Der Wandel mit dem Detective von Lefteye ================================================================================ 03. Oct. 2025 - Klavier ----------------------- Die Uhr in Mr. Bennetts Büro tickte ungewöhnlich laut. Ich saß hier nicht zum ersten Mal. Die forensische Abteilung gehörte zur wissenschaftlichen Fakultät, jedoch durfte man sie nur mit gesonderter Befugnis betreten. Mr. Bennett kratzte sich mit dem kleinen Finger am schlecht rasierten Kinn. "Eine 18er Glock. Und die haben Sie bei den Cadaverinis eingesammelt?" "Wurde ihnen angeblich zugesandt." Wir betrachteten eine Weile die Waffe auf dem Tisch, die noch in ihrem Plastikbeutel steckte. Daneben lag das Computerschreiben und der Umschlag. Mr. Bennett deutete auf die Briefmarke. "Nach Untersuchung der Waffe schlage ich eine Echtheitsprüfung der Stempelung vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Mordwaffe postalisch versendet." Ich lehnte mich nach vorn und tippte auf das Computerschreiben. "Sollte es sich hierbei um die Mordwaffe handeln, mache ich mir eher Gedanken um diese Nachricht." Mr. Bennett gönnte dem Papier einen flüchtigen Blick. Zuvor hatte er es auch nur gelesen und dann schnell beiseite gelegt, als stünden die Wettervorhersagen der nächsten drei Tage darauf geschrieben. "Mit Sicherheit werden wir das in die Analyse einbeziehen, aber machen Sie sich um Himmels Willen keine Hoffnung. Die Zeiten, in denen mit ausgeschnittenen Buchstaben hantiert wurde, sind vorbei. Da braucht nur eine Hautschuppe oder Textilfaser vom Verfasser unbemerkt aufs Papier kommen. Die Gefahr ist einfach zu groß." "Mir geht es nicht um DNA-Spuren. Mein Name steht da drauf, ja? Ich werde indirekt angesprochen!" War ich der Einzige, der sich darum scherte? Schon Fräulein Skye hatte bei dem Text keine Mine verzogen. Enzo Cadaverinis Leiche wurde über mehrere Bezirke verschleppt, von der Mordwaffe fehlte jede Spur und kaum, dass ich bei den Cadaverinis aufkreuzte, bekam ich ein kleines Zugeständnis. Für mich erhärtete sich der Verdacht, dass es sich um ein inszeniertes Spiel handelte, nur konnte ich noch nicht bestimmen, welche Rolle mir hierbei zugedacht wurde oder wer tatsächlich die Fäden aus dem Hintergrund zog. "Wessen DNA-Spuren werden berücksichtigt?", fragte er und nahm sich einen Taschencomputer zur Hand. "Meine, die von Detective Skye und Ihre. Unter Vorbehalt: Viola Cadaverini und ihr Anwalt Justin Case. Ich kann nicht ausschließen, dass die beiden direkt in den Fall involviert sind. Insbesondere Fräulein Cadaverini können wir in den Kreis der Tatverdächtigen einschließen. Sie hat ein Motiv, wobei ich bezweifle, dass ihre Fingerabdrücke auf der Waffe zu finden sind. Falls sie die Täterin ist und die Umschlagzustellung vorgetäuscht hat, wird sie Handschuhe getragen oder jemand anderen mit dem Mord beauftragt haben." Mr. Bennett tippte mit geübter Fingerfertigkeit die Informationen in seinen Computer. Nebenbei fragte er: "Haben Sie schon Untersuchungshaft für Viola Cadaverini beantragt?" Eine berechtigte Frage und dennoch war die Antwort ganz offensichtlich. "Die gegenwärtige Beweislage rechtfertigt keine Kautionssperre. Sie würde sich frei kaufen." Ich hätte als triftigen Grund die Verdunkelungsgefahr angeben können. Hierbei wurden Personen in Untersuchungshaft genommen, bei denen Verdacht bestand, dass sie Beweise oder Zeugen manipulierten, und somit die Wahrheitsfindung erschwerten. Aber der freiwillig übergebene Umschlag hebelte diesen Verdacht aus, und genau das ließ Viola in meinen Augen als tatverdächtig erscheinen. Viel mehr als das Motiv, ja? "Vor Morgen wird die Analyse nicht abgeschlossen sein. Was kann ich sonst noch für Sie tun, Mr. Gavin?" "Die Durchsuchung von Hillers Wohnung wird Morgen durchgeführt. Ich werde nachher den richterlichen Beschluss einholen. Ein kleines Team aus Ihrer Abteilung sollte genügen um Detective Skye in der Ermittlungsarbeit zu unterstützen." Ich erhob mich, denn vorerst gab es nichts mehr zu besprechen. "Sollten sich unerwartete Details ergeben, möchte ich sofort informiert werden. Haben Sie noch meine Handynummer?" Mr. Bennett nickte. "Hab