Why can't I just love? von o0_Hidan_0o ================================================================================ Kapitel 21: 9. Juli ------------------- Ich sitze gerade in meinem Zimmer. Leider nicht zuhause, weil ich es doch noch geschafft habe, mir einen lebensbedrohlichen Schnupfen zu holen, sondern auf der Jugendherberge. So schrecklich, wie ich es mir vorgestellt hatte, ist es auch gar nicht. Es ist noch viel, viel schrecklicher! Ich befinde mich jetzt schon am Rande des Wahnsinns. Glaube ich zumindest. Nein, ich bin ganz sicher! Ich stelle eine Gefahr für die gesamte Klasse dar und sollte unverzüglich von diesem Ausflug entfernt werden – es wäre für alle Beteiligten das beste! Okay, ich sollte aufhören, zu träumen. Ich werde das hier wohl oder übel durchziehen müssen. Jetzt ist meine ganze mentale Stärke und Geduld gefragt! Aber damit man meine nicht gerade optimistische Einstellung zu dieser Klassenfahrt besser nachvollziehen kann, schreibe ich die ganze Anreise zu diesem Kaff, in dem ich nun volle fünf Tage verbringen werde, schön detailliert auf. Das wird ein Spaß. Es war circa acht Uhr morgens, für mich höchste Zeit, zur Schule zu fahren. Mit Fahrrad, versteht sich, schließlich wäre es ja zu anstrengend für meine Mutter, mich mit dem Auto hinzubringen. Den Koffer würde ich irgendwie hinter mir herziehen müssen. Doch ich versuchte, so viel Zeit wie möglich zu schinden. Schließlich könnte meine Mutter ihre Meinung ja noch ändern und mich plötzlich doch hierbehalten wollen. Also stand ich im Wohnzimmer herum und wartete. Und wartete. Bis meine Mutter plötzlich lachend das Zimmer betrat. Ihr Blick fiel auf mich und ihr Lächeln verschwand sofort. »Tobias. Du bist ja immer noch da.« Mein letzter Funken Hoffnung war dahin, da versuchte ich es mit einer anderen Ausrede. »Ich, ähm, wollte mich noch von dir verabschieden.« Als Antwort erntete ich einen verwunderten Blick. Dann einen darauf folgenden Seufzer. »Jaja, tschüss«, grummelte meine Mutter und verließ das Zimmer, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Etwas gekränkt machte ich mich auf den Weg zu der Garage, um mein Fahrrad zu holen. Wieso war ich überhaupt verletzt? Ich kannte meine Mutter doch und ich wusste genau, gefühlvolle Abschiedszenen waren nicht ihr Ding. Gefühle im Allgemeinen auch. Zumindest, wenn es um mich ging. Ich öffnete das Garagentor. Da fiel mir wieder ein, dass mein Fahrrad ja nur noch ein verbogener Schrotthaufen war. Kurz überlegte ich. Meine Mutter hatte doch auch noch eins. Aber ich konnte doch nicht einfach...! Ich warf einen Blick auf mein verbogenes Fahrrad, oder was davon übrig geblieben war. ›Verbogen‹ war gar kein Ausdruck mehr. ›Fahrrad‹ genau genommen auch nicht. Ich konnte ja mal einen kurzen Blick auf das Gefährt von meiner Mutter werfen... Außerdem brauchte ich es sehr dringend! Nach ein paar Sekunden hatte ich das Fahrrad geortet, welches natürlich von allem möglichen Krempel umringt war. Irgendwie konnte ich es aber heraus manövrieren und stellte es im Hof ab, wo ich es kritisch betrachtete. Sah fahrtüchtig, wenn auch etwas verstaubt, aus. Kurz blickte ich nach links und rechts. Es schien keine Zeugen zu geben. Ich widmete mich wieder dem Fahrrad und überlegte, wie ich nun mein Gepäck mitnehmen könnte. Meinen Koffer konnte ich schon einmal nicht auf den Gepäckträger packen, sonst würde ich nur noch auf dem Hinterrad fahren. Oder es würde gleich einfach zusammenbrechen. Vielleicht würde ich mich auch darauf setzen und sofort umfallen, mitten in das dornige Rosenbeet meiner Mutter, dass ich unter keinen Umständen beschädigen darf. Ich sah die Szene schon vor mir: Ein blutiges Massaker, mitten im Blumenbeet. Aufgeschnittene Haut, unerträgliche Schmerzen. Und daneben meine Mutter, die sagt: »Oh Gott, Tobias, wie konnte das nur passieren? Meine armen Rosen!