Hollow Day von Umi ================================================================================ Kapitel 7: Dumb --------------- "Sag mal..." "Ja?" Ich ließ den Blick auf unsere Karten sinken. Meine Karten. "Wie, uhm, fühlt es sich für dich an, deinen Körper wieder für dich allein zu haben?" Yugi zog nachdenklich die Stirn in Falten und zuckte schließlich mit den Schultern. "Keine Ahnung... normal? Also. So wie vorher, vor dem Puzzle. Es ist ein bisschen ungewohnt, dass ich wieder alleine in-" "Ich mein deinen Körper. Wie fühlt der sich an? Nur dein Körper - nicht dein Inneres, deine Seele und so." "Uhm... auch normal? Ich weiß nicht. Ich meine, Atemu hat sich, wenn ich 'dran' war, eigentlich immer komplett zurück gehalten und war dann eher in meinem Kopf als wirklich in meinem Körper. Falls du verstehst, was ich meine. Und wenn er dran war, dann hat er sich generell eigentlich ganz gut benommen... also, wenn man davon absieht, dass er ganz gerne mal vergessen hat, dass er beim sein Leben aufs Spiel setzen eben auch mein Leben mit auf's Spiel gesetzt hat. Aber sonst war er eigentlich immer sehr respektvo- Oh!"   Ich spürte Yugis teils beschämten, teils mitleidigen Blick tonnenschwer auf mir lasten und fixierte die Karten in meiner Hand noch eindringlicher als ohnehin schon. Unangenehme Hitze stieg mir in die Wangen.   "Der andere Baku-, ich meine, Yoru... ich schätze mal... er war da weniger, uhm, respektvoll, huh?"   Die Narbe an meiner Schulter begann, unangenehm zu jucken, und die Fingerspitzen meiner linken Hand prickelten leicht. Ich ignorierte beides und zwang mir ein beruhigendes Lächeln auf. "Bis auf ein paar Ausnahmen ging es eigentlich. Ich frag eher, weil... Keine Ahnung. Wir haben uns diesen Körper ja ein wenig länger geteilt als ihr euch euren - deinen, meine ich - geteilt habt. Von daher ist es vermutlich nur normal, dass die Umgewöhnung bei mir ein bisschen länger dauert."   Yugi nickte verständnisvoll. "Das wird's vermutlich sein. Und ihr habt ja auch währenddessen seltener miteinander geredet, hast du mal erzählt, also wusstest du ja auch nie, was er gerade mit deinem Körper treibt. Bestimmt macht es das auch nicht unbedingt einfacher."   Ich weitete mein Lächeln aus und nickte ebenfalls. "Ich denke auch, dass das mit ein Grund ist. Aber über kurz oder lang werd ich mich auch wieder daran gewöhnt haben, meinen Körper für mich zu haben."   Mein Optimismus schien Yugi zu beruhigen. Vermutlich hatte er außerdem das Gefühl, dass wir uns durch dieses offene Gespräch als Freunde näher gekommen waren. Und wahrscheinlich hätte ich ihm irgendwann sagen müssen, dass er damit falsch lag, und ich das, was ich eigentlich hatte wissen wollen, nie gefragt hatte, weil ich ihm nicht beschreiben wollte, wie ich mich tatsächlich fühlte.   Aber ich tat es nicht.   Weder damals, als das Duell zwischen ihm und Atemu erst wenige Wochen zurück lag, noch später irgendwann. Und es sollte Monate, Jahre dauern, bis mein Körper sich endlich wie ein Teil von mir anfühlte. Und nur mir. Und ich würde mich für den Rest meines Lebens fragen, was für ein Mensch ich wohl heute wäre, wenn ich immer schon nur ich gewesen wäre.   Wenn ich die Chance gehabt hätte, als Teenager meinen ersten Kuss zu erleben, weil ich nie Angst um jeden, der mir zu nahe kam, haben musste. Wenn ich damals hätte ausprobieren können, wie es war, eine Beziehung zu führen, sich beiläufig beim spazieren gehen an der Hand zu halten, den eigenen Körper und den einer anderen Person beim Sex völlig neu kennen zu lernen...   Klar waren das alles Dinge, deren erstes Erfahren kein Mindesthaltbarkeitsdatum hatte. Rein objektiv betrachtet war es egal, wann man sie ausprobierte. Ob mit 14, 15, 16, inmitten der Irrungen und Wirrungen der Pubertät, wenn sich allgemein so viel so schnell verändert und entwickelt, und alle um einen herum sich genauso neugierig und eingeschüchtert und überfordert wie man selbst an dieses Konzept "Erwachsen sein" herantasten... Oder mit Mitte 20, nachdem man gerade der Hochzeit desjenigen seines Bekanntenkreises beigewohnt hatte, den man eigentlich immer als Blindgänger statt nur Spätzünder eingeschätzt hatte, und mit dessen Beziehungsunfähigkeit man sich zuvor immer recht erfolgreich über die eigenen Versäumnisse hinweg trösten konnte.   