglich ja auch ziemlich sicher sein – wer hätte mir sonst geholfen? Er fragte mich einige Dinge, doch ich verstand ihn schlecht. Und wenn ich ihn hören konnte, dann wusste ich nicht, was ich antworten sollte. In welchem Ort wohnte ich doch gleich? Schließlich rief der Lehrer jemanden zu sich. Ich glaubte, den Namen »Aksel« zu hören. Aber es war ziemlich egal. Ich hatte gerade andere, schmerzhaftere Probleme. Meine Wahrnehmung schien immer mehr zu schwinden. Auf einmal spürte ich, wie mich jemand hochhebte. Danach wurde alles schwarz. Als ich mein Bewusstsein langsam wieder erlangte, kam mir sofort ein Wort in den Sinn. Ein Wort, dass all meine Gedanken umschrieb, mich gar komplett erfüllte: Scheiße. Es gab nichts anderes, dass meine Gefühle gerade besser beschrieben hätte. Ich hatte unbeschreibliche Schmerzen und war noch leicht benommen, aber zumindest lag ich mit dem Kopf auf etwas relativ weichem. Dabei beließ ich es, bis ich wieder etwas klarer denken konnte. Wo bin ich überhaupt?, fragte ich mich schließlich und öffnete langsam die Augen. Ich sah nur eine schmutzige Decke, die vor einigen Jahrzehnten wohl mal weiß gewesen war. Demnach befand ich mich noch in der Schule, wo es von versifften Böden, Wänden und Decken nur so wimmelte. Auf einmal sah ich direkt in das Gesicht von Aksel, der mich zu mir herunterbeugte. »Ah, du bist wach.» Ein anderes Wort kam mir in den Sinn. Es umhüllte meine Gedanken, war alles, was mein Leben in diesem Moment beschrieb, die einzige Redewendung, die ich brauchte: Hä? »Du bist ohnmächtig geworden und ich bin dazu gezwungen worden, dich hierher zu tragen. Könntest ruhig ein bisschen dankbarer sein.« Erst jetzt verstand ich, dass ich mit dem Kopf auf Aksels Schoß lag. Sofort wurde ich rot und mein Herzschlag wurde schneller. Warum bin ich nur so nervös?, wunderte ich mich. Aus Angst? »D-d-danke«, stotterte ich. Aksel seufzte. »Man, nimm doch nicht gleich alles so ernst...« In meinen Gedanken sah ich ein riesengroßes Fragezeichen. Was will der Kerl denn nun von mir? »Und geh von meinem Schoß runter. Du bist schwer«, grummelte er. Etwas (na gut, sehr) geknickt erhob ich mich. Aksel stand auf und streckte sich kurz, wobei sein Rücken knackte. Ich wollte ebenfalls aufstehen, doch ich spürte sofort, dass meine Beine mich kaum halten konnten, schon als ich mich noch mit meinen Händen abstützte. Doch ich ignorierte es und verließ mich schließlich darauf, dass meine Beine imstande wären, mich zu halten. Und irrte mich gewaltig. Als meine Beine mein Gewicht tragen mussten, klappten sie einfach weg. Aksel drehte sich zu mir und sah gerade noch wie ich fiel. Ich schloß vor Angst meine Augen und erwartete, auf den harten Boden zu fallen (bestenfalls noch auf meine demolierte Nase). Doch ich fiel direkt in die Arme von Aksel, der meinen Rücken umschlung und mich mit einem starken Griff festhielt. Auch ich hatte mich aus Reflex in seinen Rücken gekrallt. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust, ich konnte sogar seinen Herzschlag hören. Mir fiel zum ersten Mal auf, wie groß Aksel überhaupt ist. Wir beide atmeten schwer. Ich vor Schock und er...ja, warum eigentlich? Wahrscheinlich hat er sich auch einfach nur erschreckt. Eine ganze Weile verweilten wir in dieser Position. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke... War es nicht so etwas wie eine Umarmung? Ich bin mir nicht sicher, ich kenne mich da nicht so aus... Ich weiß nur noch, dass ich geborgen gefühlt habe und mein Herzschlag noch schneller wurde, was ich eigentlich für gar nicht möglich gehalten hatte. Und wie enttäuscht ich war, als Aksel sich langsam von mir löste und mich wieder auf die Bank drückte. »Du bist sogar zu blöd zum Stehen«, meinte er nur und verschwand aus dem Raum. Mir fiel jetzt erst auf, dass es der Umkleideraum war. Nun, wo ich allein war, fühlte ich mich schrecklich. Ich weiß nicht, wieso, aber als er mich so gehalten hat, da dachte ich, etwas zwischen uns gespürt zu haben, was nicht Abneigung war. Sollte ich mich etwa schon wieder getäuscht haben? Natürlich, dachte ich. Aksel und jemanden, vor allen Dingen MICH, mögen. Völlig absurd. Ihm ist das sicher auch scheißegal, wie schlecht es mir gerade geht und tut das alles ja auch nur, weil ein Lehrer es ihm gesagt hat. So muss es sein. Ganz sicher. »So, schau mich mal an.« Ich erschrak und sah nach oben. Aksel stand vor mir, und er hatte ein paar feuchte Tücher bei sich. Anscheinend erwartete er, dass ich etwas tat, doch ich starrte ihn einfach nur an. Was taucht er auch gerade dann auf, wenn ich ihn vermisse? Und dann auch noch eine Reaktion von mir erwarten, unerhört. Okay, ich gebe es ja zu! Ich habe mich gefreut, ihn zu sehen. Aber ihm das zu zeigen, das habe ich lieber gelassen. Da überwog die Angst doch noch. Aksel seufzte genervt. »Du Idiot hast doch nicht echt gedacht, dass ich dich jetzt alleine hier sitzen lasse, oder?« Ich schwieg und verfluchte Aksel dafür, dass er mich so gut kannte. Er belächelte mich kurz und saß sich neben mich. Wie auf Kommando machte mein Herz einen Salto, packte sich dabei ordentlich hin, das ungeschickte Ding, und rannte so schnell es konnte los. Ein seltsames, schweres Gefühl war da in meiner Brust. Jetzt war ich schon so weit, dass ich mich selbst verwirrte. Was stellte mein Herz sich denn so an? Aksel saß doch nur neben mir, meine Güte. Jetzt erscheint es mir irgendwie lächerlich, dass mich das so aufgewühlt hat. Hmmm. Vielleicht bin ich ja gegen ihn allergisch oder so. »Okay, schau mal zu mir« sagte Aksel so emotionslos wie immer. Und ich, grundlos panisch wie immer, rührte mich nicht. »Maaan, jetzt mach schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Aaah, ich bin so schrecklich nervös, dachte ich, und konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Allein eine simple Kopfbewegung erschien mir unmöglich. »Jetzt benimm dich nicht wie ein Mädchen, verdammt nochmal«, rief er etwas lauter und ich zuckte zusammen. Ich hasse nichts mehr, als aggressive Befehle. Es erinnert mich an meine Mutter, was so ziemlich das Letzte ist, woran ich denken möchte. Und dass ausgerechnet Aksel so grob sein muss... ach, ich weiß auch nicht. Ich steige selbst bei meinen eigenen Gefühl nicht durch. Wie auch immer, ich drehte mich schließlich zu ihm, mit Tränen in den Augen. Ich musste mich richtig zusammenreißen, damit sie da blieben, wo sie waren. Ich wollte nicht auch noch vor ihm heulen. Auf gar keinen Fall. »Man«, rief Aksel im gleichen Ton wie vorher, »und du wunderst dich noch, warum du eine Schwuchtel genannt wirst?« Das seltsame Gefühl in meiner Brust war wieder da. Nur noch viel schmerzvoller. Es übertrumpfte sogar mein gebrochenes Nasenbein. »Du bist so ein Arsch!«, schrie ich Aksel an. Ich wollte nur noch weg von ihm. Blitzschnell stand ich auf, zu schnell, wie ich bemerkte, als mir schwindelig wurde. Und dann waren da auch noch meine Beine, die ungefähr die Stabilität eines Zahnstochers hatten. Ich kam nicht mal bis zur Tür, bis ich der Länge nach hinfiel. Zum Glück war ich nicht auf meine Nase gefallen, aber mein Selbstbewusstsein hatte es schwer erwischt. Aksel hätte ich auf keinen Fall mehr in die Augen sehen können. Zitternd versuchte ich, mich aufzurichten. Auf einmal sah ich ein paar zierliche Beine vor mir stehen. »David?«, fragte Aksel überrascht. Die beiden kennen sich? Naja, okay, dachte ich mir schließlich, David ist ja schlecht zu übersehen... »Was ist hier los?«, fragte David. Er klang aufgebracht. Das sah bestimmt nicht gut aus, wie ich da so lag... Aksel keifte ihn an: »Kümmer' dich mal um deinen Freund hier. Ich hab keinen Bock mehr« und schmiss die feuchten Tücher, inzwischen wahrscheinlich staubtrocken, auf die Bank. Dann stapfte er davon. David half mir auf und führte mich zur Bank. Ich setzte mich wortlos hin. Was war nur los mit mir? Ich sollte froh sein, dass der Kerl endlich gegangen ist. Aber stattdessen wünschte ich mir, dass er wieder zurück kam und mich weiter beleidigte. »Mach' dir nichts daraus«, versuchte David mich aufzumuntern. Ich zwang mich dazu, zu lächeln. »Er ist schon sehr...direkt, was?«, lachte ich bitter. Auf einmal umarmte David mich. Ich war völlig überrumpelt und reagierte nicht. »Hör nicht auf ihn, er meint es nicht so. Du bist ein ganz toller Kerl, wirklich!« Sicher, dass er mich meint?, schoss es mir durch den Kopf. Wie auch immer, ich erwiderte die Umarmung. Es freute mich, aber es war ein ganz anderes Gefühl als bei Aksel. Was war denn so verschieden an David und Aksel? Okay, da fielen mir ein paar Dinge ein. David trägt Mädchenklamotten. David lächelt viel. David wirkt zierlich und etwas feminin. Und nicht zu vergessen: David ist NETT. Das Wort zählt ja überhaupt nicht zu Aksels Vokabular. Warum fühlte ich mich dann bei ihm geborgener als bei David? Argh, ich sollte nicht darüber nachdenken. Vielleicht war das ja auch gar nicht Geborgenheit, was ich gefühlt habe. Vielleicht war das Ziehen in meiner Brust gar kein gutes Gefühl. Vielleicht war ich einfach nur noch verwirrt von den Schmerzen und der Bewusstlosigkeit. Das musste es sein, ganz sicher. Oder nicht...? Kapitel 19: 29. Juni & 30. Juni ------------------------------- Ich wollte mich mal bei euch bedanken Eure Kommentare freuen mich wirklich, vor allem weil ich dachte, nachdem ich soo lange nichts mehr hochgeladen habe, wird die FF eh niemanden mehr interessieren... Aber ihr schreibt wirklich liebe Kommis, die mich motivieren, weiterzumachen.. Danke! ♥ ---------------- 29. Juni Heute habe ich einen sehr netten Anruf bekommen. Und mit diesem kam eine ganz erschreckende Erkenntnis: Ich bin single! Wer hätte das gedacht? Aber mal von Anfang an. Ich war gerade von der Schule wieder da und saß vor dem Fernseher. Da hörte ich auf einmal unser Telefon klingeln, woraufhin ich erst einmal schreiend vom Sofa fiel. Es kommt schließlich fast nie vor, dass wir mal einen Anruf bekommen, da darf man sich schon mal erschrecken. Und ich sowieso. Bereits, als ich den Hörer abnahm, war die Begrüßung äußerst freundlich. »Tobias Ge-« »Du verdammtes Arschloch!!«, brüllte mir auf einmal der Apparat entgegen. »Wer ist da...?« fragte ich, während ich prüfte, ob meine Ohren bluteten (falls sie überhaupt noch da waren). Ein kurzer Moment Stille. Die Ruhe vor dem Sturm. »Deine Freundin, verdammt nochmal!!«, war die schrille Antwort, »du hast dich seit zwei Wochen nicht gemeldet! Auf den Tag genau! Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?!« »...Ich glaube nicht, dass wir uns kennen?« Wer zur Hölle war dieses...Wesen da am Telefon? Und seit wann hatte ich denn bitteschön eine Freundin?! »Hier ist Melanie, du Volltrottel!« Oh. Ohhh! Achja, die. Ach Gottchen, die hatte ich ja ganz vergessen. Oder wohl eher verdrängt... »Achso«, erwiderte ich auf höchstem kommunikativem Niveau, so wie es eben für mich üblich ist. Ich hörte nur schweres Atmen. Doch dann fing sie wieder an zu reden, und sie klang wie der Teufel persönlich: »Du Arsch! Es ist aus! Ich mach' Schluss!«, kreischte sie und legte schließlich auf. Erschüttert legte ich den Hörer zur Seite. Ich konnte gar nicht richtig begreifen, was gerade geschehen war. Melanie hatte Schluss gemacht. Wahrscheinlich würde ich sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Das... das ist... »Yeeaaaaaaah!!«, schrie ich durch das ganze Haus. Meine Mutter war natürlich mal wieder auf hundertachtzig, weil ich sie und ihren Freund bei was auch immer (will ich gar nicht wissen) gestört habe, aber das war es mir Wert. 30. Juni Heute habe ich wieder einen Anruf bekommen. Als das Telefon geklingelt hat, bekam ich so ein ungutes Gefühl. War das mein Sportlehrer, der wegen der Entschuldigung mit meiner Mutter sprechen wollte? Der braungebrannte Schönling? Oder gar Melanie, die mich zurück wollte? Ich schluckte, nahm aber schließlich doch all meinen Mut zusammen und griff nach dem Hörer. »Tobias Gerst?«, fragte ich vorsichtig und hielt das Telefon vorsichtshalber schon mal auf Sicherheitsabstand von meinem Trommelfell. »Hey, Tobi, ich bin's!« Wer ist »ich«? Wer glaubt, mich so gut zu kennen, dass er keinen Namen zu nennen braucht? Und wer zur Hölle gibt mir Spitznamen?! »Oh, hi!«, rief ich fröhlich, damit mein Gegenüber nicht merkte, dass ich nicht den geringsten Schimmer hatte, mit wem ich da eigentlich sprach. »Da du wahrscheinlich nicht den geringsten Schimmer hast, mit wem du hier eigentlich sprichst: Hier ist David.« »Kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich fasziniert. David lachte. »Nein, du bist einfach nur leicht zu durchschauen.« »Oh.« Hm. War das jetzt eigentlich etwas Neues? »Weißt du, ich hab mich gefragt«, fing David an, »ob du vielleicht Lust hast, heute ins Kino zu gehen? Mit mir?« Mein Herzschlag wurde etwas schneller. Kino mit jemandem, den ich mag? Bei dem ich nicht schnell wegrennen muss und schließlich auf der Frauentoilette lande? Bei dem Gedanken machte sich ein warmes, schönes Gefühl in mir breit und ich fing an, zu lächeln. »J-ja, klar. Gerne.« »Super! Wir sehen uns dann in einer Stunde, ja?« Nachdem wir auch den Treffpunkt und ausgemacht hatten, stellte ich das Telefon zurück auf die Station und starrte es für eine Weile an. War das gerade wirklich passiert? Ich ging einfach mal davon aus, dass ich nicht halluzinierte und machte mich auf zu meinem Zimmer, um mich umzuziehen. Als ich den Inhalt meines Kleiderschranks betrachtete, fragte ich mich, was David wohl zum Anziehen hatte. Ob er auch privat in Röcken herumlief? Ich seufzte. Das würde auf jeden Fall interessant werden. Aufgeregt verließ ich das Haus und als ich dann schließlich an einer großen Kreuzung war, kam mir eine Frage in den Sinn, die mich bezweifeln ließ, ob dieses Treffen eine gute Idee war: Wo ist das Kino doch gleich? Völlig hilflos stand ich einfach an der Kreuzung und wartete. Worauf eigentlich? Einen Geistesblitz, ein vom Himmel fallendes Navigationssystem oder- ...Aksel? Äh, Moment. Selbstverständlich habe ich dort an der Kreuzung nicht auf Aksel gewartet. Der wäre der Letzte, der mir geholfen hätte. Aber... ja, wie soll ich sagen. Er ist gerade hier. Ich sehe ihn vom Fenster aus, er steht auf dem Bürgersteig. Wobei »stehen« eher relativ ist. Genauer gesagt schwankt und torkelt er nämlich. Oh. Jetzt ist er umgefallen. Später Ich sitze in meinem Zimmer, es ist etwa drei Uhr morgens und ich bin hellwach. Mein Bett ist gerade eh belagert und vielleicht kann ich mir so eine Nacht auf unserer alten Couch sparen. Na, wer liegt da wohl in meinem Bett? Der liebe Herr Nikolai, Aksel. Jetzt nichts falsches denken. Er ist ja vor unserem Haus einfach so auf dem Bürgersteig umgekippt und irgendwie hat es mich gestört, ihn so hilflos vor meinem Haus liegen zu sehen. Ich meine, ihm hätte da sonst was passieren können. Und bevor er auf offener Straße vergewaltigt wird, habe ich ihn lieber zu mir ins Haus gebracht. Das war eine ganz schön schwierige Angelegenheit, der Kerl ist viel schwerer, als er aussieht! Ich habe ihn dann an den Beinen hinter mir hergezogen. Auch die Treppe hoch. Er scheint das relativ gut überstanden zu haben. Ein paar blaue Flecke hat er vielleicht abgekriegt, aber naja... Aksel scheint einfach nur betrunken zu sein. Und zwar so richtig. Er hat nämlich eine Fahne, die schon fast mein ganzes Zimmer erfüllt hat. Wunderbar. Hm, vielleicht war er ja auf einer Party und hat sich nun verlaufen? Ja, ich schätze mal, so wird das gewesen sein. Ist aber eigentlich auch egal, das wichtigste ist, dass er jetzt in meinem Bett liegt und seinen Rausch ausschläft. Oh man, das wird bestimmt ein böses Erwachen morgen. »Ich lag im Bett von der Schwuchtel«, dieser Satz verfolgt ihn bestimmt erstmal eine Weile. ...Moment, was war das? Ich habe gerade irgendeine Stimme gehört! Oh Gott, oh gott, was, wenn das ein Einbrecher ist?! Hhhhe. Ich hyperventiliere. Hhhe... ich willl noch nicht sterben! Oh. Okay, Fehlalarm. Das war nur Aksel. Er scheint im Schlaf zu reden...aber sehr leise. Ich gehe mal näher ran. Nicht, dass ich neugierig wäre! »T...To...« Okay, irgendetwas mit »To«. Hm, Totem oder so? Träumt er von Indianern? Oder irgendwas in der Richtung von »Tod«. Würde auch irgendwie zu ihm passen. »Tobias...« Wawawawas?! Warum träumt er ausgerechnet von mir?! Und dann auch noch mit dieser zufriedenen Stimme... Oh Gott, das ist zu viel. War es schon vorher so heiß hier drin? Und worüber wollte ich eigentlich vorher schreiben..? Achja, der Kinobesuch! Da ist nichts besonderes passiert (nicht so wie jetzt gerade) aber es war schön und- Woah, Aksel umklammert mich gerade. Seine Arme sind um meinen Brustkorb gelegt und... waaah, ich komme nicht von ihm los, er drückt zu fest. Und er murmelt schon wieder meinen Namen. Was Alkohol so alles mit einem machen kann, gruselig. Aksel ist ja fast wie ein kleines Kätzchen...verstörende Vorstellung. Er scheint nicht vor zu haben, loszulassen. Mein Herz pocht gegen meine Brust, mein Atem wird schwer. Was soll ich jetzt machen? Ich bin ganz nervös. Klar, ich könnte mich einfach losreißen. Aber irgendetwas in mir will das nicht. Was ist das für ein komisches Gefühl? Warum fühlt es sich gut an, wenn Aksel mich in seinem Rausch umarmt? Es sollte mir doch eigentlich furchtbar unangenehm sein, vor allen Dingen, weil ich ihn doch eigentlich hassen wollte! Oh, er lässt los. Schade. Ähm, ich meine... juhu! Ist er wach? Ja, seine Augen sind offen. Hey, moment, was macht er-...!! Noch etwas später Ich sitze gerade auf der Couch im Wohnzimmer. An schlafen ist jedoch nicht zu denken. Mein Herz pocht immer noch hart gegen meine Brust, sodass es sich fast anfühlt, als würde es jeden Moment herausspringen, und mir ist schrecklich heiß. Als Aksel wach wurde, ist etwas ziemlich komisches passiert. Er sah mich an und legte seine Hand an meinen Nacken. Er schaute mir tief in die Augen, und je länger er mich ansah, desto schmerzhafter wurde mein gegen die Brust hämmerndes Herz. Es fühlte sich schrecklich und doch gleichzeitig wundervoll an. Und auf einmal kam Aksel näher. Als nur noch weniger Zentimeter unsere Gesichter trennten, schloss er seine Augen. Er kam näher und ich wich aus Angst und Verwirrung immer weiter zurück. Unsere Nasenspitzen berührten sich schon fast – und da fiel Aksel aus dem Bett. In einer seltsamen (und höchstwahrscheinlich sehr schmerzhaften) Pose lag er neben mir. Da wurde mir klar, was gerade fast passiert wäre und ich rannte aus dem Zimmer. Ja, und hier bin ich jetzt, ganz allein, auf der Wohnzimmercouch. Mir ist immer noch ganz wirr im Kopf. Wollte Aksel mich wirklich...? Nein, nein, das kann doch gar nicht sein. Es ist bestimmt nur der Alkohol. Ja, ganz bestimmt... Kapitel 20: 1. Juli & 7. Juli ----------------------------- 1. Juli Als ich heute aufgewacht bin, war Aksel schon weg. Man, er hätte sich ja wenigstens mal bedanken können... Es war ihm wohl doch zu peinlich. Naja, was habe ich erwartet. Da fällt mir ein, heute war doch irgendwas... Am ersten Juli... Oh mein Gott! In einer Woche muss ich auf Klassenfahrt! Hhhhe. Ganz ruhig, Tobias. Hhhhe. Nicht überreagieren. Hhhhe. Oh man, das wird bestimmt super. Ich habe übrigens noch immer keine Ahnung, wo ich überhaupt schlafen werde. Es ist schon klar, wo ich ÜBERNACHTEN werde, nämlich in der Dusche, aber auf welchem Zimmer werde ich offiziell sein, und vor allen Dingen, mit wem? Hm, ich glaube, ich frage meine Mutter nochmal, ob ich nicht doch für diese Woche zur Schule gehen darf. Später Sie hat nein gesagt. Na super, und was mache ich jetzt? Vielleicht sollte ich schon mal mein Testament schreiben. Oder noch besser, ich gehe in den Garten und schaufle schon mal mein Grab. Obwohl, da bekomme ich auch wieder Ärger von meiner Mutter. Hm. Das Testament erscheint mir doch am sinnvollsten... 7. Juli Na toll. Ich habe sechs Tage lang versucht, mir eine Grippe zu holen, aber nein, nichts hat geholfen! Da geht man schon eiskalt geduscht (mit Klamotten natürlich) und demnach klitschnass nach draußen und da scheint einfach die Sonne und man trocknet. Das ist nicht fair! Okay, vielleicht sollte ich nicht gerade im Juli versuchen, krank zu werden. Aber das war ja auch noch nicht alles! Ich habe unendlich viele Leute in der Stadt angepöbelt und keiner hat auch nur daran gedacht, mich krankenrausheif zu schlagen oder mir aus Höflichkeit wenigstens ein kleines Veilchen zu verpassen. Was sind Menschen doch für Spießer. War ich nicht beleidigend genug? Oder wurde ich nicht ernst genommen? Dabei habe ich mir doch solche Mühe gegeben! Unfaire Welt, mich einfach gesund sein zu lassen. Hm, ich schätze, ich werde dann mal packen müssen. Das ist noch etwas, dass ich an Klassenfahrten hasse. Wie zur Hölle soll ich alle Sachen, die ich brauche, in EINEN Koffer bekommen? Dieser Herausforderung bin ich nicht gewachsen. Ich versuche es trotzdem mal. Eh... was ist das? An meinem Koffer klebt ja ein Zettel! »TOBIAAAAAS!« Hui, dieser liebliche Ruf kam von meiner Mutter. Ich lese die Nachricht später. Später »Hey, Schwuchtel. Du warst schon weg, als ich aufgewacht bin. Und außerdem hättest du mich ruhig wieder ins Bett legen können! Wegen dir habe ich Rückenschmerzen.« Das stand auf dem kleinen Brief. Der wurde übrigens aus meinem Mathebuch herausgerissen. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass Aksel mir eine Nachricht hinterlassen hat, oder ob ich ihn nicht doch dafür hassen soll. Immerhin hat er mich eine Schwuchtel genannt (daran bin ich ja schon gewöhnt), er hat sich nicht bedankt, sondern nur Vorwürfe geäußert und er hat einfach eine halbe Seite aus meinem Mathebuch gerissen. Aber ich kann ihm das irgendwie nicht übel nehmen. Der Kerl bringt mich noch um den Verstand! Kapitel 21: 9. Juli ------------------- Ich sitze gerade in meinem Zimmer. Leider nicht zuhause, weil ich es doch noch geschafft habe, mir einen lebensbedrohlichen Schnupfen zu holen, sondern auf der Jugendherberge. So schrecklich, wie ich es mir vorgestellt hatte, ist es auch gar nicht. Es ist noch viel, viel schrecklicher! Ich befinde mich jetzt schon am Rande des Wahnsinns. Glaube ich zumindest. Nein, ich bin ganz sicher! Ich stelle eine Gefahr für die gesamte Klasse dar und sollte unverzüglich von diesem Ausflug entfernt werden – es wäre für alle Beteiligten das beste! Okay, ich sollte aufhören, zu träumen. Ich werde das hier wohl oder übel durchziehen müssen. Jetzt ist meine ganze mentale Stärke und Geduld gefragt! Aber damit man meine nicht gerade optimistische Einstellung zu dieser Klassenfahrt besser nachvollziehen kann, schreibe ich die ganze Anreise zu diesem Kaff, in dem ich nun volle fünf Tage verbringen werde, schön detailliert auf. Das wird ein Spaß. Es war circa acht Uhr morgens, für mich höchste Zeit, zur Schule zu fahren. Mit Fahrrad, versteht sich, schließlich wäre es ja zu anstrengend für meine Mutter, mich mit dem Auto hinzubringen. Den Koffer würde ich irgendwie hinter mir herziehen müssen. Doch ich versuchte, so viel Zeit wie möglich zu schinden. Schließlich könnte meine Mutter ihre Meinung ja noch ändern und mich plötzlich doch hierbehalten wollen. Also stand ich im Wohnzimmer herum und wartete. Und wartete. Bis meine Mutter plötzlich lachend das Zimmer betrat. Ihr Blick fiel auf mich und ihr Lächeln verschwand sofort. »Tobias. Du bist ja immer noch da.« Mein letzter Funken Hoffnung war dahin, da versuchte ich es mit einer anderen Ausrede. »Ich, ähm, wollte mich noch von dir verabschieden.« Als Antwort erntete ich einen verwunderten Blick. Dann einen darauf folgenden Seufzer. »Jaja, tschüss«, grummelte meine Mutter und verließ das Zimmer, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Etwas gekränkt machte ich mich auf den Weg zu der Garage, um mein Fahrrad zu holen. Wieso war ich überhaupt verletzt? Ich kannte meine Mutter doch und ich wusste genau, gefühlvolle Abschiedszenen waren nicht ihr Ding. Gefühle im Allgemeinen auch. Zumindest, wenn es um mich ging. Ich öffnete das Garagentor. Da fiel mir wieder ein, dass mein Fahrrad ja nur noch ein verbogener Schrotthaufen war. Kurz überlegte ich. Meine Mutter hatte doch auch noch eins. Aber ich konnte doch nicht einfach...! Ich warf einen Blick auf mein verbogenes Fahrrad, oder was davon übrig geblieben war. ›Verbogen‹ war gar kein Ausdruck mehr. ›Fahrrad‹ genau genommen auch nicht. Ich konnte ja mal einen kurzen Blick auf das Gefährt von meiner Mutter werfen... Außerdem brauchte ich es sehr dringend! Nach ein paar Sekunden hatte ich das Fahrrad geortet, welches natürlich von allem möglichen Krempel umringt war. Irgendwie konnte ich es aber heraus manövrieren und stellte es im Hof ab, wo ich es kritisch betrachtete. Sah fahrtüchtig, wenn auch etwas verstaubt, aus. Kurz blickte ich nach links und rechts. Es schien keine Zeugen zu geben. Ich widmete mich wieder dem Fahrrad und überlegte, wie ich nun mein Gepäck mitnehmen könnte. Meinen Koffer konnte ich schon einmal nicht auf den Gepäckträger packen, sonst würde ich nur noch auf dem Hinterrad fahren. Oder es würde gleich einfach zusammenbrechen. Vielleicht würde ich mich auch darauf setzen und sofort umfallen, mitten in das dornige Rosenbeet meiner Mutter, dass ich unter keinen Umständen beschädigen darf. Ich sah die Szene schon vor mir: Ein blutiges Massaker, mitten im Blumenbeet. Aufgeschnittene Haut, unerträgliche Schmerzen. Und daneben meine Mutter, die sagt: »Oh Gott, Tobias, wie konnte das nur passieren? Meine armen Rosen!