« Ja, so würde das ganz sicher ablaufen. Aber das half bei meinem Problem auch nicht viel weiter. Nach einer Weile dachte ich mir, ich könnte den Koffer ja einfach hinter mir her ziehen, während ich fahre. Schließlich hat er Räder. Also setzte ich mich auf das Fahrrad, dass ich ganz spontan in Beschlag genommen hatte, und parkte es direkt vor dem Koffer. Mit einer Hand hielt ich den Griff fest und mit der anderen den Lenker. Ganz langsam und vorsichtig trat ich langsam in die Pedalen, darauf bedacht, nicht umzukippen. Wenn ich einen Kratzer an dem Fahrrad meiner Mutter verursachen würde, durfte ich erwarten, genau mit diesem erschlagen zu werden. Doch zu meiner Überraschung schien mein Plan aufzugehen und ich bewegte mich relativ sicher fort. Das klappt ja wunderbar, dachte ich mir, heute muss mein Glückstag sein! Etwa zwei Minuten später war ich zu Fuß unterwegs. Mein ach so toller Plan war wohl doch nicht ach so toll, wie ich angenommen hatte. Jedenfalls hatte ich es mal wieder geschafft, einem Fahrrad einen Totalschaden zu verpassen. Ich habe die Überreste des Fahrrads meiner Mutter wieder in die Garage gelegt, bis jetzt scheint sie noch nichts davon gemerkt zu haben... Ein Glück, dass ich auf dieser Klassenfahrt bin! Als ich dann endlich bei meiner Schule ankam, sah ich nur einen riesigen Reisebus. Viele Leute standen um ihn herum, unter anderem meine Klasse und eine Parallelklasse, aber leider nicht die von David. Also stellte ich mich so weit entfernt von der Menschenmasse wie möglich. Mir fiel auf, dass jeder mindestens ein Elternteil dabei hatte. Sogar Nico. Eigentlich waren seine Eltern auch genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Die Mutter war erst auf den zweiten oder dritten Blick ein weibliches Wesen. Ihre Haare waren kurzgeschoren und rot gefärbt, sie trug nur schwarze Kleidung. Dabei schaute sie mit einen Blick, der sagte: »Ein Widerwort und du machst fünftausend Liegestütze!« Ziemlich unschön. Der Vater war ein klassischer Schläger oder Säufer, so, wie man sich die eben vorstellt. Schwer auseinander zu halten. Vielleicht ist er beides. Sein grauer Vollbart ließ keine genauen Gesichtszüge erkennen, das war wahrscheinlich aber auch besser so. Seine Haare waren ebenfalls ergraut und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug eine Lederhose und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Alle Menschen haben ihren Glauben – ich glaube, ich trink' noch einen«. Die Schrift war etwas schwer zu entziffern, weil sie von dem kleinen Bierbauch des Vaters leichtlich gestreckt wurde. Ich hoffe, die Ironie war zu erkennen. Auf einmal schien Nico mich bemerkt zu haben und rief zu mir herüber: »Ey, Schwuchtel! Sind deine beiden Väter nicht da?