Der böse, böse Alkohol... von OffTheHeezay ================================================================================ Kapitel 1: Der Morgen danach ---------------------------- Verdammte Scheiße, tut mein Kopf vielleicht weh! Das ist das erste, woran ich denke, als ich aufwache. Der zweite ist, dass ich besser schnell zum Klo laufen sollte, bevor ich noch ins Bett kotze. Keine Ahnung, wann ich mich das letzte Mal so grauenvoll gefühlt habe. Was hab ich denn gemacht, dass es mir jetzt so beschissen geht? Ach so, stimmt ja, ich hab mich von meinem besten Freund Jannis dazu überreden lassen, auf diese Party zu gehen, obwohl ich den Abend eigentlich lieber zuhause vor dem Fernseher verbracht hätte, weil unser neuer Sportlehrer gemeint hat, uns knechten zu müssen, und ich solchen Muskelkater hatte, dass jeder Schritt eine Qual war. Aber nein, der ach so sportliche Jannis hat natürlich keinen Muskelkater gehabt, sondern nur Langeweile, und musste mich trotzdem mitschleppen. Und im Vergleich zu heute wünsche ich mir den Muskelkater zurück. Oder dass ich nicht so viel getrunken hätte, wie ich es offensichtlich habe. Langsam drehe ich mich zur Seite und öffne die Augen. Überraschenderweise sehe ich nicht mein eigenes Zimmer vor mir. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es nur Jannis’ Zimmer ist und nicht das von irgendeinem Fremden. Dabei hat es eigentlich einen ziemlich hohen Wiedererkennungswert. Allein die giftgrünen Wände… Weil von Jannis selbst allerdings nichts zu sehen ist, beschließe ich, diese ungewohnte Ruhe noch auszunutzen, und ziehe mir die Bettdecke wieder über den Kopf, damit es nicht mehr so hell ist und ich weiterschlafen kann. Wer weiß, was er für heute geplant hat. Dieser Junge kann einfach keine drei Minuten still stehen. Und ich bin jedes Mal so blöd und mache jeden Scheiß mit. Aber Jannis hat einfach so eine Art, die es mir unmöglich macht, Nein zu sagen. Sowieso ist er der tollste Mensch, den ich kenne. Seit dem Kindergarten sind wir jetzt schon beste Freunde und er war immer für mich da. Sogar als raus kam, dass ich schwul bin, und selbst meine Familie und vor allem mein Vater sich deswegen echt verrückt aufgeführt haben. Aber so gern ich Jannis auch habe, er kommt viel zu früh zurück in sein Zimmer, lässt sich zu mir aufs Bett fallen und zieht die Bettdecke wieder weg. Offensichtlich ist er bestens gelaunt. „Na, Lexi, auch schon wach?“, fragt er mit einem meiner Meinung nach viel zu schadenfrohen Grinsen. Schon klar, er war noch nicht oft richtig betrunken, aber er kann die paar Mal doch nicht einfach vergessen haben. Er sollte doch wissen, wie beschissen man sich dann fühlt. Ist ein bisschen Mitleid da zu viel verlangt? „Hmm“, grummle ich, streiche mir die Haare zur Seite und werfe ihm einen finsteren Blick zu. Er grinst nur noch breiter. „Was?“, fauche ich. „Mann, du bist aber gereizt heute morgen“, stellt er kichernd fest. „Dabei bist du doch jetzt praktisch berühmt. Du solltest dich freuen.“ „Berühmt?“, frage ich irritiert. Berühmt ist bestimmt das letzte, was ich jemals sein werde. Und das ist mir eigentlich auf ganz recht so. Es ist einfach viel einfacher, nicht überall aufzufallen. Leider ist das nicht ganz so leicht, wenn man mit Jannis zusammen ist. Er ist ziemlich beliebt an der Schule und kennt praktisch jeden. Mit ihm kann man auch keine zehn Meter durch die Stadt laufen, ohne irgendjemandem zu begegnen, mit dem er befreundet ist, obwohl er denjenigen keine zwei Tage lang kennt. Keine Ahnung, wie er das macht. „Naja, ihr seid auf YouTube“, erklärt Jannis immer noch fröhlich. Ich schaue ihn fragend an. „Na, du und Marvin. Und bestimmt auf den Handys der halben Oberstufe.“ So sehr ich auch versuche, ihn zu verstehen, ich habe einfach keine Ahnung, wovon er redet. Und gestern Abend ist doch auch nichts Ungewöhnliches passiert… Oder? Wenn ich so darüber nachdenke, kann ich mich gar nicht mehr an alles erinnern, was gestern passiert ist. Und was war der Teil mit Marvin? Ich kenne ihn zwar vom Sehen und so, aber wirklich mit ihm gesprochen habe ich noch nicht. Er ist noch nicht lange an unserer Schule und mag eigentlich auch niemanden. Trotzdem ist er ziemlich heiß und ich habe jedes Mal ein Kribbeln im Bauch, wenn wir uns sehen. Scheiße, was ist, wenn ich irgendwas Peinliches gemacht habe? Oh Gott, wir haben uns doch nicht etwa geprügelt? Aber nein, dann müsste ich mehr Schmerzen haben. Aber was kann es dann sein? Und war Marvin überhaupt auf der Party? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, ihn gesehen zu haben. „Was… war denn mit Marvin?“, will ich vorsichtig wissen. Jannis sieht mich ungläubig an. Langsam werde ich wirklich nervös und kaue auf einem von meinen Lippenpiercings herum. „Du weißt es nicht mehr? Echt nicht?“ Zögernd schüttle ich den Kopf. „Oh Mann“, sagt er und kann sich kaum beherrschen, nicht loszulachen. „Jetzt sag schon!“, verlange ich und setze mich aufrecht hin, damit ich nicht dauernd zu ihm hoch schauen muss. „Hm, ich weiß gar nicht genau, wie ich das erklären soll… Am besten, du schaust es dir einfach selbst an“, beschließt er und nimmt sein Handy vom Nachttisch. Ungeduldig schaue ich ihm dabei zu, wie er auf den Tasten rumdrückt. Nach einer Ewigkeit hat er endlich gefunden, was er gesucht hat, und hält es mir vor die Nase. „Hier.“ Oh Scheiße… Ich kann es kaum glauben, aber Jannis hat ein Video von mir auf seinem Handy. Von mir und Marvin. Und wir küssen uns. Ziemlich heftig. Um genau zu sein liegen wir eng umschlungen auf irgendeinem Sofa und es sieht so aus, als ob ich ihn ausziehen will. Jedenfalls hab ich meine Hände unter seinem T-Shirt und schiebe es immer weiter hoch. Und was zur Hölle macht er da an meiner Hose?! Oh Gott, ich werde doch nicht etwa mit ihm geschlafen haben! Ich kenne ihn doch gar nicht! Und warum sollte Marvin mich überhaupt küssen? Ich hab ihm doch nicht etwa gesagt, dass ich ihn scharf finde? Und warum gibt es bitte ein Video davon? „Ich kann auch noch den Ton anmachen, dann kann man dich stöhnen hören“, meint Jannis sehr hilfreich. Ich werfe ihm einen verzweifelten Blick zu. „Du hast gefilmt, wie ich mit Marvin rummache?“, frage ich vorwurfsvoll und etwa zwei Oktaven höher als sonst. „Und das dann ins Internet gestellt? Wo es jeder sehen kann?“ „Nein, natürlich nicht. Das war Julia.“ Na wenigstens etwas… „Was- was- was passiert denn da noch?“, frage ich aufgeregt und tippe gegen das Handy. Allein beim Gedanken daran, dass es irgendwelche Sexfilmchen von mir gibt, könnte ich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich mag es ja schon nicht, wenn mir irgendjemand beim Küssen zuschaut – und wenn zwei Jungs sich küssen kommt es gar nicht so selten vor, dass man dabei angestarrt wird. Und so ein Video… das ist einfach das Schlimmste. „Naja, das geht einfach nur so weiter. Also, vermutlich hätte Marvin dich auch noch flach gelegt, aber als ich euch gesehen hab, hab ich eure Fans weggeschickt und dich nach Hause gebracht. Ich hoffe, du bist mir nicht allzu böse deswegen, aber ehrlich gesagt hast du gewirkt, als hättest du keinen eigenen Willen mehr, und mir war einfach nicht wohl dabei.