« Ja, so würde das ganz sicher ablaufen. Aber das half bei meinem Problem auch nicht viel weiter. Nach einer Weile dachte ich mir, ich könnte den Koffer ja einfach hinter mir her ziehen, während ich fahre. Schließlich hat er Räder. Also setzte ich mich auf das Fahrrad, dass ich ganz spontan in Beschlag genommen hatte, und parkte es direkt vor dem Koffer. Mit einer Hand hielt ich den Griff fest und mit der anderen den Lenker. Ganz langsam und vorsichtig trat ich langsam in die Pedalen, darauf bedacht, nicht umzukippen. Wenn ich einen Kratzer an dem Fahrrad meiner Mutter verursachen würde, durfte ich erwarten, genau mit diesem erschlagen zu werden. Doch zu meiner Überraschung schien mein Plan aufzugehen und ich bewegte mich relativ sicher fort. Das klappt ja wunderbar, dachte ich mir, heute muss mein Glückstag sein! Etwa zwei Minuten später war ich zu Fuß unterwegs. Mein ach so toller Plan war wohl doch nicht ach so toll, wie ich angenommen hatte. Jedenfalls hatte ich es mal wieder geschafft, einem Fahrrad einen Totalschaden zu verpassen. Ich habe die Überreste des Fahrrads meiner Mutter wieder in die Garage gelegt, bis jetzt scheint sie noch nichts davon gemerkt zu haben... Ein Glück, dass ich auf dieser Klassenfahrt bin! Als ich dann endlich bei meiner Schule ankam, sah ich nur einen riesigen Reisebus. Viele Leute standen um ihn herum, unter anderem meine Klasse und eine Parallelklasse, aber leider nicht die von David. Also stellte ich mich so weit entfernt von der Menschenmasse wie möglich. Mir fiel auf, dass jeder mindestens ein Elternteil dabei hatte. Sogar Nico. Eigentlich waren seine Eltern auch genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Die Mutter war erst auf den zweiten oder dritten Blick ein weibliches Wesen. Ihre Haare waren kurzgeschoren und rot gefärbt, sie trug nur schwarze Kleidung. Dabei schaute sie mit einen Blick, der sagte: »Ein Widerwort und du machst fünftausend Liegestütze!« Ziemlich unschön. Der Vater war ein klassischer Schläger oder Säufer, so, wie man sich die eben vorstellt. Schwer auseinander zu halten. Vielleicht ist er beides. Sein grauer Vollbart ließ keine genauen Gesichtszüge erkennen, das war wahrscheinlich aber auch besser so. Seine Haare waren ebenfalls ergraut und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug eine Lederhose und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Alle Menschen haben ihren Glauben – ich glaube, ich trink' noch einen«. Die Schrift war etwas schwer zu entziffern, weil sie von dem kleinen Bierbauch des Vaters leichtlich gestreckt wurde. Ich hoffe, die Ironie war zu erkennen. Auf einmal schien Nico mich bemerkt zu haben und rief zu mir herüber: »Ey, Schwuchtel! Sind deine beiden Väter nicht da?« und lachte. Sein Vater ließ ein Lachen hören, dass kein bisschen belustigt klang und mich ein bisschen erschaudern ließ. Die Mutter musterte mich kurz. »Tut mir Leid«, sagte sie plötzlich gefühlvoll und ich war schon völlig geschockt, »aber so will mein Sohn nur seine Zuneigung ausdrücken« sagte sie dann und lachte hysterisch, wobei sie ihrem Sohn gegen die Schulter boxte. Überraschender Weise hielten Nicos Knochen jedoch den Hieben seiner Mutter stand. Er schien das schon gewöhnt zu sein. Ich seufzte innerlich und sah weg. Nebenbei schwor ich mir, mich nie wieder darüber zu wundern, warum Nico so asozial war. Nach ein paar Minuten konnten wir schließlich in den Bus einsteigen. Ich wurde natürlich so sehr hin- und hergeschubst, dass ich am Ende als Letzter den Bus betreten musste. Als ich dann schließlich durch den Gang trottete, auf jedes mir gestellte Bein hinwegsteigend, und meinen Blick über die Sitzbänke schweifen ließ, sah ich, dass keine einzige mehr frei war. Also musste ich mich zu irgendwem dazu setzen. Bei dem Gedanken wurde mir schon ganz schlecht. Was, wenn es Nico oder eins dieser Modetussis war, sodass ich an ihrem Parfüm-Haarspray-Gemisch ersticken würde? Oder am Ende auch noch Aksel! »Tobias, hier ist noch ein Platz frei!«, rief mir auf einmal eine Frauenstimme zu. Ich sah zu der Richtung, aus der ich den Ruf vernommen hatte und sah eine Lehrerin, die ich nicht kannte. Sie saß neben einer anderen Lehrerin, also konnte sie nicht von sich gesprochen haben. Ich sah schließlich, dass sie auf die Bank neben ihr zeigte und dort war tatsächlich ein Platz frei. Doch als ich auf den anderen sah, der auf der Bank saß, verschwand wahrscheinlich jede Farbe aus meinem Gesicht. Herr Wener. Er sah mich genau so entsetzt an, wie ich ihn. Doch wir beide versuchten krampfhaft, zu lächeln, um uns nichts anmerken zu lassen. Herr Weners Lächeln artete in einen Gesichtsausdruck aus, der ihn aussehen ließ, als würde er jeden Moment losheulen oder -kotzen wollen. Über meinen Ausdruck dachte ich lieber gar nicht erst nach. In langsamen, roboterartigen Schritten bewegte ich mich schließlich zu meinem Biologie-Lehrer, dem ich schon so oft das ein oder andere Haustier das Leben genommen hatte, wenn auch ungewollt. Als ich schließlich mehr oder weniger saß, versuchten ich und Herr Wener, ungezwungen zu kommunizieren. »Tobias«, stellte der ältere Mann nüchtern fest. »Herr Wener«, erwiderte ich im gleichen Tonfall. »Du also«, sagte Herr Wener nicht wirklich glücklich. »Ich also«, wiederholte ich unbehaglich. »Soso«, murmelte mein Biologie-Lehrer. In mir kam der leise Verdacht auf, dass er nicht mit mir reden wollte, also beließ ich es bei Schweigen. Bei uns war es somit relativ ruhig, doch ich hörte den Rest des Busses umherschreien, wie toll die Klassenfahrt doch werden würde. Na sicher, dachte ich mir und musste fast lachen. Ihr werdet sicher euren Spaß haben. Auf einmal fiel mir etwas ein. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir überhaupt fuhren. Nach einigem hin und her beschloss ich jedoch, dass es mir eigentlich sowieso egal sein konnte. Es würde meine Laune eh nicht beeinflussen. Nach einer gefühlten Stunde fiel mir auf, dass wir uns immer weiter von der Zivilisation zu entfernen schienen. Der Verkehr wurde weniger, die Straßen wurden schmaler, die Baumanzahl nahm zu. Ich schluckte. Bitte, lieber Gott, betete ich, lass uns nicht in irgendein Kaff fahren! Auf einmal gab es Gepolter und der Bus wackelte. Ich wurde panisch. Sollte ich wirklich einen Blick aus dem Fenster riskieren? Meine Neugier siegte und so warf ich einen Blick nach draußen – und wünschte, ich hätte es nicht getan. Alles, was ich sah, war grün. Nur grün, überall. Blätter, Gras und Büsche und all das. Und dann sah ich auch noch, dass wir die Straße verlassen hatten und auf einem Feldweg fuhren. Einem Feldweg! Ich bin ein Stadtmensch, verdammt nochmal. Wie soll ich überleben, wenn es im Umkreis von zwanzig Metern nicht ein einziges Geschäft gibt?! Ich wurde panisch, begann, zu hyperventilieren. Meine Atmung wurde schwer. Alle Organe in mir krampften sich zusammen. Meine Gedanken flogen wirr umher. »Haaach«, seufzte Herr Wener und starrte aus dem Fenster, »ist es nicht schön, der Natur so nahe zu sein?« Natur? Natur?! Der Ficus in unserem Wohnzimmer ist mir Natur genug! »Da fühlt man sich wieder richtig frisch!« Ahhh, die Bäume! Sie kommen immer näher, sie werden mich zerquetschen, wie einen Käfer! Oh Gott, an die Käfer habe ich ja noch gar nicht gedacht! Sie werden überall sein, in den Schränken, den Waschbecken! Spinnen werden sich in meinen Schuhen ihre Nester erbauen und mich im Schlaf überfallen! »Es ist doch wirklich schön hier, nicht wahr, To-« Als Herr Wener seinen Blick vom Fenster abwandte und mich sah, mit meiner verkrampften Haltung und den Zuckungen, stoppte er seinen kleinen Vortrag über die Schönheiten der Natur. Genervt seufzte er. Ich glaubte, ihn leise ein verächtliches ›Stadtmenschen...‹ murmeln zu hören, doch sicher war ich mir nicht. In Gedanken betete ich weiter. Bitte, lieber Gott, lass das alles einen Traum sein. Lass uns in ein Hotel in der Stadt oder wenigstens einem Dorf fahren. Als ich vor unserer Jugendherberge stand, meine Schuhe schon ganz braun und nass vom Matsch, konnte ich weit und breit nur Wald sehen. Und als ich dann ein Schild am Gebäude bemerkte, auf dem stand »Naturfreundehaus«, wusste ich: Gott hatte mich nun endgültig im Stich gelassen. Ich hielt die Tränen zurück und versuchte, mir meine Panikattacke nicht anmerken zu lassen. Fünf Tage muss ich hier verbringen. Fünf verdammte Tage. Mitten im Nirgendwo, mit einem Dorf, das zu Fuß etwa vierzig Minuten weit von hier ist. Eigentlich war ich zu erschüttert, um panisch oder traurig zu sein. Und auch über meinen Zimmerpartner machte ich mir keine Gedanken. Alles, worüber ich nachdachte, war, wie ich das hier überleben sollte. Oder noch besser, wie ich es NICHT überleben könnte. Wieviele Stockwerke hatte die Herberge doch gleich? »So, Leute, kommt hierher«, rief eine der zwei Lehrerinnen uns zusammen. »Bildet jetzt schnell Zimmergruppen von zwei bis acht Personen und sucht euch ein Zimmer! Dann könnt ihr euch in Ruhe einrichten und wir treffen uns in zwei Stunden zum Abendessen!« Das wird bitter, dachte ich mir schon. Ich sah den anderen zu, wie sie alle zu ihren Freunden liefen und hofften, ein passendes Zimmer zu finden. Mir fiel auf, dass es kaum Zweiergruppen gab. Und dass sich einige Mädchen zankten, weil sie andere Vorstellungen hatten, mit wem sie auf ein Zimmer wollten, weil es anscheinend zu viele gab, zu dem sie guten Kontakt hatten. Ich glaube, ich könnte das gar nicht, auf so viele Leute achten. Um wen sollte ich mich denn mehr kümmern? Ach Gottchen, vielleicht ist es doch gar nicht schlecht, ein Außenseiter zu sein! »Tobias?«, sprach mich auf einmal die Lehrerin an. »Ähm, ja?« Ich erwartete schon eine Predigt, dass ich mich nicht so anstellen und endlich eine Gruppe finden sollte. Doch es kam etwas anders. »Ich habe gesehen, dass du keine Zimmerpartner findest, deswegen habe ich dir jemanden mitgebracht, der auch allein ist. Das hier ist Sören!« Sie stellte Sören ab und ging wieder. Ich betrachtete den, ähm, Jungen näher. Seine runde Brille ließ seine Augen riesig erscheinen. Dazu grinste er mich noch so komisch an. Und er hatte mehr Zahnspange als Zahn. Aber das war noch normal, verglichen mit dem, was da auf seinem Kopf war. ›Locken‹ war ein Begriff, der noch Welten davon entfernt war. Er hatte verfilzte Spiralnudeln auf dem Kopf. Verfilzte Spiralnudeln, die sich in einem noch viel verfilzteren Mopp verfangen hatten! »Hallo, ich bin Sören!« gluckste er. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Eine Gänsehaut machte sich auf meinem ganzen Körper breit. Einige Organe zogen sich zusammen. Das Gefühl war unbeschreiblich ekelhaft. Durfte so ein Geschöpf überhaupt leben? War das nicht irgendwie gegen die Natur? Ich meine, ich bin eigentlich nicht oberflächlich, überhaupt nicht. Aber der bricht alle Rekorde! »Und, nh, wie heißt, nh, du?« Er machte durch seine Nase so ein seltsames Geräusch, das fast wie ein Lachen klang. Nur durch die Nase eben. Ich weiß gar nicht, wie ich das schreiben soll, ich habe es jetzt einach ›nh‹ genannt, weil es ungefähr so klingt. Eigentlich will ich da auch gar nicht genauer drüber nachdenken. »T-T-T-Tobias...«, antwortete ich so locker wie möglich. »Nh, nh, nh, achso.« Ich glaube, ich habe mich gerade mit der Natur hier angefreundet und will ihr noch näher kommen. Vielleicht könnte ich mir ja irgendwo hier im Wald ein Baumhaus bauen. Oder noch besser, ich buddle mich ganz, ganz tief ein. Während ich mir überlegte, wie ich diesem Ausflug wohl entkommen konnte, grinste Sören weiter. Ich fühlte, wie sich das Bild von ihm in mein Gehirn brannte, sodass ich es nie mehr vergessen könnte und für immer Albträume haben werde, in denen Haare mich verfolgen und dann kaltblütigen umbringen. »Weißt du, nh, Tobias, du hast ein sehr sympatisches Gesicht, nh, weißt du?« »Und du hast...Haare«, stellte ich zum erneuten Male erschüttert fest. Sören lachte wieder durch die Nase. Wahrscheinlich konnte er nicht durch den Mund lachen, weil er den für sein Dauergrinsen brauchte. Okay, Tobias, sagte ich mir in Gedanken, du musst ruhig bleiben. Etwas gutes hat das ganze nämlich wirklich. Ich habe mir doch schon immer solche Gedanken über das schwul sein gemacht und so. Nun werde ich wahrscheinlich nie wieder mit irgendwem eine Beziehung führen können, ohne das Gesicht von Sören vor mir zu sehen. Dann wäre das Problem wohl geklärt! Später waren ich und Sören auf unserem Zimmer, um das Bett zu beziehen und die Koffer zu verstauen. Er versuchte dabei immer wieder, sich mit mir über Online-Spiele oder Wissenschaft zu unterhalten. Alle paar Minuten machte ich ›mhm‹, damit es so aussah, als würde ich zuhören. Innerlich zählte ich jedoch die Sekunden, bis wir endlich zum Abendessen durften. Ich stellte gerade alles, was ich morgens so brauchte, auf das Waschbecken. Dass ich mehr als zwei Drittel davon einnahm, ignorierte ich gekonnt. »Nh, nh, du hast ganz schön viele Sachen, Tobias, nh«, teilte mir Sören mit seinem seltsamen Nasen-Lachen mit. »Ja«, erwiderte ich. Normalerweise hätte ich mich und meine Ehre bis aufs Blut verteidigt, dass das gar nicht so viel Zeug war und ich einfach nur Wert auf Hygiene legte, aber mit Sören wollte ich nicht auch nur ein Wort mehr sprechen, als es zwingend notwendig war. Kurz sah ich auf die Uhr. Wir hatten noch eine halbe Stunde Zeit, bis sich alle zum Abendessen trafen. Doch Sörens Gerede über Photosynthese trieb mich derartig in den Wahnsinn, dass ich beschloss, dass ich gehen musste. Sofort. Als ich im Türrahmen stand, fragte Sören verwundert: »Nh, Tobias, wo gehst du hin?« »Zum Abendessen!«, rief ich. Sören machte ein verwundertes Gesicht. »Aber wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.« »Joa, schon...«, sagte ich und versuchte, eine Ausrede zu finden, »aber wir könnten uns ja auf dem Weg zum Speisesaal verlaufen und so.« Ich fand diese Aussage äußerst berechtigt und hielt mich für genial. »Der Speisesaal ist nur ein Stockwerk tiefer und man sieht ihn sofort, wenn man die Treppe herunter geht«, erklärte Sören und ich war sicher, er hielt mich für total bescheuert. Ich ignorierte seine Aussage und meinen angekratzten Stolz und ging einfach. Leider kam Sören auch mit. Was freute ich mich auf das Abendessen und ein bisschen Ruhe! Mit einem schmatzenden Geräusch landete das undefinierbare Breigemisch auf meinem Teller. Ich konnte ihm nur kurz Aufmerksamkeit schenken, denn sofort keifte mich die Frau hinter dem Tresen an, ich solle meinen ›fetten Arsch‹ weiterbewegen. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich ihr erzählen sollte, dass sie etwa das dreifache von mir war, ließ es aber dann doch lieber, als ich sah, wie gekonnt sie die Kelle schwang. Nicht gerade fröhlich setzte ich mich an einen freien Tisch. Natürlich dackelte Sören mir sofort hinterher und setzte sich mir gegenüber. Konnte er sich nicht neben mich setzten? Dann musste ich ihm wenigstens nicht dabei zusehen, wie er dieses Essen, oder was auch immer es darstellen sollte, in seinen mit Metall ausgestattetem Kiefer schob. Ich betrachtete den Klumpen auf meinem Teller, der aussah, als wäre er schon ein paar Mal verdaut worden. War dieser Anblick jetzt wirklich angenehmer? Ich schaute wieder zu Sören. Er grinste mich an, wie immer, nur diesmal mit Essensresten inklusive. Wieder richtete ich meinen Blick auf das Abendessen. Hatte es sich gerade etwas weiter ausgebreitet? War es überhaupt schon tot? Und WAS war es eigentlich genau? Ich schob meinen Teller etwas weiter von mir weg. Beim näheren betrachten des Speisesaals fiel mir auf, dass ich und Sören die einzigen an unserem Tisch waren, während sich manche zu zehnt an einen Tisch gequetscht hatten. Ich schmunzelte kurz und linste zu Sören. Gehörte ich wirklich zu einem wie IHM? So schlimm konnte ich doch eigentlich nicht sein. Oder sah ich in ihm das, was andere in mir sahen? Als etwas flüssiger Brei aus Sörens Mund lief, widmete ich mich schnell dem viel interessanterem Fenster und war mir sicher, dass diese Vermutung nicht stimmen konnte. Und so endete der Abend und ich aß nichts. Es hätte wahrscheinlich auch nicht wirklich einen Unterschied gemacht, wenn ich etwas gegessen hätte, denn bei dem Anblick vom essenden Sören wäre das bestimmt nicht lange im Magen geblieben. So gingen wir wieder auf unser Zimmer und hier sitze ich. Sören schläft schon... und er schnarcht. Das werden die längsten vier Nächte meines Lebens, glaube ich. Schon bei dem Gedanken, mit dieser... Person ein Zimmer zu teilen, wird mir ganz flau im Magen. Kann ich es wirklich riskieren, zu schlafen? Der ist doch nicht normal. Okay, ich bin auch nicht gerade normal. Naja, wie auch immer. Ich glaube, ich schlafe dann doch freiwillig in der Dusche. Kapitel 22: 10. Juli -------------------- Ich habe die Nacht doch im Zimmer verbracht, aber auch nur, weil Sören mich dabei erwischt hatte, wie ich gerade abhauen wollte. Aber trotzdem habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich hasse diese Athmosphäre in der Nacht auf Klassenfahrten, mit diesen fremden Leuten in einem Zimmer und speziell für mich dazu noch die Befürchtung, jeden Moment könnte ein Eichhörnchen vor der Fensterscheibe sitzen. Widerlich. Und noch etwas, dass ich an Klassenfahrten hasse, sind Stadtrallyes. Ich hasse es wie die Pest, von einem Ort zum nächsten gescheucht zu werden, nur um irgendeine blöde Frage auf einem genauso blödem Arbeitsblatt zu beantworten. Aber natürlich mussten wir genau das heute machen: eine Stadtrallye. Naja, eher eine Dorfrallye. Wie auch immer. Schon mit einem unguten Gefühl in der Magengrube stand ich auf dem matschigen Hof des Naturfreundehauses. Beide Klassen waren versammelt und Herr Wener und die Lehrerin, die mich im Bus auf den freien Platz hingewiesen hatte, erklärten uns, was wir nun machen durften. Oder besser gesagt, wozu sie uns zwingen würden. »Also, ich und Frau Lehning werden diese Zettel austeilen«, erklärte Herr Wener, »und alle mit derselben Zahl finden sich zusammen und bilden eine Gruppe.« Scheiße, dachte ich mir, Zufallsgruppen. Bei meinem Talent bilde ich eine Gruppe mit Nico, seiner Clique und Aksel gleichzeitig. Dann überlebe ich diese Rallye nicht. Frau Lehning und Herr Wener teilten die Schnipsel aus und als Nico eine Nummer zog, starrte ich gebannt zu ihm. Ich musste unbedingt wissen, welche Zahl er bekam. Doch die ungeteilte Aufmerksamkeit wäre gar nicht so nötig gewesen, denn sofort, als Nico seine Zahl sah, schrie er herum: »Wer hat hier 'ne Dreizehn?!« Dreizehn. So ein Zufall. Die Zahlen gingen wohl nicht bis sechshundertsechsundsechzig... Schnell suchte ich in der Menschenmasse nach Aksel. Doch als er eine Nummer zog, betrachtete er sie nur und sagte nichts darüber. Desinteressiert wie immer. Schließlich stand Frau Lehning auch vor mir und ich betete, keine Dreizehn zu ziehen. Sie hielt mir fünf Zettel hin, ich sollte einen auswählen. Oh Gott, dachte ich. Soll ich den in der Mitte nehmen? Nein, damit rechnet doch jeder. Vielleicht sollte ich rechts nehmen, weil ich Rechtshänder bin? Oder links, um das Universum zu verwirren. Panik steig in mir auf, und so schloss ich einfach meine Augen und wählte auf gut Glück. Ich betrachtete meinen Zettel. Zitternd klappte ich ihn auf, hielt dem Druck jedoch nicht stand und kniff meine Augen zu. Nicht dreizehn! Nicht dreizehn! Nicht dreizehn! Langsam öffnete ich ein Auge und die erste Zahl, die ich halbwegs erkennen konnte, war eine drei. Nein! Ich bin tot, dachte ich mir. Mein Schicksal akzeptierend öffnete ich schließlich auch das andere Auge, doch dann sah ich, dass meine Zahl drei war. Einfach nur drei. Nicht dreizehn. Kein Nico in meiner Gruppe! Da hatte ich ja ganz umsonst so eine filmreife Show abgezogen. »Nh, Tobias, du hast ja auch eine drei gezogen, nh!« Oder auch doch nicht. Ich betrachtete Sören mit einem Todesblick. Meine rechte Augenbraue zuckte ein wenig, als ich mit Mühe antwortete: »Ach, du auch? Wie schööön...« »Hey, Schwuchtel«, hörte ich auf einmal neben mir. Ich drehte mich ein wenig und sah Aksel, der seine gezogene Nummer zeigte. Eine drei. Ich unterdrückte einen Schrei und schaute einfach nur verwundert drein. Sören beäugte Aksel neugierig und drehte sich dann wieder zu mir. »Du bist homosexuell?« »Nein!«, rief ich verärgert. Aksel grinste nur. Auf einmal legte er einen Arm um meine Schulter und zog mich näher zu sich heran. »Doch, und zwar wir beide. Hast du ein Problem damit?« Meine Augen weiteten sich. Was hatte er da gesagt? »Äh, nh, nein...«, gab Sören kleinlaut zurück. »Gut«, sagte Aksel und ließ mich los. Dann drehte er sich um und ging in Richtung Dorf. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Mein Herz pochte und ich war völlig benebelt, alles um mich herum schien nicht mehr zu existieren. In meinem Kopf spielte sich immer wieder ab, was Aksel gerade getan und gesagt hatte. Hatte das...irgendetwas zu bedeuten? »Kommst du, Tobias?«, riss Sören mich aus meinen Gedanken. Ich verwarf den Gedanken schnell. Als wenn Aksel mich mögen würde! Da brauchte ich mir keine Hoffnung zu machen. Aber warum eigentlich Hoffnung? Hoffte ich denn, dass er mich mochte? Es sollte mir doch eigentlich egal sein. Was ist da nur los mit mir? Den ganzen Weg bis zum Dorf grübelte ich darüber, fand jedoch keine deutliche Antwort. ›Doch, hast du eigentlich, aber du willst es nicht wahrhaben.‹ ›Du schon wieder, nerviges Stimmchen! Du hast dich lange nicht mehr blicken lassen.‹ ›Die meiste Zeit warst du zu dämlich, um überhaupt irgendetwas zu merken, aber langsam siehst du es ja doch endlich ein!‹ ›Was sehe ich ein?‹, grummelte ich innerlich. Oh, diese inneren Konflikte... ›Dass du Aksel liebst.‹ Ich schnappte in Gedanken nach Luft. ›T-T-T-Tue ich gar nicht!!‹ ›Du wirst rot.‹ ›Werde ich gar nicht!‹ ›Dein Herzschlag beschleunigt sich.‹ ›Gar nicht wahr!‹ ›Ich bin dein Kopf, du Idiot. Wenn jemand weiß, was mit deinem Körper so passiert, dann ich. Und glaub mir, wenn du diesen Kerl ansiehst, werden da eine Meeenge Glückshormone produziert.‹ ›Warum ist mein Kopf so ein Arschloch?‹ ›Weil du ja anscheinend auf solche stehst.‹ Ich beschloss, dass es sinnlos war, mit meiner inneren Stimme zu diskutieren. Kurz sah ich mich um. Wir waren seit einer halben Stunde unterwegs und ich sah immer noch kein Dorf in der Nähe. Außerdem redete keiner auch nur ein Wort. Aksel war so desinteressiert wie immer und Sören wohl von ihm eingeschüchtert. Ich war zu sehr in Gedanken, um ein Gespräch anzufangen. Kurz schielte ich zu Aksel. Doch ich sah sofort wieder weg. Wie sah denn das aus, wenn ich jetzt auch noch anfing, ihn anzustarren?! Ich seufzte. Warum musste alles so kompliziert sein? »Was ist los, Schwuchtel?«, fragte Aksel mich auf einmal. Ups, ich hatte wohl zu laut geseufzt. Aber vor allem wunderte ich mich, dass Herr Nikolai sich für meine Gefühlslage interessierte. Die Natur tat ihm wohl auch nicht so gut. »Äh, nichts, mir geht’s gut« sagte ich nervös. Aksel zog fragend eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts weiter. »Endlich!!« Mit einem triumphierenden Ruf hopste ich auf den gepflasterten Boden des Dorfes. Man, fühlte sich das gut an! Endlich kein Dreck mehr! Ich sah mich um. Die Häuser hatten nicht mehr als ein Stockwerk und sahen eher nach altertümlichen Behausungen aus. Zwar nicht wirklich das, was ich mir erhofft hatte, aber wenigstens nicht immer nur diese ekligen Bäume und Büsche überall! Auf einmal erblickte mein Stadtradar etwas – das Gebäude da hinten sah doch verdächtig nach einem Geschäft aus! Sofort sauste ich los und ignorierte die Rufe meiner Gruppenmitglieder. Fehlalarm. Das ›Geschäft‹ war nur ein Museum über Bergbau. Ich seufzte enttäuscht. »Wir können weiter, Leute!« Keine Antwort. »Leute...?« Ich drehte mich in alle Richtungen um. Doch ich sah niemanden. »Aaaah, ich habe sie verloren!!