Ehrlich. Es gab wenige Dinge, die einen so sehr an sich selbst zweifeln ließen, wie Seto Kaibas Hochzeit beizuwohnen.   Ich hatte gewusst, dass er und seine Braut schon einmal zu Schulzeiten zusammen gewesen waren, aber war immer davon ausgegangen, dass es sich dabei in erster Linie eine PR-Aktion gehandelt hatte - zumal man sie nie Hand in Hand oder sich auch nur tief in die Augen sehend auf den Covern der Klatschblätter sah. Doch bei der Trauung küssten sie sich und es wirkte nicht so, als wäre es das erste Mal. Und später am Abend verriet mir ein angetrunkener Atemu, dass er einige Jahre zuvor auch so seine Erfahrungen mit Kaiba gesammelt hatte, und dass das der Grund war, aus dem die Beziehung damals in die Brüche ging, und wie erleichtert er war, dass die beiden wieder zusammen waren, immerhin hatte Kaiba außer Mokuba sonst niemanden, und das Lächeln auf seinen Lippen und seine Finger um das Champagnerglas in seiner Hand verkrampften sich bei diesen Worten auch nur ein kleines bisschen.   Mein Blick wanderte durch die Reihen der anderen Gäste. Yoru war nirgends zu sehen. Also leerte ich mein Glas in einem Zug, was Atemu mir kurz darauf gleich tat, und stellte es auf dem nächstbesten mir dargebotenen Tablett ab.   Als der Abend sich für mich und Yoru dem Ende zuneigte, schwirrte mir der Kopf. Yoru bemerkte davon nichts, vermutlich weil es nicht in sein Bild von mir gepasst hätte, vielleicht auch, weil es eigentlich nicht mal in das Bild, das ich von mir selbst hatte, passte. Und obwohl er mir half, das Lächeln weiter aufrecht zu halten, sorgte der Alkohol gleichzeitig dafür, dass ich mich irgendwie... "losgelöst" von mir selbst fühlte. Als wäre ich wieder nur Gast in meinem eigenen Körper. Unangenehm. Ich seilte mich mit irgendeiner dummen Ausrede ab, um bei einem kleinen Spaziergang wieder einen klaren Kopf zu bekommen.   Ich traf eine ehemalige Kommilitonin, die gerade von einem Treffen mit Freunden in einer nahegelegenen Bar kam und auf dem Heimweg war. Erinnerte mich an die nicht sehr schmeichelnden Gerüchte, die ich irgendwann mal über sie aufgeschnappt hatte. Erwiderte ihr unverfängliches Flirten, einfach um zu sehen, wohin das vielleicht führte, und um mir selbst zu beweisen, wie normal ich sein konnte, wenn ich es wollte.   Ihr Atem schmeckte nach Bier, als wir uns, in ihrer Wohnung angekommen, schließlich küssten, und ihre Lippen waren weich und geübt in dem, was sie taten. Ebenso ihre Hände. Ich orientierte mich stumpf an dem, was sie machte, reagierte die meiste Zeit bloß und tat den ersten Schritt nur dann selbst, wenn es notwendig war, um die Sache weiter voran zu treiben. Reden taten wir kaum, auch nicht über Verhütung oder dergleichen, aber in Anbetracht der Sachen, die ich so gehört hatte, ging ich davon aus, dass sie vermutlich die Pille nahm, und hoffte einfach mal, dass ich mir nichts einfing - rückblickend betrachtet so ziemlich die dümmste mögliche Herangehensweise überhaupt. Aber ich wollte die Sache einfach hinter mich bringen, um einen Haken hinter diese bisher versäumte Erfahrung "Sex" machen zu können, und traute mir zu, einen Rückzieher zu machen sobald ich zu sehr über irgendetwas nachdachte.   Es war okay.   Ein wenig enttäuschend vielleicht, so in Anbetracht des Aufstands, den unsere Gesellschaft der Thematik "Sex" wegen so veranstaltete, aber im Großen und Ganzen... okay eben. Ich zog für einen kurzen Moment in Betracht, dass es mit jemandem meines eigenen Geschlechts vielleicht mehr als okay hätte sein können, kam dann aber zu dem Schluss, dass es daran nicht liegen konnte. Ich war nicht so wie zum Beispiel Atemu. Ich blickte anderen Männern nicht nach und dachte an Beziehungen oder auch nur Berührungen - zumindest nicht mehr als ich es tat, wenn ich Frauen nachschaute, was ohnehin schon selten genug war. Nicht, dass ich gar kein Interesse hatte, es war nur... nicht genug, um mich längerfristig zu beschäftigen.   