“ Obwohl das ja eigentlich eine gute Nachricht ist, kann ich trotzdem nicht erleichtert sein. Dieses Video gibt es ja trotzdem. „Oh Gott, das ist mir so peinlich!“, murmle ich und verberge mein Gesicht in meinen Händen. Wie konnte ich nur so blöd sein und mich betrinken und dann mit Marvin rummachen, obwohl ich ihn gar nicht kenne? Ich wusste ja vorher nicht mal, dass er schwul ist. Oder vielleicht war er so betrunken, dass es ihm einfach ganz egal war. Oder ich hab mich an ihn rangeschmissen, bis er endlich nachgegeben hat, oder ihm sonst was versprochen. Wenn ich nur wüsste, was passiert ist! Ich könnte echt anfangen zu heulen. „Das sollte es dir auch sein“, stimmt Jannis mir zu, nimmt mich aber trotzdem in den Arm und streicht mir beruhigend durch die Haare. „Du bist wirklich keine große Hilfe, Jan“, nuschle ich leicht quengelig in sein T-Shirt. Das ist mir einfach so unheimlich peinlich! Wie soll ich Marvin denn je wieder gegenüber treten, wenn ich nicht mal weiß, was ich zu ihm gesagt habe? Und wenn wirklich so viele das Video kennen, wie Jannis gesagt hat… Hoffentlich muss ich mir deswegen nicht wieder solche dummen Kommentare anhören wie als meine Klasse erfahren hat, dass ich auf Männer stehe. „Ich hab dir doch gestern gesagt, dass du nicht so viel trinken sollst. Du hättest einfach auf mich hören sollen.“ „Jannis!“ „Schon gut, tut mir leid. Aber soo schlimm ist es doch gar nicht. Ich mein, das passiert doch dauernd, dass irgendwelche Fremden sich betrinken und dann rummachen. Und es ist ja nicht so, als ob es ein Geheimnis gewesen wäre, dass du schwul bist“, versucht er mich zu beruhigen und streichelt über meinen Rücken. „Aber trotzdem… Du hast das Video doch auch gesehen. Und das ist jetzt im Internet, verdammt noch mal!“ „Du hast nicht mal bis zu dem Teil geschaut, wo Marvin dich auszieht. Und ohne Ton.“ „Was?! Ach, verdammt!“ „Komm schon, Lexi, so schlimm ist es nicht. Du bist doch hübsch, die werden bloß alle ganz eifersüchtig sein.“ „Ja, bestimmt. Bisher waren ja auch alle so eifersüchtig, wenn ich einen Freund hatte“, meine ich sarkastisch. „Hast du nicht außerdem mal gesagt, dass du Marvin echt heiß findest oder so? Dann freu dich doch, dass er auch auf dich steht“, fährt Jannis so optimistisch, wie er nun mal ist, fort und ignoriert meine Bemerkung einfach. „Aber ich weiß doch gar nicht, ob er auf mich steht.“ „Ach komm, jammer doch nicht so. Hätte er sonst so mit dir rumgemacht? Ich dachte schon, er würde mich verprügeln, als ich ihm erklärt habe, dass er jetzt keinen Sex mit dir haben kann. Echt gruselig, der Typ.“ „Du hast auch gedacht, er will dich auffressen, als du in Französisch mit ihm Gruppenarbeit machen musstest“, erinnere ich ihn und seufze dann. „Was ist denn, wenn Marvin nur betrunken war? Er war doch betrunken, oder?“ „Ja, schon, aber…“ „Dann kann es doch sein, dass er einfach total besoffen war und ich mich an ihn rangemacht habe oder sowas.“ „Ach was, sowas machst du doch nicht. …Fängst du gleich an zu weinen, Lexi?“ Ich schüttle leicht den Kopf, obwohl mir immer noch zum Heulen zumute ist, und er lässt mich los, nachdem er mich noch mal fest an sich gedrückt hat. „Gut, dann gehen wir jetzt frühstücken.“ „Essen? Naaa, mir ist so schon schlecht.“ „Dann kriegst du auch kein Ibuprofen.“ „Du bist doch nicht meine Mutter!“ „Schmerzmittel soll man nicht auf leeren Magen nehmen. Und irgendjemand muss sich doch um deine Gesundheit kümmern. Oder willst du schon wieder kotzen?“ Wenigstens kann ich mich daran auch nicht erinnern. Kapitel 2: Optimismus ade ------------------------- Zwei Tage später hab ich die ganze Sache mit Marvin und dem Video immer noch nicht vergessen. Wie auch? Ich hab mich zwar die ganze Zeit in meinem Zimmer verkrochen, aber meine Schwester hat natürlich trotzdem Wind davon bekommen und zieht mich pausenlos damit auf, weil sie weiß, wie peinlich mir das ist. Oder ich hab bei Jannis rumgehangen. Er hat sich sogar nur minimal über mich lustig gemacht. Und seine Eltern sind einfach viel cooler als meine. Meine Eltern hab ich nämlich Sonntagmorgen in der Küche darüber diskutieren hören, ob das jetzt heißt, dass ich Pornostar-Tendenzen habe, als sie dachten, ich schlafe noch, und haben mich dann das ganze Frühstück über ganz seltsam angeschaut. Hoffentlich denken sie nicht darüber nach, mich doch noch auf dieses Internat zu schicken… Montagmorgen wäre ich am liebsten zuhause geblieben. Bis dahin hatte ich die Tatsache verdrängt, aber leider habe ich heute Musik. Und Musik ist eines der Fächer, die ich mit Marvin zusammen habe. Leider weiß ich immer noch nicht, was ich zu ihm gesagt habe oder ob ich ihn irgendwie richtig übel angebaggert habe, und ich hab auch keine Ahnung, was ich machen soll, wenn ich ihn sehe. Ich kann ja schlecht so tun, als wüsste ich nichts von der ganzen Sache. Aber ich kann auch nicht zu ihm hingehen und fragen, warum wir uns geküsst haben. Soll ich überhaupt mit ihm reden? Ich meine, ich kann mich gar nicht daran erinnern, jemals wirklich mit ihm geredet zu haben. „Na, freust du dich schon drauf, deinen neuen Freund wieder zu sehen?“, fragt meine Schwester Marie und hüpft gut gelaunt die Treppen in unserem Haus hinter mir runter. Dabei bin ich extra früh losgegangen als sie noch gar nicht fertig war, damit sie mich nicht weiter nerven kann. „Lass gut sein. Wir haben uns nur geküsst. Ein Mal“, erkläre ich ihr genervt und stecke die Hände in meine Jackentaschen. Ist echt kalt geworden in den letzten Tagen und regnet fast die ganze Zeit, aber im Moment ist es noch trocken. Der gleichen Meinung scheint wohl auch Marie zu sein, sie kuschelt sich neben mir noch tiefer in ihren unheimlich hässlichen neonblauen Lieblingsmantel, ohne den sie nur ganz selten aus dem Haus geht. „Nur küssen war das nicht, des war eindeutig Petting“, meint sie und ich unterdrücke ein Stöhnen. Wenigstens steht Jannis schon an der Ecke und wartet auf mich. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich gerettet. „Du bist 14, was weißt du schon von Petting?“, grummle ich und ziehe meinen Schal fester um mich. „Ich mache nur das, was du auch mit 14 gemacht hast“, verkündet sie breit grinsend. Leider ist sie sehr genau über mein Privatleben informiert, weil meine Eltern beschlossen haben, dass ich meine Tür nicht mehr abschließen können sollte, als ich meinen ersten Freund hatte, was dummerweise gerade mit 14 war, und meine Schwester war da sogar noch neugieriger und penetranter als jetzt. Und mit dem Kerl, den sie gerade hat, traue ich ihr auch zu, dass sie das gleiche mit ihm macht. Sonst wäre er gar nicht mehr mit ihr zusammen. „Danke, das wollte ich gar nicht wissen.