Hollow Day von Umi ================================================================================ Kapitel 2: His( S)tory ---------------------- Nicht jeder kennt unsere Geschichte und somit weiß auch nicht jeder, wer Yoru ist. Nicht einmal ich weiß es. Aber ich weiß, was er einmal gewesen ist und vielleicht kann ich damit dem einen oder anderen helfen, die in dieser Erzählung beschriebenen Ereignisse ein wenig besser zu verstehen. Es sollte wohl noch vorweg erwähnt werden, dass ich schon immer einen gewissen Hang zum Okkultismus hatte. Ich denke, dass er es auch war, der es mir überhaupt ermöglichte, all das Geschehene zu verarbeiten und als die Realität zu erkennen, die es war, ist und vermutlich immer sein wird. Yoru (sein richtiger Name geriet bereits vor einigen Jahrtausenden in Vergessenheit) war eine ruhelose Seele, die einst ihren Weg durch alle möglichen und unmöglichen Zufälle zu mir gefunden hatte. Und wie es ruhelose Seelen - die nach langer Suche endlich einen potentiellen Wirt vor sich haben - nun einmal zu tun pflegen, setzte er sich in mir fest. Als "Medium" diente ein altägyptisches Schmuckstück, dessen Herstellungskosten an die 100 Menschenleben betrug: Der Millenniumsring. Ein Geschenk, das mein Vater mir vor langer Zeit von einer seiner Ausgrabungen mitgebracht hatte - nicht ahnend, welchen Fluch er mir damit auferlegte.   Nach dem Tod meiner Eltern und meiner kleinen Schwester Amane nahmen meine Großeltern mich, besser gesagt uns, bei sich auf und trotz des klaffenden Lochs, das der Verlust meiner engsten Familie in mein Leben gerissen hatte, verlebte ich ein paar sehr schöne Jahre bei ihnen. Bis... Ja, bis Yoru sich eines Tages ohne erkennbaren Grund von mir distanzierte. Er redete fast eine Woche nicht mehr mit mir, übernahm plötzlich immer öfter ohne Erlaubnis die Kontrolle über meinen Körper und stellte nichts als Unsinn an. Er schwänzte den Unterricht, verwüstete mein Zimmer, beleidigte meine Großeltern und all meine Freunde und forderte die gefährlichen Typen an meiner Schule zu Prügeleien heraus, die ich dann widerum live, unzensiert und ohne Betäubung miterleben "durfte".   Nach dem dritten Schulwechsel hatte ich genug. Ich war es leid, Großmutter und Großvater um mich weinen zu sehen und ihnen auf der (ohnehin nicht allzu prall gefüllten Brief-)Tasche zu liegen. Ich packte meine Sachen und kletterte in einer Nacht- und Nebelaktion zum Fenster heraus. Mein Ziel: Domino, der Ort meiner Geburt. Auf Yoru, der laut eigener Aussage nichts als Verachtung für mich übrig hatte, konnte ich nicht zählen. Ich musste allein eine Bleibe für uns suchen und ohne das Geld, das meine Eltern mir hinterlassen hatten und auf das ich ab meinem 15. Lebensjahr auch endlich zugreifen konnte, wäre es wohl unmöglich gewesen, über die Runden zu kommen. Schließlich lernte ich meine Freunde kennen, unter ihnen auch Yugi Muto; der einzige, der meine Situation wenigstens ansatzweise verstand - hatte er selbst doch auch einen altägyptischen "Untermieter", der in unbeaufsichtigtem Zustand nichts als Chaos anrichtete.   Es geschahen noch einige Dinge, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, doch schließlich endete es damit, dass Atemu - Yugis zweites Ich - und Yoru eigene Körper bekamen. Der gelangweilte Leser wird nun denken, dass damit alle Probleme gelöst waren... und er hat in gewissem Sinne Recht. Sieht man davon ab, dass Yorus erste selbstständige Aktion darin bestand, sich wie ein zurückgebliebener Teenager zu betrinken und nicht nur mit einem Messer auf mich loszugehen, sondern auch noch mit unserer Einrichtung nach mir zu werfen, dann herrschte wohl wirklich Friede-Freude-Eierkuchen. Ich hatte Glück, dass er in seinem Zustand kaum in der Lage war zu zielen, und so hatte ich kurz darauf die Möglichkeit, diesen gemeingefährlichen Irren vor die Tür zu setzen.     Der letzte Stand der Dinge? Wieder nein.   