sie vergessen zu löschen." Ach, natürlich. Ich erinnerte mich an den Bruto Cadaverini-Fall, bei dessen gemeinsamer Zusammenarbeit Mr. Bennett oftmals betonte, wie sehr ihm meine Arbeitsweise missfiel. Solange seine Arbeitsweise mir nicht in die Quere kam, war alles im Lot, ja? Mittlerweile hatte er begriffen, dass nach meiner Gitarre getanzt wurde, ob ihm der Song gefiel oder nicht. Nach meinem Besuch in der Forensik fuhr ich zum Gericht. Nicht mal eine Stunde hatte es gedauert, bis ich den Anordnungsdurchschlag in den Händen hielt. Das Original nahm den Weg über einen Kurier ins Präsidium. Ich hatte gerade das Gerichtsgebäude verlassen, als mein Handy klingelte. Das Display kündigte auf eine sehr nüchterne Weise die Auseinandersetzung mit Daryan an. Es war überhaupt nicht seine Art, mich zu kontaktieren, wenn er einen Groll gegen mich hegte, vielmehr schmollte er so lange, bis ich mich bei ihm meldete. Entweder steckte er in ernsten Schwierigkeiten oder er war entgegen meiner Erwartung nicht auf mich sauer. Die erste Option klang plausibler. "Daryan, was ist los?", fragte ich betont sacht, damit er gleich raushörte, dass ich ihm zur Seite stehen würde, egal was passiert war. "Schwing deinen Arsch ins Studio. Wir machen gerade das Album komplett." Hatte ich was verpasst? Die fehlenden zwei Songs der neuen Gavinners-Platte sollten erst nächste Woche aufgenommen werden. "Wieso?", war das Intelligenteste, das ich gerade über die Lippen bringen konnte. "Frag nicht, komm einfach her. Und es interessiert mich einen Scheiß, ob dir gerade jemand 'ne Knarre an den Kopf hält oder sich unter dir 'ne Tussi räkelt. Du bist in zehn Minuten hier, sonst kannst du dir zu Weihnachten ein neues Gesicht wünschen." "Warte mal, ich-" Klack. Das war... einfach Daryan, ja? Für ein ein paar Sekunden starrte ich etwas perplex mein Handy an, entschied dann aber, dass ich wohl besser seiner "Bitte" nachkam, denn für gewöhnlich neigte er nicht zu leeren Drohungen. Ich hatte Glück, dass der Nachmittagsverkehr in L.A. noch nicht angebrochen war, so konnte ich mit gnadenloser Geschwindigkeitsüberschreitung Daryans Ultimatum gerecht werden. Ich parkte mein Bike in der Tiefgarage des Studiokomplexes der HBC – unserem Plattenlabel. Als ich in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl stieg, hörte ich schon von weitem wie Lenny und Daryan am offenen Flurfenster diskutieren. "Wenn ich noch eine Session mit diesem Kind ertragen muss, geb ich mir die Kugel!" "Jetzt mach mal halb lang, Lenny. Kann ja nicht jeder so 'n Mozartverschnitt sein wie du. Ike kriegt das noch hin." "Er hat es noch nie hinbekommen! In jeder verdammten Aufnahme dieses armselige Gezupfe. Und wenn er dann mal begreift, wie talentfrei er ist, bricht er in Tränen aus. Ich will mir diesen Scheiß nicht mehr anhören." Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, weil mir die ewigen Diskussionen um Ike auf die Nerven gingen. Lenny hatte nicht Unrecht mit seiner Kritik; es gab etliche Bassisten, die besser spielten als Ike, aber selbst wenn seine Leistung mal im soliden Bereich lag, ließ mein bandeigener Konzertpianist kein gutes Haar an ihn. Lenny zündete sich eine Zigarette an und pustete den Qualm aus dem Fenster. Nachdem ich ihm im Studio absolutes Rauchverbot erteilt hatte, befriedigte er seine Sucht auf dem Flur. Ich ging auf die beiden zu und wurde von Daryan mit einem missbilligenden Blick begrüßt. "Das mit Carl tut mir leid", sagte ich. "Ich weiß, dass es dir leid tut. So wie jedes Mal", gab er beleidigt zurück. "Ich hatte Stress, okay? Ich mach's wieder gut." "Du kannst mir nicht jedes Mal 'ne neue Gitarre schenken! Und wir haben jetzt echt andere Probleme!" Von welchen Problemen er auch immer sprach, ich sah keine, außer dass jemand auf die hirnrissige Idee gekommen war, die Aufnahmen vorzuziehen. Dieser Druck war absolut unnötig. "Was macht ihr denn hier draußen auf dem Flur?" Ike hatte den Kopf aus der Studiotür gesteckt und betrachtete uns neugierig. Daryan rollte mit den Augen. "Wir häkeln Kondome. Und jetzt verpiss dich." "Ich will doch nur wissen, über was ihr redet." "Geh spielen, Ike", sagte