“ Darauf streckt Marie mir die Zunge raus und grinst frech. „Außerdem solltest du doch am besten wissen, wo seine Hände überall waren. Ich dachte schon, das wird ’n Porno.“ „Heyy, heute Musik“, begrüßt Jannis mich dann auch schon und strahlt uns entgegen. Meint er etwa, dass ich mich darüber freue, Marvin zu sehen? Ganz bestimmt nicht. „Können wir bitte über was Anderes reden? Langsam wird’s wirklich langweilig“, sage ich, obwohl ich bezweifle, dass die beiden das genauso sehen. „Find ich nicht“, bestätigt Marie da auch schon meine Gedanken. „Weiß Jannis eigentlich schon, dass Mama und Papa denken, du hättest einen neuen Berufswunsch?“ Ich seufze. Jannis dreht sich sofort interessiert zu meiner Schwester. Ich finde es wirklich besser, wenn Marie nicht mit uns geht. „Ernsthaft?“ „Jup. Papas Kommentar war einfach das Beste. ‚Ich wusste es, als er mit diesen Metallringen im Gesicht nach Hause kam: Mit diesem Jungen stimmt was nicht!’.“ „Hehe. Meine Mutter hat gemeint, das macht doch jeder Mal. Sie hat übrigens auch gesagt, Lexi lächelt so süß verliebt“, erzählt Jannis fröhlich. So ein Muttersöhnchen. War ja klar, dass er ihr das Video doch zeigt, obwohl ich ihm gesagt habe, er soll es nicht machen. Der redet einfach über alles mit seiner Mutter. Auch, wenn es gar nicht um sein eigenes Leben geht. Aber in dieser Hinsicht hat Jannis sonst ja auch nicht viel zu erzählen. „Ja? Genau das gleiche hat Jenny auch gesagt!“ „Ich stehe direkt neben euch. Ich kann euch hören“, unterbreche ich sie genervt und krame nach meinem iPod. „Wenn ihr euch unterhalten müsst, von mir aus, aber doch nicht über mein Leben!“ „Ach komm, sei doch nicht gleich so beleidigt“, meint Jannis fast schon reumütig und legt mir einen Arm um die Schultern. „Aber dein Leben ist einfach viel interessanter als unsere. Allein das Drama mit Mo…“ „Jetzt red ich erst recht nicht mehr mit dir.“ Wütend schalte ich meine Musik an und gehe schneller. Jannis ruft mir etwas hinterher, aber ich kann nicht verstehen was und es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Er weiß doch, dass er Mo nicht mal erwähnen sollte, wenn ich wirklich gut gelaunt bin. Und im Moment bin ich alles andere als gut gelaunt. An so eine Scheiße wie mit Mo will ich da bestimmt nicht erinnert werden. Zum Glück wohnen wir nicht weit von der Schule entfernt und ich brauche nicht lange, um dort anzukommen. Nach einem kurzen Blick in die Pausenhalle entscheide ich mich dazu, lieber gleich zu unserem Klassenraum zu gehen, als ich Leon und seine Gruppe folgsamer Vollidioten sehe. Die lassen sich nie eine Möglichkeit entgehen, sich über mich lustig zu machen. Dieses Jahr ist zwar nur noch Jonas in meiner Klasse, und der benimmt sich nur so scheiße, wenn einer von den anderen in der Nähe ist, aber wenn ich ihnen in der Pause oder in Musik oder Religion über den Weg laufe haben die trotzdem immer einen blöden Spruch auf Lager. Ich ärgere mich immer noch über Jannis und meine Schwester und Leon und eigentlich alles, als ich um eine Ecke biege und plötzlich mit jemandem zusammenstoße. Und als ich hoch schaue, merke ich, dass dieser Jemand niemand anderes ist als Marvin. Sofort werde ich nervös, meine Wangen werden heiß und mir wird leicht schlecht. Was mache ich jetzt? Soll ich was sagen? Was denkt er von mir? Was kann ich Freitag alles zu ihm gesagt haben? Und vor allem: Oh mein Gott, er sieht so gut aus! Marvin ist einfach total mein Typ. Er ist groß und schlank und hat braungrüne Augen und etwas mehr als schulterlange Haare, die so dunkelbraun sind, dass sie schwarz wirken. Wie immer trägt er eine schwarze Jeans, Nietengürtel, Chucks und ein Bandshirt mit einer schwarzen Sweatshirtjacke. Und er schaut mich unheimlich unfreundlich an. Oh Gott, ist er böse auf mich? Weil ich ihn angemacht habe? Weil ich (unfreiwillig) abgehauen bin? Weil er mich einfach nicht mag? Oder war noch irgendwas anderes? Eine Weile stehen wir einfach schweigend im Flur und schauen uns an. Ob er mich erkennt? Ob er sich überhaupt noch daran erinnert, was passiert ist? Aber selbst wenn nicht, das mit dem Video kann ja nicht total an ihm vorbei gegangen sein. „Hi“, sage ich vorsichtig, nachdem ich meine Musik leiser gestellt habe, und habe das Gefühl, ihn Ohnmacht zu fallen, als er nicht antwortet und mich nur weiter finster anstarrt. Als ob er gar nicht wüsste, warum ich auf ein Mal mit ihm rede. „Morgen“, brummt er schließlich. Und geht dann einfach an mir vorbei. Sprachlos schaue ich ihm hinterher. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber doch auf jeden Fall mehr als das. Er kann mich doch nicht einfach so ignorieren! Was soll das denn? Ich wette, wenn ich ihn nicht gegrüßt hätte, hätte er einfach gar nichts gesagt. Er ist zwar sonst auch ziemlich unfreundlich zu allen, aber trotzdem… „Arschloch“, murmle ich und drehe meine Musik wieder lauter. Scheißtag einfach. Heute sind einfach alle gegen mich. Und wo ist eigentlich Jannis, wenn ich mal mit ihm reden muss? „Er hat dich echt einfach ignoriert?“, fragt Jannis fünf Minuten später und schaut mich ungläubig an. „Warum?“ „Woher soll ich das denn wissen?“, grummle ich und schlinge die Arme um meine Knie. Zusammen sitzen wir auf der Fensterbank vor unserem Klassenraum. Der Unterricht fängt erst in ein paar Minuten an und von dem Rest unserer Klasse ist natürlich noch nichts zu sehen. Die meisten kommen sowieso immer zu spät und wenn wir Deutsch haben hält es auch der Rest der Klasse nicht für nötig, rechtzeitig zu kommen. Von einer 11. Klasse sollte man eigentlich mehr erwarten können. Selbst an so einer Drecksschule in so einer Drecksgegend. „Meinst du, er ist irgendwie sauer auf mich oder so? Hab ich vielleicht irgendwas gemacht oder gesagt, also am Freitag, und kann mich jetzt nur nicht mehr dran erinnern?“ Ich seufze leise und fahre mir durch die Haare. „Jan, du warst doch auch da. Hast du vielleicht irgendwas mitbekommen? Weißt du, warum wir überhaupt miteinander rumgemacht haben? Am Ende hat er bloß eine Wette verloren oder sowas.“ „Nee, keine Ahnung, ich hab nichts mitbekommen. Aber ich glaube, dass er dich nur geküsst hat, weil er es wollte.“ „Wenn er mich Freitag küssen wollte, warum will er es dann jetzt nicht mehr?“ „Das weißt du doch gar nicht.“ „Dann würde er mich ja wohl nicht einfach stehen lassen, oder?“ „Ach komm, Marvin ist doch immer ein Arschloch. Oder hast du ihn mal mit jemandem wirklich reden sehen?“ Ich schüttle den Kopf und Jannis legt einen Arm um mich. „Sei wegen dem doch nicht so deprimiert. Wenn er dich nicht will, ist er selbst schuld. Und vielleicht mag er dich ja, auch wenn es nicht so aussieht.“ „Ganz egal, ob er mich mag, er hätte etwas netter zu mir sein können. Obwohl es natürlich schöner wäre, wenn er mich auch mag. Meinst du, ich soll ihn einfach fragen oder so?“ „Hey, vergiss ihn doch einfach. Er wäre sowieso nicht gut für dich. Besser, du hältst dich von ihm fern.