«, rief ich und sah mich hektisch um. Immer noch nichts! Das durfte doch nicht wahr sein, was sollte ich jetzt tun?! Ich werde sterben, dachte ich panisch. Nein, ich muss ruhig bleiben!, sagte ich schließlich zu mir selbst. Ich muss nur- Auf einmal packte eine starke Hand an meine Schulter. Ich schrie los und drehte mich um, nicht ohne mit meiner Faust auszuholen. Der Angreifer lag schließlich am Boden und ich atmete schwer. »Man, Schwuchtel, bist du noch ganz dicht?!« Verdammt, ich hatte gerade Aksel umgehauen! Ich half ihm auf und beteuerte tausende Male, wie schrecklich leid mir das tat. Er murrte nur. »Wie kann man so bescheuert sein?! Du treibst mich echt in den Wahnsinn!«, keifte er mich an. Ich fühlte ein seltsames Stechen in der Brust. »Du brauchst mich ja nicht so zu erschrecken!«, rief ich verärgert zurück. »Häää?! Wer ist denn einfach weggerannt?!« Da musste sogar ich einsehen, dass er Recht hatte. Mir fiel nichts zu meiner Verteidigung ein, also beließ ich es bei Schweigen und sah ihn einfach beleidigt an. Doch er würdigte mich keines Blickes. Aksel grummelte. »Ich hätte dich einfach hier stehen lassen und allein zur Herberge gehen sollen. Warum kümmere ich mich überhaupt noch um so einen Dreck wie dich?!« Er sagte dies mehr zu sich selbst als zu mir, doch ich hörte jedes Wort. Jedes einzelne verdammte Wort. Und es verletzte mich viel mehr, als jede Beleidigung, Demütigung oder Prügelei, die man mir in meinem Leben angetan hatte, zusammen. Was war dieser unbeschreibliche Schmerz und warum hatte ich ihn überhaupt? Ich war solche Worte gewohnt. Schon mein ganzes Leben lang. Es interessierte mich doch kaum noch, wenn meine Mutter mir erzählte, wie sehr sie es bereute, mich in die Welt gesetzt zu haben – warum tat es so weh, wenn Aksel diese Dinge sagte? Mir schossen Tränen in die Augen, ich konnte nichts dagegen tun. Wieso? Wieso fühlte es sich so schrecklich an? Etwa, weil ich in ihn verliebt war? Bei dem Gedanken schien mein Herz kurz auszusetzen, nur um danach in doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Da wurde es mir langsam klar. Warum ich mich so seltsam in seiner Nähe verhielt. Warum mein Herz so verrückt spielte. Na klar, ich bin in Aksel verliebt. Noch mehr Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich sah wieder zu Aksel, der mir endlich wieder seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Als der Blickkontakt aufgebaut war, konnte ich die Tränen nicht mehr aufhalten und sie suchten sich still ihren Weg meine Wangen hinunter. Irgendwas änderte sich in Aksels Blick, ganz plötzlich. Diese Leere, die seine dunkelbraunen Augen sonst hatten, schien gefüllt zu werden, mit etwas schönem, unbeschreiblichem. Fasziniert sah ich in diese Augen, in die ich mich doch irgendwie verliebt hatte, auch wenn sie mich immer mit so einem abschätzendem Blick ansahen. Doch jetzt nicht. In Aksels Gesichtausdruck glaubte ich plötzlich so etwas zu finden wie... Zuneigung. Wärme. Geborgenheit. Vielleicht sogar ein bisschen Liebe? In diesem Moment fühlte ich so unglaublich viel. Ich war traurig, ich war glücklich, ich war nervös und aufgeregt, doch gleichzeitig ruhig. Aber was ich vor allem fühlte, war Hoffnung. Hoffnung, dass da etwas zwischen uns war. Dass ich keine Angst haben musste, sondern einfach auf mein Herz hören durfte. Die Hoffnung, dass da in Aksel ein kleiner Funken Liebe war, der irgendwann mir gelten könnte. War das zu viel verlangt? War es gegen die Natur, dass ich so fühlte? Um so etwas mache ich mir keine Gedanken mehr. Ich bin in Aksel verliebt – das ist meine Natur. Auf einmal spürte ich, wie Aksel seine Hände um meine Hüfte legte und dicht bei mir stand. Ich musste meinen Kopf leicht in den Nacken legen, um den Blickkontakt aufrecht erhalten zu können. Seine Nähe brachte mich ganz um den Verstand. Ich war nicht fähig, irgendetwas zu tun. Als ich versuchte, seinen Namen zu sagen, zitterte meine Stimme und nach der ersten Silbe versagte sie völlig. Aksel sah mich darauf einfach nur an. Mit diesem gefühlvollen Blick, den ich überhaupt nicht von ihm kannte. Noch immer stand ich einfach nur da und tat nichts. Ich starrte Aksel einfach nur an. Doch er verstand und legte ganz sanft seine Hand an meinen Nacken und drückte mich an seinen Oberkörper. Mein Kopf ruhte schließlich auf seiner Brust und ich konnte leise seinen Herzschlag hören. Er war genau so aufgewühlt wie ich, obwohl er so gelassen aussah. Das Herz lügt eben nie. Langsam wurde ich etwas ruhiger und legte ich meine Arme um Aksels Rücken. Als er den sanften Druck meiner Hände spürte, wurde Aksels Griff etwas fester und die Umarmung inniger. Er lehnte seinen Kopf leicht gegen meinen und ich schloß meine Augen. Ich hatte solche Angst, dass es nur ein Traum sein könnte. Das alles war doch viel zu schön um wahr zu sein, wie man immer sagt. Meine Hände fassten automatisch etwas fester zu. Wenn es ein Traum war, wollte ich nie wieder auf- »Nh, Tobias!« Ich und Aksel zuckten gleichzeitig zusammen und lösten uns voneinander. Als wir beide nach rechts blickten, sahen wir ihn. »Sören...«, brachte ich mit einem bitteren Lachen heraus. »Pornolocke!«, rief Aksel wütend, »was willst du hier?!« Ich schaute kurz verwirrt zu Aksel. Dagegen war mein Spitzname ja noch liebevoll. Sören druckste etwas eingeschüchtert herum. »Du hast mir doch gesagt, wir müssen nach Tobias suchen, und...« »Ich hab' ihn gefunden«, grummelte Aksel, »wir können also wieder gehen!« Dann stapfte er davon. Ich überlegte kurz, ob ich ihm hinterhergehen sollte, entschied mich jedoch dagegen, da er gerade bestimmt nicht in Stimmung war. Die hatte ein gewisser jemand ja ordentlich versaut. Und als ich darüber nachdachte, wie scheiße das wieder einmal ausgegangen war, wusste ich: Das war kein Traum. Es war die grausame Realität, so, wie ich sie eben kannte. Ich musste kurz lächeln. Nur mit dem Unterschied, dass sie mir vorher etwas versüßt wurde. Kapitel 23: 11. Juli -------------------- Edit: Danke für den Hinweis, dass ich geschrieben habe, dass Scheine grunzen XD Habe es geändert^^ ---------------------- Irgendwie scheint es das Schicksal gut mit mir zu meinen. Ich hatte heute wieder einen wunderschönen Tag... Man merkt vielleicht schon, ich bin richtig in der rosaroten Stimmung, von der ich schon oft gehört habe, sie aber nie wirklich erlebt habe. In Büchern oder Filmen wurde der Zustand des Verliebt-Seins immer so beschrieben, dass es so ist, als wäre man in Watte eingepackt oder von einer Wolke umgeben und man würde schweben und alles wäre rosa und so. Selbst der graue Alltag glitzert auf einmal und alles ist toll. Ich habe das immer für den größten Schwachsinn der Welt gehalten. Aber ich muss zugeben, dass es doch irgendwo seine Richtigkeit hat. Ein bisschen rosa ist für mich ja sowieso alles ein bisschen(jaja, ich weiß, ich bin schwul und stehe jetzt auch endlich dazu!), aber ich bin auf einem richtigen Friedenstrip. Ich könnte momentan die ganze Welt umarmen und lächle fast immer. Mein Kiefer tut schon ein bisschen weh. Außerdem habe ich mir gerade mein ›Ach Gottchen‹ abgewöhnt und es durch ein langgezogenes, verträumet ›Haaach‹ ersetzt. Ich bin mir nicht sicher, was davon jetzt besser ist. Es ging mir jedoch nicht den ganzen Tag so wattig-wolkig-wundervoll. Der Vormittag war die reinste Hölle. Wir mussten heute Fahrräder, besser gesagt Mountain-Bikes, weil es hier so verdammt hügelig ist, besorgen und sind dann nach diesem anstrengenden Überlebens-Spaziergang auch wirklich noch damit gefahren! Dabei hatten wir irgend so einen neunmalklugen Anführer, der es total lustig fand, wenn man sich schwitzend und keuchend einen Berg hochgestrampelt hat, einem ganz oben die Kraft aber doch vergeht und man dann wieder herunterrollt. Nicht, dass mir das oft passiert wäre! Ähm, damit meine ich das Auslachen des Anführers. Der fand mich nicht lustig. Konnte er auch gar nicht, denn er war ein paar Kilometer weiter vorne als ich. Aber das will ich jetzt nicht weiter vertiefen. Ich fuhr die holprigen Feldwege entlang und bei jedem Berg, der zu steil nach unten ging, schrie ich wie am Spieß. Das bekam zum Glück keiner mit, weil der Rest der Klassen schon lange aus meiner Sichtweite war. Aber mich störte das nicht besonders, ich hatte mein eigenes Tempo und das war gut so! Und spätenstens, wenn sie mich verhungert im Wald auffanden, würden sie es bereuen, dass sie einfach ohne mich vorgefahren waren, jawohl! Hoffte ich zumindest. Nach zehn Minuten und einigen steilen Hügeln hatte meine Motivation nicht nur den Nullpunkt erreicht, sie war weit unter den Meeresspiegel gerutscht und jämmerlich ertrunken. Also hatte ich einfach ganz rebellisch mein Fahrrad genommen und es tief in den Wald geschleudert und mich einfach hingesetzt und ausgeruht. Später rief ich mir ein Taxi und fuhr zur Herberge zurück, wo alle mich um Vergebung baten, dass sie mich einfach zurück gelassen hatten. Okay, ich geb's zu. Ich war gegen einen Baum gefahren und das hatte das Fahrrad nicht so gut verkraftet. Also saß ich auf einem Stein, neben mir ein weiteres demoliertes Fahrrad, dass ich in meine Sammlung der von mir demolierten Fahrräder aufnehmen konnte, und wartete. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich bis drei Uhr morgens gewartet, dass ein Lehrer mich abholt, ich hätte mich nicht selbstständig vom Fleck bewegt. Doch auf einmal sah ich in der Ferne noch jemanden, der auf einem Fahrrad saß. Ich wunderte mich noch, dass es jemanden gab, der tatsächlich langsamer als ich fahren konnte, ohne einfach umzufallen oder wegen dem Gegenwind rückwärts zu rollen. Der Fahrradfahrer kam immer näher und ich war schon gespannt, wer es wohl sein könnte. Ich hoffte darauf, dass es nicht Nico oder Sören waren. Oder irgendein fremder, sechzigjähriger Tourist, der mir seine Briefmarkensammlung zeigen will oder so etwas in der Art. In der Ferne erkannte ich schwarze Haare und einen Jungen in etwa meinem Alter. Aksel. Mein Herz machte einen Satz. Verflucht, dass ist er!, dachte ich panisch. Ich überlegte hastig, ob ich das zerstörte Fahrrad vielleicht schnell verstecken sollte. Doch dann wiederrum dachte ich mir, dass es ziemlich bescheuert wirken würde, wenn ich jetzt mein Fahrrad wegschmiss. Aksel blickte kurz auf. Er machte kein Zeichen, dass er mich erkannt hatte, aber innerlich wusste ich, er hatte mich gesehen. Je näher er kam, desto lauter hörte ich mein Herz pochen. Meine Knie wurden weich. Mein Gesicht wurde heiß. Schließlich war er direkt vor mir – und fuhr an mir vorbei. Völlig verwirrt sah ich ihm hinterher. Das war ja wohl nicht sein ernst! Nach ein paar Metern hielt er jedoch an und ließ sein Fahrrad achtlos auf den Boden fallen. Ich fragte mich, was ist denn jetzt los? Aksel ging auf mich zu und lachte. »Du solltest mal dein Gesicht sehen!« Ich spürte förmlich wie ich rot wurde. Aksel lachte mich weiter aus und ich sah einfach weg und schmollte. Nach einiger Zeit hatte er sich jedoch wieder beruhigt und lächelte nur noch belustigt. »Komm, ich hab's nicht so gemeint«, sagte Aksel und wuschelte mir durch die Haare. Liebe ist schon seltsam. Normalerweise würde ich jeden töten, der es wagt, sich an meiner Frisur zu vergreifen, aber als Aksel es tat, nahm ich es einfach hin. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, es schlecht zu finden, wenn er mich berührte. Auch wenn meine Haare darunter leiden mussten. »Du, Aksel...« »Was?«, fragte er in seinem normalen, genervten Ton. Ja, was eigentlich? Eigentlich wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte. Der Gedanke, normal mit Aksel reden zu können, erschien mir so fern, so unmöglich. Schon eine simple Bewegung war in Aksels Gegenwart so schwierig, weil ich am ganzen Körper zitterte und mein Verstand sich ausschaltete. Wie sollte ich da ein vernünftiges Wort rausbringen? Oder gar in der Lage sein, ihm meine Gefühle zu offenbaren? Und mit diesem Gedanken stieg meine Panik. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Sollte ich ihm sagen, was ich für ihn empfand? Das würde ich doch niemals fertig bringen! Außerdem wusste ich nicht, wie man so etwas macht. Ich war noch komplett unerfahren. Aksel hatte das alles sicher schon mehrmals erlebt. Und selbst wenn ich ihm meine Gefühle gestand – was brachte mir das? Er wollte sicher nichts von einem Kerl, besonders von mir. »Erde an Schwuchtel, bist du noch da?«, fragte Aksel genervt. Ich zuckte leicht zusammen, als er mich aus meinen Gedanken riss. »Äh, j-ja, ich bin-« Auf einmal hörte ich etwas seltsames aus dem Wald. Es klang wie ein Grunzen, wie Schweine das machen. Kurz wunderte ich mich, was Schweine in einem Wald machten. Da fiel mir wieder ein, dass es ja solche ungezähmten Schweine gab, die in freier Wildbahn lebten. Lacht nicht, ich bin in einer Stadt aufgewachsen! Und ja, ich weiß, dass Kühe nicht lila sind. Aber trotzdem hatte ich noch nie im Leben ein Wildschwein gesehen. Panik stieg in mir auf. Ich hatte mal gehört, dass diese Viecher richtig aggressiv und gefährlich werden können. Es kam noch ein Grunzen aus dem Wald, dass gefährlich nah klang. Dazu noch leises Rascheln. Und plötzlich sah ich einen Schatten hinter ein paar Bäumen vorbeihuschen. Ich schrie los und sprang das Nächstbeste an und krallte mich fest. Das ›Nächstbeste‹ war in diesem Moment Aksel und demenstprechend auch sein Rücken, an dem ich mich festhielt. Ganz deutlich hörte ich mein Herz schlagen und hatte das Gefühl, es würde jeden Moment aus meiner Brust herausspringen. Meine Hände zitterten, jedoch konnte ich meinen Griff in Aksels T-Shirt nicht lockern. Ich hielt mich so sehr fest, dass meine Fingerknöchel schon ganz weiß wurden. »Man, Schwuchtel! Bist du noch ganz dicht?!«, keifte Aksel mich an und ich zuckte wieder zusammen. Das Gefühl der Angst machte Platz für die Trauer, und so beruhigte ich mich langsam. »Ähm... tut mir Leid...«, murmelte ich. Langsam lockerte ich meinen Griff und fühlte mich in meiner Vermutung, dass er nichts von mir wissen wollte, bestätigt. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, zu erwarten, dass er meine Gefühle erwidern könnte? Ich entfernte mich von Aksel, sehr langsam. Seine Nähe war unbeschreiblich für mich und der Gedanke, dass er bei meiner Anwesenheit nicht so empfand wie ich, machte mich traurig, fast wahnsinnig. Doch auf einmal spürte ich seine Hände auf meinem Rücken, die mich mit sanfter Gewalt zurück an seinen Oberkörper drückten. »Äh, A-Aksel...?« Meine Stimme war schwach, kaum hörbar. Er antwortete mir nicht, sondern hielt mich einfach nur fest. Irgendetwas war anders als gestern in der Stadt. Aksel schien so unsicher, ich glaubte sogar, ein leichtes Zittern seiner Hände zu spüren. Doch so schnell der Moment angefangen hatte, so schnell war er auch wieder vorbei. Aksel löste sich von mir und ging ohne ein weiteres Wort. Ich wusste gar nicht, was los war. Doch ich wollte es wissen, unbedingt. »Aksel!«, rief ich und ging ihm die paar Schritte, die er gegangen war, hinterher, bis ich wieder vor ihm stand. »Wa.. was willst du eigentlich?« brachte ich unter Anstrengung heraus. Wow, ein ganzer Satz. Welch ein Fortschritt. Aksel sah mich emotionslos an. Ich hielt seinem Blick stand, weil ich wusste, dass da mehr war als Gleichgültigkeit. Dieser desinteressierte Ausdruck war nicht echt. Es steckte viel mehr dahinter. Ich wollte herausfinden, was da in Aksels Herzen war. Ob es vielleicht sogar Gefühle, in welcher Weise auch immer, für mich waren. Ich konnte einfach nicht mehr glauben, dass ich ihm völlig egal war. Selbst, wenn er mich hassen sollte, ich hatte zumindest Gewissheit. Doch diese Maske störte mich, sein cooles Getue machte mich wahnsinnig. Ganz langsam stellte Aksel sich vor mich und schaute mir tief in die Augen, mit seinem intensiven Blick. Schließlich beugte er sich vor, wie in Zeitlupe. Er musste leicht in die Knie gehen, bis wir auf Augenhöhe waren. Sein Gesicht war meinem nur ein paar Zentimeter entfernt. Ich fragte mich, was er vor hatte. Vielleicht würde er sich einfach wieder entfernen, vielleicht auch nicht. Doch ich wollte es wissen. Auch, wenn seine Nähe mich beinahe um den Verstand brachte. Schließlich kam Aksel noch näher, doch er beugte sich an meinem Gesicht vorbei und flüsterte mir etwas ins Ohr. »Jeg er forelsket i dig, homse.« Hä?, dachte ich mir nur. Ich dachte, er würde etwas sagen, dass unsere Beziehung klar machen und mein Leben verändern würde! Was sollte dieses komische Geschwafel?! Völlig verwirrt ließ Aksel mich zurück. »Ich fahre schon mal vor, Schwuchtel. Du bist eh zu langsam!«, rief er mir zu, ging zu seinem Fahrrad und fuhr einfach davon. Ich fühlte mich irgendwie erschlagen und blieb einfach stehen, sagte nichts. Meine Kinnlade stand wahrscheinlich auch noch offen. Das konnte doch nicht wahr sein! Da veranstaltete Aksel einfach so eine Show, machte mich ganz verrückt und nuschelt dann einfach irgendeinen Mist! Groar! Der Kerl bringt mich um den Verstand! Ich wurde etwa zwei Stunden später von einer Lehrerin abgeholt. Jetzt bin ich immer noch nicht schlauer, was mich und Aksel angeht. Was wollte der mir eigentlich mit seinem komischen Satz da sagen? Hatte er sich diese ganzen Laute mal schnell ausgedacht, um mich zu verwirren, oder was? Hm, irgendwie passt das irgendwo ja auch wieder zu ihm. Der lacht sich wahrscheinlich ins Fäustchen, weil ich auch noch so sehr darüber grübele! Ich werde das jetzt tief in meinem Gehirn einsperren, abschließen, den Schlüssel wegwerfen und nie, nie wieder darüber nachdenken! Moment, vielleicht weiß Sören ja, was das bedeuten könnte. Wegschließen tu' ich den Gedanken später! »Du, Sören, hat der Satz ›Jai er forälskä i dä omse‹ irgendeine Bedeutung?« Ich hatte das Gefühl, meine Zunge würde bei dem Satz jeden Moment abfallen. »Hm,« überlegt er, »das könnte sehr schlecht ausgesprochenes Norwegisch sein.« Na klar, Aksel ist doch Norweger! Argh, wieso bin ich da nicht gleich drauf gekommen?! »Und, ähm, was bedeutet das?«, fragte ich zögerlich. Hatte er vielleicht mich und meine Mutter beleidigt oder so etwas? »Öhm, irgendwas von ›Ich bin verliebt in dich‹, glaube ich. Das letzte Wort kenne ich nicht.« Was...? WAS?!?! »Oh, äh, oh, äh, oh, äh, danke.« Sören schmunzelte kurz. »Hat Aksel das zu dir gesagt oder so? Der ist doch Norweger.« »Ahahaha, neeeeiiin! So etwas würde er nie sagen, nie im Leben!« Ich fuchtelte nervös mit meiner Hand herum. »Aber ihr seid doch zusammen, oder nicht?« »Nein, nein, wir hassen uns!« Das Schütteln meiner Hand wurde mit meiner wachsenden Panik immer schneller. »Ja?« »Jaaa, bis aufs Blut! Wie die Pest!« Ich hatte das Gefühl, meine Hand würde jeden Moment abfallen und durch den Raum fliegen. Sören sah mich an, als wäre ich geisteskrank. Schließlich zuckte er jedoch mit den Schultern, nuschelte ein ›wie du meinst...‹ und ließ mich allein in unserem Zimmer. Eine halbe Stunde lang saß ich regungslos dar und fragte mich, was das alles bedeuten soll. Darf...darf ich mir etwa Hoffnungen machen? Oder ist das alles nur ein schlechter Scherz? Bei Aksel kann man sich nicht sicher sein. In dem einen Moment glaubt man, endlich seinen weichen Kern durchgedrungen zu sein, und eine Sekunde später wirft er dich doch weg, als wärst du Abfall. Und sowieso, dass Aksel so etwas sagte, war total untypisch für ihn. Das so ein Satz in seinem Vokabular war, erschien mir so seltsam. Und was hieß überhaupt dieses letzte Wort, ›omse‹, oder wie auch immer das war? Kurz hole ich mein Handy heraus und suche im Internet nach einem norwegisch-deutschem Wörterbuch. Er hatte wirklich gesagt, ›Ich bin verliebt in dich‹. Wortwörtlich! Aber das letzte Wort finde ich noch nicht... Nach etwas Recherche finde ich schließlich heraus, dass das Wort ›homse‹ geschrieben wird. Und es bedeutet... Schwuchtel. Okay, dieser Satz klingt doch nach Aksel. Aber muss das gleich etwas heißen? Vielleicht verarscht er mich auch nur. Ach, ich bin so verwirrt. Was soll das alles nur bedeuten? Er ist auf einmal so seltsam zu mir. Als er mich noch eindeutig gehasst hat und ich nur Angst vor ihm hatte, war alles so einfach. Jetzt ist es so schrecklich kompliziert und jedes Wort von Aksel bringt mich in ein Gefühlschaos. Empfindet er genau so für mich, wie ich für ihn? Oder ist alles nur ein Scherz? Ich werde ihn wohl oder übel fragen müssen, wenn ich eine Antwort will. Obwohl... Nein, nein, das ist eine ganz schlechte Idee. Ganz furchtbar schlecht! Erstmal würde ich es gar nicht hinbekommen, ihn einfach zu fragen, was er für mich empfindet. Und selbst wenn – was, wenn es am Ende doch nur ein Scherz war? Das würde ich nicht überleben. Es wäre zu peinlich und zu schmerzhaft. Argh, Liebe, wieso bist du nur so kompliziert? Später Ich habe mir gerade dein Tagebucheintrag von heute nochmal durchgelesen und festgestellt, dass ich am Anfang total verliebt und fröhlich war und dann am Ende vom Eintrag panisch und verzweifelt. Was ist nur aus der rosaroten Wolke geworden? Habe jetzt gelernt, dass Liebe auch für Stimmungsschwankungen sorgt. Und dass ich nicht mehr so viel über meine Erlebnisse nachdenken sollte. Diese intensive Analyse scheint mich irgendwie deprimiert zu haben. Wie auch immer, ich gehe jetzt schlafen. Hoffentlich ist es in einem Zimmer mit Sören nach wie vor halbwegs sicher. Kapitel 24: 12. Juli -------------------- Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist etwas passiert. Etwas, dass sich auf mein ganzes Leben aufwirken wird. Etwas, dass ich immer noch nicht ganz begreifen kann. Meine Hand zittert, während ich hier schreibe, ich weiß gar nicht so wirklich, was los ist. Da sind gerade so viele Gedanken und Fragen in meinem Kopf. Dabei hatte alles eigentlich ganz normal angefangen... »Soll ich es ihm sagen?« Ich bekam als Antwort einen verwirrten Blick von Sören. »Wem was sagen?« »Ich meine... es steht so viel auf dem Spiel!« Sören starrte mich verwirrt an, während ich weiter plapperte, schien nach einiger Zeit jedoch zu akzeptieren, dass ich einfach nur laut mit mir selbst sprach. Ihn schien nichts mehr zu überraschen. Während Sören kopfschüttelnd den Raum verließ, grübelte ich weiter. Das mit Aksel hatte mich auch die ganze Nacht hindurch beschäftigt. Als meine Überlegungen mich auch nach weiteren zwei Stunden nicht zu einem Ergebnis bringen konnten, ging ich zum Mittagessen. Das ständige im Kreis laufen und nachdenken hatte mich hungrig gemacht. Ich hätte sogar diesen noch nicht ganz toten Breihaufen gegessen! Skeptisch beäugte ich die Ansammlung von...äh...Lebensmitteln auf meinem Teller. Da war ein Schnitzel, etwas Gemüse und Reis. Zumindest auf den ersten Blick. Nach näherem Betrachten schien es doch etwas Erbrochenem ähnlicher zu sein. Da will ich aber nicht näher drauf eingehen. Ich piekste mit der Gabel in jeden Haufen, der auf meinem Teller lag. Gut, schien tot zu sein. Mir gingen trotzdem einige Fragen durch den Kopf. War das Schnitzel oder der Teller härter? War das Gemüse aus Plastik? War der Reis überhaupt aufgetaut worden? Würden meine Zähne so etwas überleben? Ich seufzte und schob den Teller weg von mir. Sören, der mir gegenüber saß, hatte mit dem Essen natürlich keine Probleme. Aber der war ja auch mit Metall ausgestattet. Ich suchte die Cafeteria noch nach etwas Essbarem ab, um nicht verhungern zu müssen. Alles was ich erspähen konnte, war ein Apfel, den ich sofort mitnahm. Super, mein Überleben war schon mal gesichert. Kurz überlegte ich. Wollte ich an einem Ort wie diesem überhaupt mein Überleben sichern? Ich beschloss nach einigem hin und her, doch noch etwas auf den Zeitpunkt meines Ablebens zu warten, anstatt ihn zu provozieren. Also aß ich den Apfel und freute mich, etwas halbwegs normales zu mir nehmen zu können. Auf einmal hörte ich jemanden zwei Mal klatschen. Ich drehte mich um und sah Frau Lehning, die um die Aufmerksamkeit der Schüler bat. »Es kommen bitte alle in ihren Zimmergruppen zu mir und nehmen sich einen Zettel! Wir haben heute Abend etwas vor!« Oh nein. Wenn Lehrer eine Idee hatten, war es immer etwas, wobei wir Schüler uns in irgendeiner Form lächerlich machten und sie sich köstlich amüsierten. Ich und Sören gingen zu Frau Lehning, die irgendwelche blauen Schnipsel an die Gruppen verteilte. Einige lachten, als sie die Zettel öffneten. Mein schlechtes Gefühl verstärkte sich. »So, Tobias, ich gebe dir einfach mal irgendeinen Zettel, bevor du dich stundenlang entscheiden musst, okay?