Ich hatte fast 18 Jahre meines Lebens mit dieser launischen Existenz verbracht - hin und wieder schöne, meist aber schmerzhafte Zeiten - und so kam ich nicht umhin, mir doch Sorgen um ihn zu machen. Wie nach obigen Ausführungen wohl für jedermann ersichtlich, handelte es sich bei Yoru nicht gerade um die vernunftbegabteste Person. Kurz und gut: Die meiste Zeit verhielt er sich einfach nur impulsiv und dumm. Und als ich nach mehreren Wochen immer noch nichts von ihm gehört hatte, machte ich mich auf die Suche. Den Anblick, den er mir bot, als ich ihn in seiner heruntergekommen Bruchbude endlich ausfindig gemacht hatte, werde ich wohl nie vergessen - ebensowenig den grauenhaften Gestank nach Abfall und Urin, der seiner Wohnung anhaftete (sofern man diese Räumlichkeiten überhaupt als Wohnung bezeichnen konnte...). Ich tat das einzig Richtige: Ich verriegelte die Tür und wartete ab. Nachdem der "dreckigste" Teil seiner Entzugserscheinungen vorüber war (der nebenbei bemerkt mehrere Tage dauerte und mich zwang, bei Geschrei, Würgegeräuschen und unangenehmen Gerüchen aus einem verkalkten Wasserhahn zu trinken und Dosenfleisch zu essen) schleppte ich meine heruntergekommene zweite Seele zu mir nach Hause und mich selbst endlich wieder in die Schule.   Er blieb bei mir.   Wir lernten ganz neu, uns miteinander zu arrangieren. Ich beendete die Schule und konzentrierte mich anschließend aufs Studium, während er aus mir unbekannten Quellen ausreichend Geld heimbrachte, um uns über Wasser zu halten. Später organisierte er auf mir ebenfalls unerklärliche Weise ein Haus, das dem meiner inzwischen verstorbenen Großeltern bis auf die letzte Zimmerecke glich und mir somit von Anfang an ein gewisses Gefühl von Heimat vermittelte. Ob er das geplant hatte, oder ob es nur ein alberner Zufall war, wird wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Ein paar Jahre lang lief alles soweit gut, wenn man Yorus stetig seltsamer werdendes Verhalten nicht mitrechnete, durch das wir uns langsam aber sicher endgültig zu entfremden drohten. Irgendwann, nach einer Reihe unglücklicher Ereignisse, an denen mein bereits erwähnter Hang zum Okkultismus nicht ganz unschuldig war, verließ er mich. Einfach so und ohne Erklärung. Diesmal der letzte Stand der Dinge? Ja. Ich hatte eine Weile gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, aber alles in allem kam ich auch sehr gut allein zurecht, war erwachsen geworden. Wer oder was gab meiner einstigen zweiten Seele also das Recht, urplötzlich in mein Domino zurückzukehren - und dann auch noch mit einem mysteriösen Kind im Schlepptau? Wie sollte ich Antworten auf diese Fragen finden, ohne in Kontakt mit Yoru treten zu müssen? Ich wollte eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun haben.   Er hatte mich einfach so im Stich gelassen, mich dazu gezwungen, mir neben dem Studium einen Job zuzulegen und in ein kleines Appartement umzuziehen. Mein Privatleben litt unter diesem plötzlichen Zeitverlust und es dauerte ein paar Monate, bis ich mich finanziell wieder gefangen hatte... ganz zu schweigen von dem seltsamen Gefühl, nachhause zu kommen und genau zu wissen, dass dort niemand auf einen wartete und auch nach fortgeschrittener Stunde keiner auftauchen würde... Aber wie bereits erwähnt, ich gewöhnte mich recht schnell daran und legte es auch nicht wirklich darauf an, irgendetwas an meiner Situation zu verändern. Ich war einfach bloß neugierig. Ich gewöhnte mir an, die Schule zu beobachten - morgens, wenn die Kinder hineinströmten und, sofern es sich zeitlich ergab, auch nachmittags, wenn sie sie wieder verließen.   Yoru war jeden Tag da.   