Yoru machte dagegen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, wenn er wieder einmal eine seiner Phasen, in denen er für ein paar Tage verschwand und trank und sonst was trieb, hatte, und machte generell den Eindruck, Spaß an Sex und einer Reihe damit zusammenhängender Fetische zu haben.   Er machte auch keinen Unterschied zwischen Fremden und meiner Schwester.   Aber das war eine andere Geschichte, eine, die am Meer spielte, mit Möwengeschrei über uns, erst pastellfarbenem Stoff unter meinen Händen, dann nur noch salzig scharfem, kalten Wind zwischen meinen Fingern und auf meinen nassen Wangen. Und dem Rauschen des Ozeans, das jeden menschlichen Schrei und jedes dumpfe, knackende Aufprallgeräusch übertönte.   Eine Geschichte, an die ich nicht gerne zurückdachte.     Seitdem hatte ich noch ein, zwei weitere Erfahrungen gesammelt, die mich aber auch nur darin bestätigt hatten, dass all der Aufriss um Sex völlig überzogen war - zumindest was unverfänglichen Sex ohne tiefer gehende Beziehung betraf; mit Beziehungen kannte ich mich bis heute nicht wirklich aus und hatte auch schlichtweg besseres zu tun, als aus reiner Neugierde etwas daran zu ändern.   Währenddessen ging Kaibas Ehe, die mich einst an mir selbst hatte zweifeln lassen, öffentlich in die Brüche. Keiner wusste, warum sie sich nicht einfach scheiden ließen, aber man vermutete, dass es wegen des Geldes war. Selbst wenn man sich nicht für ihr Privatleben interessierte, die KaibaCorporation und alles, was mit ihr zusammenhing, inklusive der Gerüchteküche, war schwer zu ignorieren. Und es fiel einfach auf, wenn der Mann, dem die Stadt mehr oder minder gehörte, und seine Frau sich nirgendwo gemeinsam blicken ließen und einander die wenigen Male, die sie es doch taten, wie flüchtige Bekannte behandelten. Wobei Kaiba sich seit dem Unfall allgemein kaum noch irgendwo blicken ließ...   Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich ihn fast ein wenig um die Prothesen, die einen Großteil seiner Gliedmaßen ersetzten, beneidete. Zwar hatte ich inzwischen einen Punkt erreicht, an dem mein Körper sich wie ein Teil von mir anfühlte, und ich wusste ihn zu schätzen und genoss das, was er mir ermöglichte... aber die Narben auf und unter meiner Haut und der Nervenschaden in meiner Hand ließen mich nie vergessen, wie hart ich dafür hatte kämpfen müssen.     Und manchmal war ich die Erinnerungen daran schlichtweg leid und sehnte mich nach einem Körper, den Yoru nie bewohnt, besessen, benutzt hatte.     *     Als wir uns das nächste Mal begegneten, übergab er sich gerade in eine Mülltonne neben dem Hinterausgang des Restaurants, in dem er arbeitete. Ich konnte mich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren. So war er mir um einiges vertrauter als in der Rolle des entspannten Vaters, und es sorgte dafür, dass ich mir ein bisschen weniger blöd dabei vorkam, seine Arbeitsstelle überhaupt aufgesucht zu haben.   Er bemerkte mich erst, als er sich bereits wieder aufgerichtet und die Mülltonne mit ihrem Deckel verschlossen hatte, und ich ihm eine Packung Kaugummis hinhielt. Er musterte sie kurz argwöhnisch, musterte dann mich argwöhnisch, und nahm sich schließlich einen.   "Atemu hat mir erzählt, dass ihr euch getroffen habt." "..." "Küchenhilfe, huh?" Er zuckte mit den Schultern und steckte sich den Kaugummi in den Mund. "Was ist aus 'Einbrecher' geworden?" Ein amüsiertes Schmunzeln. Er ließ die Hände in den Hosentaschen verschwinden und lehnte sich an die Hauswand. "Früher war's dir egal, wo das Geld herkommt, so lange ich keine Fingerabdrücke oder Haare am Tatort hinterlasse, die dir Ärger einbringen." Er zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern und ließ den Blick an mir vorbei auf die Straße schweifen. "Ich werd auch nicht jünger. Das ist alles." Ich zog die Augenbrauen nach oben. "Wir- Du bist gerade mal 35. Das ist kein Alter." "Was denkst du passiert mit Akari, falls man mich doch mal erwischt?" "Seit wann gehst du davon aus, dass dich irgendwer erwischen könnte?" "Was machst du hier?"   