« Ich nickte. Verdammt, Lehrer kennen einen eben doch immer besser, als man denkt. Frau Lehning drückte mir wahllos einen kleinen, zusammengefalteten Schnipsel in die Hand. Ich öffnete ihn zaghaft und Sören schaute mir neugierig über die Schulter. ›Rapunzel, Ghetto-Sprache‹ stand auf dem Zettel. Ein paar Mal las ich mir die geschriebenen Worte durch, doch sie ergaben auch nach mehrfachem Anschauen keinen Sinn. Frau Lehning erklärte aber schließlich, was sie schreckliches mit uns vor hatte. »Also, ihr werdet das Märchen, dass auf eurem Zettel steht, heute Abend vorführen! Und wie ihr das machen sollt, steht darunter. Viel Erfolg, wir treffen uns um achtzehn im Aufenthaltsraum!« Mit diesen Worten ging sie und ließ eine Gruppe verwirrter Jugendlicher zurück. Ich und Sören gingen auf unser Zimmer, um Rapunzel in Ghetto-Sprache zu üben. In meinem Kopf malte ich mir schon aus, wie sehr man uns beide auslachen würde. Ich und Ghetto-Sprache. Der Gedanke allein war schon verstörend. Was würde Aksel erst dazu sagen? Würde er mich auslachen? Kurz überlegte ich. Eine bessere Frage war wohl: Wer würde nicht lachen? Sören kannte das Märchen fast auswendig und so besprachen wir, wer welche Rollen spielen musste, da wir nur zu zweit waren. Zuerst gab es die Eltern und die Hexe. Die Hexe und die Mutter übernahm Sören, ich musste den Vater spielen, der die Rapunzeln der Hexe aus dem Garten stiehlt. Dann gab es noch Rapunzel und den Prinzen. Um das hinzukriegen, mussten wir ständig Rollen tauschen. Wir lösten das Problem einfach so, dass die Hexe ein Kopftuch trug und gekrümmt ging, Rapunzel hatte ein gelbliches Handtuch auf dem Kopf, an dem weitere Handtücher befestigt waren, damit es wie ein langer Zopf aussah. Die Zeit verging ziemlich schnell und so gingen wir zum Aufenthaltsraum. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, bei dem Gedanken, vor zwei Klassen so eine peinliche Show abzuziehen. Aber vielleicht hatte es andere Gruppen ja noch schlimmer erwischt? Und was musste Aksel wohl vorführen? Vielleicht war er ja eine Prinzessin oder so. Das würde dann die Blamage meinerseits wieder wettmachen. Der Aufenthaltsraum des Naturfreundehauses war ziemlich klein, also saßen alle Leute sehr gequetscht um einen freien Bereich in der Ecke herum, der wohl als Bühne dienen sollte. Ich ließ meinen Blick über die große Menge schweifen und schluckte bei dem Gedanken, vor all diesen Leuten so eine Show vorführen zu müssen. Sören und ich quetschten uns zwischen ein paar Mädchen aus seiner Klasse. Es war eine von diesen typischen kichernden Mädchencliquen, die alle irgendwie gleich aussahen und alle paar Minuten anfingen, von irgendeinem Star zu schwärmen. Ich versuchte, das begeisterte Gequietsche über Brad Pitt und Co zu ignorieren und hoffte, dass bald ein Lehrer kommen würde. Seltsamerweise wurde mein Wunsch erhört und die Tür öffnete sich. Herr Wener und die beiden anderen Lehrerinnen kamen herein. Es war noch ein männlicher Lehrer mit langen, schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, dabei. »Guten Abend, Schüler! Wir hoffen, ihr alle seid gut vorbereitet, denn wir ziehen jetzt direkt die erste Gruppe, die gleich vorführen darf!«, erklärte Herr Wener. Ich glaubte, etwas bösartige Vorfreude in seiner Stimme zu hören. Lehrer hatten die Angewohnheit, immer das Wort ›darf‹ zu benutzen, wenn sie uns zu etwas zwangen, damit es nicht ganz so schlimm für Andere klang. Wir Schüler durchschauten dieses natürlich, und so herrschte im Raum bald eine Totenstille. Keiner wollte ein peinliches Märchen vor einigen wildfremden Leuten vorführen, ganz besonders ich nicht. Na gut, ich hatte vielleicht nicht gerade einen guten Ruf zu verlieren, aber Selbstbewusstsein habe ich eben auch nicht. Wie auch immer, Frau Lehning holte einen Beutel, in dem wohl die verschiedenen Märchen waren. Herr Wener griff hinein und ich betete, dass er mir nicht immer nur Pech bringen würde. Nachdem ein Zettel gezogen wurde, las Herr Wener sich diesen zuerst still durch und grinste dann. Mein Herz zog sich zusammen, mir wurde schlecht. Er musste mich gezogen haben und sich nun darüber freuen, dass ich mich blamieren würde, als Rache für seine von mir ermordeten Spinnen! »Schneewittchen!«, rief er durch den Raum. Ich atmete erleichtert aus. Falscher Alarm. Einige Mädchen standen auf und gingen zu der Bühne, sie sahen überraschender Weise nicht gerade fröhlich aus. Sie spielten das Märchen eigentlich genau so, wie es auch normalerweise war. Nur, dass sie nicht ›a‹ sagten, sondern stattdessen ›ä‹. Das klang dann ungefähr so: »Spieglein, Spieglein än der Wänd, wer ist die Schönste im gänzen Länd?« Es kamen noch einige seltsame Vorführungen, unter anderem ein Musical oder eine Emo-Aufführung, wo der Froschkönig die ganze Zeit herumjammerte, wie erbärmlich sein Leben doch wäre. Herr Wener zog den nächsten Zettel. »Wer hat Rapunzel?«, fragte er laut. Meine inneren Organe schrumpften auf minimale Größe. Mir wurde schlecht. Doch trotzdem trottete ich Sören hinterher und versuchte, den Chor, der immer wieder »Go, Schwuchtel!« sang, zu ignorieren. Schließlich standen ich und Sören in der freien Ecke und etwa vierzig Leute starrten uns an. In Gedanken redete ich mir verzweifelt ein, dass alles gut werden würde. Dass diese Blamage auch nichts mehr schlimmer machen konnte. Ich meine, was sollte schon passieren? Das schlimmste, was passieren konnte, war doch nur, dass ich Aksels Zuneigung und Respekt durch einen endlos peinlichen Auftritt komplett verlor, oder? Oh, scheiße. Daran hätte ich jetzt nicht denken sollen. Auf einmal erspähte ich ihn unter den vielen Zuschauern. Aksel. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Doch Aksel zwinkerte mir zu und zeigte einen Daumen nach oben. Es wird schon alles werden, wollte er mir wahrscheinlich sagen. Mit neuem Mut lächelte ich ihm zu und atmete tief durch. Dann entfernte ich mich ein bisschen und Sören stellte sich an ein imaginäres Fenster und starrte gebannt in die Ferne. Ich steckte meine Hände so lässig wie möglich in die Taschen und watschelte auf ihn, meine Frau, zu. Dieses Verhalten hatte ich bei Nico studiert. »Ey, was glotzte denn da an?«, fragte ich und versuchte, meine Stimme möglichst tief zu bekommen. Ich spürte förmlich, wie der ganze Raum kurz die Luft anhielt. Dann ertönte in einigen Ecken, hauptsächlich in der von Nico und seiner Clique, Gelächter. Meine Nervosität stieg an, doch ich dachte wieder an Aksel, der wohl an mich glaubte, und beruhigte mich wieder. »Diese Rapunzeln da,«, sagte Sören in höchst professionellem Ghetto-Akzent, »die sind richtig krass, ey, die will ich haben.« Ich war beeindruckt von Sörens Talent. »Dann geh' die klauen, juckt doch keinen.« Sören druckste etwas herum und antwortete schließlich: »Da wohnt doch diese olle Hexen-Bitch, die is' voll gruselig. Außerdem bin ich schwanger, ich muss hier chillen, weißte?« Ich seufzte genervt. »Boah, ey, muss ich echt?« »Sonst kauf ich dir kein Bier mehr!«, drohte Sören mir. Sofort machte ich mich auf den Weg und klaute ein paar Rapunzeln, die von einigen Buntstiften dargestellt wurden, und gab sie meiner Frau. Sören, mein Eheweib, aß diese sofort (er tat natürlich nur so, auch wenn er mit seinem Metall bestimmt Holz essen könnte). Doch er wollte danach noch mehr. »Ey, Schatz, ich will noch mehr Rapunzeln.« Ich erwiderte genervt: »Du hast doch schon welche, alter!« »Bist du blöd?«, keifte Sören mich an, »die sind schon voll lange leer.« Nach etwas Diskussion ging ich neue Rapunzeln holen. Wieder wollte Sören neue haben, doch beim dritten Mal wurde ich von der Hexe erwischt, als die Sören sich schnell verkleidet hatte. »Was suchst du Penner in meinem Garten?«, fragte die Hexe angsteinflößend. Ich erklärte mit vielen ›boahs‹ und ›eys‹, dass meine Frau die Rapunzeln unbedingt haben wollte und ich diese deswegen stehlen musste. Sören erwiderte, dass ich weitere Rapunzeln haben könnte, wenn ich ihr das neugeborene Kind aushändigen würde. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. »Joa, kannste haben, denk ich mal«, nuschelte ich, »solange die alte Ruhe gibt is' mir das eh latte.« Während das Gelächter im Publikum anscheinend gar nicht mehr aufhören wollte, spielten ich und Sören tapfer weiter. Wir waren schließlich an der Szene angelangt, wo der Prinz das erste Mal in den Turm von Rapunzel klettert. »Ey, Rapunzel, schmeiß mal deine Frise runter!«, rief Sören romantisch hinauf. Ich konnte diese netten Bitte natürlich nicht ablehnen und so warf ich die zusammengebundenen Handtücher von dem Tisch, auf dem ich stand, herunter und Sören kletterte hinauf. Bevor die Hexe zurück kam, floh er schnell. So ging es eine Weile weiter, doch irgendwann erfuhr die Hexe, dass ich sie betrogen hatte und sie riss meine Handtücher vom Kopf und verbannte mich in die Wüste. Ich und Sören tauschten schnell die Rollen. Er ging weiter gekrümmt, setzte sich jedoch die Handtücher auf, da die Hexe sich als Rapunzel ausgab. Nun spielte ich den Prinzen und kletterte den Tisch hinauf. Doch die Hexe Sören stieß mich hinunter und ich landete in imaginären Dornen. Dieses veranschaulichte ich, indem ich rief »Autsch, die Dornen!« Kreativ, ich weiß. Nachdem ich eine Weile herumirrte, fand ich schließlich die echte Rapunzel und mit den Worten »Krasses Happy End, Alter!« war das Stück auch endlich zu Ende. Zu meiner Überraschung bekamen wir lauten Applaus und als wir uns durch die Schüler drängten, rief mir einer aus meiner Klasse zu: »Geile Leistung, Schwuchtel!« Sogar jemand aus Nicos Clique, der aussah, wie ein Skater, sagte zu mir: »Du bist echt in Ordnung, Tom!« Das mag zwar nicht ganz mein richtiger Name gewesen sein, aber hey, der Anfangsbuchstabe war richtig! Ich war total überrascht, aber auch sehr gerührt, dass ich durch diese Blamage wohl doch irgendwie etwas Respekt entgegen gebracht bekam. Das Leben kann so selbstironisch sein. Ich und Sören setzten uns wieder. Herr Wener zog die letzten paar Gruppen, bei denen nichts wirklich interessantes dabei war. Doch dann wurde Dornröschen ausgelost und ich sah, wie einige Jungs aus meiner Klasse aufstanden, unter ihnen Aksel. Welche brutale Aufgabe hatten sie wohl bekommen? Vielleicht musste Aksel ja singen. Das wäre auch eine interessante Erfahrung. Die Gruppe ging nach vorne und stellte sich auf. Aksel blieb jedoch im Hintergrund, seine Rolle kam wohl später. Zwei Jungs saßen auf zwei Stühlen ganz vorn, wohl das Königspaar, und der Rest spielte ein paar Feen. Dem neugeborenen Dornröschen wurde viel Glück im Leben gewünscht, dass Übliche halt. Doch dabei tanzten alle so seltsam herum. Ich verstand überhaupt nicht mehr, was da vorne los war, als die böse Hexe kam und das Kind verfluchte, doch die eine Fee den Fluch in einen hundert Jahre dauernden Schlaf umwandelte. Es war ein unerbittlicher Kampf zwischen allen Anwesenden, nur dass sie alle herumhopsten. Stück für Stück begann ich zu verarbeiten, was ich dort sah, und bemitleidete die Jungs für diese sadistische Aufgabe, die sie da von den Lehrern bekommen hatten. Es passierte nichts weiter interessantes (von den verstörenden Bewegungen abgesehen) und man war bereits bei der Szene, wo Dornen um die Burg von Dornröschen gewachsen waren und die Prinzen auftauchten, um sie zu retten. Die Dornen wurden von einigen aus der Gruppe dargestellt, die einfach mit ausgestrecktem Zeigefinger bösartig aussehende Balletbewegungen machten. Gefährlich, gefährlich. Dann kam endlich Aksels Rolle. Er war der Prinz, natürlich. Vor den Dornen stehend, begann er erstmal einen Monolog, wie es eben für ihn typisch war. »Wie soll ich diese Dornen nur überwinden? Jeder, der sie durchqueren wollte, hat bis jetzt sein Leben gelassen! Mein Schwert ist nicht fähig, sie zu zerschneiden. Was tun?« Aksel hatte die Rolle des verzweifelten Prinzen wirklich drauf. Er hatte seine Hand an sein Herz positioniert, als würde er schreckliche Seelenqualen erleiden, und redete, als wäre er einer Seifenoper entsprungen. »Ich weiß!«, rief Aksel hoffnungsvoll und ging leicht in die Knie. »Ich werde sie mit meiner Tanzkunst zum Verwelken bringen!«, rief er in der schwulsten Tonlage, die ich je in meinem Leben gehört hatte, und hüpfte nach vorne, wo er beide Beine wie in einem Spagat hochstreckte. Danach drehte er einige Pirouetten und bewegte sich elegant durch die Jungs hindurch, die gerade mit seltsamen Bewegungen zu Boden gingen. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Das ganze war so unbeschreiblich lächerlich, doch es war...lustig. Komisch, wann habe ich je etwas lustig gefunden? Jedenfalls lachte ich, wie ich noch nie gelacht hatte, und ich spürte die Blicke meiner überraschten Klassenkameraden. Sie schienen langsam aber sicher zu begreifen, dass ich doch normal war. Naja, halbwegs zumindest. Sagen wir, sie akzeptierten mich als menschliches Wesen. Nach etwas romantischem Gerede war auch das Dornröschen-Stück vorbei. Ich versuchte, diesen Moment ganz detailgenau in mein Gedächtnis zu brennen, weil ich mir sicher war, dass ich diesen Anblick von Aksel bestimmt nie wieder erleben würde. Er kehrte von der Bühne zurück und sah zu mir. Ich zwinkerte und zeigte einen Daumen nach oben, so wie er vorher. Er sah weg und ich konnte ein Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Ganz ehrlich, in diesem Moment hätte ich eigentlich nicht glücklicher sein können. »Tobias?«, fragte auf einmal leise eine Frauenstimme neben mir. Es war Frau Lehning. Sie sah mich mit einem mitleidigen Blick an, wie Lehrer es tun, wenn sie merken, dass man gerade gemobbt wird oder so. Ich kannte diesen Blick gut und wusste, wann Lehrer ihn anwandten, und jetzt war eigentlich nicht so ein Moment. Es ging mir doch wunderbar, was wollte sie? Ein unruhiges Gefühl machte sich in mir breit, da war so eine Ahnung, dass etwas passiert war. Ich konnte nur bei bestem Willen nicht sagen, was. »Kannst du... kurz mitkommen?«, fragte Frau Lehning, immer noch mit dem Mitleids-Blick. Ich stimmte ihr zögerlich zu. Als ich mit ihr mitging, konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, dass Aksels Blick mir folgte. Wir standen schließlich im Treppenhaus und Frau Lehning setzte sich. Sie deutete mit einem Kopfnicken neben sich und zwang sich, zu lächeln. Wenn sie wollen, dass du dich setzt, dann haben sie entweder schlechte Nachrichten oder erwarten ein langes Gespräch. Im schlimmsten Fall beides. Ich setzte mich neben sie. Für eine Weile herrschte Schweigen. Sollte ich etwas sagen, oder warten, bis sie sprach? Bevor ich mich entscheiden konnte, fing Frau Lehning mit zitternder Stimme an, mir den Grund des Gespräches zu erklären. So aufgewühlt hatte ich einen Lehrer noch nie erlebt. »Tobias, i-ich...« Ihre Stimme versagte. Sie atmete einmal durch und fing nochmal an: »Ich... habe einen Anruf bekommen.« Ich blinzelte verwirrt. War ein Anruf jetzt so weltbewegend? »D-deine... deine Mutter...«, erklärte Frau Lehing unsicher, »sie... sie hatte e-einen Un...fall...« Meine Augen weiteten sich. Mein Herz schlug schneller. Tausend Fragen auf einmal schossen mir in den Kopf. Ich begann zu zittern, ohne, dass ich es wirklich merkte. Mein Körper reagierte, doch mein Geist schien das ganze noch nicht wirklich zu verstehen. War sie etwa... ? »W-wo ist sie jetzt...?«, fragte ich in der Hoffnung, meine Vermutung stimme doch nicht. Frau Lehning brachte keinen Satz zustande. Ohne mich anzusehen, hob sie ihre Hand, die stark zitterte. Und dann zeigte sie nach oben. Ich verstand ihre Geste, doch irgendwie verstand ich auch nichts. Das konnte doch nicht wahr sein. In meinem Kopf spielten sich einige Erinnerungen ab. Wie meine Mutter stolz mit einem Mädchen im Wohnzimmer stand, mit dem ich gezwungener Weise dann auf ein Date ging. Wie sie mir sagt, dass ich nur eine Plage sei, doch trotzdem alles daran setzt, dass ich eine Freundin bekomme. Wie sie stolz mit ihrem Freund nach Hause kommt. Wie sie mir fröhlich erzählt, dass sie heiraten wollen. Wie mich ihr Glück gar nicht interessiert. Und all das soll jetzt der Vergangenheit angehören? Meine Mutter soll der Vergangenheit angehören? Einfach weg sein und nie wieder kommen? Natürlich war sie nicht gerade nett zu mir, aber war ich es denn? Ich hatte ihr nie geholfen, mich nie für sie gefreut, wenn sie eine neue Beziehung hatte. Nie hatte ich ihr zu verstehen gegeben, dass ich sie unterstützen würde, hatte ihr nie gesagt, dass sie mir wichtig ist. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe meine Chance verpasst. Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Frau Lehning zwang sich, mir zuzulächeln. Sie drückte mir ihr Beileid aus und sagte, sie ließe mich nun allein. Frau Lehning ging und ich blieb zurück. Als nichts, als eine leere Hülle. Warum erkannte ich jetzt erst, dass ich so vieles falsch gemacht hatte, jetzt, wo es zu spät war? Es schwirrten Bilder von ihr in meinem Kopf. Ich malte mir ohne, dass ich es wollte, aus, wie sie gestorben war. Hatte sie Schmerzen gehabt? Hat sie in dem Moment vielleicht an mich gedacht? Hat sie ähnlich gedacht wie ich oder hatte sie nur schlechte Erinnerungen von mir? Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie wollte doch heiraten. Sie war doch so glücklich. Warum jetzt? Warum sie? Auch, wenn ich mich so schrecklich fühlte, ich brachte es nicht fertig, zu weinen. Es war einfach zu viel, ich konnte das ganze gar nicht wirklich begreifen oder verarbeiten. Weinen erschien mir als so eine lächerliche, unpassende Reaktion. Ich war nicht einfach nur traurig oder verzweifelt, meine Welt war praktisch zusammengebrochen, mein Leben hatte sich komplett gewendet. Erst jetzt merkte ich, wie wichtig mir meine Mutter doch war, wie viel Platz sie in meinem Herzen einnahm. Ich hörte einige Stimmen näher kommen. Schnell verschwand ich durch den Notausgang und ging Richtung Wald. Ich hätte mich auch in einer Toilette einschließen können, aber wenn man mein Fehlen bemerkte, würde man dort als erstes suchen. Und ich wollte nur allein sein. Einfach verschwinden und nie wieder gefunden werden. Stundenlang irrte ich allein durch den Wald. Es war bereits spät in der Nacht, und mein Körper zitterte, doch ich spürte keine Kälte mehr. Ich war in meiner Eile im T-Shirt nach draußen gerannt und meine Arme hatten bereits einen bläulichen Ton angenommen. Nachdem ich ein bisschen weitergegangen war, sah ich ein Gebäude vor mir stehen. Ich las die Aufschrift ›Naturfreundehaus‹. Es wäre mir auch egal gewesen, wenn ich mich im dunklen, kalten Wald verirrt hätte, aber ich sollte wohl zurück zur Jugendherberge finden. Es waren bereits alle Lichter gelöscht. Wie spät war es überhaupt genau? Ich schaltete mein Handy ein und bekam die Meldung von dreizig verpassten Anrufen. Alle von der selben Nummer. Eine SMS hatte ich auch, die gleiche Nummer wie die der Anrufe. »Ich bin es, Aksel. Geh ran!« Aksel hatte mich dreizig Mal angerufen? Machte er sich etwa Sorgen? Ich überlegte, ob ich ihm Bescheid sagen sollte, dass ich mehr oder weniger in Ordnung war. Ein Blick auf meine Handyuhr verriet mir, dass wir es halb vier Uhr morgens hatten. Durfte ich ihn um diese Zeit noch stören? Er hatte mir doch irgendwie schon gesagt, dass ich ihm wichtig war, oder nicht? Auch, wenn ich mir unsicher war, ich wollte ihn unbedingt sehen. Ich brauchte ihn. Er war der Einzige, der mir jetzt Halt geben konnte, wo alles andere fort war. Ich schleichte mich bis zu seinem Zimmer. Nun stand ich vor seiner Tür und wusste nicht, ob ich diese wirklich öffnen sollte. Doch ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte die Klinke herunter. Als meine Augen sich schließlich an die Dunkelheit gewohnt hatten, konnte ich schwache Konturen erkennen. Ich sah drei Betten. Zwei davon waren leer. Erst wunderte ich mich darüber, doch dann fiel mir ein, dass alle etwas trinken gehen wollten, weil es die letzte Nacht in der Jugendherberge war. Aber wieso war einer hier geblieben? Die Tür fiel zu und klackte leise. Die Person, die im Bett lag, setzte sich auf. Ich bezweifelte, dass das Knacken sie geweckt hatte. Wer auch immer dort lag, er war schon die ganze Zeit wach gewesen. »Schwuchtel?« Es war Aksel! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zögernd ging ich auf sein Bett zu. Eine Weile stand ich einfach dort und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich traute mich nicht einmal, ihn anzusehen. Doch da hörte ich seine Decke rascheln und die Matratze quietschen. Mit etwas Anstrengung konnte ich schließlich erkennen, dass er bis zu der Wand gerückt war und die Decke hochhielt. Zuerst zögerte ich und rührte mich nicht. Doch schließlich setzte ich mich ganz langsam auf das Bett. Es kostete mich viel Überwindung, bis ich es dann endlich geschafft hatte, mich hinzulegen. Aksel ließ die Bettdecke auf uns beide herabsinken und die wohlige Wärme, die von ihr ausging, umhüllte mich. Das Gefühl, endlich raus aus der Kälte zu sein, war schön. Doch trotzdem zitterte ich immer noch, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Aksel bemerkte es natürlich und legte einen Arm um meinen Rücken. Fast automatisch bewegte ich mich näher zu ihm hin. Es tat so gut, Aksels Halt zu spüren, doch ich traute mich noch immer nicht, mich ihm ganz hinzugeben. Da war noch so viel Unsicherheit in mir. Ich vertraute der ganzen Sache nicht, es war mir anscheinend nie erlaubt, glücklich zu sein, ohne danach einen Rückschlag zu erleiden, der mich mindestens um das doppelte zurückwarf. Als könnte Aksel meine Gedanken hören, legte seine andere Hand auf meinen Hinterkopf. Ganz sanft, aber bestimmt, drückte er mich an sich. »Du bist echt anstrengend, weißt du das?«, flüsterte er mir zu. Ich hörte das Zittern in seiner Stimme und mir wurde klar, wie sehr er sich Sorgen gemacht haben musste. »Hast du es schon gehört?«, fragte ich ihn. Sein Griff wurde fester. »Natürlich habe ich das...« Ich vernahm ein ganz leises, schwaches Wimmern in seiner Stimme. Nun schloß auch ich ihn meine Arme. In meinem Leben war es schon immer so gewesen: es gab diese seltenen Momente, in denen ich glücklich war, und immer wurden sie zunichte gemacht. Danach war meistens alles noch schlimmer, als es vorher war. Ich bin mir auch sicher, dass sich das niemals ändern wird. Doch in diesem Augenblick fühlte ich mich nicht mehr allein. Die Person, die ich über alles liebte, war bei mir. Und alleine das machte mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Selbst, wenn auch dieses Glück nicht lange währen sollte, die Erinnerung konnte mir niemand mehr nehmen. Ich fing an zu weinen. Ganz plötzlich, ohne, dass ich es wirklich merkte, liefen mir Tränen die Wangen hinunter. Das Glück hatte eben immer eine Kehrseite. Bei mir speziell war es die Angst. Ich hatte schreckliche Angst davor, Aksel verlieren zu können. Jetzt, wo ich dieses vollkommene Glück kannte, wie sollte ich so weiterleben können wie bisher? Ich kann mir nicht einmal mehr vorstellen, ohne Aksel zu sein. Ich schmiegte mich an ihn, als hätte ich Angst, er könnte in der nächsten Sekunde wieder verschwunden sein. Während ich mich still an Aksels Brust ausweinte, strich er mir über den Kopf. Ich spürte die sanfte Bewegung seiner Hand auch noch, als ich endlich einschlief. Kapitel 25: 13. Juli -------------------- Soll ich die Augen öffnen? Aber was, wenn das alles nur ein Traum war? Vielleicht ist das gestern alles gar nicht passiert. Und wenn ich die Augen öffne, liege ich allein im Bett, im selben Zimmer wie Sören. Nicht bei Aksel. Vielleicht liege ich ja auch noch im Wald und sterbe. Dass ich gerade erfriere wäre wahrscheinlicher, als dass ich in den Armen meines Schwarms liege. Würde ja schließlich heißen, ich hätte Glück. ›Glück‹ und ›Tobias Gerst‹ sind zwei Dinge, die einfach nicht zusammen passen. Es war der nächste Morgen. Meine Gedanken schwirrten in meinem Kopf hin und her. Ich lag, keine Ahnung wie lange, herum und traute mich nicht, meine Augen zu öffnen, aus Angst, ich würde mich in einem leeren Bett vorfinden. Mit der Zeit wurde mir jedoch immer klarer, dass ich wohl oder übel aufstehen musste, wenn ich je aus dieser Naturfreunde-Hölle entkommen wollte. Also öffnete ich zögernd ein Auge. Großartig, dachte ich mir, eine Wand. Das half schon mal ein großes Stück weiter. Ich drehte mich herum und sah neben mir nur eine leere Matratze. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Was hatte ich denn auch erwartet? Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus meinen Augen. Kurz ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es sah irgendwie anders aus. »Hey, du bist wach!