“ Überrascht schaue ich zu ihm hoch. Sowas von Jannis? Eigentlich mag er erstmal jeden und sieht nur das Gute und setzt sich für andere ein (deswegen ist er ja auch Schulsprecher geworden). Okay, Marvin fand er schon irgendwie komisch, aber allein deswegen würde er sowas nicht sagen. „Wie, nicht gut für mich? Du kennst ihn doch gar nicht“, entgegne ich. „Du kennst ihn auch nicht.“ „Weißt du irgendwas?“ „Hm, naja, nicht direkt“, murmelt Jannis und ich sehe ihn drängend an. Wenn er irgendetwas weiß, dann soll er es mir gefälligst auch sagen! Er weiß doch, dass ich ihn schon gut fand, als er Anfang des Jahres an unsere Schule gekommen ist, und mich für ihn interessiere. „Ich weiß ja nicht, ob es stimmt, aber…“ „Was aber?“ „Ich hab gehört, er ist von seiner alten Schule geflogen und hatte Probleme mit der Polizei und so“, antwortet er schließlich und zuckt mit den Schultern. „Warum hast du denn nicht früher was gesagt?“ „Ich hab’s ja erst am Wochenende gehört. Und ich dachte nicht, dass du nur wegen Freitag anfangen würdest, mit ihm zu reden. Hast du vorher ja auch nicht gemacht, obwohl du so scharf auf ihn warst.“ „Aber jetzt habe ich doch endlich einen Grund mit ihm zu reden! Also, rein theoretisch.“ „Mach’s nicht, okay? Am Ende stimmt das noch und du gerätst da in irgendwas rein… Hört man doch immer wieder. Ich mach mir nur Sorgen um dich, ja?“, erklärt er mir und sieht aufrichtig besorgt aus. Es fällt mir zwar schwer zu glauben, dass es irgendwie gefährlich sein könnte, mit Marvin zu reden, aber ich kenne ihn ja wirklich nicht und ich will auch nicht, dass Jannis sich Sorgen macht. „Sowas wird mir bestimmt nicht passieren“, meine ich, aber Jannis wirkt kein bisschen beruhigt. „Auch wenn es nicht so schlimm ist, wer weiß, wie Marvin so drauf ist. Vielleicht ist er ja aggressiv und schlägt dich oder zwingt dich zu irgendwas oder so… Wer weiß, vielleicht hast du ihn ja nicht mal freiwillig geküsst. So betrunken, wie du warst.“ „Wieso sollte ich es nicht gewollt haben? Marvin ist so heiß…“ Und ich will den kleinen Funken Hoffnung nicht aufgeben, dass er vielleicht auch ein bisschen auf mich steht, egal ob er mich einfach stehen lassen hat. „Ich weiß auch nicht. Aber kann ja sein. Du kannst dich ja nicht erinnern.“ Er macht eine Pause und seufzt dann. „Aber auch, wenn er nicht gefährlich ist oder so, er wirkt einfach nicht, als wäre er verliebt in dich, sondern nur, als ob er mit dir ins Bett wollte. Sorry. Und wenn du dir Hoffnungen machst und dich an ihn ranschmeißt und er dich dann nur als Zeitvertreib benutzt und du dann wieder so depressiv wirst, wenn er sich jemand anderen sucht… Es geht mir wirklich nur darum, dass es dir gut geht, okay?“ „Hmhm“, mache ich nur und rutsche von der Fensterbank, weil ich unseren Deutschlehrer kommen sehe, gefolgt von ein paar Jungs, die auch in unserer Klasse sind und offensichtlich nicht rechtzeitig abhauen konnten. Nach der Doppelstunde Deutsch und den 20 Minuten Pause danach bin ich schon wieder ganz nervös, weil ich jetzt gleich zwei Stunden lang Musik habe. Mit Marvin, aber ohne Jannis. Wenigstens ist Paula in meiner Musikklasse und ich bin nicht ganz allein. Paula ist echt nett, hat aber immer seltsame Klamotten an und echt komische Hobbys. Abgesehen davon, dass sie gerne in der Öffentlichkeit singt und sich etwas anders ausdrückt als andere Menschen. Kurz: Sie ist ein Außenseiter, aber ich mag sie. Und der beliebteste war ich ja auch noch nie. „Lexiiiiiiiiiii!“, ruft sie und kommt wild winkend auf mich zu, kaum dass ich in Sichtweite bin. „Na, Häschen, wie war dein Wochenende?“, fragt sie so laut, dass jeder andere es auch gehört haben muss, und umarmt mich. „Hm, naja, geht so“, antworte ich. Mittlerweile habe ich es aufgegeben, sie daran zu erinnern, dass ich sogar einen richtigen Namen habe, der nicht wie der von einem Plüschtier klingt. Irgendwie hat das bisher noch nie funktioniert. Keine Ahnung, warum alle so besessen davon sind, meinen Namen zu verniedlichen. Okay, ich bin zwar schwul, aber das kann man mir ja wirklich nicht ansehen. Ich trage ganz normale Klamotten und gehe nicht irgendwie tuntig oder rede so. Und ich bin ganz bestimmt nicht der einzige, der kein Macho ist, aber bei den anderen macht das keiner. Und überhaupt: Richtig heiße ich Alexander, ist Alex da nicht der naheliegendste Spitzname? Komischerweise sind meine Lehrer die einzigen, die mich so nennen. Manchmal zumindest. „Warum denn nur geht so? Ich hab irgendwas von neuem Freund und tagelang wildem Sex gehört“, meint sie grinsend. Weil Leon und ein paar seiner Leute vor dem Musikraum stehen und obszöne Bewegungen machen, als sie bemerken, dass ich zu ihnen rüber schaue, kann ich mir gut denken, von wem sie so einen Mist hat. Und Marvin steht nur ein paar Meter daneben an die Wand gelehnt, sieht großartig aus und tut so, als würde er gar nichts bemerken. Bis jetzt. Jetzt schaut er von den Zetteln, die er in der Hand hält, auf und sieht mir direkt in die Augen. „Äh, nein. Kein Freund, kein Sex“, murmle ich leise, stecke die Hände in die Taschen und weiche seinem Blick aus. Warum schaut er überhaupt zu mir rüber? Schaut er immer noch? Oh Gott, er schaut mich ja immer noch an. Und dann sieht er wieder runter auf seine Zettel. Ohne die geringste Regung zu zeigen. Schon wieder ignoriert. Na toll. „Wirklich?“, fragt Paula und schaut mich ungläubig an. Dabei wirken ihre Augen noch größer als sowieso schon. „Ja.“ Leider. Ich frage mich, wie es wohl gelaufen wäre, wenn ich tatsächlich mit Marvin geschlafen hätte. Nicht unbedingt mit Kameras, aber wenn wir irgendwo anders hingegangen wären, und dann… Was wäre dann passiert? Ignoriert hätte er mich bestimmt nicht. Aber an sowas sollte ich gar nicht denken. Zu sowas wird es ganz bestimmt nie kommen. Ich musste Jannis ja versprechen, ihm nicht hinterher zu laufen, und von Marvin wird wohl eher nichts kommen. „Schade. Ist doch schon ewig her, dass du deinen letzten Freund hattest. Wie hieß der noch mal? Max oder so ähnlich, stimmt‘s?“ „Mo“, nuschle ich. Ich sollte etwas daran ändern, dass alle so gut über mein Privatleben bescheid wissen. „Können wir jetzt über was anderes reden?“ „Ja, okay. Hast du die Hausaufgaben gemacht? Die waren doch furchtbar, oder? Ich hab echt ewig dafür gebraucht.“ Wow, das war ja einfacher als ich dachte. Leider gefällt mir das Thema nicht unbedingt besser. „Jaa, ich auch. Ich glaub trotzdem nicht, dass ich es richtig gemacht habe.“ „Naja, bist nicht der einzige.“ Sie grinst trotzdem fröhlich vor sich hin und dreht sich eine ihrer blonden Haarsträhnen um den Finger. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum Paula so unbeliebt ist. Sie ist etwas überdreht, aber eigentlich ganz hübsch, wenn man von ihren Klamotten absieht. Sie hat lange hellblonde Haare, volle Lippen, große hellblaue Augen und ist schlank. Meiner Meinung nach sieht sie sogar viel besser aus als die Tussen, mit denen sich zum Beispiel Leon und so abgeben. Die sehen doch aus wie 30-Jährige, die wie 15-Jährige aussehen wollen, mit der ganzen Schminke und dem vielen Solarium. „Sag mal, was ist eigentlich heute los mit dir? Du bist so gut gelaunt. Ist irgendwas passiert oder so?