« und lachte. Sein Vater ließ ein Lachen hören, dass kein bisschen belustigt klang und mich ein bisschen erschaudern ließ. Die Mutter musterte mich kurz. »Tut mir Leid«, sagte sie plötzlich gefühlvoll und ich war schon völlig geschockt, »aber so will mein Sohn nur seine Zuneigung ausdrücken« sagte sie dann und lachte hysterisch, wobei sie ihrem Sohn gegen die Schulter boxte. Überraschender Weise hielten Nicos Knochen jedoch den Hieben seiner Mutter stand. Er schien das schon gewöhnt zu sein. Ich seufzte innerlich und sah weg. Nebenbei schwor ich mir, mich nie wieder darüber zu wundern, warum Nico so asozial war. Nach ein paar Minuten konnten wir schließlich in den Bus einsteigen. Ich wurde natürlich so sehr hin- und hergeschubst, dass ich am Ende als Letzter den Bus betreten musste. Als ich dann schließlich durch den Gang trottete, auf jedes mir gestellte Bein hinwegsteigend, und meinen Blick über die Sitzbänke schweifen ließ, sah ich, dass keine einzige mehr frei war. Also musste ich mich zu irgendwem dazu setzen. Bei dem Gedanken wurde mir schon ganz schlecht. Was, wenn es Nico oder eins dieser Modetussis war, sodass ich an ihrem Parfüm-Haarspray-Gemisch ersticken würde? Oder am Ende auch noch Aksel! »Tobias, hier ist noch ein Platz frei!«, rief mir auf einmal eine Frauenstimme zu. Ich sah zu der Richtung, aus der ich den Ruf vernommen hatte und sah eine Lehrerin, die ich nicht kannte. Sie saß neben einer anderen Lehrerin, also konnte sie nicht von sich gesprochen haben. Ich sah schließlich, dass sie auf die Bank neben ihr zeigte und dort war tatsächlich ein Platz frei. Doch als ich auf den anderen sah, der auf der Bank saß, verschwand wahrscheinlich jede Farbe aus meinem Gesicht. Herr Wener. Er sah mich genau so entsetzt an, wie ich ihn. Doch wir beide versuchten krampfhaft, zu lächeln, um uns nichts anmerken zu lassen. Herr Weners Lächeln artete in einen Gesichtsausdruck aus, der ihn aussehen ließ, als würde er jeden Moment losheulen oder -kotzen wollen. Über meinen Ausdruck dachte ich lieber gar nicht erst nach. In langsamen, roboterartigen Schritten bewegte ich mich schließlich zu meinem Biologie-Lehrer, dem ich schon so oft das ein oder andere Haustier das Leben genommen hatte, wenn auch ungewollt. Als ich schließlich mehr oder weniger saß, versuchten ich und Herr Wener, ungezwungen zu kommunizieren. »Tobias«, stellte der ältere Mann nüchtern fest. »Herr Wener«, erwiderte ich im gleichen Tonfall. »Du also«, sagte Herr Wener nicht wirklich glücklich. »Ich also«, wiederholte ich unbehaglich. »Soso«, murmelte mein Biologie-Lehrer. In mir kam der leise Verdacht auf, dass er nicht mit mir reden wollte, also beließ ich es bei Schweigen. Bei uns war es somit relativ ruhig, doch ich hörte den Rest des Busses umherschreien, wie toll die Klassenfahrt doch werden würde. Na sicher, dachte ich mir und musste fast lachen. Ihr werdet sicher euren Spaß haben. Auf einmal fiel mir etwas ein. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir überhaupt fuhren. Nach einigem hin und her beschloss ich jedoch, dass es mir eigentlich sowieso egal sein konnte. Es würde meine Laune eh nicht beeinflussen. Nach einer gefühlten Stunde fiel mir auf, dass wir uns immer weiter von der Zivilisation zu entfernen schienen. Der Verkehr wurde weniger, die Straßen wurden schmaler, die Baumanzahl nahm zu. Ich schluckte. Bitte, lieber Gott, betete ich, lass uns nicht in irgendein Kaff fahren! Auf einmal gab es Gepolter und der Bus wackelte. Ich wurde panisch. Sollte ich wirklich einen Blick aus dem Fenster riskieren? Meine Neugier siegte und so warf ich einen Blick nach draußen – und wünschte, ich hätte es nicht getan. Alles, was ich sah, war grün. Nur grün, überall. Blätter, Gras