« Auf einmal stand er vor mir. Aksel. Seine Haare standen wirr in alle Richtungen ab, er hatte dunkle Schatten unter seinen Augen und eine große Tasse Kaffee in der Hand (wo auch immer er den auf einmal her hatte). Ich starrte ihn mit großen Augen an. War das ganze doch wirklich passiert? Es war kein Traum? Aksel nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah mich an. Er räusperte sich kurz. »Ich weiß, dass ich schlimm aussehe. Könntest du mich trotzdem nicht so angucken, als wäre ich gerade aus einer Gruft gestiegen?« Ein paar Wortfetzen stammelnd ließ ich meinen Blick von Aksel ab und versuchte, einen anständigen Satz zu bilden. »Äh, es liegt nicht a-an dir...« Was ich ihm eigentlich sagen wollte, wusste ich selbst nicht so genau. Wahrscheinlich wollte ich mich bei ihm bedanken, dass er für mich da gewesen war. Aber bei mir ist es ja ein richtiges Kunststück, sich anständig oder wenigstens beiläufig zu bedanken. Mühe gab ich mir trotzdem. »U-Und ich wollte... ähm... du weißt schon... wegen, äh, ge-gestern... also, ich... ähm...« Los, Tobias, du feige Sau, sag was Anständiges!, rief ich mir in Gedanken zu. »Du hast, ähm, m-mir... also... d-d-da-« »Kein Problem«, sagte Aksel lässig und nahm wieder einen Schluck Kaffee. Ich schwieg, war jedoch dankbar, dass er mich von meinem Leiden erlöst hatte. »Schwuchtel, du solltest übrigens mal wieder zu deinem Zimmer gehen. Hast mein Bett jetzt lang genug belagert.« Und da war die Dankbarkeit auch schon wieder dahin. Das durfte jetzt doch nicht sein ernst sein! Doch er sah mich mit diesem ernsten, genervten Blick an, so wie immer. Es hatte sich gar nichts zwischen uns geändert. Ich war noch immer die dumme Schwuchtel für ihn. Ohne ein Wort stand ich auf und ging zur Tür. Als ich im Türrahmen stand, drehte ich mich noch einmal zu Aksel um, doch er würdigte mich keines Blickes. Seinem Kaffee schenkte er mehr Aufmerksamkeit als mir. Traurig wendete ich mich wieder zur Tür. Was war nur mit dem Aksel des gestrigen Abends passiert? In den nächsten Stunden geschah nichts besonderes. Niemand fragte nach, wo ich gewesen war oder warum Frau Lehning mit mir sprechen wollte. Ich bin mir sicher, dass es alle wussten, doch keiner war sich im Klaren darüber, was er sagen sollte. So wäre es mir wahrscheinlich auch gegangen. Was soll man in solch einer Situation denn schon sagen? ›Tut mir Leid, dass deine Mutter gestorben ist‹ oder was? Es ist einfach so, wie es ist, und nett gemeinte Worte ändern daran nichts. Ich glaube, wenn mich jemand darauf angesprochen hätte, wäre ich nur noch mehr geknickt gewesen. Also ist im Endeffekt doch alles angemessen verlaufen, schätze ich. Doch trotzdem, als ich schließlich zuhause saß, fühlte ich mich schrecklich allein. Das Haus war so leer. Was hätte ich gegeben, nun das Gemecker meiner Mutter zu hören. Aber es herrschte nur eisige Stille. Mir war klar, dass ruhig herumsitzen mir nicht weiterhelfen oder mich ablenken würde, doch ich war einfach nur lustlos. Keine Lust, den Fernseher einzuschalten, keine Lust, die Haustür zu öffnen, keine Lust zu gar nichts. Einfach nur am Esstisch sitzen und in die Luft starren. Ich seufzte leise und legte meinen Kopf in meine auf dem Tisch verschränkten Arme. Oh man, dachte ich, ich sollte nicht immer in Selbstmitle- Auf einmal hörte ich neben mir ein ohrenbetäubendes Klingeln. Ich sprang vor Schreck auf. Dummerweise schlug ich mit meinem Knie direkt gegen die Kante des Tisches, der beim Aufprall kurz vom Boden abhob. Winselnd schleppte ich mich zur Quelle des Lärms – dem Telefon. »Gerst...«, jammerte ich. »H-hey... hier ist David.« Er klang ziemlich unsicher, und ich vermutete, dass er bereits Bescheid wusste. Doch ich fragte nicht nach. »Ich wollte fragen«, begann er, »ob wir ein bisschen durch die Stadt bummeln wollen.« Kurz überlegte ich. Meine Unternehmungslust hielt sich in Grenzen, doch ich dachte mir, dass es mir sicher gut tun würde, wenn ich raus ging. Und ich hatte David ja auch schon eine Weile nicht mehr gesehen. »Klar. Wo treffen wir uns?« »Wäre es okay, wenn du zu mir kommst und wir gemeinsam gehen?« Ich willigte ein, ließ mir von David seine Adresse geben und machte mich schließlich auf den Weg. Schließlich stand ich vor einem großen, weißen Haus. Und mit ›groß‹ meine ich ›etwa das Doppelte von dem Haus, in dem ich wohne‹. Aber bei mir sind... waren ja auch nur zwei Personen. Wahrscheinlich hat David Geschwister, dachte ich mir. Und Eltern. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Etwas neidisch war ich ja schon, wenn ich mir vorstellte, dass David eine Mutter, einen Vater und auch noch Geschwister hatte. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab. David war mein einziger Freund und jetzt sollte ich eifersüchtig auf ihn sein? Er kann auch nichts für das, was passiert ist und ich sollte dankbar sein, dass er mir beisteht. Mit positiven Gedanken ging ich eine Steintreppe hinauf, die zur Haustür führte, und bewunderte den kleinen Gartenzwerg daneben, der die Besucher des Hauses willkommen hieß. Ich drückte auf die Klingel und wartete. Diese Situation war sehr ungewohnt für mich. Bisher hatte ich nur einen Haushalt besucht, und dass war der von Frau Witte nebenan, um sie nach Mehl zu fragen. Etwas Nervosität stieg in mir auf. Was, wenn David's Vater die Tür öffnen und mich mit diesem Blick ansehen würde, den Väter dem ersten Freund ihrer Tochter normalerweise geben? Um mich zu beruhigen, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf den Gartenzwerg. Er war, wie Zwerge eben so sind, klein und bärtig und er hatte eine Schubkarre vor sich stehen. In diese wurde etwas Blumenerde gefüllt. Das »Herzlich Willkommen« - Schild wurde in die Erde hinein gesteckt und es wuchsen einige rote und rosane Blumen darum. Ich spielte mit dem Gedanken, den kleinen Zwerg einfach zu entführen. Bevor ich jedoch hätte zur Tat schreiten können, öffnete sich die Tür. Schnell sah ich zu der Person, die im Türrahmen stand, und versuchte, freundlich zu lächeln. Ob ich da einfach nur eine Grimasse zog, kann ich nicht beurteilen, es wäre aber gut möglich. Die Frau, die da vor mir stand, zwei Köpfe größer als ich, war zwar sehr hübsch, aber ihr Blick war so finster, dass ich ihr ungern des Nachts begegnen würde. Na gut, dachte ich mir schließlich, vielleicht ist das nur der trügerische erste Eindruck. Vielleicht ist sie ja ganz ne- »Was ist?«, erklang auf einmal ihr bedrohliches Grollen aus geschätzten 1,80 Metern Höhe. Ich ging im Kopf die Möglichkeiten durch, die ich hatte. Zum Weglaufen war es noch nicht zu spät. Doch plötzlich erschien David im Türrahmen. »Schon okay, Mom. Er ist ein Freund.« Sie musterte mich ein letztes Mal, von oben bis unten, und ging schließlich zurück in die Wohnung. Ich war unglaublich erleichtert und lächelte David an, der wie gewohnt einen Rock trug. Er lächelte schwach zurück. Ob er an die Sache mit meiner Mutter dachte? »Komm doch erstmal rein, ich ziehe mir kurz Schuhe an.« David verschwand eine Treppe hoch. Zögerlich setzte ich einen Fuß in den Flur und schaute mich um. Keine angsteinflößende Mutter in der Nähe. Ich stellte mich ganz in die Wohnung und sah mich ein bisschen um. Der Boden war mit Parkett ausgelegt und ein roter Teppich lag in der Mitte der Eingangshalle, oder was auch immer es genau war. Die Wände hatten einen beigen Ton und es hingen Familienbilder daran. Mir wurde auf einmal klar, dass ich und meine Mutter auf keinem einzigen Foto zusammen waren. Ich dachte angestrengt nach, doch mir fiel kein einziger Ausflug oder Ähnliches ein, den wir unternommen hatten, und von dem es vielleicht Aufnahmen gab. Erneut beneidete ich David, auch wenn ich mich dabei schuldig fühlte. Ich hörte Schritte auf der Treppe und dachte, es wäre David, also schaute ich hoch. Genau in das Gesicht von Melanie. Als sie mich auch sah, blieb sie abrupt stehen. Einige Sekunden lang starrten wir uns entsetzt an. »Du?!«, brachte sie schließlich heraus. »Äh, ja, ich...«, erwiderte ich. Was sollte ich dazu schon sagen? Meine Chance, mich schnell zu verstecken, hatte ich verpasst. Ihr Blick verfinsterte sich langsam. Sie wollte gerade etwas sagen (wahrscheinlich etwas, dass mir nicht besonders geschmeichelt hätte), doch dann kam David die Treppe herunter. Er blinzelte ein paar Mal verwirrt. »Äh, kennt ihr euch?« »Flüchtig!«, sagte ich schnell, griff mir Davids Arm und lief mit ihm hinaus. Der Neid um Davids Familie war wie weggeblasen. »Ist Melanie... deine Schwester?« Er lächelte unglücklich. »Ja, aber wir verstehen uns nicht besonders gut.« Ich glaube, ich weiß warum, dachte ich mir, sprach es aber lieber nicht aus. David und ich waren in einem kleinen Ramschladen. Überall standen Regale, die bis zur Decke ragten, in denen diese typischen Dinge standen, die man sich anguckt und lustig oder praktisch findet und sich schließlich kauft. Erst zuhause schießt einem die Frage in den Kopf, wozu der erworbene Gegenstand eigentlich gut sein soll. Es gibt natürlich auch Leute, die solchen sinnlosen Müll nicht kaufen. Ich gehöre nicht dazu. Und so stand ich vor einem Regal voll mit Plüschtieren, wovon mich eines ganz besonders in seinen Bann gezogen hatte. Es war ein Pinguin, doch er war fast kugelrund und hatte kleine Flügelchen an der Seite. Unbeschreibbar niedlich. Ich musste ihn haben. Schnell nahm ich mir einen Pinguin aus dem Regal und drehte ihn um, sodass ich auf den Preis gucken konnte. Ich las mir die Zahl durch. Einige Male. Das kann doch gar nicht sein, dachte ich mir, die haben das bestimmt in Cents angegeben. Doch ich sah ganz deutlich das Euro-Zeichen dahinter. Wie konnte ein kleiner Plüschball mit angenähtem Schnabel und ein paar Füßen und Flügeln denn über dreißig Euro kosten? Das ist doch unmenschlich! Während ich versuchte, das Preisschild zu hypnotisieren, um die Zahl darauf zu verringern, hörte ich David im Hintergrund mit jemandem reden. »Hey, Aksel!« Aksel? Schnell quetschte ich das Plüschtier zurück in das Regal und drehte mich um. Doch er verließ den Laden schon wieder. Erleichtert atmete ich aus. David kam auf mich zu und hatte zwei Glückskekse in der Hand. »Komm, wir kaufen uns zwei!« Bevor ich etwas erwidern konnte, lief er schon zur Kasse und bezahlte die zwei goldenen Tütchen mit Keksen darin. Danach schaute er mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht zu mir und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. Ich folgte ihm nach draußen, wo wir schließlich die Glückskekse öffneten. »Bei mir steht, dass ich gerne Glückskekse esse«, erzählte David und schmunzelte. »Bei dir?« Ich war noch dabei, meinen Zettel aufzufalten. Schließlich las ich mir den kurzen Spruch durch und musste fast lachen. Dass passte auf eine grausame Art wirklich perfekt zu mir. »Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück.« Davids Lächeln fiel und brach den Augenkontakt mit mir ab. Er schien verkrampft nach Worten zu suchen, wollte jedoch nichts Unangebrachtes sagen. Die Situation war mir sehr unangenehm, also schlug ich vor, den Heimweg anzutreten. Nach einer Weile, in der hauptsächlich Stille herrschte, fragte David mich schließlich, wie die Klassenfahrt gewesen war. Ich nahm an, dass er mir einen kleinen Anschubser geben wollte. Er wollte mich nicht drängen, dass ich mit ihm über den Unfall rede, sondern bot es mir an. »Sie hatte auch ihre guten Seiten«, antwortete ich schließlich, nachdem ich etwas überlegt hatte. Ich dachte dabei speziell an Aksel, doch das war mir zu peinlich, als dass ich es ihm erzählen könnte. David verstand, dass ich nicht auf meine Mutter angesprochen werden wollte, und wechselte das Thema. »Mit wem warst du eigentlich auf einem Zimmer? Mit Aksel?« Ich fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. »N-nein, mit Sören.« »Oh«, meinte David, »Sören ist cool. Seid ihr jetzt befreundet?« Ich verneinte und wunderte mich, was man an diesem Wesen mögen oder gar ›cool‹ finden konnte. Wir redeten noch weiter, bis wir bei David angekommen waren. Es war ein tolles Gefühl, so unbeschwert mit jemandem über etwas, dass ich erlebt hatte, reden zu können und ein Teil meiner Last schien mir schon abgenommen worden zu sein. Ich hatte ja keine Ahnung, wie toll Freundschaft eigentlich ist. Kapitel 26: 15. Juli -------------------- Ich hatte den kompletten Samstag ganz originell mit einer Schachtel Eiscreme und einer Decke auf dem Sofa verbracht, während ich mir auf RTL unrealistische Familiendramen ansah, hin und wieder einen Heulanfall bekam, und nur aufstand, um ins Badezimmer zu gehen. Oder um eine neue Eispackung zu holen. Ich habe vollstes Verständnis für all die unglücklich verliebten Mädchen, die sich ihre Trauer mit Eis wegessen, denn ich weiß, dass diese Technik einfach funktioniert. Jedenfalls hatte ich eigentlich geplant, meinen Sonntag genauso zu nutzen, doch dann kam jemand, der mir einen Strich durch die Rechnung machte. Es war etwa zwölf Uhr mittags, ich saß wieder auf der Couch und verfolgte eine Gerichtssendung, als es auf einmal an der Tür klingelte. Ich ignorierte das erste Klingeln, da ich niemanden sehen wollte. Auch das zweite Klingeln nahm ich nicht wahr. Schließlich wurde gerade das Urteil gesprochen. Doch als die Person vor der Tür sich auch nach fünf Minuten nicht weg bewegte, erhob ich mich schließlich. Grummelnd schlurfte ich zur Tür. Der kann was erleben, mich beim Hausfrauenfernsehen (wie ich es getauft hatte) zu stören, den mach' ich fertig, dachte ich genervt und öffnete die Haustür, in der Absicht, mein Gegenüber mental zu vernichten. Doch als ich Augenkontakt aufbauen wollte, starrte ich nur auf einen gut gebauten Brustkotb. Ich richtete meinen Blick weiter nach oben, bis ich das Gesicht schließlich einige Centimeter höher fand. Nun gut, dachte ich mir schließlich, ich habe heute einen guten Tag, da will ich nicht gemein sein. Da hat er nochmal Glück gehabt. »Ähm, bist du...Tobias?«, fragte der Mann und ich war überrascht, was für eine sanfte Stimme er hatte. Ich blinzelte ein paar Mal. Irgendwie kam mir der Mann bekannt vor. »Äh, ja. Und Sie sind...?« Er lächelte und schien nach einer Antwort zu suchen. »Nun, wie soll ich sagen... Ich bin dein Vater.« Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Mein Gehirn, eingerostet vom wochenendlichen Fernsehprogramm, versuchte, die erhaltene Information zu verarbeiten. Es dauerte eine Weile, bis ich in der Lage war zu antworten, und dann noch nicht einmal besonders geistreich: »Wie jetzt?« Der Mann stammelte etwas herum, er war sichtlich aufgeregt. »Ich habe von dem Unfall von Mari, äh, also, d-deiner Mutter, gehört und dass du jetzt alleine bist und ich wollte... also...« In meinem Kopf drehte sich alles. Es gab nur wenige Personen, die meine Mutter bei ihrem Spitznamen nannten, da sie ihren vollen Namen ›Maren‹ bevorzugte. »Kommen Sie doch erstmal rein...«, bat ich ihn, damit wir uns besser unterhalten konnten. Als er den Raum betrat, fiel sein Blick auf die zerknüllte Decke auf dem Sofa und das halb aufgegessene Eis. Auf dem Boden zerstreut lag etwas Müll. Er lächelte und murmelte so etwas wie ›ganz mein Sohn...‹, ich hörte ihn jedoch nicht deutlich. Die ganze Situation kam mir seltsam vor. War das wirklich mein Vater? Ich spähte zu ihm herüber. Er war viel zu riesig, um mit mir verwandt zu sein! Obwohl, meine Mutter war eher klein, so wie ich. Ich grübelte weiter und suchte nach irgendwelchen Ähnlichkeiten, doch ich fand keine. Der Mann fand sofort die Küche und setzte sich. Scheint so, als hätte er hier früher wirklich mit meiner Mutter gewohnt, dachte ich mir. Vielleicht war er aber auch nur einmal aus irgendeinem anderen Grund hier gewesen. Wäre alles möglich. »Wollen Sie Kaffee?«, fragte ich. Irgendwie musste ich die Situation auflockern. »Nein, danke«, antwortete er lächelnd, »von Kaffee werde ich nervös, den vertrage ich nicht.« Genau wie ich, schoss es mir durch den Kopf. Ich weiß noch genau, wie ich vor etwa zwei Jahren eine Stunde länger wach bleiben wollte, um für eine Arbeit zu lernen. Aus der Stunde ist dann eine ganze Nacht geworden. Und so aufgekratzt wie ich war, konnte ich das Lernen vergessen. Seitdem habe ich mir vorgenommen, kein Koffein mehr anzurühren. Trotzdem war ich weiterhin misstrauisch. »Äh-ähm, wie wäre es dann mit...« Ich überlegte kurz. »Kamillentee?«, sagten wir beide schließlich gleichzeitig. Wir sahen uns überrascht an. Dann lachte der Mann. »Das musst du von mir geerbt haben. Mari hat Tee immer gehasst... Wie hat sie immer gesagt? ›Tee ist nur‹...« » ›...heißes Wasser mit scheiß Geschmack‹ «, stieg ich mit ein. Wieder tauschten wir einen überraschten Blick aus. Und da fiel mir etwas auf. Wenn ich in seine Augen sah, war es, als würde ich in einen Spiegel blicken. Das schimmernde Grün mit dem bräunlichen Rand. Diese Unsicherheit, die man in seinem Blick erkennen kann. Wie konnte mir das nur entgehen, als er vor der Tür stand? Die Zweifel daran, dass dieser Mann tatsächlich mein Vater war, verschwanden immer mehr. Irgendetwas in mir vertraute ihm und gab mir das Gefühl, ihn schon mein Leben lang zu kennen. Mein Herz pochte vor Aufregung. Dieser Mann, der da vor mir saß, war mein Vater. Und er hatte mich gesucht, weil er sich Sorgen gemacht hatte. Bei dem Gedanken wurde mir ganz warm ums Herz. Irgendwie fühlte ich mich... wie beschreibt man das? Ich fühlte mich wie zu Hause. Als hätte ich einen Platz gefunden, wo ich hingehöre. Nachdem ich zwei Tassen Kamillentee fertig hatte, setzte ich mich gegenüber von meinem Vater und schob ihm eine davon herüber. Er bedankte sich kurz. Wir wussten nicht genau, wo wir anfangen sollten, was wir uns erzählen sollten, und so trank jeder still seinen Tee. Eigentlich gab es so vieles, was wir nicht voneinander wussten. Na gut, eigentlich wussten wir überhaupt nichts voneinander. Aber es war trotzdem schwer, einen Anfang zu finden. Ich beschloss, einfach eine Frage zu stellen, um die Stille zu durchbrechen: »Als was arbeitest du eigentlich?« Als ich ihn duzte, sah mein Vater mich erst leicht überrascht an, doch dann lächelte er. »Ich bin Kunst- und Englischlehrer an einem Gymnasium.« Für eine Weile konnte ich nichts erwidern, ich war einfach zu erstaunt. Wie konnte ich bei diesem Vater nur so ein Versager werden? »Wie läuft es eigentlich in der Schule bei dir?«, fragte er mich auf einmal. Ich zögerte. Sollte ich ihm wirklich die Wahrheit sagen? Dass ich gemobbt werde und mein einziger Freund ein Junge ist, der in Röcken herumläuft? Ich schäme mich nicht für David oder so, auf gar keinen Fall, aber wenn man das so hört, klingt es doch schon ziemlich seltsam, oder? Und ich wusste auch nicht, was mein Vater davon halten würde. Wäre er enttäuscht, dass ich es nicht zu etwas bringe, im Gegensatz zu ihm? Nicht zu vergessen, dass ich schwul bin. Das begeistert ihn sicher nicht, dachte ich mir. »Es läuft eigentlich ganz gut, also... es gibt kaum Probleme oder so.« Ich konnte ihm die Wahrheit einfach nicht sagen. Ich schämte mich zu sehr und hatte Angst vor seiner Reaktion. Dass er mich schlussendlich doch verachten könnte, jetzt, wo ich ihn endlich, nach all den Jahren, bei mir hatte. Ich brachte es nicht einmal fertig, ihm in die Augen zu sehen. »Du musst mich nicht anlügen«, hörte ich ihn auf einmal sagen. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. In seiner Stimme schwang so ein trauriger Unterton mit. Wahrscheinlich enttäuschte es ihn am Ende doch mehr, von mir angelogen zu werden. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und wollte ihm alles erzählen, doch da meinte er: »Wenn du nicht darüber reden willst...« Ich lächelte. Er war so verständnisvoll, so ziemlich das Gegenteil meiner Mutter. Wie diese beiden Gegensätze wohl zusammen gefunden hatten? »Nein, ich möchte dir gerne die Wahrheit erzählen. Du verdienst es, alles zu wissen«, sagte ich verlegen. Mein Vater schwieg. Er ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um mit meiner Erzählung zu beginnen. Ich atmete einmal tief durch und versuchte krampfhaft, einen angemessen Anfang zu finden. »Naja, wie soll ich sagen... Ich bin nicht gerade der beliebteste Typ an meiner Schule.« Mein Vater lächelte. »Das habe ich auch gar nicht erwartet. Coole Leute passen irgendwie nicht in unsere Familie.« »Wohl eher nicht«, stimmte ich schmunzelnd zu und musste unweigerlich an Aksel denken, für den ›cool‹ ja schon fast untertrieben war. Ein paar Sekunden herrschte unangenehme Stille, bis mein Vater mich fragte, ob ich gemobbt werde. Als ich ihn leicht überrascht fragte, woher er das wüsste, murmelte er: »Der Nasengips...« Ich lächelte traurig. »Wie ein Extremsportler sehe ich nicht gerade aus, was?« »Gib' die Hoffnung nicht auf, Tobias«, sagte mein Vater aufmunternd, »mir ist es damals genau so ergangen. Und ich habe alles über mich ergehen lassen, habe nie Widerworte von mir gegeben. Als ich schließlich dachte, ich würde mein ganzes Leben lang ein Versager bleiben, tauchte Mari auf einmal auf und hat mich durchgeboxt. Ihre impulsive Art und ihre Selbstsicherheit haben auch mir ein paar Gramm Selbstbewusstsein gegeben und ich habe mein Leben in die Hand genommen. Und jetzt stehe ich hier, als Lehrer, der versucht, Schülern das Leben zu erleichtern, und kann behaupten, dass ich ein glückliches Leben führe.« Ich blinzelte ein paar Mal. So eine mitreißende Rede hatte ich eigentlich nicht erwartet. Mein Vater räusperte sich verlegen, als er merkte, wie viel er geredet hatte. »Nun, was ich damit sagen will... Ähm...« »Ich soll an mich selbst glauben und mich wehren?«, riet ich. »Vielleicht solltest du damit noch etwas warten«, sagte mein Vater und betrachtete meine gebrochene Nase, »und dir erstmal Verstärkung suchen. Hast du zufällig gute Kontakte zu Sportlern oder anderen harten Typen?« Ich zögerte kurz. »Naja, da gibt es einen. Der hilft mir aber auch nur, wenn er richtig gute Laune hat.« »Und wie oft ist das?« »Eigentlich nie«, gab ich ehrlich zu. »Er mag mich wahrscheinlich nicht.« Mein Vater lächelte mich aufmunternd an. »Bestimmt ist er nur launisch. Hast du ihn schon mal darauf angesprochen?« Ich lief rot an. »N-Nein, da-da-das würde ich nie schaffen, ich meine...« Ein breites Grinsen schlich sich auf das Gesicht meines Vaters. »Ach, so ist das!« Mein Herz pochte wild und in mir stieg noch mehr Hitze auf. »Naja, also, äh...« Ich stammelte alle Wörter, die mir so in den Sinn kamen, leider ohne dabei eine passende Ausrede zu finden. Grandios, jetzt weiß mein Vater, dass ich schwul bin, dachte ich panisch. Diese Tatsache beruhigte mich nicht gerade. »Äh, t-tut mir Leid...«, stotterte ich. Er sah mich verwundert an. »Wofür entschuldigst du dich?« Ja, wofür eigentlich genau? Es war mir einfach so herausgerutscht, weil ich einfach davon ausgegangen war, dass es ihn enttäuschen würde. Welcher Vater macht schon Freudensprünge, wenn sein Sohn ihm sagt, dass er niemals ein Mädchen mit nach Hause bringen wird? »Tobias, hat Maren dir je erzählt, warum wir uns getrennt haben?« Ich schüttelte den Kopf. Dass sie mir immer eingetrichtert hatte, dass er ein Arschloch sei und nach Schottland ausgewandert wäre, musste er ja nicht unbedingt wissen. »Ich habe sie wegen einem Mann verlassen.« Hätte ich gerade einen Schluck Tee genommen, hätte ich ihn quer über den Tisch wieder ausgespuckt. Ein Glück, dass mein Mund leer war, so musste ich nur meine Kinnlade wieder schließen und niemand wurde verletzt. »Denk' jetzt bitte nichts Falsches von mir«, sagte mein Vater verlegen, »ich weiß, dass das falsch war. Aber ich war ernsthaft verliebt.« »...Du warst?«, fragte ich zögerlich nach. Es herrschte für eine Weile Stille und ich bereute es, nachgefragt zu haben. Ich nahm meine Teetasse in beide Hände und wollte gerade daraus trinken, doch dann erklärte mein Vater: »Er hatte Krebs und ist vor zwei Monaten daran gestorben.« Mein Griff, mit dem ich die Tasse umschloss, wurde automatisch stärker. Ich spürte ein leichtes Zittern in meinen Händen und sah, dass meine Knöchel bereits weiß hervortraten. Mit viel Mühe gelang es mir, dass die Tränen in meinen Augen blieben, wo sie waren. Wie konnte ein Mensch so viel Pech haben, dass er gleich zwei Menschen, die er liebte, auf einmal verlor, und dabei trotzdem den Lebensmut behalten? Mir wurde gleichzeitig aber auch eines klar: Ich kam ganz definitiv nach meinem Vater. Die Ähnlichkeiten waren schwer zu übersehen. Bis zum Abend sprachen wir zwei uns aus. Ich konnte ihm sogar von Aksel erzählen und er machte mir Mut, ihn einfach mal anzusprechen. Vater erzählte mir auch, wie er und sein Freund zueinander gefunden hatten. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich endlich meinen Vater kennengelernt habe. Es scheint langsam doch bergauf zu gehen. Irgendwie freue ich mich auf morgen. Hoffentlich kann ich mit Aksel reden... Kapitel 27: 16. Juli -------------------- Ich beginne diesen Eintrag mit einen schadenfrohen Lachen: Muhahaha! So, genug Männlichkeit bewiesen. Der Grund für meine Schadenfreude ist übrigens Nico. Irgendwie gab es heute doch ein bisschen Gerechtigkeit auf der Welt, habe ich den Eindruck. Mein Schultag begann damit, dass mein Vater mich zur Schule fuhr (ein Luxus, an den ich mich gewöhnen könnte). Ich erwartete auch eigentlich keine schlimmen Ereignisse, denn ich war hochmotiviert, mit Aksel zu sprechen. Schnell überquerte ich den Lehrerparkplatz aka Schulhof und betrat unser Schulgebäude. In der Hoffnung, Aksel noch vor dem Unterricht abfangen zu können, lief ich schon fast durch den Gang. Und dann stand er vor mir. Leider nicht Aksel. Nein, es war Nico, mit seiner ganzen Bande im Schlepptau. »Schaut mal wer da ist«, grinste Nico, »die kleine Schwuchtel.« Ich schluckte. Komm schon, Tobias, sag irgendetwas Cooles, dachte ich verzweifelt. Leider fiel mir kein einziger einschüchtender Spruch ein. Und wenn, dann würde er lächerlich wirken, wenn ein Zwerg wie ich ihn aussprechen würde. Also schaute ich einfach weiter zu meinem zwei Köpfe größeren Gegenüber, in der Hoffnung, er würde irgendwie doch noch das Interesse verlieren und ein anderes Opfer finden. Wo ist Sören, wenn man ihn braucht? Nico ballte eine Faust und ließ seine Finger knacken. »Ich musste mich ganz schön lange zurückhalten. Darum werde ich dir heute besonders gründlich die Fresse polieren.« Sein Grinsen machte mir nicht gerade Mut. Er sah aus wie ein Serienkiller. »Komm schon, Alter«, sagte eine Freund von Nico auf einmal, »lass ihn doch in Ruhe, ich hab' kein Bock, so lange auf dich zu warten.« Was war denn da los? Einer aus Nicos Gruppe verteidigte mich? Verwundert betrachtete ich den Jungen. Er sah nicht gerade nach jemandem aus, der Mitleid mit Menschen wie mir hatte. Seine braunen, glatten Haare reichten beinahe bis zu seinen Schultern, doch sein Pony wurde von einer grauen Strickmütze verdeckt. Er trug ein engeres T-Shirt in derselben Farbe, unter dem sich ein muskulös gebauter Oberkörper abzeichnete. Seine schwarze Jeans war an den Knien aufgerissen und seine ebenfalls schwarzen Chucks sahen nicht gepfelgter aus. Irgendwie wirkte er wie ein waschechter Skater. Auf einmal fiel es mir wieder ein. Es war der Typ, der nach der Aufführung des Märchens auf der Klassenfahrt zu mir gesagt hatte, dass ich in Ordnung wäre. Zwar dachte er, dass mein Name ›Tom‹ wäre, aber er hatte etwas Nettes zu mir gesagt. Und jetzt lehnte er sich auch noch für mich gegen Nico auf. Dieser warf dem Jungen einen bösen Blick zu. »Willst du dich jetzt der Schwuchtel anschließen oder was?« Der Angesprochene betrachtete mich kurz. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Einerseits war das eine gute Gelegenheit, mich zu verdünnisieren, da Nico gerade abgelenkt war. Aber ich wollte den Jungen, der sich für mich einsetzte, auch nicht einfach allein lassen. Das würde mein Gewissen gar nicht zulassen. Wenn, dann wollte ich ihm wenigstens zur Seite stehen, so wie er es für mich getan hat! Na gut, Nico würde mir einen Schlag verpassen und ich wäre für den halben Tag außer Gefecht gesetzt. Aber dann kann ich wenigstens behaupten, ich hätte es versucht. Der Junge schaute wieder zu Nico und antwortete: »Schau' dir den Kleinen doch mal an. Is' doch langweilig.« Okay, wie war das doch gleich mit dem ›mir zur Seite stehen‹? Und so klein bin ich gar nicht! Wenn man aufrundet, schaffe ich schon ein Meter siebzig! Also, wenn man stark aufrundet zumindest... Nicos Blick verfinsterte sich. »Hast du etwa Mitleid mit dem kleinen Bastard?« Jetzt mal ehrlich, wieso benutzen alle das Wort ›klein‹, wenn sie über mich reden? Der Junge verschränkte die Arme und hielt Nicos Blick stand. »Ich hab' einfach kein Bock, ist doch alles immer dieselbe Scheiße.« Auf einmal schlug Nico neben mir in die Wand. Der laute Knall ließ mich zusammenzucken. Nico zog seine Hand zurück und knirschte mit den Zähnen, den Blick immer noch auf den Jungen gerichtet. Einige Brocken lösten sich von der Wand und fielen auf den Boden. Ich war unendlich erleichtert, dass ich diese Faust nicht abbekommen hatte. »Verarsch' mich nicht!«, schrie Nico wütend und packte seinen Kameraden am Kragen, »du machst doch gemeinsame Sache mit der Schwuchtel!« Als Nico den Jungen gegen die Wand drückte, warf dieser mir einen Blick zu. Er nickte mir zu und formte mit den Lippen still ein Wort: »Verschwinde.« Ich war vollkommen perplex, verstand dann aber, was er von mir wollte, und setzte mich in Bewegung. Doch kaum, dass ich mich umgedreht hatte, spürte ich, wie mich jemand von hinten am T-Shirt packte. »Du bleibst schön hier«, hörte ich Nico bedrohlich sagen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Nico packte mich an den Schultern und schleuderte mich gegen die Wand. Als ich sah, wie er mit seiner Faust ausholte, wusste ich, mein letztes Stündlein hat geschlagen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Schmerz. Wer hat jetzt eine Rettung in letzter Sekunde erwartet? Einen Aksel in schimmernder Rüstung auf einem edlen Ross? Nun, nichts dergleichen ist passiert. Ich bin verprügelt worden, und zwar ordentlich. Wie, möchte ich jetzt nicht weiter ausführen, aber ich habe eine ganze Stunde mit Tüchern vor dem Toilettenspiegel gestanden, bis ich endlich aufgehört habe, massenweise Blut zu verlieren. Mein Nasengips war abgefallen und ich würde wahrscheinlich gleich einen Neuen brauchen. Großartig. Als ich mich schließlich in der Lage fühlte, den Klassenraum zu betreten, hatte ich das leise Gefühl, angestarrt zu werden. Es war gerade Pause und demnach herrschte eine Lautstärke wie auf einem Flugplatz, aber als ich die Tür öffnete, war es für einige Sekunden totenstill. Ich versuchte so gut wie möglich, die Blicke meiner Klassenkameraden zu ignorieren, und setzte mich auf meinen Platz. So langsam kehrte wieder die normale Stimmung ein und ich hoffte, der Tag würde so schnell wie nur möglich zu Ende gehen. Die nächsten Schulstunden verliefen relativ normal. Kein einziger Lehrer hatte mich gefragt, was passiert war, aber gestarrt haben sie alle. Manchmal frage ich mich wirklich, warum diese Leute als Pädagogen gelten. Wann haben sie sich jemals für irgendeinen Schüler eingesetzt? Schon in der Grundschule bin ich von den anderen Kindern ausgelacht worden und habe heulend im Klassenzimmer gesessen. Ich weiß noch ganz genau, wie meine Klassenlehrerin zuerst genervt seufzte, sich dann zu mir herunterbeugte und mich fragte: »Bist du hingefallen?« Immer wieder habe ich ihr dasselbe erzählt: »Nein, die anderen sind gemein zu mir.« Ihre Antwort darauf war immer dieselbe. Ich solle mich nicht so anstellen und mich wehren. Habe ich auch gemacht. Danach hat sie sich bei meiner Mutter beschwert, weil ich einen Jungen aus meiner Klasse mit einem Zweig abgeworfen habe. Na gut, er ist danach die Rutsche hinuntergefallen, aber trotzdem. Gebracht hat mir das auch sowieso nichts, er war danach natürlich noch wütender auf mich. Keine Ahnung, was ich damit eigentlich sagen will. Wahrscheinlich, dass Lehrer scheiße sind, oder so. Mit Ausnahme von meinem Vater, versteht sich. Wie auch immer, es war gerade die große Pause zwischen der vierten und fünften Stunde. Ich hatte gerade mal die Hälfte des Schultages geschafft und meine Laune war alles andere als gut. Deprimiert schlurfte ich durch den Flur, auf dem Weg zum Chemieraum, als mir auf einmal Aksel entgegen kam (der sich anscheinend mal wieder etwas Schlaf gegönnt hatte, während ich zusammengeschlagen wurde). Zuerst bemerkte er mich gar nicht. Er schien noch im Halbschlaf zu sein. Kurz hob er seinen Kopf. Als er mich dann sah, blieb er abrupt stehen und riss die Augen geschockt auf. Nach einer Sekunde hatte er sich jedoch wieder gefangen und ging lässig wie immer auf mich zu. »Hey, Schwuchtel, mal wieder mit dem Gesicht abgebremst?« Ich fühlte einen Stich in meinem Herzen. Doch trotzdem versuchte ich, zu lächeln. »Nico hat ein bisschen nachgeholfen...« antwortete ich ehrlich. Ich hoffte auch irgendeine Reaktion Aksels. Ganz egal, welche, einfach irgendeine. Aber in seinem Gesicht spiegelte sich nicht die geringste Emotion wider. Als wäre es ihm völlig egal, was mit mir passiert. Völlig gleichgültig blickte er auf mich herab, als hätten wir uns noch nie im Leben gesehen. Dabei war doch eigentlich so viel zwischen uns passiert. Er hatte mich die ganze Nacht lang gehalten, als meine Mutter gestorben war, wir hatten viele Umarmungen gehabt und er hatte mir sogar ein Liebesgeständnis gemacht. War das alles etwa nur ein grausamer Scherz gewesen? Wollte er mal schauen, wie schnell er die Schwuchtel rumkriegt? So gedankenversunken, wie ich war, merkte ich gar nicht, dass Aksel schon an mir vorbeigegangen war. Doch als ich mich umschaute, war er bereits weg. Enttäuscht setzte ich meinen Weg zum Chemieraum fort. Einsam und verloren wie immer. Mit einem weiteren Knacks im Herzen, und ich fragte mich, wie viele es noch aushalten würde. Nachdem ich mich durch die letzten vier Stunden gequält hatte, einen Heulanfall mit aller Kraft zurückhaltend, war ich endlich erlöst und wollte einfach nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Schließlich wusste ich, dass dort jemand warten würde, mit dem ich reden konnte. Es war das erste Mal, dass ich mich freute, nach Hause zu kommen. Doch als ich aus dem Klassenzimmer ging, sah ich schon David im Flur stehen. Als er mich sah, lief er sofort auf mich zu und fiel mir um den Hals. »Tobi, was machst du denn, Mensch?«, fragte er besorgt. »Ähm, ich bin gerade mit dem Unterricht fertig...«, antwortete ich überfordert. »Das meine ich doch nicht!«, rief David empört und betrachtete mein Gesicht. »Ich habe mir schon gedacht, dass Nico dir irgendetwas getan hat, als ich das mit Aksel gehört habe...«, sagte er besorgt. Verwundert fragte ich: »Wieso, was hat denn Aksel damit zu tun?« Ich dachte an den Moment, als Aksel total desinteressiert wegging, als ihm von Nico erzählte. Was war daran so dramatisch? Da fiel mir ein, dass Aksel zwischendurch für zwei Stunden gefehlt hatte. Ich hatte mir dabei nichts gedacht, er gönnte sich öfters mal etwas extra Freizeit. David sah mich überrascht an. »Hast du es denn noch gar nicht gehört?«, fragte er voller Erstaunen, »Aksel und Nico haben sich heute geprügelt!« Ich riss geschockt meine Augen auf. Mir schossen unendlich viele Fragen durch den Kopf, vor allen Dingen: »Warum das denn?« »Naja, Nico hat wohl kaum noch sprechen können, nachdem Aksel mit ihm fertig war. Ich habe nur gehört, Aksel soll ihm gedroht haben, dass er ›noch ganz andere Sachen mit ihm anstellt, wenn er sowas nochmal macht‹ oder so. Als ich das gehört habe, musste ich gleich an dich denken«, er sah auf die Wunden in meinem Gesicht, »und anscheinend hatte ich Recht...« Ich konnte förmlich spüren, wie mein Herz einen Salto machte. Zuerst freute ich mich, da ich Aksel anscheinend doch nicht so scheißegal war, doch dann kamen in mir erste Zweifel auf. Vielleicht war ich ja gar nicht der Grund. Und überhaupt, das ganze klang doch ziemlich seltsam. Warum sollte Aksel, die Coolness in Person, auf einmal anfangen, Leute zu verprügeln? Und dann auch noch wegen so etwas Lächerlichem wie mir! Nein, das konnte einfach nicht stimmen. Völlig ausgeschlossen. »Tobias Gerst!«, erklang auf einmal die strenge Stimme unserer Direktorin, Frau Gerlach. Ich drehte mich um, da stand sie vor mir, bereits mit Aksel im Schlepptau. Sie blickte auf mich herab, als wäre sie ein Mörder und ich ihr Opfer. Naja, genau genommen war ich auch ihr Opfer. Mein Blick wanderte zu Aksel, der anscheinend in derselben Lage war, wie ich. Mein Blick wanderte von seinen Füßen hoch, zu seinen angeschwollenen, blutigen Handknöcheln, bis zu seinem Gesicht. Er sah so genervt aus wie immer, doch auf seiner linken Wange war eine große Schramme, aus der zwei schmale, schon getrocknete Blutspuren gelaufen waren. Ihn so zu sehen, versetzte mir einen Stich im Herzen. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, doch ich hielt mich lieber zurück. Er war bestimmt nicht gut gelaunt. »Mitkommen!«, befahl unsere Direktorin, packte mich am Arm, und zog mich weg. Ich warf David einen hilfesuchenden Blick zu, doch ich wusste, er konnte nichts tun. Und so wurde ich in das, neben den Unterrichtsräumen, schrecklichste Folterzimmer der Schule verschleppt: das Büro der Direktorin. Ich und Aksel setzten uns still auf die beiden Stühle gegenüber des Schreibtisches, an dem Frau Gerlach Platz nahm. Als sie schließlich auf ihrem Chefsessel saß, verschränkte sie ihre Hände auf dem Tisch und beäugte uns für eine Weile. Sie schien auf irgendeine Erklärung zu warten, und als keine kam, warf sie mir einen Todesblick zu und fragte mit bedrohlicher Stimme: »So, Herr Gerst, dann erklär mir mal, warum du hier bist.« Ich schluckte und suchte nach den richtigen Worten. Mir war jedoch klar, dass es egal war, was ich sagte, ich würde trotzdem Ärger kriegen. Und wenn ich gar nichts sagte, auch. Wie komme ich nur aus dieser Zwickmühle heraus?, fragte ich mich verzweifelt. »Äh-ähm«, startete ich einen Erklärungsversuch, »wegen einer Prügelei..?« »War das eine Frage oder eine Antwort?«, fragte sie streng. »E-eine Antwort!«, sagte ich schnell. Die Direktorin seufzte genervt und setzte ihre Brille ab. Ihr Blick wirkte noch intensiver und furchteinflößender. Sie schien mehr Details von mir zu erwarten. »Äh, i-ich war nicht dabei, mehr kann ich nicht sagen...«, erklärte ich hilflos. »Unsinn!«, zischte sie. »Du hast Aksel doch dazu angestiftet!« Ich blinzelte ein paar Mal verwirrt. Angestiftet? Ich soll Aksel gesagt haben, dass er Nico verprügeln soll? Mir flog ein Bild von mir und Aksel durch den Kopf, wie ich auf einem Chefsessel sitzend Geld zählte und er mir als mein Untergebener mit einem Palmenwedel Luft zufächerte. Das war ganz eindeutig der falsche Film, so etwas war schier unmöglich. »Ich habe A-Aksel nichts...«, versuchte ich zu erklären. Doch bevor ich zu Ende sprechen konnte, wurde ich von einem lauten Knall unterbrochen. Die Direktorin hatte mit der Faust auf den Tisch gehauen, so sehr, dass es mir seltsam erschien, dass dieser noch in einem Teil war. »Mich kannst du nicht für dumm verkaufen«, schrie sie, »du hast doch-« »Er hat nichts damit zu tun«, unterbrach Aksel sie auf einmal. Frau Gerlach und ich warfen Aksel denselben überraschten Blick zu. »Es war allein meine Idee«, verdeutlichte er nochmal. »Was?!«, fragten ich und Frau Direktorin gleichzeitig, sie in blankem Entsetzen und ich ziemlich erleichtert. Aksel schwieg, er war wohl der Meinung, dass er genug gesagt hatte. Doch Frau Gerlach wollte mehr wissen, und fragte ihn: »A-aber warum denn?« Ich wunderte mich, dass sie mir körperliche Gewalt eher zutraute als Aksel. Was war nur mit meinem kleinen, schwachen Image passiert? Und dass Aksel mir nicht die Schuld in die Schuhe schob, war doch auch komisch. Er hatte die Gelegenheit, der ganzen Sache mehr oder minder ohne Strafe zu entgehen, und trotzdem hat er mich verteidigt. Ohne, dass ich es wollte, keimte Hoffnung in mir auf, dass ich ihm am Ende doch noch etwas bedeuten könnte. Ich hatte doch schon so oft darauf gehofft, und immer wieder hatte Aksel mir mehr als deutlich gezeigt, dass ich ihm egal war. Aber war das wirklich die ganze Wahrheit? Steckte nicht noch mehr dahinter? »Nico hat etwas getan, was mir nicht gefallen hat. Da habe ich ihm eine Warnung zukommen lassen.« So lautete Aksels Erklärung. Das klang wirklich wie eine Anspielung auf die Schlägerei von mir und Nico. Wobei er der Einzige war, der Schläge austeilen durfte, aber naja. Frau Gerlach war anscheinend genau so verwirrt wie ich und ließ uns vorläufig gehen. Wir würden aber wohl nicht ohne Konsequenzen davonkommen, meinte sie noch. Toll, jetzt ist verprügelt werden auch schon strafbar. Als ich und Aksel schließlich zurück zu unserem Klassenraum gingen, herrschte Schweigen. Ich entschloss mich nach langem hin und her, endlich mit ihm zu reden, auch, wenn es mir wahnsinnig schwer fiel. Schon bei dem Gedanken wurde mir schwindlig. Und was wollte ich ihm überhaupt sagen? Sollte ich ihm einfach gestehen, was ich für ihn fühle? Oder ihn fragen, was er wirklich von mir will? Auch wenn ich nicht genau wusste, was ich sagen sollte, ich hatte einfach das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. So nahm ich all meinen Mut zusammen und öffnete meinen Mund, um seinen Namen zu rufen. Kein einziger Laut entrang meiner Kehle. Komm schon, Tobias, das schaffst du, redete ich mir Mut zu. Doch ich brachte einfach kein Wort heraus und sah aus, wie ein Fisch auf dem Trockenen, der nach Luft schnappte. Einmal noch, nahm ich mir vor. Ich holte tief Luft und sagte schließlich... »Schwuchtel.« Ähm, nein, das habe ich nicht gesagt. Aksel war mir zuvorgekommen. Schnell schloss ich meinen Mund, nahm eine normale Pose ein und blickte ihn fragend an. »Hast du seit neuestem Asthma oder was versucht du, mit dieser Schnappatmung zu bezwecken?« Danach ging er. Meine Motivation hatte wieder mal ihren Nullpunkt erreicht. Naja, dachte ich mir. Wenigstens hat Nico mal seine verdiente Abreibung gekriegt. Ich begann, einen Plan zu schmieden, wie ich doch noch an Aksel herankam. Doch dazu musste ich eine Situation abwarten, in der er mal keine schlechte Laune hatte. Und ich wusste, das würde sich als schwierig erweisen. Kapitel 28: 19. Juli -------------------- Gestern war ich beim Arzt, wegen meinem abgefallenen Nasengips. Er meinte, es habe wohl keinen Sinn, einen neuen machen zu lassen, also sollte ich es so heilen lassen, das wäre auch okay, da irgendetwas die Nase wieder begradigt hätte. Da muss ich Nico wohl danken. Ich will gar nicht wissen, was der Arzt von mir denkt. Aber wenigstens sehe ich jetzt halbwegs normal aus. Naja, das war schon die beste Nachricht des Tages. Ich habe jetzt drei Tage lang versucht, mit Aksel zu reden. Habe jede Gelegenheit genutzt, in der er allein war. Doch immer ist er entweder abgehauen und hat mich stehen lassen oder jemand anders ist aufgetaucht und hat Aksel in Beschlag genommen. Und morgen ist auch schon der letzte Schultag vor den Sommerferien, dann sehe ich Aksel für sechs Wochen nicht mehr. So lange kann ich einfach nicht warten. Was, wenn er bis dahin schon eine Freundin gefunden hat? Der Gedanke daran ist einfach nur schrecklich. Wie eine andere Hand in Hand mit Aksel durch die Stadt geht, wie sie sich umarmen, wie er sie mit diesem liebevollen Blick ansieht, der mir jeden Atem raubt... Nein, daran will ich nicht denken. Ich muss es unbedingt schaffen! Ich kann einfach nicht mehr glauben, dass ich Aksel egal bin. Da muss doch noch mehr dahinterstecken. Und selbst, wenn er am Ende doch nur Abneigung empfindet, ich werde es riskieren. Lieber habe ich Gewissheit und konzentriere mich später auf etwas Neues, als dass ich mich für immer fragen muss, was denn hätte gewesen sein können. Also gut, Tobias Gerst, bereite dich gut vor. Morgen ist deine letzte Chance! Kapitel 29: 21. Juli -------------------- Also, gestern ist es doch etwas anders gelaufen, als ich erwartet hatte. Ich wollte ja unbedingt meine letzte Chance nutzen.. Nun, ich konnte nicht. Nicht etwa, weil ich am Ende doch zu feige war oder so. Ganz im Gegenteil, meine Motivation war auf ihrem Höhepunkt. Doch Aksel war nicht in der Schule. Wieso schwänzt dieser Kerl den letzten Schultag, wo man eh nur drei Stunden hat? Was geht in seinem faulen Kopf bloß vor?! Jedenfalls war ich, wie man sich vorstellen kann, sehr geknickt. Ich würde mal wieder die ganzen Sommerferien über allein sein. Gut, ich hatte meinen Vater und David. Aber irgendwie reichte mir das nicht. Ich wollte unbedingt Aksel bei mir wissen. So einen Egoismus kannte ich von mir gar nicht, eigentlich hätte ich doch schon mit dem einen Freund, den ich endlich hatte, zufrieden sein müssen. Als ich nach dem Schultag nach Hause kam, plumpste ich sofort auf das Sofa und ließ mein durchschnittliches Zeugnis, dass mich auch nicht wirklich aufheiterte, auf den Boden fallen. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, irgendetwas anderes zu tun, als herumzusitzen. In Gedanken malte ich mir bereits aus, wie sich jemand anderes Aksel schnappte. Das war doch einfach nur ungerecht, da zeigte man schon mal etwas Engagement und dann war es ganz umsonst. Ich zog meine Beine an und legte meinen Kopf auf meine Knie. Wahrscheinlich sah ich aus, wie das Selbstmitleid in Person. »Hey, Tobi!«, hörte ich meinen Vater rufen. Als Antwort murrte ich ein undefinierbares Geräusch zurück. Danach sagte er nichts mehr, doch ich hörte, wie er sich mir näherte und sich schließlich neben mich setzte. Ganz sanft strich er mir über den Rücken. Ich hob meinen Kopf und sah ihn an, wie er mir aufmunternd zulächelte. Schließlich seufzte ich und lehnte mich an seine Schulter, froh, jemanden bei mir zu haben. »Er war einfach nicht da!«, meckerte ich sofort los. »Und was willst du jetzt machen?«, fragte mein Vater mich. Ich überlegte. »Was bleibt mir denn schon anderes übrig, als die sechs Wochen abzuwarten? Ich habe keine Ahnung, wo Aksel wohnt oder ob er in den Urlaub fährt oder so. Wahrscheinlich hat er bis zum nächsten Schultag längst schon eine Freundin!«, jammerte ich aufgebracht. Vater legte tröstend einen Arm um mich. »Weißt du, ich denk-« Auf einmal klingelte es an der Haustür. Ich ärgerte mich etwas, in meiner Selbstmitleidphase gestört zu werden, bewegte mich aber trotzdem zum Eingang unseres Hauses. Als ich die Tür öffnete, stand David vor mir. Ich hatte ihn erst auf den zweiten Blick erkannt, da er eine normale Jeans trug. Er sah so ungewohnt normal aus, wenn er Hosen anhatte, dass ich ihn, anstatt ihn zu begrüßen, einfach nur geschockt anstarrte. David lachte. »Ungewohnter Anblick, was?« Ich brachte es fertig, meine Kinnlade zu schließen, und nickte. »Wieso hast du eigentlich... also...« »...normale Sachen an?«, beendete David meinen Satz. »Bei der Party heute Abend wird sicher ziemlicher Tumult herrschen, und da dachte ich mir, ein Rock wäre eher unpraktisch.« »Oh, du gehst auf eine Party?«, fragte ich überrascht. David schüttelte den Kopf. »Falsch. Wir gehen auf eine Party.« Ich blickte ihn entgeistert an. Er musste komplett den Verstand verloren haben. Ich auf einer Party? Schon eine Tasse Kaffee brachte mich halb zum Durchdrehen, wie sollte ich da Alkohol anrühren? Und dann auch noch diese fremden, aufgedrehten Leute überall. Nein, das war definitiv nichts für mich. Na gut, ich war noch nie auf einer Party und kann daher nicht genau sagen, wie es da so läuft, aber so habe ich es mir immer vorgestellt. Und wenn die Leute aus meiner Klasse über Partys redeten, waren die einzigen Beschreibungen, die ich so hörte, ›Boah, du warst so voll, Alter‹ oder ›Man, hab ich gekotzt, ey‹. Das half mir dann auch nicht sonderlich weiter. »Ausgeschlossen«, machte ich David klar, »niemals in meinem Leben werde ich auf eine Party gehen!« Wie aus dem Nichts tauchte mein Vater auf einmal hinter mir auf und sagte: »Also, ich halte das eigentlich für eine gute Idee. Vielleicht hilft dir das ja, deine Schüchternheit etwas zu überwinden.« »Eben«, stimmte David ihm zu. Es schienen sich alle gegen mich verschworen zu haben, und so gab ich klein bei. David machte den Vorschlag, mich noch etwas vorzubereiten, und ich nahm seine Hilfe dankend an. So blieb er ein paar Stunden bei mir und erzählte mir ein bisschen etwas über das Partyleben und auf was ich vorbereitet sein müsste. Er versprach mir auch noch, mich nicht aus den Augen zu lassen, wofür ich besonders dankbar war. Mein Vater hatte angeboten, uns zu der Party zu fahren, und so saßen wir am Abend in seinem Auto und fuhren hinaus aus der Stadt. Der Gastgeber wohnte in irgendeinem Dorf, zwischen Wald und ein paar Feldern, was meine Laune nicht gerade hob. Mit der Klassenfahrt hatte ich eigentlich genug Natur für mein ganzes Leben gesehen. Irgendwann, als die Zahl der Traktoren die der Autos übertraf und es mehr landwirtschaftliche Fläche als Wohnraum gab, waren wir bei der Party angekommen. Ich und David stiegen aus und betrachteten das Grundstück. Sah eigentlich ganz normal und friedlich aus. So ziemlich gar nicht, als würde gerade eine Party laufen. Für mich ein extrem beruhigender Gedanke. Mein Vater verabschiedete sich schließlich und fuhr davon. Ein Junge aus meinem Jahrgang erschien hinter der Hausecke und winkte uns zu sich. Wir sollten wohl in den Hintergarten kommen. Der Junge drehte sich um und rief zu irgendwem: »Die Alten sind weg, kannst wieder anmachen!