“ „Nein, eigentlich nicht. Ich bin einfach gut drauf. Obwohl wir jetzt Musik haben.“ Sie verdreht die Augen und lässt ihre Haare wieder los. „Was meinst du, machen wir mal wieder was zusammen? Auch mit Jannis und Caro vielleicht?“ „Ja, klar, warum nicht.“ War bisher ja immer lustig. Und auf zuhause und meine Familie hab ich ganz sicher keine Lust. „Yay! Wann hast du denn Zeit? Heute kann ich ja nicht, wegen Nachhilfe, aber wie wär's mit morgen? Wir können ins Einkaufszentrum, vielleicht ins Kino und dann noch was trinken gehen“, schlägt sie vor. „Klingt gut“, antworte ich. Aber vom Alkohol werde ich besser meine Finger lassen, denke ich mit einem kurzen Blick zu Marvin. „Ich red dann gleich mit den anderen und ruf dich dann heute Abend an, ja?“ „Kayy. Das wird bestimmt spaßig.“ Ich nicke lächelnd. Mich mit Freunden treffen wird mich bestimmt wieder aufheitern, egal was Marie oder Leon und seine Spastentruppe noch sagen. Leider muss ich mich jetzt erst mal durch zwei Stunden Musik quälen. Mittlerweile ist unsere Lehrerin sogar schon da und alle stürzen in den Raum, um einen guten Platz weit hinten zu bekommen. Aus diesem Gedrängel halten wir uns raus und gehen ganz langsam zur Tür. Musik kann auch nicht grauenvoller werden, wenn man in der ersten Reihe sitzen muss. Kapitel 3: Katta ---------------- Als unsere Lehrerin uns ein paar Minuten später mitteilt, dass jetzt wieder Referate anstehen, muss ich leider feststellen, dass es sehr wohl einen Weg gibt, Musik noch furchtbarer zu machen. Referate an sich finde ich zwar gar nicht so schlimm, aber dass wir uns die Gruppen, in denen wir das machen sollen, nicht mal selbst aussuchen können schon. Vor allem, weil ich generell kein Glück bei Gruppenaufteilungen habe. Hoffentlich muss ich nicht mit Leon in eine Gruppe. Das wäre einfach die Hölle. Und mit Marvin… Sonst würde ich mich ja freuen, einfach weil ich dann einen Grund hätte, mit ihm zusammen zu sein und ihn anzuschauen, aber im Moment irgendwie nicht. Ich hab einfach keine Ahnung, was ich von ihm halten soll. Und er hat mich einfach stehen lassen. Das kann ich ihm auch nicht einfach vergessen. Wenig überraschend habe ich nicht mal ausnahmsweise Glück und komme trotzdem mit Marvin in eine Gruppe. Und er sieht noch weniger begeistert aus als ich. Hoffnungen macht mir das auch nicht gerade. Mein einziger Trost ist, dass ich von Leon und seinen Anhängern verschont bleibe. Okay, nicht ganz, Jonas ist in meiner Gruppe, aber alleine ist er ganz erträglich. Meistens jedenfalls. Unser viertes Gruppenmitglied ist eines der wenigen Mädchen aus meiner Musikklasse. Sie heißt Selma und gehört auch nicht unbedingt zu den Menschen, mit denen ich gerne meine Zeit verbringe. In den zwei Jahren, die ich sie jetzt kenne, habe ich nur ein Mal mit ihr geredet. Und das auch nur, weil ich ihr beim Volleyball ausversehen die Nase gebrochen habe und mich stundenlang bei ihr entschuldigt habe. Offenbar muss Selma auch daran denken, als wir uns in den Gruppen zusammensetzen, und bei dem wütenden Blick, den sie mir zuwirft, wage ich es zu bezweifeln, dass sie mir schon verziehen hat. Ich sag ja, ich habe kein Glück beim Gruppenbilden. „Hat irgendjemand zufällig mitbekommen, was unser Thema ist?“, fragt Selma nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir nur zusammen gesessen und uns vermutlich alle gewünscht haben, irgendwo anders zu sein. „Barock oder so…“, meint Jonas alles andere als überzeugt und zuckt mit den Schultern. Während Selma sofort einen Aufstand macht von wegen das wäre doch nicht konkret genug und wir hätten gefälligst besser zuhören sollen, obwohl sie das ja auch nicht gemacht hat, riskiere ich einen Blick zu Marvin. Ob es wohl Zufall ist, dass er sich ausgerechnet auf den Platz gesetzt hat, der am weitesten von meinem Weg ist? Und was kann ich ihm nur getan haben, dass er mich immer noch nicht beachtet und unmotiviert mit seinem Handy rumspielt? „Ist was?“, brummt er nach einer Weile und schaut mich finster an. Ich bin so überrascht, dass ich nur den Kopf schütteln kann und dann runter auf meine Hände sehe. Eigentlich wäre das eine passende Gelegenheit gewesen, ihn zu fragen, warum er so unfreundlich zu mir ist, aber die Idee kommt mir zu spät. Wahrscheinlich hätte ich mich sowieso nicht getraut, dass zu fragen, wenn Selma und Jonas sich gleichzeitig quer über den Tisch streiten. Wenn ich mal darüber nachdenke, es ist ziemlich seltsam, dass die beiden sich überhaupt streiten, und dann auch noch ohne einen richtigen Grund. Okay, Selma ist schon ziemlich leicht reizbar, aber bisher hatte ich eigentlich immer den Eindruck, dass sie sich gut mit Jonas verstehen würde. Jedenfalls hat sie eine Zeit lang ständig mit ihm und Leon und Co. rumgehangen. Dass diese Zeit jetzt definitiv vorbei ist, merke ich spätestens, als wir etwas später im Computerraum sind und Jonas sich freiwillig zu mir in die letzte Ecke verzieht, wo ich mich eigentlich nur vor Marvins finsteren Blicken verstecken will. Natürlich ist das zum Teil auch darauf zurück zu führen, dass unser Computerraum nur sechs Computer und kein einziges Fenster hat, weswegen er eigentlich gar nicht benutzt wird. Leider hat keiner von uns Lust, auch noch seine Freizeit mit den anderen zu verbringen, also bleibt uns keine andere Wahl. „Na endlich, weg von Selma“, murmelt Jonas, als er sich auf den Stuhl neben mir fallen lässt, und grinst mich an. Ich bin jedes Mal überrascht, dass er nett zu mir ist, wenn er nicht mit seinen Freunden zusammen ist. „Und, warum bist du nicht bei Marvin? Habt ihr euch gestritten?“ „Nein, eigentlich nicht“, nuschle ich und schaue an Jonas vorbei zu Marvin, der mittlerweile Musik hört und so genervt, wie er aussieht, tatsächlich an unserem Referat zu arbeiten scheint. „Ehrlich? Aber ihr redet nicht mal miteinander. Ich dachte, ihr habt was am Laufen.“ „Nein“, sage ich schnell und seufze dann leise. Es ist irgendwie echt komisch, überhaupt mit Jonas zu reden, und dann auch noch über sowas… Ich weiß nicht mal, warum ich es überhaupt mache. „Keine Ahnung… Ich erinnere mich jedenfalls nicht…“ Darauf lacht Jonas nur und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. „Mach dir nichts draus, der ist doch sowieso total komisch. Und auf mich ist auch dauernd irgendjemand ohne Grund sauer. Aber das waren bisher immer Mädchen…“, meint er und schaut kurz in Selmas Richtung. „…Sie auch?