und Büsche und all das. Und dann sah ich auch noch, dass wir die Straße verlassen hatten und auf einem Feldweg fuhren. Einem Feldweg! Ich bin ein Stadtmensch, verdammt nochmal. Wie soll ich überleben, wenn es im Umkreis von zwanzig Metern nicht ein einziges Geschäft gibt?! Ich wurde panisch, begann, zu hyperventilieren. Meine Atmung wurde schwer. Alle Organe in mir krampften sich zusammen. Meine Gedanken flogen wirr umher. »Haaach«, seufzte Herr Wener und starrte aus dem Fenster, »ist es nicht schön, der Natur so nahe zu sein?« Natur? Natur?! Der Ficus in unserem Wohnzimmer ist mir Natur genug! »Da fühlt man sich wieder richtig frisch!« Ahhh, die Bäume! Sie kommen immer näher, sie werden mich zerquetschen, wie einen Käfer! Oh Gott, an die Käfer habe ich ja noch gar nicht gedacht! Sie werden überall sein, in den Schränken, den Waschbecken! Spinnen werden sich in meinen Schuhen ihre Nester erbauen und mich im Schlaf überfallen! »Es ist doch wirklich schön hier, nicht wahr, To-« Als Herr Wener seinen Blick vom Fenster abwandte und mich sah, mit meiner verkrampften Haltung und den Zuckungen, stoppte er seinen kleinen Vortrag über die Schönheiten der Natur. Genervt seufzte er. Ich glaubte, ihn leise ein verächtliches ›Stadtmenschen...‹ murmeln zu hören, doch sicher war ich mir nicht. In Gedanken betete ich weiter. Bitte, lieber Gott, lass das alles einen Traum sein. Lass uns in ein Hotel in der Stadt oder wenigstens einem Dorf fahren. Als ich vor unserer Jugendherberge stand, meine Schuhe schon ganz braun und nass vom Matsch, konnte ich weit und breit nur Wald sehen. Und als ich dann ein Schild am Gebäude bemerkte, auf dem stand »Naturfreundehaus«, wusste ich: Gott hatte mich nun endgültig im Stich gelassen. Ich hielt die Tränen zurück und versuchte, mir meine Panikattacke nicht anmerken zu lassen. Fünf Tage muss ich hier verbringen. Fünf verdammte Tage. Mitten im Nirgendwo, mit einem Dorf, das zu Fuß etwa vierzig Minuten weit von hier ist. Eigentlich war ich zu erschüttert, um panisch oder traurig zu sein. Und auch über meinen Zimmerpartner machte ich mir keine Gedanken. Alles, worüber ich nachdachte, war, wie ich das hier überleben sollte. Oder noch besser, wie ich es NICHT überleben könnte. Wieviele Stockwerke hatte die Herberge doch gleich? »So, Leute, kommt hierher«, rief eine der zwei Lehrerinnen uns zusammen. »Bildet jetzt schnell Zimmergruppen von zwei bis acht Personen und sucht euch ein Zimmer! Dann könnt ihr euch in Ruhe einrichten und wir treffen uns in zwei Stunden zum Abendessen!« Das wird bitter, dachte ich mir schon. Ich sah den anderen zu, wie sie alle zu ihren Freunden liefen und hofften, ein passendes Zimmer zu finden. Mir fiel auf, dass es kaum Zweiergruppen gab. Und dass sich einige Mädchen zankten, weil sie andere Vorstellungen hatten, mit wem sie auf ein Zimmer wollten, weil es anscheinend zu viele gab, zu dem sie guten Kontakt hatten. Ich glaube, ich könnte das gar nicht, auf so viele Leute achten. Um wen sollte ich mich denn mehr kümmern? Ach Gottchen, vielleicht ist es doch gar nicht schlecht, ein Außenseiter zu sein! »Tobias?«, sprach mich auf einmal die Lehrerin an. »Ähm, ja?« Ich erwartete schon eine Predigt, dass ich mich nicht so anstellen und endlich eine Gruppe finden sollte. Doch es kam etwas anders. »Ich habe gesehen, dass du keine Zimmerpartner findest, deswegen habe ich dir jemanden mitgebracht, der auch allein ist. Das hier ist Sören!