« Auf einmal kam uns eine Welle von etwas, dass man noch gerade so als Musik identifizieren konnte, entgegen, gefolgt von heftigem Gelächter. All meine Hoffnung war dahin, und ich hätte am liebsten wieder den Heimweg angetreten, auch zu Fuß, wenn es hätte sein müssen, doch David zerrte mich in den Hintergarten des Hauses. Es war noch nicht einmal dunkel, doch die Party schien schon in vollem Gang zu sein. In einigen Gartenecken sah ich Menschen auf dem Boden hocken, die wahrscheinlich ihren Mageninhalt entleerten, einige Mädchen torkelten an mir vorbei und auf einem Hof stand eine Reihe aus fünf Jungs, die alle wie um die Wette Bier tranken. Ein paar Meter gegenüber standen vier Jungs, einer rannte einem Ball hinterher. Schien irgendso ein Trinkspiel zu sein. »Sag mal, David, glaubst du wirklich, das war eine gute Idee?« ... »David?« Keine Antwort. Neben mir war er nicht mehr. Ich drehte mich in alle Richtungen um, doch ich konnte ihn nirgendwo entdecken. So viel zu ›auf mich Acht geben‹. Deprimiert setzte ich mich an einen Tisch, so weit weg von den anderen Menschen, wie möglich. Ich sah mich etwas um und konnte überall nur aufgedrehte und auf eine schon nicht mehr natürliche Art fröhliche Jugendliche entdecken. Das war wirklich kein Ort für mich. Wahrscheinlich werde ich den ganzen Abend allein herumsitzen, dachte ich mir, so wie immer. Auf einmal glitt eine Bierflasche über den Tisch und blieb direkt vor meiner Nase stehen. Als ich einen Blick in die Richtung warf, aus der die Flasche gekommen war, sah ich den Skater, der mir bei Nico geholfen hatte. Er hatte ein blaues Auge und ein paar Schrammen im Gesicht, doch es schien ihm soweit noch ganz gut zu gehen. Er setzte sich neben mich. »Das ist wohl nicht deine Welt, was?« »Nein, absolut nicht«, stimmte ich ihm zu. »Und, ähm, danke... wegen Nico.« Er winkte ab, als wäre es keine große Sache gewesen. »Ich bin übrigens Felix.« »Tobias«, lächelte ich. Wenigstens einer, mit dem man sich normal unterhalten konnte. Felix nahm einen Schluck von seiner Bierflasche. Nun gut, nach seinem ›kleinen Schluck‹ war etwa ein Drittel der Flasche leer. Fasziniert sah ich immer wieder zwischen der Flasche und Felix hin und her. »Die Übung macht's«, lachte er. Ich lachte unbehaglich zurück. Wahrscheinlich würde ich nach einem Drittel der Flasche schon auf Boden liegen. Oder auf dem Tisch tanzen. Wer weiß. So oder so, ich ließ das Getränk lieber in Ruhe. »Ey, Schwuchtel!«, brüllte auf einmal jemand direkt in mein Ohr. Ich unterdrückte einen Schrei und drehte mich um. Und schluckte auch einen weiteren Schrei des Entsetzens herunter. Hinter mir stand Aksel höchstpersönlich und grinste mich an. Gerade, als ich mich fragte, ob er vielleicht ein paar Gläser zu viel getrunken hatte, umschlungen seine Arme meinen Oberkörper und er drückte sich an mich. Mein Herzschlag legte sofort ein paar Takte zu und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Du wirst ja ganz warm...«, neckte Aksel mich, allerdings mit einem freudigen Unterton, als hätte er genau das geplant, und drückte seine Wange gegen meine. Je mehr Mühe ich mir gab, nicht nervös zu sein, desto aufgeregter wurde ich. Aksels Nähe raubte mir jede Luft zum Atmen, und die Leute am Tisch, die uns beiden kritische Blicke zuwarfen, beruhigten mich nicht gerade. »Lass mich los«, bat ich Aksel. In meiner Stimme schwang eine Spur von Verzweiflung mit. Doch er dachte gar nicht daran, meiner Bitte nachzugehen. »Magst du mich denn nicht?«, fragte er schmollend. Natürlich mag ich dich, schoss es mir in den Kopf. Mehr, als du je ahnen könntest. Aber das kann ich dir doch unmöglich sagen. Meine Gedanken flogen wirr hin und her, ich suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort, die meine wahren Gefühle nicht verraten würden. Ich könnte ihm ja sagen, dass er mich nervt. Aber wenn er dann, wenn auch nur gespielt, traurig wäre, würde ich ihn wahrscheinlich heulend um Verzeihung bitten. Argh, warum muss ich nur so ein miserabler Lügner sein? »Man, Aksel, hör doch auf, den Kleinen zu verarschen. Für ihn ist alles schon schlimm genug«, rief Felix leicht gereizt. Aksel warf diesem einen Todesblick zu, jedoch ohne mich auch nur ein bisschen loszulassen. Während ich befürchtete, bei mir könnte sich langsam eine Klaustrophobie entwickeln, überlegte ich mir noch, ob Felix Recht haben könnte. Vielleicht war das alles ja nur eine Art Scherz. Genau, bestimmt verarschte Aksel mich schon, als wir uns auf der Klassenfahrt umarmt hatten. Und auch dann, als wir... Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was geschah, entfernte sich Aksel von mir – nur, um sofort wieder näher zu kommen – und schon lagen seine Lippen lagen auf meinen. Mein Kopf schaltete sich automatisch aus. Ein seltsames, warmes Gefühl breitete sich in mir aus und jegliches Gefühl für Zeit löste sich in Luft auf. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis der sanfte Druck auf meinen Lippen nachließ und Aksel sich langsam von mir entfernte. Es hätten mehrere Sekunden sein können, vielleicht aber auch noch nicht einmal eine. Jedenfalls dauerte es lange, bis die plötzliche Stille, die um uns herum entstanden war, aufhörte, und ich langsam begriff, was gerade geschehen war. »Glaubst du immer noch, ich meine es nicht ernst?«, fragte Aksel kalt. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Felix zögerlich den Kopf schüttelte. In meinem Kopf ging ich immer wieder durch, was gerade passiert war. Ich konnte es immer noch nicht begreifen, war noch immer völlig berauscht. Eine Art Kribbeln wanderte durch meinen ganzen Körper, mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Geschwindigkeit meines Herzschlages konnte es mit einem Rennwagen aufnehmen, zumindest fühlte es sich so an. Ich hatte noch immer ein seltsames Gefühl auf den Lippen, als wäre der Kuss von mir und Aksel nie unterbrochen worden. In mir bildete sich ein Wunsch, beinah schon ein Verlangen, gegen das ich nichts tun konnte. Ich wollte mehr. Diese Gefühle verwirrten mich. Aksel verwirrte mich. Meint er es jetzt doch ernst, oder hatte der Alkohol seine Sinne getrübt? War er sich überhaupt bewusst, was er gerade getan hatte? »A-Aksel... D-du, du hast...«, stotterte ein Mädchen, dass am Tisch saß. Sie fragte sich anscheinend das gleiche. »Ja, habe ich«, sagte Aksel gleichgültig, »und ich würde es wieder tun.« Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Ich habe dir schon einmal gesagt, wieso.« Danach ging er. Das Mädchen fing an, zu weinen, anscheinend war sie in Aksel verliebt. Einige Freunde von ihr trösteten sie und warfen mir vorwurfsvolle Blicke zu. Wieso bin ich Schuld, wenn Aksel mich küsst? Es kam total unvorbereitet. Naja, ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich noch Zeit zum Reagieren gehabt hätte. Außerdem war das Ganze auch ein großer Schock für mich. Es war immerhin mein erster Kuss. Ja, mit Siebzehn. Ich weiß, ich weiß. »Das ist echt abartig, man«, hörte ich Felix auf einmal sagen. Auch er sah mich vorwurfsvoll an, gemischt mit etwas Ekel. Die Anderen am Tisch stimmten ihm zu. »Total widerlich!« Ich fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Sollte ich ihnen jetzt etwa zustimmen und sagen, dass ich das alles gar nicht wollte? Nein, meine Gefühle sind echt, ich werde sie nicht verleugnen, schoss es mir durch den Kopf. Für das, was ich fühle, kann ich doch nichts. Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Aber deswegen verurteilt zu werden ist, finde ich, das Letzte. Ohne ein Wort stand ich auf und ging davon. Die Blicke der Anderen spürte ich noch im Rücken, bis ich vollständig in der langsam einkehrenden Dunkelheit verschwand.   Ich saß allein auf einer Parkbank, die ich in der hintersten Ecke des Gartens gefunden hatte. Die einzigen Leute, die hierher kamen, waren Paare, die wohl irgendetwas machen wollten, bei dem ich nicht dabei sein sollte. Sobald sie mich sahen, verschwanden sie wieder. Ob das an meinem unmotivierten Ausdruck liegt?, fragte ich mich. Konnte mir eigentlich auch egal sein, ich wollte lieber meine Ruhe. Ein bisschen Zeit, mich zu sammeln. Die Geschehnisse zu verarbeiten und so weiter. Gut, jetzt habe ich mich genug gesammelt, beschloss ich. Ich nahm mein Handy aus meiner Hosentasche und schaute meine Kontakte durch. Das nahm circa fünf Sekunden in Anspruch, und so überlegte ich, wen ich anschreiben könnte. Mal sehen, der ADAC war jetzt keine große Hilfe. Aksel erst Recht nicht. Vielleicht konnte ich ja mit der Auskunft über die Intoleranz der Menschen philosiphieren. Obwohl, nein, der Toilettenanruf im Kino hatte mir eigentlich schon gereicht. David war der Nächste in meiner Liste. Wo steckte der eigentlich? Ich konnte ihn ja kurz anrufen. Vielleicht hatte er zufälligerweise auch keine Lust mehr auf die Party. »Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar.« Könnte mich auch getäuscht haben. Na gut, der Nächste. Besser gesagt: die Nächste. Meine Mutter. Ich hatte es immer noch nicht fertig gebracht, sie aus meiner Kontaktliste zu löschen. Das kam mir irgendwie wie Verrat vor. Als würde in ihr Schlafzimmer ein zweites Badezimmer bauen lassen, oder so. Als Nächstes kam mein Vater, als letzter auf meiner Liste. Ich schrieb ihm eine SMS und versuchte, sie so ungezwungen und nicht-verzweifelt wie möglich klingen zu lassen. Dieser Ort ist die Hölle! Du hast nicht zufällig Lust, eine Spritztour hierher und nach Hause zu machen? Naja, ich hab's versucht. Eine Minute später erreichte mich folgende Antwort: Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass der Tank leer ist? Wütend schrieb ich zurück: Nein! Ungeduldig wartete ich seine Antwort. Hoffentlich holt er mich von diesem Ort ab, flehte ich in Gedanken. Dann haben wir einen Platten. Ich beschloss spontan, ihn zu ignorieren und so tiefe Schuldgefühle in ihm auszulösen. Bestimmt macht er sich jetzt Schon Sorgen um mich, dachte ich mir. Ich seufzte. Gut, was soll ich so lange machen, bis mein Vater es nicht mehr ohne mich aushält?, fragte ich mich und warf einen erneuten Blick auf meine Kontaktliste. Aksel. Ich erklärte mich selbst für verrückt, schrieb aber trotzdem eine SMS an ihn. Irgendwie war mir momentan alles egal, dieses komische Schwindelgefühl, dass ich hatte, nervte mich aber schon. Ob dieses rote Zeug, dass ich getrunken hatte, wirklich nur Kirschsaft war? Immerhin hatte es nach Kirsche geschmeckt. Das spricht doch stark dafür, oder nicht? Die Nachricht war fertig getippt und ich stellte meine Überlegungen ein. Ich wusste, es war zwar keine besonders gescheite Idee, und ich würde es auch höchstwahrscheinlich hinterher wieder bereuen, doch ich schickte die SMS ab. Können wir uns sehen? Aufgeregt wartete ich auf eine Antwort von ihm. Vielleicht würde ja auch gar keine kommen, doch ich hoffte darauf. Ich wollte eine Gelegenheit bekommen, mit ihm zu reden. Endlich etwas Gewissheit zu haben. Und die Situation erschien mir irgendwie passend. Schließlich hatten wir uns ja irgendwie … geküsst. Oh Gott, dieses Wort. Geküsst. Ich hätte nie gedacht, dass es jemals im Leben auf mich zutreffen würde. Auf einmal vibrierte mein Handy. Schnell zog ich es aus meiner Hosentasche und schaute auf die Nummer, die mich anrief. Es war Aksel. Ohne groß nachzudenken, drückte ich auf den grünen Hörer. »J-ja?« Meine Stimme klang schrecklich rau, als wäre ich heiser. Verdammte Nervosität. »Wieso willst du, dass wir uns sehen?« Ich schluckte. Jetzt bloß nicht durchdrehen, Tobias. »Ä-ähm, ich wollte... ich weiß nicht... ich...« »Du hast mich vermisst, richtig?«, unterbrach Aksel mich. Es war so still, dass ich meinen Herzschlag hören konnte. Mein Kopf suchte überall nach einer Antwort, fand jedoch keine. Mein Herz schien jedoch bereits zu wissen, was es wollte: »Ja. Du fehlst mir.« Wieder Stille. Ich spürte erst jetzt, wie sehr meine Hand, in der ich das Handy hielt, zitterte. So aufgeregt war ich wahrscheinlich noch nie in meinem Leben. Das war ja schon ein indirektes Geständnis, dass ich da gerade abgelegt hatte. Aksel konnte sich seinen Teil bestimmt schon denken. War sein Schweigen ein Zeichen dafür, dass er nicht so für mich empfand, wie ich für ihn? Mit diesen Gedanken sank mein Mut. Am liebsten hätte ich wieder aufgelegt. Ich wollte nicht hören, wie er mich abweist. Das würde ich nicht aushalten. Auf einmal spürte ich, wie jemand seinen Kopf auf meine Schulter legte und mich von hinten umarmte. Vor Schreck ließ ich mein Handy fallen. »Ich hab' dich auch vermisst«, flüsterte Aksel mir zu und steckte sein Handy in seine Hosentasche. Er löste die Umarmung und ging um die Bank herum. Schließlich setzte er sich neben mich. Ich wich seinem Blick aus und drehte meinen Kopf zur anderen Richtung. Er hat mich vermisst. Dieser einzelne Gedanke flog mir immer wieder durch den Kopf und ließ keinen anderen mehr zu. So ein einfacher Satz, der in mir so viele Gefühle auslöste. »…Weinst du?«, fragte Aksel mich plötzlich. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Unter leisem Schluchzen nickte ich. Meine Schultern bebten und die Tränen liefen ohne Ende meine Wangen hinunter. Es kam ganz plötzlich, ohne, dass ich es erwartet hatte. »Tut mir Leid«, murmelte ich peinlich berührt und wischte mir über die Augen. »Ich bin nur so... also...« Aksel legte seine Hand ganz sanft auf meine Wange. Ich drehte mich endlich zu ihm und sah ihn an. Er betrachtete mich mit diesem liebevollen Blick, doch man konnte ihm auch ansehen, dass er aufgeregt war. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, fand aber anscheinend keine Worte und wich meinem Blick aus. Auf sein Gesicht legte sich ein leichter Rotschimmer. So hatte ich Aksel noch nie erlebt, und es machte mich einfach unendlich glücklich, ihn so zu sehen. Zu wissen, dass er mir gegenüber seine Fassade abgelegt hatte. »Darf... ich dich...?«, fragte er mich zögerlich. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. »Frag' mich doch nicht erst«, murmelte ich verlegen und starrte auf den Boden. Aksel näherte sich mir, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten, und mein Herz schlug hart gegen meine Brust. Er legte seinen Kopf schief und kam noch näher. Ich schloss meine Augen, mir wurde bereits leicht schwindlig, doch es fühlte sich nicht unangenehm an, im Gegenteil. Und dann berührten sich schließlich unsere Lippen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Kurz zuckte ich zurück. Ich lehnte gegen seine Stirn und schaute verlegen auf den Boden. »Tut mir Leid«, flüsterte ich. »Ich bin nur so … nervös.« »Das musst du nicht...«, antwortete er leise und streichelte meine Wange. Ich sah in seine dunklen Augen. Aksel war mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Das Gefühl der Anspannung in mir nahm zu, doch gleichzeitig stieg auch meine Sehnsucht, Aksel bei mir zu spüren. Eigentlich hatte ich immer erwartet, dass ich panisch die Flucht ergreifen würde, sobald jemand auch nur versucht, mir zu nahe zu kommen. Aber bei Aksel ist alles ganz anders. Ich wollte ihn am liebsten gar nicht mehr gehen lassen. Was war nur los mit mir, dass eine einzige Person meine ganze Welt auf den Kopf stellen konnte? Als Aksel seine Lippen wieder sanft auf meine legte, stellte ich meine Überlegungen ein. Ich  schlang meine Arme um seinen Rücken, Aksels Hand wanderte von meiner Wange in meinem Nacken, seinen anderen Arm legte er um meine Hüfte. Zuerst waren wir sehr zögerlich, doch irgendwann lagen wir einander in den Armen und lösten unsere Lippen nur voneinander, wenn wir keine Luft mehr bekamen, jedoch nur um so schnell wie möglich wieder zueinander zu finden. Eine Gänsehaut machte sich auf meinem Körper breit, gefolgt von wohligem Kribbeln, und ich war mir sicher, meine vorherige Frage beantworten zu können: Ich liebe Aksel, das ist alles. Und so langsam glaubte ich, diese Gefühle wurden erwidert. »Ey, was macht ihr da?!« Wir lösten uns abrupt voneinander. Erschrocken wandten wir uns zu der Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort standen Nico, seine Gang und einige Jungs, die ich schon öfter in unserer Schule herumlaufen gesehen hatte. Sie alle sahen mich und Aksel mit hass- und ekelerfüllten Blicken an. Ich schluckte und vergrub meine Finger tiefer in Aksels T-Shirt. Dieser warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Blick bedeutete. Aksel beugte sich zu mir hinunter und flüsterte in mein Ohr: »Tut mir Leid.« Dann stand er auf und ging auf die Gruppe der Jungs zu. Ich starrte ihm fassungslos hinterher. Was hatte er vor? Und wofür entschuldigte er sich? »Man, Aksel, was machst du da für kranken Scheiß?«, fragte Nico und deutete mit einem Kopfnicken in meine Richtung. Aksel warf mir einen verachtenden Blick zu. Ich betete, dass er mir beistehen würde. Er musste sich nicht gegen all seine Freunde auflehnen, aber wenigstens ein Versuch, die Situation zu erklären, war mir genug. »Ich hab' wohl schon ein paar Gläser zu viel gehabt«, meinte Aksel und zuckte mit den Schultern. »Ist aber echt lustig, wie schnell man die Schwuchtel rumkriegt. Ich war ein bisschen nett zu ihm und er wäre am liebsten mit mir ins Bett gehüpft.« Die Jungs lachten. Ich hörte einige von ihnen, wie sie mir Dinge zuriefen, zum Beispiel »So ein naiver Vollidiot.« »Erbärmliche, kleine Schwuchtel.« »Der hat's auch echt nötig.« »Das kommt davon, wenn man so ein Freak ist.« Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Gruppe schließlich ging. Ich hörte Nico noch sagen: »Aber erschreck' uns nicht mehr so, Alter.« Aksel lachte und antwortete: »Nie im Leben. Komm, gib's zu, du hast mir doch was in den Drink getan!« Es zerriss mir das Herz. Ich saß einfach nur da und starrte Aksel hinterher, in der Hoffnung, er würde sich doch noch umdrehen und zurückkommen. Tränen liefen still meine Wangen hinunter, ich schenkte ihnen keine Beachtung. Aksel drehte sich ein letztes Mal zu mir um, ich konnte seinen Blick jedoch nicht deuten – die Tränen verschleierten meine Sicht - bevor er und die Anderen in der Dunkelheit verschwanden. Erst als ich ganz allein war, begann ich, die Situation zu realisieren. Und brach endgültig in Tränen aus. Ich stützte meine Ellenbogen auf meinen Knien ab und hielt die Hände vor mein Gesicht. Wie konnte ich nur so dumm sein, an mein vollkommenes Glück zu glauben? Geschweige denn Aksel mein Vertrauen zu schenken? Ich wusste doch, dass er mich, egal, was vorher zwischen uns gewesen war, am Ende immer fallen lassen würde. Ich hob meinen Kopf. Meine Sicht war verschwommen, doch ich konnte deutlich mein Handy auf dem Boden erkennen. Schnell wählte ich meine Hausnummer. Ich wollte nur noch weg. »Bei Gerst, hallo?«, meldete sich mein Vater. »Michael?« »Wir haben immer noch einen Platten«, antwortete er und ich konnte mir vorstellen, wie er lächelte. Ich schniefte. »Kannst du mich bitte abholen?«, fragte ich und versuchte, nicht zu verheult zu klingen. Doch mein Vater bemerkte es natürlich. »Ich bin sofort da«, sagte er, ohne zu zögern. Das Gespräch war beendet. Ich wischte mir die Tränen weg, und meine Augen brannten bereits vom vielen Weinen. Wahrscheinlich waren sie stark gerötet, was mich noch lächerlicher machen würde, wenn ich an den ganzen Partygästen vorbeigehen musste. Die Geschichte mit Aksel hatte sicher schon ihre Runde gemacht. Ich sollte über einen Schulwechsel nachdenken, beschloss ich und machte mich auf den Weg zum Hof. Schon bei den ersten Jungs, an denen ich vorbeiging, herrschte bei meinem Anblick belustigtes Kichern. Als schließlich die große Masse mitten im Garten kam, wurde mir bereits wild zugerufen. Ich hörte einige im Chor ›Schwuchtel, Schwuchtel!‹ singen. Genau wie in der Schule, schoss es mir durch den Kopf. Einige fragten mich, ob ich ein Taschentuch haben wollte. Ich versuchte so gut, wie es ging, das Gelächter und die Demütigungen zu ignorieren und riss mich von jedem los, der versuchte, mich am Arm oder an der Schulter zu packen. Wie ein kleines Schulmädchen ließ ich mich fertig machen und lief einfach davon. Aber mir fehlte einfach jeder Mut, mich zur Wehr zu setzen.   Ich ging die Straße entlang. Das Haus des Gastgebers war bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden und ich war auch ziemlich froh, davon weg zu sein. David würde schon ohne mich klar kommen, und ich hatte definitiv genug für einen Abend erlebt. Nur bei dem Gedanken an all die Erlebnisse schossen mir wieder Tränen in die Augen. Dabei wurde mir erneut klar, wie verschieden ich und Aksel waren. Für ihn waren Gefühlsregungen, egal welcher Art, eine Besonderheit, während heulen bei mir schon fast an der Tagesordnung stand. Unglaublich, dass ich jemals geglaubt habe, wir hätten eine Chance, zusammen zu sein. Das Auto meines Vaters kam mir endlich entgegen. Ich blieb am Straßenrand stehen (das Dorf hielt Fußgängerwege anscheinend für Geldverschwendung) und ließ mich, sobald das Fahrzeug stehen geblieben war und ich die Autotür geöffnet hatte, in den Sitz fallen und stieß einen erschöpften Seufzer aus. Mein Vater schwieg und fuhr los, nachdem ich mich angeschnallt hatte. Auch ich sagte nichts, ich wollte ihm lieber später alles erzählen. Ich war zu fertig, um zu reden. Wir hatten gerade das Dorf, in dem die wohl schrecklichste Feier meines ganzen Lebens stattfand, verlassen, als der Schlaf mich übermannte und ich Aksel in meinen Träumen wiedersah. Natürlich war es, der Situation entsprechend, ein Albtraum, der all meine Gedanken und Erlebnisse des Abends widerspiegelte. All die Hoffnung. Die Enttäuschung. Alles noch einmal von vorne. Innerlich wusste ich jedoch, dass mein größter Albtraum die Realität selbst war. Träume gingen vorbei, doch wie sollte ich schon der Wirklichkeit entkommen? Kapitel 30: 23. Juli -------------------- Einen ganzen Tag lang herumzusitzen, eine Eispackung nach der anderen zu essen, und in Stoßbächen Tränen zu vergießen, ist für mich ja irgendwie schon normal geworden, wenn ich ein schlimmes Erlebnis hatte. Doch dieses Mal läuft alles ganz anders ab: Ich esse nicht. Ich weine nicht. Ich hocke nicht einmal tatenlos herum. Im Gegenteil, ich bin eigentlich sogar richtig produktiv. Irgendwann, so um vier Uhr morgens, hörten einfach die Tränen auf und neuer Mut durchflutete meinen Körper. Es ist gerade neun Uhr, und ich habe schon mein Zimmer aufgeräumt, meine Kleidung nach Farben sortiert (und dabei entdeckt, dass mein Pink-Anteil gar nicht so ausgeprägt ist, wie erwartet), die Bücher und Filme nach Alphabet angeordnet und das Frühstück vorbereitet. Und jetzt sitze ich hier auf dem Sofa, warte darauf, dass mein Vater wach wird und bin schon ein bisschen stolz auf mich. Ich habe mich nicht von meiner unglücklichen Liebe unterkriegen lassen und aus meinen negativen Gefühlen das Beste herausgeholt! Ich höre gerade ein paar Fußschritte von oben. Mein Vater scheint aufgewacht zu sein. Mal schauen, ob heute noch etwas Besonderes passiert.   Später   Mein Leben ist eine Lüge. Jeder Tag, in den ich hinein lebe, ist auf einer Lüge augebaut. Am Ende stelle ich immer wieder fest, dass der erste Gedanke, den ich gefasst habe, eine komplette Fehleinschätzung war. Erst denke ich, Aksel erwidert meine Gefühle, dann merke ich, dass er nichts als Verachtung fühlt. Dass er mit meinem Herzen umgeht, als wäre es ein billiges Spielzeug, ohne auch nur kurz an die Konsequenzen zu denken. Um die Narben, die er hinterlässt, kümmere ich mich allein, da hat er wieder eine andere Beschäftigung gefunden. Das alles war eine philosophischere Umschreibung dafür, was ich eigentlich sagen möchte: Mir geht es beschissen. Aber das klingt nicht so ästhetisch, dachte ich mir. Verdrängung scheint doch nicht der richtige Weg für mich zu sein. Wenigstens war David, mein bester (und einziger) Freund, bei mir, als diese Erkenntnis mich überkam. Nun, genau genommen hat er sie ausgelöst. Ich saß auf dem Sofa, noch immer von meinem neu gewonnenen Lebensmut erfüllt. Wippte mit meinen Füßen, nicht wissend, wohin mit der ganzen Energie, und suchte nach irgendeiner Aufgabe. Aus der Küche hörte ich, wie mein Vater einige Schubladen öffnete und wieder schloss. Nach einer Weile kam er in das Wohnzimmer, sich verwirrt am Kopf kratzend. In seiner anderen Hand hielt er einen Teller, auf dem eine Scheibe trockenes Brot lag. »Weißt du, wo die Messer sind, Tobias?«, fragte er. »Ich habe in der Schublade neben dem Kühlschrank geguckt, aber da sind sie nicht. Hast du umgeräumt oder so?