“, frage ich zögerlich, aber Jonas scheint gar kein Problem damit zu haben. Er grinst nur breiter, lehnt sich zurück und fängt an, mit seinem Stuhl zu kippeln. „Nee, Selma hat sogar einen ganz schön guten Grund. Ich hatte wohl mal was mit ihr, aber eigentlich kann ich sie nicht leiden. Ich wäre auch wütend auf mich, wenn ich nichts von mir wollen würde“, erzählt er mir bereitwillig und zuckt mit den Schultern. Ich wende mich schnell meinem Computer zu, der endlich die erste Seite fertig geladen hat. Ich hatte schon mal das Vergnügen, ihm zuhören zu müssen, wenn seine arrogante Seite hervorkommt, und das muss ich nicht unbedingt wiederholen. Als die Doppelstunde endlich vorbei ist, bin ich der erste, der aus dem Raum flieht. Marvin hat zwar kein einziges Wort mehr mit mir gesprochen, aber irgendwann mussten wir alle uns wohl oder übel miteinander verständigen, deswegen konnte ich ihm nicht mehr aus dem Weg gehen, und so böse, wie er mich dabei angeschaut hat, wäre ich jedes Mal am liebsten ein Stück weggerückt. Es war noch schlimmer als davor. Keine Ahnung, womit ich ihn diesmal aufgeregt habe. Vielleicht hat er mich doch mit Jonas reden hören, obwohl ich extra leise war, aber da habe ich eigentlich nichts gesagt, was ihn geärgert haben könnte. Denke ich. Wenn es draußen kalt ist, bin ich in den Pausen meistens mit Jannis in der Cafeteria, und wie üblich ist er schon da, als ich komme. Sein Kurs hat jedes Mal früher aus als meiner. Ganz und gar nicht üblich ist allerdings, dass sonst keiner von unseren beziehungsweise Jannis‘ Freunden bei ihm sitzt, sondern nur irgendein Mädchen, dessen Namen ich nicht kenne und das ganz offensichtlich mit ihm flirtet. Okay, es versuchen schon öfter Mädchen, sich an ihn ran zu machen, aber normalerweise sehen sie gleich ganz frustriert aus, weil Jannis‘ einfach nicht das geringste Bisschen Interesse daran hat, mehr als nur eine freundschaftliche Beziehung zu irgendjemandem aufzubauen. Meistens merkt er nicht mal, wenn jemand mit ihm flirten will, und ist deswegen manchmal ein bisschen unsensibel. Und jetzt… Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als würde er sich darauf einlassen. Unschlüssig bleibe ich stehen. Einerseits freue ich mich, ich war sowieso schon lange der Meinung, er sollte sich endlich Mal eine Freundin suchen, und will die beiden auch nicht stören, aber andererseits würde ich auch gerne mit Jannis reden… Letztendlich nimmt er mir die Entscheidung ab, indem er mir winkt, also gehe ich wohl oder übel zu ihm und dem Mädchen rüber und setze mich zu ihnen an den Tisch. Sie lächelt mir zu, macht aber den Eindruck, als wäre sie lieber noch mit ihm allein. Und ich habe ein schlechtes Gewissen. Hätten wir in Musik nicht ein bisschen früher Schluss gemacht, wären wenigstens noch andere Leute hier und ich würde mir nicht ganz so schlecht vorkommen. Aber um einfach eine Ausrede zu erfinden und wieder zu gehen bin ich dann doch zu egoistisch. Obwohl ich mich eigentlich nicht danach fühle, erwidere ich das Lächeln des Mädchens und sage wenigstens: „Hi.“ „Das ist Katta. Aus meinem DS Kurs“, stellt Jannis sie fröhlich vor. „Katta, das ist Lexi.“ „Ach ja, Lexi. Hab schon viel von dir gehört“, meint sie sofort mit einem vielsagenden Grinsen und ich werfe ihm einen genervten Blick zu. So, wie sie aussieht, kann ich mir auch gut vorstellen, was sie von mir gehört hat. Dabei sollte Jannis nicht gleich jeden über mein Leben informieren, er ist doch mein bester Freund! „Sorry, Lexi, ich hab einfach kein eigenes Leben“, verteidigt er sich ebenfalls grinsend und legt einen Arm um mich. Ich überlege kurz, ihn weg zu schubsen, aber nachdem ich die Liste der anderen Leute, mit denen ich reden könnte, durchgegangen bin, entscheide ich mich doch dagegen und lasse mir von ihm den Rücken tätscheln. „Wie war eigentlich Musik?“ „Nicht gut“, sage ich nur mit einem Seitenblick zu Katta. Noch mehr muss sie ja wirklich nicht von meinem Privatkram mitbekommen. Dummerweise scheint sie das anders zu sehen und schaut mich erwartungsvoll an. „Warum?“, fragt Jannis trotzdem weiter. „War was mit Marvin?“ „Naja, nicht direkt. Wir haben eigentlich gar nicht geredet. Ich glaube, er ist sauer auf mich. Und wir müssen Gruppenarbeit machen, mit Jonas und Selma“, fasse ich die letzten beiden Stunden so knapp wie möglich zusammen und versuche, gelassen zu klingen, weil Katta mich schon mit einem sensationslüsternen Funkeln in den Augen ansieht. „Selma? Hast du der nicht mal die Nase gebrochen?“ „Hmhm“, mache ich nur und werde rot, weil Jannis anfängt zu lachen, wie immer, wenn er sich an diesen Vorfall zurückerinnert. Katta hat wenigstens den Anstand und versucht, ihr Lachen mit einem Hustenanfall zu kaschieren, auch wenn das nicht allzu gut funktioniert. „Wow. Sowas hätte ich von dir wirklich nicht erwartet“, meint sie, als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hat, ist aber immer noch sichtlich amüsiert. „Es war ein Unfall“, kläre ich sie schnell auf, bevor sie noch weiter erzählt, ich hätte Selmas Nase damals mit Absicht zertrümmert, und die mich dann aus Rache massakriert. „Verdient hat sie’s trotzdem. Ich war sieben Jahre lang mit ihr in einer Klasse und hatte mehr als einmal das Bedürfnis, ihr eine zu verpassen“, sagt Katta halb zu sich selbst und verdreht die Augen. Die besten Erinnerungen hat sie offenbar nicht an Selma. Ehrlich gesagt bin ich nicht überrascht. Davon abgesehen, dass ich es allgemein schwer finde, sie sympathisch zu finden, sehen die Mädchen, die tatsächlich mit ihr befreundet sind, auch ganz anders aus als Katta. Und sie würden auch nicht einfach so mit mir reden. Statt solariumgebräunt und für diese Jahreszeit nicht annähernd warm genug angezogen ist sie nämlich ziemlich blass, hat recht achtlos hochgesteckte braune Locken und eine Brille auf der Nase und trägt tatsächlich eine Jeans und ein langärmeliges T-Shirt gleichzeitig. „Wie auch immer, zurück zum Thema“, meint Jannis plötzlich, als er sich wieder erholt hat, und lehnt sich neugierig zu mir. „Marvin. Er ist wütend auf dich? Was hast du gemacht?“ „Na, nichts. Und du? Hast du irgendwas zu ihm gesagt oder so?“, frage ich zögerlich, aber er schaut mich nur überrascht an. „Ich? Nö. Ich rede nicht gerne mit ihm… Und überhaupt, ich hab dir schon gesagt, was ich denke, mehr misch ich mich da nicht ein. Ist doch deine Sache.“ „Nein… Wann hast du dich denn jemals in mein Leben eingemischt?“, nuschle ich sarkastisch, aber er überhört es dezent. Auf dem Weg zu unserem nächsten Unterricht nutze ich die Gelegenheit, mich mal alleine mit Jannis unterhalten zu können. Okay, wirklich alleine sind wir nicht, immerhin sind wir nicht die einzigen, die jetzt wieder Unterricht haben, aber zumindest ist Katta nicht mehr da. Nicht, dass ich sie nicht leiden könnte, eigentlich finde ich sie ganz nett, aber wenn sie zuhört, kann ich ja nicht mit Jannis über sie reden. „Sag mal, was ist eigentlich mit Katta?“, frage ich vorsichtig. „Was soll schon sein? Ich mag sie, sie ist cool“, antwortet er irritiert und scheint nicht zu wissen, worauf ich hinaus will. Ich seufze leise. Schon klar, ich weiß ja, dass er sich mit allen möglichen Leuten befreundet ist, auch mit vielen Mädchen, aber das war wirklich das einzige Mal, dass ich ihn habe flirten sehen. Er hat sich zwar ein bisschen schnell von mir ablenken lassen, aber es war wirklich anders als sonst immer. „Wärst du vorhin lieber allein mit ihr gewesen?