« Sie stellte Sören ab und ging wieder. Ich betrachtete den, ähm, Jungen näher. Seine runde Brille ließ seine Augen riesig erscheinen. Dazu grinste er mich noch so komisch an. Und er hatte mehr Zahnspange als Zahn. Aber das war noch normal, verglichen mit dem, was da auf seinem Kopf war. ›Locken‹ war ein Begriff, der noch Welten davon entfernt war. Er hatte verfilzte Spiralnudeln auf dem Kopf. Verfilzte Spiralnudeln, die sich in einem noch viel verfilzteren Mopp verfangen hatten! »Hallo, ich bin Sören!« gluckste er. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Eine Gänsehaut machte sich auf meinem ganzen Körper breit. Einige Organe zogen sich zusammen. Das Gefühl war unbeschreiblich ekelhaft. Durfte so ein Geschöpf überhaupt leben? War das nicht irgendwie gegen die Natur? Ich meine, ich bin eigentlich nicht oberflächlich, überhaupt nicht. Aber der bricht alle Rekorde! »Und, nh, wie heißt, nh, du?« Er machte durch seine Nase so ein seltsames Geräusch, das fast wie ein Lachen klang. Nur durch die Nase eben. Ich weiß gar nicht, wie ich das schreiben soll, ich habe es jetzt einach ›nh‹ genannt, weil es ungefähr so klingt. Eigentlich will ich da auch gar nicht genauer drüber nachdenken. »T-T-T-Tobias...«, antwortete ich so locker wie möglich. »Nh, nh, nh, achso.« Ich glaube, ich habe mich gerade mit der Natur hier angefreundet und will ihr noch näher kommen. Vielleicht könnte ich mir ja irgendwo hier im Wald ein Baumhaus bauen. Oder noch besser, ich buddle mich ganz, ganz tief ein. Während ich mir überlegte, wie ich diesem Ausflug wohl entkommen konnte, grinste Sören weiter. Ich fühlte, wie sich das Bild von ihm in mein Gehirn brannte, sodass ich es nie mehr vergessen könnte und für immer Albträume haben werde, in denen Haare mich verfolgen und dann kaltblütigen umbringen. »Weißt du, nh, Tobias, du hast ein sehr sympatisches Gesicht, nh, weißt du?« »Und du hast...Haare«, stellte ich zum erneuten Male erschüttert fest. Sören lachte wieder durch die Nase. Wahrscheinlich konnte er nicht durch den Mund lachen, weil er den für sein Dauergrinsen brauchte. Okay, Tobias, sagte ich mir in Gedanken, du musst ruhig bleiben. Etwas gutes hat das ganze nämlich wirklich. Ich habe mir doch schon immer solche Gedanken über das schwul sein gemacht und so. Nun werde ich wahrscheinlich nie wieder mit irgendwem eine Beziehung führen können, ohne das Gesicht von Sören vor mir zu sehen. Dann wäre das Problem wohl geklärt! Später waren ich und Sören auf unserem Zimmer, um das Bett zu beziehen und die Koffer zu verstauen. Er versuchte dabei immer wieder, sich mit mir über Online-Spiele oder Wissenschaft zu unterhalten. Alle paar Minuten machte ich ›mhm‹, damit es so aussah, als würde ich zuhören. Innerlich zählte ich jedoch die Sekunden, bis wir endlich zum Abendessen durften. Ich stellte gerade alles, was ich morgens so brauchte, auf das Waschbecken. Dass ich mehr als zwei Drittel davon einnahm, ignorierte ich gekonnt. »Nh, nh, du hast ganz schön viele Sachen, Tobias, nh«, teilte mir Sören mit seinem seltsamen Nasen-Lachen mit. »Ja«, erwiderte ich. Normalerweise hätte ich mich und meine Ehre bis aufs Blut verteidigt, dass das gar nicht so viel Zeug war und ich einfach nur Wert auf Hygiene legte, aber mit Sören wollte ich nicht auch nur ein Wort mehr sprechen, als es zwingend notwendig war. Kurz sah ich auf die Uhr. Wir hatten noch eine halbe Stunde Zeit, bis sich alle zum Abendessen trafen. Doch Sörens Gerede über Photosynthese trieb mich derartig in den Wahnsinn, dass ich beschloss, dass ich gehen musste. Sofort. Als ich im Türrahmen stand, fragte Sören verwundert: »Nh, Tobias, wo gehst du hin?