« Ich nickte eifrig. »Ich dachte, unsere Küche ist ziemlich unübersichtlich, deswegen habe ich alles umsortiert, in alphabetischer Reihenfolge. Die Messer sind jetzt in der Schublade der Theke, auf der der Mixer steht«, erklärte ich mit einem stolzen Lächeln. Mein Vater betrachtete mich für einige Sekunden mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Skepsis. Schließlich seufzte er und setzte sich neben mich auf das Sofa. Nachdem er seinen Teller abgestellt hatte, positionierte er sich so, dass wir uns direkt gegenüber saßen, und schaute mich schweigend an. In seinem Blick konnte ich Mitleid und Trauer erkennen, aber auch eine Spur Belustigung. Ich hatte keine Ahnung, was er nun zu mir sagen würde. »Tobias«, fing er an. So beginnen Eltern fast immer, indem sie zuerst den Namen nennen. Vielleicht erwarten sie dadurch, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Kindes zu bekommen, was nicht unbedingt immer funktioniert. Gefährlich wird es erst, wenn man mit seinem vollen Namen gerufen wird. Ich blinzelte ein-, zweimal, und schaute meinen Vater mit erwartungsvollem Blick an, um ihm zu signalisieren, dass ich zuhörte. »Du kannst deine Probleme nicht einfach beiseite schieben und so tun, als gäbe es sie gar nicht. Verdrängung bringt dich nicht weiter.« Ich schnaubte verächtlich. »Was heißt hier ›verdrängen‹? Ich habe mit meinen Problemen abgeschlossen!« Der Blick meines Vaters verlor jedes Anzeichen von Belustigung, seine Stimme klang sehr melancholisch, als er sagte: »Probleme sind vergleichbar mit einem Haufen Schmutz. Du kannst diesen Schmutz nun entweder nehmen und ihn zur Mülltonne tragen, oder du entscheidest dich für die bequemere Variante und kehrst ihn unter den Teppich. Dann ist er zwar oberflächlich nicht zu sehen, doch tief im Inneren weißt du, dass er noch da ist. Spätenstens, wenn du über die Wölbung des Teppichs stolperst.« Genervt von dem Gefühl, dass mein Vater mit mir redete, als wäre ich ein kleines Kind, rollte ich mit den Augen und erwiderte gereizt: »Ich habe nichts ›unter den Teppich gekehrt‹. Meine Probleme sind gelöst und damit basta.« »Also hast du dich mit Aksel ausgesprochen und kannst ihm ohne Schwierigkeiten unter die Augen treten«, fragte mein Vater, formulierte es jedoch mehr wie eine Aussage, als eine Frage, da er sich der Antwort höchstwahrscheinlich schon bewusst war. Trotzdem zwang er mich, ihm diese selbst zu sagen. Ich wich seinem Blick aus. »Nein, mit ihm gesprochen habe ich nicht«, murmelte ich. »Aber trotzdem«, sagte ich und meine Stimme und mein Blick erhoben sich, »ich kann trotzdem ohne Schwie-« Der mehr als skeptische Blick meines Vaters ließ mich schweigen. Er sah mich an, als hätte ich ihm erzählt, ein Hund habe meine Hausaufgaben gefressen. Als wäre ich der größte, dümmste Lügner der Welt. Bevor wir unser Gespräch fortführen konnten, klingelte es an der Tür. Mir kam die Unterbrechung ganz gelegen, da mein neu gewonnenes Selbstwertgefühl mehr und mehr den Bach herunter ging. Und das Dank meines eigenen Vaters. Nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, sah ich David auf der Fußmatte stehen. Ich hatte nicht einmal Zeit für ein Wort der Begrüßung, da hatte David schon meine Hände gepackt und rief den Tränen nahe: »Tobi, oh mein Gott, es tut mir so Leid! Ich wusste nicht, dass so etwas passieren würde! Hätte ich das gewusst, dann hätte ich dich doch nie mit zu dieser blöden Party geschleppt! Es ist alles meine Schuld!« Seine Stimme beruhigte sich wieder etwas. »Das muss so unbeschreiblich schlimm für dich gewesen sein. Ich hätte nie so etwas von Aksel erwartet, dass er dich einfach… vor all diesen Leuten… oh Gott, Tobi, du musst doch am Boden zerstört sein. Wenn du reden willst, bin ich da, okay? Du kommst irgendwann darüber hinweg, auch wenn es hart sein wird!« Nach Davids Vortrag war ich einfach nur überrumpelt. Sekunde für Sekunde verarbeitete ich das eben gesagte, während die Erlebnisse des Abends vor meinem inneren Auge noch einmal wie ein Film abgespielt wurden. Der Kuss. Die anderen, die uns unterbrachen. Aksels Worte. »Echt lustig, wie schnell man die Schwuchtel rumkriegt. Ich war ein bisschen nett zu ihm und er wäre am liebsten mit mir ins Bett gehüpft.« Ich schluckte. Die Erinnerungen gingen weiter, ich konnte nichts dagegen tun, durchlebte praktisch den ganzen Albtraum noch einmal. »Man, Aksel, mach das nie wieder«, hatte Nico gesagt. »Nie im Leben«, hatte er ohne mit der Wimper zu zucken geantwortet. Nie im Leben würde ich etwas mit der Schwuchtel anfangen. »Daaavid!«, heulte ich auf und fiel meinem besten Freund um den Hals. »Er ist so ein Arsch! E-erst küsst er mich und dann, und d-dann, als seine Fre-Freunde kommen, sagt er, ich hätte angefangen und haut ab! D-du hättest sehen sollen, w-wie die mich angeguckt haben. Als… als wäre ich der Inbegriff der Unmenschlichkeit! « Ich legte eine Pause ein, um meine Nase hochzuziehen, bevor ich neben all den Tränen, die ich auf David vergoss, jetzt auch noch auf seinen Rücken rotzte. »Wieso macht er das? Was ist so scheiße an mir, da-dass er mir das antun muss?« Mir fehlte die Kraft, weitere der Fragen an David zu stellen, die mich so quälten. Er würde sie sowieso nicht beantworten können. Nur Aksel allein konnte das. »Geht es euch gut?«, hörte ich meinen Vater fragen, der schon etwas beunruhigt klang. »Michael«, schniefte ich. »Ich brauche jetzt dringend ein Eis.«   »Weißt du, ich habe schon oft von Menschen gehört, die sich umgebracht haben, einfach weil sie ihre Probleme monatelang ignoriert haben. Als all die angestauten Gefühle herausbrachen, war es zu viel für sie und sie nahmen sich das Leben.« Ich lauschte Davids kurzem Monolog und aß einen weiteren Löffel Eiscreme. »Wow, und ich habe nicht einmal einen Tag durchgehalten, bis ich alles aus mir herausgeheult habe, wie ein kleines Mädchen. Sogar im depressiv sein bin ich eine Niete.« David konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. »Eigentlich wollte ich dir damit sagen, dass du das Richtige getan hast. Du hättest dich nur noch mehr kaputt gemacht.« Ich brummte nur als Antwort. Nachdem ich David erzählt hatte, was in mir vorging, fühlte ich mich schon nicht mehr ganz so beschissen. »Was hast du jetzt eigentlich vor?«, fragte er mich. Während ich überlegte, kaute ich ein bisschen auf meinem Plastiklöffel herum, beschloss dann aber, ihn wieder in das Eis zu tunken. »Naja, ich dachte, ich setze mich in irgendeiner fremden Stadt ab, ändere meinen Namen und vergesse diese schreckliche Blamage. Vielleicht kaufe ich mir eine von diesen Amnesie-Pillen, von denen Herr Wener einmal erzählt hat.« Daniel zog eine Augenbraue nach oben. Die Skepsis stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wie war das mit dem Verdrängen?« Ich lachte unbelustigt. »Was soll ich denn sonst machen? Zu Aksel gehen, ihn fragen, warum er mir gegenüber so ein unsensibler Trottel ist und schließlich einen Friedensvertrag mit ihm und den Rest des Jahrgangs abschließen, oder was?« »So ungefähr hatte ich mir das eigentlich gedacht«, erwiderte David unbeeindruckt. Ich warf meinem besten Freund einen ›Willst-du-mich-verarschen‹-Blick zu, den er gekonnt ignorierte. »Vielleicht kann ich ihn ja mal ansprechen. Er scheint dir gegenüber irgendwie seine Gefühle zu unterdrücken.« Wären meine Gedanken zu dieser Aussage nicht so grausam gewesen, hätte ich laut losgelacht. »Er ›unterdrückt seine Gefühle‹? Oh nein, er lässt mich ganz genau wissen, wie er über mich denkt. Und genau das ist ja das Problem.« David schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass es das ist. Er versteckt sich hinter einer Fassade. Ich glaube, in Wirklichkeit mag er dich mehr, als er akzeptieren will.« Ich atmete tief durch, bevor ich anfing, zu reden. »Genau das hatte ich auch einmal angenommen. Aber das war, bevor Aksel mich vor all den Partygästen hat abblitzen lassen. Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll. Er hat mich geküsst – von sich aus – und dann, als seine Freunde gekommen sind, hat er gesagt, dass ich einfach rumzukriegen wäre. Dass ich mit ihm ›ins Bett gehüpft‹ wäre, wenn er danach gefragt hätte.« Ich spuckte die Worte förmlich aus, bemerkte dann aber Davids verletzten Gesichtsausdruck. »Tut mir Leid. Dich trifft keine Schuld, ich bin nur wütend auf Aksel.« David legte seine Hand auf meine. »Das ist auch völlig verständlich. Ich möchte nur, dass du dich nicht mehr von ihm unterkriegen lässt.« Ich verzog meinen Mund zu einem halben Lächeln. Selbstverständlich wollte ich mir nicht mehr auf meinen Gefühlen herumtrampeln lassen, aber ob diese Entschlossenheit sich nicht in Luft auflösen würde, sobald Aksel vor mir stand, bezweifelte ich doch. David streckte mir seine Hand entgegen. »Überlass das nur mir«, grinste er, »ich mach ihm die Hölle heiß, bis er endlich mal sagt, was Sache ist.« Ich seufzte und fand seine Idee noch immer sehr fragwürdig, nahm aber seine Hand. Somit war die Sache praktisch besiegelt. David würde Aksel in die Mangel nehmen. Ob das klappt? Kapitel 31: 24. Juli -------------------- Ich glaube, ich sollte aufhören, zu versuchen, mir eine feste Meinung über Aksel zu bilden. Sobald ich mir auch nur in entferntester Weise relativ sicher bin, ihn endlich ein bisschen durchschaut zu haben, wechselt er von einer Sekunde zur anderen komplett seinen Charakter. So langsam frage ich mich, ob ein Mensch wirklich so extreme Stimmungsschwankungen haben kann, oder er nicht doch nur versucht, mich zu verwirren. Also, wenn das sein Plan ist, dann hat er auf jeden Fall Erfolg gehabt. Mein Tag fing ganz normal an. Ich saß auf dem Sofa und wusste nicht, was ich tun sollte. So langsam stellte sich heraus, dass mein Vater ein leidenschaftlicher Langschläfer ist. Da komme ich eher nach meiner Mutter, zu deren Kontrollzwang auch ein frühes Erwachen gehörte. Aber das tut auch eigentlich nichts zur Sache. Jedenfalls schaltete ich durch das Frühstücksprogramm im Fernsehen, das so wie immer gefüllt war mit Dauerwerbesendungen, bei denen Mixer, Staubsauger oder Bügeleisen so begeistert angepriesen wurden, als könnten sie den Weltfrieden herbeiführen; alten Krimis, bei denen Ketchup-Blut noch als Special-Effect galt und Talkshows mit Gästen, bei denen man sich nicht sicher war, ob sie nicht vielleicht doch extra gut bezahlt wurden, wenn sie einen unmenschlich hohen Grad der Dummheit schauspielerten. All diese Dinge unterhielten mich eher weniger, wie man sich vielleicht vorstellen kann. Doch auf einmal klingelte es an der Haustür. Ich schaute noch verwundert zur Uhr, die anzeigte, dass es gerade mal Acht in der Frühe war. Wer besuchte jemanden denn um so eine Zeit und vor allen Dingen, wer besuchte denn schon mich? Ich ging davon aus, dass der Besuch entweder für meinen Vater war oder dass einem Nachbar Lebensmittel fehlten und ihnen ein Besuch beim nächsten Supermarkt als unmöglich erschien. Wobei ich das noch nachvollziehen könnte, wenn ich dabei an meine Erlebnisse zurückdenke. Aber als ich die Tür öffnete, erwartete mich schließlich eine Überraschung. Eine extrem unerwartete Überraschung, möchte ich hinzufügen. »Hey, Schwuchtel.« Vor mir stand Aksel, jedoch nicht so, wie ich ihn eigentlich kannte. Sonst hatte er immer die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt; seine Nase so weit oben, dass ich überlegte, ob ich ihn vor Insekten warnen sollte, die ihm dort hinein fliegen könnten und der typische Aksel-Blick, auf alle herabsehend und arrogant ohne Ende. Doch als er vor meiner Haustür stand, sah er fast aus, wie ein verängstigter kleiner Junge. Seine Hände hielt er hinter seinem Rücken und sein Blick haftete am Boden, nur ganz selten traute er sich, mir in die Augen zu sehen. Ich atmete einmal tief durch, mein Herz raste, jedoch nicht so wie einst, als es pure Aufregung war, und ein positives Gefühl meinen Körper durchströhmte. Mich durchlief nichts als Schmerz, Enttäuschung und Angst. War er hier, um mich wieder einmal zu verletzen? Oder war das bereits das Ergebnis von Davids Manipulation? »Hey, Aksel.« Ich hatte gerade mal zwei Worte mit ihm gewechselt und fühlte mich wie nach einem Marathonlauf. In meinem Kopf versuchte ich, die gestrige Entschlossenheit wiederzufinden, die sich anscheinend ganz tief in meinem Hirn verkrochen hatte. Aksel kaute auf seiner Unterlippe herum, schien nach Worten zu suchen. Schließlich holte er ein Päckchen hinter seinem Rücken hervor, mit Geschenkpapier umwickelt und einer schönen Schleife versehen. Er streckte mir das Geschenk entgegen und vermied es, mich anzusehen, als er peinlich berührt murmelte: »Alles Gute.« Schweigend nahm ich das Paket an, während ich mir noch überlegte, wofür er mir gratulierte. Meine erste, wenn auch enttäuschende, Liebeserfahrung, oder was? Ich riss das Geschenkpapier vorsichtig auf und konnte etwas rundliches, aus Stoff gemachtes entdecken. Als ich das Geschenk komplett ausgepackt hatte, hielt ich den teuren Plüschpinguin in meinen Händen, den ich noch so panisch weggespackt hatte, als Aksel in den Laden kam. Er hatte es doch gesehen, und auch noch beschlossen, ihn mir zu kaufen. Plötzlich fiel es mir siedenheiß wieder ein. Heute, am 24. Juli, bin ich achtzehn Jahre alt geworden. Happy Birthday to me, schätze ich. Völlig ungläubig betrachtete ich das Plüschtier. War das ein Traum? Aksel erinnerte sich eher an meinen Geburtstag, als ich selbst und kaufte mir sogar etwas? Mit großen Augen schaute ich zu Aksel, der meinem Blick noch immer auswich. »Warum?«, fragte ich ihn verwirrt. Aber vor allem fragte ich mich: Mit was hat David dem armen Kerl denn gedroht, dass er so etwas macht? Er räusperte sich. »Naja, ich hab‘ eingesehen, dass ich echt scheiße zu dir war. Und das … äh, naja, wie soll ich sagen«, murmelte Aksel. »Das tut mir halt leid«, brachte er schließlich unter großer Anstrengung heraus. Er schien eine weitere Erklärung nicht für nötig zu halten, zum Beispiel die, woher er mein Geburtsdatum kannte. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits musste ich mich zurückhalten, Aksel nicht um den Hals zu fallen und ihm zu danken, aber andererseits hätte ich ihm den Pinguin auch gerne in sein Gesicht zurückgeschleudert und dann die Tür hinter mir zugeknallt. Ich wusste aber nicht, welche Entscheidung die bessere, geschweige denn die richtige war. »Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst oder so«, sagte Aksel auf einmal und unterbrach somit meine Gedankengänge. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte mit zittriger Stimme: »Ich erwarte aber etwas. Und zwar, dass du mir endlich mal erklärst…« Ich hielt kurz inne und schaute Aksel tief in die Augen. »…was du eigentlich von mir willst.« Meine untypische Reaktion schien Aksel zu überraschen. Für einige Zeit erwiderte er nichts, bis er schließlich seufzte und eine Hand in seinen Nacken legte. Mit geschlossenen Augen murmelte er schließlich: »Das habe ich dir doch schon gesagt«, meinte er und klang bereits gereizt. Ich ließ jedoch nicht locker, ich wollte endlich eine klare Antwort von ihm, nicht irgendeine billige Ausrede. »Du hast viele Dinge gesagt, die überhaupt nicht zueinander passen. Was stimmt jetzt?«, fragte ich ihn. Er sah nur weiterhin auf den Boden, seine Anspannung wurde immer größer. Die Antwort war da, er wusste sie ganz genau, ich musste sie nur aus ihm heraus bekommen. Also hakte ich noch einmal nach. »Hasst du mich?«, fragte ich Aksel und starrte ihm tief in die Augen, die meinen Blick auf einmal erwiderten, als meine Frage ausgesprochen war. Ich sah deutlich, dass er überrascht war, er überspielte dieses jedoch schnell mit einem Lächeln. Sein Macho-Ausdruck war zurückgekehrt. »Schwuchtel, du machst dir zu viele Gedanken«, sagte er und schaute auf mich herab. Von seiner anfänglichen Zurückhaltung war nichts mehr zu sehen. »Zerbrech‘ dir nicht deinen kleinen, zierlichen Kopf darüber«, flötete er und strich mir über die Haare, als wäre ich ein kleiner Junge. Ich konnte nichts erwidern. Nichts hasste ich mehr als diese dumme Fassade, die er immer auflegte. Am liebsten hätte ich ihn am Arm gepackt und ihn angeschrien. Doch mir fehlte der Mut, beziehungsweise die Kraft dafür. Ich ließ den Pinguin achtlos auf den Boden fallen und entfernte mich von Aksel. Verwirrt ließ er seine Hand noch in derselben Position, als läge sie noch immer auf meinem Kopf. Ich warf ihm einen letzten emotionslosen, aber doch vorwurfsvollen Blick zu, bevor ich mich umdrehte und murmelte: »Ich wünschte, ich könnte dich so einfach aus meinem Hirn streichen, wie du sagst. Eigentlich kannst du mir nämlich gestohlen bleiben.« Dann schloss ich die Tür hinter mir und ließ Aksel allein mit diesen Worten zurück. Er sollte auch mal erfahren, wie es ist, vor den Kopf gestoßen zu werden, und dann allein zu sein, mit tausend Fragen im Kopf, die man nicht allein beantworten kann. Obwohl ihn das ganze wohl nicht so mitnehmen wird, wie mich. Aber es wäre ein netter Gedanke. Meine Entschlossenheit und gnadenlose Härte ließen ziemlich schnell nach, genauer gesagt waren sie dann verpufft, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Kraftlos ließ ich mich einfach nach unten gleiten und blieb auf dem Boden sitzen. Ich legte meinen Kopf in die Hände und was einerseits stolz auf mich, verfluchte mich andererseits aber auch für das, was ich gesagt hatte. War es nun richtig, dass ich mich durchgesetzt hatte, oder nicht? Schließlich hatte Aksel einen ersten Schritt in meine Richtung gemacht und ich war dann derjenige, der gemein zu ihm war. Ich seufzte. Es ist anstrengend, fies zu sein. Wie machen das die Anderen aus meiner Schule nur? Ich wartete noch einige Minuten. Als ich mir sicher war, dass Aksel weg war, lief ich schnell wieder nach draußen und fand den Pinguin an die Hauswand gelehnt und auf einem „Bett“ aus zusammengeknülltem Geschenkpapier vor. Aksel hatte ihn wohl so positioniert, dass er nicht mit dem Gesicht im Dreck lag. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich hob den Plüschpinguin auf. Er steht nun auf meinem Schreibtisch, direkt neben dem Platz, an dem mein Tagebuch immer liegt. Ich stelle mir vor, dass er eine Art Beschützer ist. Wenn man bedenkt, von welcher Person ich ihn erhalten habe, sollte er auf jeden Fall das Zeug dazu haben. Irgendwie kam ich mir schon blöd vor, einfach so in meinem Zimmer zu stehen, ein Plüschtier anzustarren und dabei zu grinsen wie ein Vollidiot. Das beweist es wieder einmal: ich kann es mir noch so oft einreden und noch so gemeine Sachen sagen, aber ich werde Aksel nie hassen können. Obwohl er es irgendwie verdient hätte. Später Meine Laune hat wieder ihren Tiefpunkt erreicht. Und der Grund dafür ist überraschenderweise nicht Aksel. Und auch nicht Nico. Wie auch immer, es fing mit einem Anruf an. Schon als ich das erste Klingeln hörte, wurde mir mulmig. Wer überraschte mich wohl diesmal? Ich nahm den Höhrer ab, das Schlimmste erwartend. »Tobi, alles Gute zum Geburtstag!«, schrie mir jemand euphorisch entgegen und ich brachte aus Reflex einen Sicherheitsabstand zwischen das Telefon und meine Ohren. Fehlalarm. »Danke, David«, erwiderte ich lächelnd. »Hast du schon was bekommen?«, fragte er mich fröhlich und bevor ich die Chance hatte, antzuworten, rief er: »Von mir bekommst du auch noch etwas! Wann kann ich vorbeikommen? Jetzt sofort?« »Atme erstmal tief durch, ich komm nicht mehr mit«, sagte ich verwirrt. »Ist ja auch egal! Wann könnte ich denn zu dir?« Ich stutzte. »Was willst du denn bei mir?« »Na, feiern! Was sonst?« Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ausgeschlossen! Ich habe immer noch Albträume von der letzten Party, zu der du mich gezwungen hast!« David lachte, aber ich hörte auch, dass er leicht bedrückt war, als er antwortete: »Nicht so eine Party. Ich komme zu dir, gebe dir mein Geschenk und wir machen irgendwas. In die Stadt fahren oder so. Ganz friedlich, ohne Nico, Aksel oder sonstwen.« »Wo du gerade von Aksel redest«, fiel es mir auf einmal wieder ein, »was zur Hölle hast du dem gesagt? Den musst du ja richtig unter Druck gesetzt haben!« David schwieg ein paar Sekunden, bis er verwirrt erwiderte: »Wieso?« »Er stand vor meiner Tür und hat mir ein Geschenk gegeben. Hat sich dafür entschuldigt, was er mit mir gemacht hat.« »Oh«, machte David. »Aber naja, als ich nachgefragt habe, ob er mich jetzt hasst oder nicht, hat er wieder einen auf Macho gemacht und ich hab ihm dann praktisch die Tür vor der Nase zugeknallt. Trotzdem, es war das erste Mal, dass ich gehört habe, wie er sich bei irgendwem entschuldigt. Und dann auch noch so ehrlich und aufrichtig, als würde er es wirklich zutiefst bereuen. Ich habe fast schon ein bisschen Mitleid mit ihm. Hast du ihm gedroht, nachts sein Haus anzuzünden oder so? Pinke Farbe in sein Shampoo zu rühren? Hast du peinliche Fotos von ihm, die du der ganzen Schule zeigen könntest?« Für eine Weile herrschte Stille. Ich fragte mich, ob ich zu weit gegangen war. Vielleicht mochte David es nicht, als fies dargestellt zu werden. »Hey,«, sagte ich, »ich meinte das nicht-« »Tobi«, unterbrach David mich. Ganz langsam und monoton erklärte er mir schließlich: »Ich habe noch kein Wort mit Aksel gewechselt.« »Oh«, machte ich. Es herrschte für einige Sekunden Stille, in denen ich mehr und mehr realisierte, was das bedeutete. Aksel war freiwillig hierher gekommen. Er hatte sich so etwas gedacht wie »Hm, ich sollte mich bei der Schwuchtel entschuldigen. Und er hat ja auch Geburtstag, da kaufe ich ihm lieber was!« Er hatte sich daran erinnert, dass ich den Pinguin mochte. Er hat aus freien Stücken vierzig Euro für mich ausgegeben und alles sogar noch hübsch eingepackt, was wirklich lange gedauert haben muss. Ganz von sich selbst aus ist er hierher gekommen, um sich zu entschuldigen. Mit anderen Worten: Er hat seine Fehler eingesehen, sie bereut und sich Gedanken darum gemacht, wie er sich bei mir entschuldigen könnte, was eigentlich bedeutet, dass er mich nicht hasst. Und was habe ich gemacht? Mich wie ein ignoranter Trottel verhalten, seine Bemühungen völlig außer Acht gelassen und ihn einfach draußen stehen lassen. Panik stieg in mir auf. »E-er ist erst vor fünf Minuten gegangen!«, rief ich aufgebracht, »wenn ich mich beeile, hole ich ihn bestimmt noch ein!« »Tobias«, sagte David nach einem genervten Seufzen. »Ich weiß gar nicht in welche Richtung er gegangen ist… egal, ich probie-« »Tobias«, unterbrach mich David in einem so eisigen Ton, wie ich ihn noch nie von ihm gehört hatte, und sofort verstummte ich. »Hör mal«, fing David mit ruhiger, aber bestimmter Stimme an, »ich hab‘ mich echt für dich gefreut, als ich gehört habe, dass du ihm doch mal die Meinung gegeigt hast. Weil du es zum ersten Mal geschafft hast, an dich zu denken. Ich dachte, es geht endlich bergauf mit dir. Und jetzt willst du wieder alles hinschmeißen. Du darfst nicht so nachgiebig sein, Tobias. Du schreist gerade so danach, dass auf deinen Gefühlen rumgetrampelt wird.« Ich erwiderte nichts. Mir fehlten die Worte. Das war das erste Mal, dass ich erlebt hatte, dass David in so einem scharfen Ton mit mir sprach. »Ich meine das nicht böse, wirklich nicht. Ich will nur das beste für dich. Aber manchmal habe ich doch das Gefühl, du willst gar nichts ändern. Als hättest du deine Rolle als Opfer einfach so hingenommen. Du könntest eigentlich alles haben – viele Freunde, ein angenehmes Leben… und Aksel. Aber so langsam glaube ich, du willst das gar nicht.« Ich schwieg, auch wenn ich genau wusste, dass David nun Widerworte von mir hören wollte. Dass ich ihm klar machte, dass ich mein Schicksal nicht akzeptiert hatte, sondern kämpfen wollte. Dass ich ihm sagte, dass ich mein Leben endlich ändern wollte. Doch ich konnte nicht. David seufzte. »Ich war bis jetzt immer sehr verständnisvoll. Und ich hatte wirklich Mitleid mit dir. Ich weiß, dass dir viele schlimme Sachen passiert sind… Aber so langsam glaube ich, dass dir das völlig egal ist. Dass du einfach so hingenommen hast, dass dich die Welt hasst. Vielleicht war es anfangs wirklich nur Pech, das dich verfolgt hat. Aber so langsam habe ich doch den Eindruck, dass du einfach nur Angst vor deinem eigenen Glück hast und dir Selbstmitleid einfacher vorkommt.« Ich konnte immer noch antworten. Ich wollte einfach nur heulen. »Gib mir Bescheid, wenn du endlich dein Leben selbst in die Hand nehmen willst. Jeder kann sein Schicksal ändern, weißt du. Man muss es nur wollen.« Dann legte er auf. Und ich fühlte mich nicht nur wie der größte, schwächste und dümmste Idiot der Welt – ich wusste, ich war es. Aber würde sich jemals etwas daran ändern?, fragte ich mich. Oder, wie David es gesagt hatte: könnte ICH mich jemals ändern? Und wollte ich das überhaupt? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)