Nun war es an mir, den Blick abzuwenden. "Atemu meinte, du arbeitest hier. Ich war neugierig, ob's stimmt."   Sein Grinsen war deutlich in seiner Stimme zu hören. "Wieso sollte ausgerechnet unser Pharaönchen dich anlügen?" Ich öffnete bereits den Mund für irgendeine Erklärung, die in meinem Kopf eine Menge Sinn ergab, sich ausgesprochen allerdings vermutlich an den Haaren herbeigezogen anhören würde, aber scheinbar war Yorus Frage eher rhetorischer Natur gewesen. Er wandte sich ab und öffnete den Hinterausgangs des Restaurants. "Geh vorne rein und setz dich irgendwo. Geht auf mich."     *     Es war bereits dunkel draußen, als ich nachhause kam.   Das Klirren der Schlüssel, als ich sie auf der Kommode neben der Tür ablegte, war ungewohnt laut und hallte regelrecht von den Wänden meiner Wohnung wider; ließ sie größer und leerer wirken, als sie eigentlich war. Vermutlich nur der Kontrast zu dem gut besuchten kleinen Restaurant, in dem ich die vergangenen Stunden verbracht hatte...   Yoru hatte sich in seiner Pause zu mir gesetzt, als ich eigentlich gerade gehen wollte.   Ich komplimentierte die Ramen, die er mir ausgegeben hatte, und ein zufriedenen Schmunzeln streifte seine Lippen.   Wir redeten.   Erst nur er. Über seine Tochter. Beantwortete mir zunächst nur ein zwei Fragen, begann dann aber irgendwann zu prahlen, wie es nur stolze Eltern vermochten. Wie gut und flüssig sie lesen konnte - sie beherrschte mehr Kanji als die anderen in ihrer Klasse - und wie schlau sie allgemein war. Gut im Klettern. Schnell. Sie zeichnete außerdem. Solche Dinge.   Irgendwann ertappte ich mich dabei, auch auf seine Fragen zu antworten. Ausführlicher als ich es eigentlich gewollte hatte. Ja, ich verdiente ganz gut. Die Arbeit machte Spaß. Meistens. Außer wenn ich den Kollegen bei der Vorbereitung ihrer Seminare helfen musste, aber dafür halfen sie mir ja auch, wenn es denn einmal nötig war. Und so weiter.   Inzwischen erinnerte ich mich kaum noch an unsere Worte. Irgendwie war es auch nicht wirklich um den Austausch von Informationen gegangen, sondern eher um das Reden selbst. Das Beisammensitzen.   Solche Dinge.     Ich ärgerte mich darüber, wie angenehm es teilweise gewesen war, und dass ich mit dem Gefühl herausgegangen war, das, was ich mir erhofft hatte, auch bekommen zu haben - obwohl ich mir eigentlich gar nichts erhofft oder auch nur erwartet hatte. Und ich ärgerte mich, diesmal seiner Einladung zu ihm nachhause zugestimmt zu haben; wir hatten uns für das kommende Wochenende zum Essen beim ihm verabredet.   Es war dumm, einfach nur unendlich dumm, sich wieder auf ihn einzulassen und sich an ihn zu gewöhnen. Aber es tat gleichzeitig so verdammt gut, das Ankämpfen gegen ihn zumindest zeitweise einfach sein zu lassen. Pause zu machen. Die Muskeln zu lockern, tief durchzuatmen, und sich diesem kurzen Rückfall in alte Gewohnheiten zu ergeben. Es war schließlich nicht so, als konnte ich den Kontakt nicht jederzeit wieder abbrechen...     Gott, war ich dumm.     Ich seufzte leise, ließ mich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür sinken und betrachtete abwesend meine Hände, die einmal unsere Hände gewesen waren. Nun wieder meine Hände waren. Legte eine von ihnen auf meine Brust und wartete darauf, zu spüren, wie ich, meine Seele, das was mich ausmachte, mich komplett ausfüllte und keinen Platz für irgendjemand anderen mehr übrig ließ.     Aber mir schlug bloß ein dummes, einsames Herz entgegen, das weder ihm, noch mir, noch sonst irgendwem gehörte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)