“ „Nein, warum?“ Verständnislos schaut er mich an. Ich schaue misstrauisch zurück. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe, aber ich bin mir noch sicherer, dass Jan ehrlich zu mir ist. Kann es sein, dass er einfach nichts davon mitbekommen hat? Bei Katta vielleicht, er merkt öfter mal nicht, wenn jemand versucht, ihn anzubaggern, aber bei ihm selbst… „Weil du mit ihr geflirtet hast. Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, als ich zu euch gekommen bin.“ „Ach was, wir haben doch nur miteinander geredet“, meint Jannis gelassen und legt mir einen Arm um die Schultern. „Außerdem kommst du immer zuerst, du bist doch mein bester Freund“, fügt er grinsend hinzu. Ich lächle verwirrt zurück. Ist irgendwie auch schade. Ich finde wirklich, dass es langsam mal Zeit wird, dass er wenigstens mal ein Date hat oder so. Und wenn er sich endlich mal verlieben würde, könnte er mich vielleicht auch ein bisschen besser verstehen. Er versucht zwar schon, so verständnisvoll wie möglich zu sein, aber das funktioniert nicht immer. Und das kann manchmal wirklich frustrierend sein. „Ich treffe mich morgen übrigens mit Paula. Sie hat gefragt, ob du und Caro auch kommen wollt. Du kannst Katta ja fragen, ob sie auch Lust hat, mitzukommen“, schlage ich deswegen vor. „Klar. Gute Idee“, sagt Jannis fröhlich. „Was machen wir denn?“ „Egal. Kino oder so. Was ihr halt wollt, mir ist es eigentlich egal.“ Solange ich mich nur von meinem Marvin-Problem ablenken kann, ist mir alles recht. Und wenn ich gleichzeitig die Möglichkeit habe, Jannis und Katta mal länger als 20 Minuten zu erleben, ist es umso besser. Kapitel 4: Nachts im U-Bahnhof ------------------------------ „Hey, Spatzi! Aufwachen!“ Ich blinzle verwirrt und realisiere erschrocken, dass alle mich irgendwie erwartungsvoll anschauen. Inklusive einem fremden Kerl, der aus irgendeinem Grund vor unserem Tisch rumlungert und definitiv noch nicht da war, bevor ich es mir erlaubt habe, für ein paar Sekunden die Augen zuzumachen. „Was willst du trinken?“, fragt Jannis mit einem Schmunzeln und erklärt damit auch, warum der fremde Kerl vor unserem Tisch, der wohl der Kellner sein wird, einen kleinen Block in der Hand hält. „Oh. Ähm. Cola, bitte“, murmle ich und spüre, wie ich rot werde, weil mich immer noch alle anschauen. Naja, alle bis auf Caro, die sich schon wieder ihrem neuen Handy zugewandt hat, mit dem sie sich auch schon den ganzen Nachmittag lang beschäftigt hat. „Wo warst du denn schon wieder mit deinen Gedanken? Du bist schon die ganze Zeit so verträumt“, will Paula mit ihrem gewohnt fröhlichen Lächeln wissen und lehnt sich leicht gegen mich. Dass ich weniger verträumt als todmüde bin, weil ich zu viel nachgedacht habe und kaum schlafen konnte, übergeht sie dabei einfach. „Ich bin nur müde. Ich hab letzte Nacht nicht gut schlafen“, erkläre ich und muss mir ein Gähnen verkneifen. „Wohl eher gar nicht. Im Kino bist du auch die ganze Zeit eingepennt“, meint Caro sehr zutreffend, ohne auch nur aufzusehen. „Wir haben vorhin darüber geredet, noch in irgendeine Bar zu gehen, aber wenn du so fertig bist…“ „Schon gut“, unterbreche ich Jannis schnell. „Ihr könnt ruhig ohne mich gehen. Das ist kein Problem.“ „Wirklich?“, fragt er und schaut mich irgendwie schuldbewusst an. Ich nicke seufzend. Warum muss ich ihm immer wieder erklären, dass es nicht schlimm ist, dass wir nicht alles zusammen machen? „Ja, klar. Ich wollte sowieso gleich nach Hause gehen“, sage ich und lächle kurz, bevor ich gähnen muss. Ich könnte wirklich jede Sekunde einfach einschlafen. In der Schule war das besonders schlimm. Ich kann echt froh sein, dass es bei unserer Klasse schon fast normal ist, im Unterricht einfach mal weg zu pennen, sonst hätte ich mich am Ende noch durch eine Stunde Nachsitzen quälen müssen. „Außerdem mag ich es doch nicht, in irgendwelche Clubs zu gehen, wenn ich nicht betrunken bin, und vom Alkohol hab ich erst mal genug“, füge ich hinzu, als Jannis mich mit einem Blick ansieht, an dem ich ganz deutlich erkennen kann, dass er immer noch drüber nachdenkt, doch lieber mit mir nach Hause zu gehen. „Lexi wird’s schon überleben, wenn wir ohne ihn gehen. Es ist sowieso viel besser für ihn, einfach früh schlafen zu gehen oder so“, unterstützt Katta mich, wobei ich nicht glaube, dass sie es aus völlig uneigennützigen Motiven tut. Aber das ist mir nur recht. Sie ist echt nett und ich bin mir nach diesem Nachmittag vollkommen sicher, dass Jan sehr wohl mit ihr flirtet, auch wenn er es wahrscheinlich eher unbewusst macht. „Und wenn du in der Bahn einschläfst oder so? Und so spät alleine-“ „Ach was, es ist nicht mal acht Uhr. Das ist doch nicht spät. Und soo lange bin ich ja auch nicht unterwegs. Mach dir mal nicht so viele Sorgen“, meine ich so überzeugend ich kann, weil ich es eigentlich immer vermeide, abends alleine nach Hause zu gehen. Vor allem, weil meine Gegend ja nicht unbedingt die sicherste ist und ich weder schnell noch besonders stark bin. Aber noch ist es ja wirklich nicht spät. Da wird schon nichts passieren… Hoffe ich. Kaum eine halbe Stunde später bin ich bei der nächsten U-Bahn-Station und weil ich in letzter Zeit immer so unheimlich viel Glück habe, verpasse ich gleich mal meine Bahn um drei Sekunden. Ich sehe sie sogar noch wegfahren. Zu spät bin ich trotzdem. Und allein, weil von diesem Gleis sonst keine Bahn abfährt. Ich seufze entmutigt und lasse mich auf eine der leeren Sitzbänke fallen. Wenigstens muss ich nicht lange warten, bis die nächste Bahn kommt. Und als ein paar Sekunden nach mir der nächste die Treppen runter gesprintet kommt und es dabei so eilig hat, dass er sich fast auf die Fresse legt, bin ich auch gleich viel weniger deprimiert, weil ich so knapp meine Bahn verpasst habe. Jedenfalls als ich seinen vollkommen fassungslosen Gesichtsausdruck sehe, weil die Bahn es tatsächlich gewagt hat, nicht auf ihn zu warten. Schmunzelnd schaue ich ihm zu, wie er sich durch die Haare fährt, ein paar Mal hin und her läuft, gegen einen Mülleimer tritt und mit einer noch finstereren Miene weiter hin und her läuft. Er muss es ja wirklich sehr eilig haben, wenn zehn Minuten ihn so sehr aufregen. Ich bin so abgelenkt von seinem nervösen Hin-und-her-Gelaufe, dass ich gar nicht wirklich realisiere, dass der Bahnsteig sich immer mehr füllt, und ganz irritiert bin, als plötzlich jemand neben mir „Hallo“ sagt. Vor allem, weil dieser Jemand ein kleines Kind mit kinnlangen rötlichen Ringellocken ist, das mich engelsgleich anlächelt und von dem ich sicher weiß, dass ich es noch nie in meinem Leben gesehen habe. Abgesehen davon, dass ich allgemein nicht viele Kleinkinder kenne, würde davon keines in der Öffentlichkeit mit einem Diadem auf dem Kopf und einem rosa Tüllrock rumlaufen (es sind zugegebenermaßen auch alles kleine Jungs). „Ähm… Hallo“, sage ich verwirrt, erwidere ihr Lächeln kurz und schaue mich dann nach ihren Eltern um, aber am ganzen Bahnsteig interessiert sich niemand für sie. Dabei sollten Kinder in dem Alter um diese Uhrzeit schon längst zuhause sein und nicht alleine an irgendwelchen Bahnhöfen rumhängen und fremde Leute anquatschen. „Ich bin eine Prinzessin!