Er brachte das Kind bis zum Eingang des Parks und holte es dort auch wieder ab, unterhielt sich auf dem Weg angeregt mit ihm, lachte viel... lächelte manchmal sogar... Ich fing an zu zweifeln, ob er es wirklich war. Natürlich sprachen die silbrig schimmernden Haare, die helle Haut, die schlanke Gestalt und seine für sein Alter recht jugendliche Kleidung dafür, aber sein Verhalten... Ich kannte ihn schließlich. Ich wusste genau, wie er sich bewegte, wie er seine Worte mit mitunter ausladenden aber doch stets eleganten Gesten zu unterstreichen pflegte... Nicht zu vergessen, wie sehr er Kinder hasste. Wer war dieser Mann, der meiner früheren zweiten Seele so sehr ähnelte? Ein Verwandter? Möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Ich ertappte mich dabei mir zu wünschen, dass es doch Yoru war - er sollte ruhig sehen, wie gut es mir ohne ihn ging, dass ich nicht auf ihn angewiesen war und dass die Rolle, die er in meinem Leben zu spielen geglaubt hatte, nicht halb so groß gewesen war, wie er vermutlich immer angenommen hatte. Dementsprechend hielt sich mein Schrecken auch in Grenzen, als ich einige Wochen später auf dem Heimweg eine Abkürzung durch den Park nahm und ihn und das Kind auf der Schaukel des dortigen Spielplatzes vorfand. Wieder einmal waren beide in ein leises Gespräch vertieft, auch wenn ich genau wusste, dass sie mich längst bemerkt hatten... dass e r mich längst bemerkt hatte... Erst jetzt fiel mir auf, dass sein Haar nur bis zu den Schultern reichte und weniger silbern denn grau wirkte. Er trug es trotzdem stolz und offen zur Schau, ebenso die breite, unregelmäßige Narbe an seinem Hals, die jeder andere wohl mit einem Rollkragen oder Schal zu verdecken versucht hätte... nun ja... jeder außer Yoru, der schon immer eine alberne Vorliebe für eher unästhetischen Körperkult bewiesen hatte, so dass es mich beinahe wunderte, dass er nicht gleich nackt mit einem Ganzkörpertattoo herumlief, wobei dieses wahrscheinlich für seine Verhältnisse einfach nur einen zu engen Bezug zur japanischen Kultur gehabt hätte.   Er lachte. Ein Zungenpiercing. Ich konnte mir nur schwer ein Augenleiern verkneifen. In gewissen Dingen war er doch schon immer mehr als nur durchschaubar gewesen... Und auch sonst erinnerte seine Aufmachung eher an einen Teenager als an einen Mann in den mittleren Dreißigern, angefangen bei den verwaschenen Bluejeans, dem schwarzen T-Shirt, auf dem vermutlich das Logo irgendeiner Hardcore-Metal-Band prangte, über den offenen, grauen Kapuzenpullover und die darüber liegende Jeansjacke hinweg bis hin zu den billigen und nahe am Ver- beziehungszweise Zerfallsdatum liegenden Turnschuhen. Und das Kind... tja... so wie man sich eben ein Kind vorstellte, das sich freiwillig mit Yoru abgab: Kurze schwarze, mit Schlüsselketten behängte Hosen, schwarze Lederboots, der aktuellen Mode entsprechend bunt geringelte Strumpfhosen, ein dünnes rotes Kapuzenshirt und eine - oh Wunder - schwarze Lederjacke. Er zog sich also eine kleine Gruftiebraut heran... oder einen Gruftibräutigam... so genau konnte ich das nicht erkennen. Dazu blasse, an Porzellan erinnernde Haut und pechschwarzes Haar.   Die Frage, ob Yoru vielleicht in den vergangenen Jahren seine pädophile Ader entdeckt hatte, kam in mir auf und je länger ich darüber nachdachte, desto logischer erschien es mir. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte damals doch Nabokovs 'Lolita' zu seiner Lieblingslektüre gehört... Ein faszinierendes Werk, das ich vor nicht allzu langer Zeit in einem meiner Kurse behandelt hatte und das ich, aufgrund seiner Einmaligkeit in Bezug auf die Art der Abhandlung dieser recht riskanten Thematik, sehr schätzte - im Gegensatz zu meiner früheren zweiten Seele, die sich vermutlich einfach nur daran aufgegeilt hatte, wie eigentlich an allem, was irgendwo verboten war. Unsere Interessengebiete ähnelten sich, aber die Weise, in der wir uns mit den Themen auseinandersetzten, wich schon seit jeher sehr voneinander ab. Ein Lächeln. Ein kühles und zugleich fast liebevolles, überhebliches Lächeln, das diesmal nicht dem Kind sondern mir galt, und wahrscheinlich den Anschein erwecken sollte, ich wäre auf ihn zugekommen und nicht umgekehrt. Wenn er sich dadurch besser fühlte... Seine Stimme war rau und sanft zugleich, weicher als ich sie in Erinnerung gehabt hatte und der Blick, mit dem er mich musterte, stand ihr in nichts nach. "Hallo, Ryou..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)