« »Zum Abendessen!«, rief ich. Sören machte ein verwundertes Gesicht. »Aber wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.« »Joa, schon...«, sagte ich und versuchte, eine Ausrede zu finden, »aber wir könnten uns ja auf dem Weg zum Speisesaal verlaufen und so.« Ich fand diese Aussage äußerst berechtigt und hielt mich für genial. »Der Speisesaal ist nur ein Stockwerk tiefer und man sieht ihn sofort, wenn man die Treppe herunter geht«, erklärte Sören und ich war sicher, er hielt mich für total bescheuert. Ich ignorierte seine Aussage und meinen angekratzten Stolz und ging einfach. Leider kam Sören auch mit. Was freute ich mich auf das Abendessen und ein bisschen Ruhe! Mit einem schmatzenden Geräusch landete das undefinierbare Breigemisch auf meinem Teller. Ich konnte ihm nur kurz Aufmerksamkeit schenken, denn sofort keifte mich die Frau hinter dem Tresen an, ich solle meinen ›fetten Arsch‹ weiterbewegen. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich ihr erzählen sollte, dass sie etwa das dreifache von mir war, ließ es aber dann doch lieber, als ich sah, wie gekonnt sie die Kelle schwang. Nicht gerade fröhlich setzte ich mich an einen freien Tisch. Natürlich dackelte Sören mir sofort hinterher und setzte sich mir gegenüber. Konnte er sich nicht neben mich setzten? Dann musste ich ihm wenigstens nicht dabei zusehen, wie er dieses Essen, oder was auch immer es darstellen sollte, in seinen mit Metall ausgestattetem Kiefer schob. Ich betrachtete den Klumpen auf meinem Teller, der aussah, als wäre er schon ein paar Mal verdaut worden. War dieser Anblick jetzt wirklich angenehmer? Ich schaute wieder zu Sören. Er grinste mich an, wie immer, nur diesmal mit Essensresten inklusive. Wieder richtete ich meinen Blick auf das Abendessen. Hatte es sich gerade etwas weiter ausgebreitet? War es überhaupt schon tot? Und WAS war es eigentlich genau? Ich schob meinen Teller etwas weiter von mir weg. Beim näheren betrachten des Speisesaals fiel mir auf, dass ich und Sören die einzigen an unserem Tisch waren, während sich manche zu zehnt an einen Tisch gequetscht hatten. Ich schmunzelte kurz und linste zu Sören. Gehörte ich wirklich zu einem wie IHM? So schlimm konnte ich doch eigentlich nicht sein. Oder sah ich in ihm das, was andere in mir sahen? Als etwas flüssiger Brei aus Sörens Mund lief, widmete ich mich schnell dem viel interessanterem Fenster und war mir sicher, dass diese Vermutung nicht stimmen konnte. Und so endete der Abend und ich aß nichts. Es hätte wahrscheinlich auch nicht wirklich einen Unterschied gemacht, wenn ich etwas gegessen hätte, denn bei dem Anblick vom essenden Sören wäre das bestimmt nicht lange im Magen geblieben. So gingen wir wieder auf unser Zimmer und hier sitze ich. Sören schläft schon... und er schnarcht. Das werden die längsten vier Nächte meines Lebens, glaube ich. Schon bei dem Gedanken, mit dieser... Person ein Zimmer zu teilen, wird mir ganz flau im Magen. Kann ich es wirklich riskieren, zu schlafen? Der ist doch nicht normal. Okay, ich bin auch nicht gerade normal. Naja, wie auch immer. Ich glaube, ich schlafe dann doch freiwillig in der Dusche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)