“, verkündet sie mir dann ganz stolz und klettert neben mir auf die Sitzbank. „Das ist schön. Bist du denn ganz alleine hier? Wo sind deine Eltern?“, will ich etwas überfordert wissen, aber sie hört mir anscheinend gar nicht zu, schaut mich ganz treuherzig an und fragt strahlend: „Willst du mein Prinz sein?“ „Nein, ich“, fange ich an, aber sie ist schon aufgestanden und hat mir ein Diadem auf den Kopf gesetzt, bevor ich überhaupt wusste, was ich sagen will. Ich unterdrücke ein Seufzen und will eigentlich weiter nach ihren verantwortungslosen Eltern suchen, aber sie steht immer noch und wackelt dabei ziemlich, deswegen muss ich mich wohl oder übel darauf konzentrieren, sie festzuhalten, damit sie sich nicht wehtut. Obwohl ich mich mit kleinen Kindern sowieso kein bisschen auskenne und nie weiß, wie ich mit denen umgehen soll, ist dieses Mädchen schlimmer als alle anderen. Sie sieht zwar unheimlich süß aus, aber… Wie kommt sie überhaupt darauf, irgendeinen Typen an einer U-Bahn-Station anzusprechen? Ich hätte mich das mit vier Jahren nie getraut. Jetzt vermutlich auch noch nicht, aber trotzdem. „Setz dich hin, okay?“, bitte ich sie mit einem leichten verzweifelten Unterton und versuche, sie irgendwie wieder auf den Platz zu setzten, aber sie hört natürlich nicht auf mich. „Haben deine Eltern dich alleine hier gelassen?“, versuche ich es dann noch mal und diesmal schüttelt sie den Kopf. „Ich bin weggelaufen“, antwortet sie mit einem fröhlichen Grinsen als wäre es das normalste der Welt. „Du kannst doch nicht einfach so weglaufen! Deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen um dich, wenn du einfach so verschwindest!“, meine ich schockiert und überlege, was ich jetzt machen soll. Wo gehen Eltern denn hin, wenn ihre Tochter wegläuft? Zur nächsten Polizeistation? Oder suchen sie jetzt irgendwo? „Warum machst du denn sowas?“, seufze ich. Sie antwortet sogar etwas, aber ich kann sie nicht wirklich verstehen, weil meine Bahn gerade einfährt und ihre Kinderstimme daneben untergeht. Leider kann ich sie auch nicht einfach so alleine lassen, also halte ich sie einfach weiter fest und schaue meiner Bahn wehmütig hinterher, als sie wieder wegfährt. Was habe ich eigentlich getan, dass ich das verdiene? Als die Kleine dann auch noch anfängt irgendjemandem hinter mir zu winken und dabei wirklich fast von der Bank fällt, drehe ich mich in der Hoffnung, es mögen doch ihre Eltern sein, um, aber natürlich habe ich nicht so viel Glück. Um genau zu sein hätte ich nicht weniger Glück haben können, weil ausgerechnet Marvin auf mich zukommt und mehr als genervt aussieht. Wobei das diesmal weniger an mir zu liegen scheint als an dem anderen kleinen Mädchen, das er auf dem Arm hat und das offensichtlich unheimlich viel Spaß dabei hat, an seinen Haaren zu ziehen. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht dauernd weglaufen sollst?“, sagt er, sobald er in Hörweite ist, und kann nur schwer verbergen, dass er wütend ist. Obwohl er nicht mal besonders laut spricht, bekomme ich Gänsehaut. Gleichzeitig bin ich immer noch so überrascht davon, ihn plötzlich vor mir stehen zu sehen, dass ich zuerst gar nicht merke, dass er nicht mit mir spricht sondern mit dem kleinen Mädchen neben mir. Ich habe sogar den Mund aufgemacht, um mich ganz automatisch zu entschuldigen, aber zum Glück holt die Realität mich noch rechtzeitig ein. Leider ist die Realität, dass Marvin mich immer noch ignoriert. „Tut mir leid“, entschuldigt sich das Mädchen neben mir brav, wirkt aber nicht halb so eingeschüchtert wie ich. Sehr bewundernswert, wie ich finde. „Du sollst auch nicht mit fremden Leuten reden“, brummt Marvin, nimmt ihre Hand und wirft mir einen finsteren Blick zu. Gehorsam klettert sie von der Sitzbank runter und schaut mit großen Augen zu ihm hoch. „Aber er ist mein Prinz“, klärt sie ihn ganz sachlich auf. „Das sehe ich“, meint er unbeeindruckt und ich werde rot, weil mir klar wird, dass ich ja immer noch dieses blöde Diadem auf dem Kopf habe. Schnell ziehe ich es ab und will es der Kleinen zurückgeben, aber sie schaut mich ganz enttäuscht an und meint, dass Prinzen Kronen tragen müssen. Hilfesuchend sehe ich zu Marvin hoch, aber er schmunzelt nur spöttisch. Aber immer noch besser, als einfach ignoriert zu werden. Während er die Kleine darüber aufklärt, dass er sie nie wieder irgendwo hin mitnehmen würde, wenn sie noch einmal weglaufen würde, nutze ich die Gelegenheit, ihn in Ruhe anschauen zu können. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich bin zwar irgendwie sauer auf ihn, aber es ist einfach so witzig, ausgerechnet ihn mit zwei kleinen Mädchen zu sehen, dass es mir im Moment verdammt schwer fällt. „Ist was?“, fragt er nur unfreundlich, als er meinen Blick bemerkt. „Ähm, nein, ich dachte nur… Ähm… Sind das… deine Schwestern?“, stottere ich und komme mir ziemlich blöd dabei vor. Am besten sollte ich einfach gar nichts sagen. „Meine Töchter werden es wohl kaum sein“, brummt Marvin nur. „Ist es nicht irgendwie ein bisschen spät? Für die beiden?“, frage ich dann und schaue unsicher zu ihm hoch. „Meine Mutter konnte sie nicht abholen und hat mir erst vor einer halben Stunde Bescheid gesagt“, erklärt er knapp und wirft einen Blick zur Treppe. Okay, offenbar will er gehen. Und sich nicht mit mir unterhalten. Was anderes hatte ich auch nicht erwartet, wenn ich ehrlich bin. Aber es überrascht mich doch, dass er nicht einfach abhaut. Warum macht er es dann nicht? „Ich bin mit dem Auto da“, sagt er denn plötzlich, ohne mich wirklich anzusehen. „Ich fahr dich heim, wenn du willst.“ Ich bin so perplex, dass ich ihn erstmal nur irritiert anstarren kann. Ist das sein Ernst? Er ist tatsächlich nett zu mir? Obwohl er sich vorher wie ein Arschloch benommen hat? Okay, er klingt auch nicht, als ob er das wirklich machen will, aber er ist trotzdem nett zu mir. „Aber ich will nicht mit dem Auto fahren!“, verkündet das Mädchen mit dem Prinzessinnenoutfit trotzig, bevor ich mich so weit gefasst habe, dass ich Marvin antworten kann. „Du kommst trotzdem mit“, bestimmt Marvin ungerührt und schaut mich dann tatsächlich ganz direkt an. Ziemlich genervt, aber immerhin. „Und was ist mit dir? Willst du mitkommen oder nicht?“ „Ja! Ähh, ja. Danke“, sage ich schnell, bevor er seine Meinung wieder ändert, und kann mir ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. Warum auch immer er sich auf einmal dazu entschieden hat, nett zu mir zu sein, ich finde es großartig! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)