Lenny genervt. "Ich hab schon alle Parts eingespielt." Daryan manövrierte Ikes Kopf mit dem Zeigefinger ins Studio und zog die Tür mit einem Knall zu. "Was ist hier los?", fragte ich nachdrücklich. Die Stimmung war für meinen Geschmack viel zu gereizt, als dass ich sie allein Ikes Basskünsten zuordnen wollte. "Die Plattenfirma macht Stress. Sie wollen das Album morgen zur Abnahme haben." "Seit wann?" "Seit Carl zur Chefetage gerannt ist und erzählt hat, er musste uns kündigen, weil wir angeblich undiszipliniert sind, in den Aufnahmen schlampen und uns zoffen. Klav, er hat uns beide beim letzten Soundcheck heimlich gefilmt! So ein richtig schönes Beweisvideo hat er zusammen geschnitten." Meine Hände wanderten wie von selbst durch meine Haare. Nie hätte ich damit gerechnet, dass er den Spieß auf diese Weise umdrehen würde. Ich konnte mir gut ausmalen, wie besagtes Beweisvideo ausgesehen haben musste. "Im Takt, Daryan, bleib im Takt, ja? Was sollen denn die Fräuleins von uns denken?" "Ich polier' dir gleich mal die Fresse im Takt! Was die Fräuleins denken, interessiert mich 'n Scheiß!" "Nicht schon wieder ein Ehekrach..." "Halt's Maul!" Und Schnitt. "Du kommst zu spät, spielst falsch und führst dich auf wie ein zickiges Mädchen. Wenn du denkst, dass ich dich heute so auf die Bühne lasse, hast du dich geschni-" "Das hast du nicht zu entscheiden, Klav! Die Band sind wir fünf, nicht du." Das war quasi ein bebildertes Totschlagargument, gegen das wir uns nicht wehren konnten! Carl hatte uns die letzten Wochen öfters mit der Kamera begleitet um den Fans auf der Gavinners Homepage einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen. Zwar war nie Videomaterial auf die Seite gelangt, das die Fans verunsichert hätte, doch gab es hin und wieder Situationen, in denen bei uns ein rauer Umgangston herrschte. Das waren nur musikalische Auseinandersetzungen, mit denen jede Band zu kämpfen hatte. Sobald die Signalleuchte über der Studiotür aus- oder die Spotlights in den Hallen angingen, waren wir ein eingeschworenes Team. Ich war dennoch sicher, dass Carl für die Firmenleitung noch Extramaterial aufbereitet hatte, in denen sich Ike spieltechnisch während der Proben oder Aufnahmen nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Er war unser kleines Problemkind, aber bis jetzt hatten wir es immer geschafft, dass es nie nach außen drang. "Klav, jetzt sag was! Ich stand vorhin mit Tjark vor den ganzen Bonzen, als die uns Carls Video gezeigt haben. Weißt du, wie die uns zur Sau gemacht haben?!" Daryan sah mich verzweifelt an. "Weiß Ike davon?", fragte ich. "Nee, wir haben ihm erzählt, dass wir das Album früher fertig kriegen wollen um 'ne bessere Promotionsphase abzupassen. Ich glaube, er hat's gefressen." Sie hatten genau richtig gehandelt. Ike war selbst für seine achtzehn Jahre zu naiv, um die Zusammenhänge richtig zu verstehen. Für ihn war Carl ein Mann, der immer ein aufbauendes Wort und einen Plan in petto hatte, zum Beispiel wenn wir Ike wieder und wieder vor Augen führten, dass er seine Spielfähigkeiten verbessern musste. Lenny nahm den letzten Zug von seiner Zigarette, dann warf er sie aus dem Fenster. "Gavin, wir müssen das jetzt irgendwie durchziehen. Das ist das beste Label, das wir je hatten." Ich konnte Lenny nur zustimmen. Die HBC verpflichtete ausschließlich die besten Rockbands der Vereinigten Staaten. Zweifelsohne waren die Gavinners das große Aushängeschild – innerhalb von sieben Jahren hatten wir fünfzehn Grammys und über achtzig Platinauszeichnungen für Singles und Alben abgeräumt. Wir waren der Inbegriff für kommerziellen Erfolg. Genau deshalb hatten wir das Privileg unsere Songs selbst zu schreiben, zu arrangieren und zu produzieren. Sie ließen uns freie Hand, solange wir ihnen das Gefühl vermittelten, dass wir genau wussten, was wir taten. Ich wollte auf keinen Fall, das sich das je änderte und ich ließ mir ganz sicher nicht von einem Carl Thompson Steine in den Weg legen. Trotzdem brachte ich nur mit Mühe ein zuversichtliches Lächeln auf mein Gesicht. "Wenn sie das Album morgen hören wollen, dann geben wir es ihnen, ja?" Gemeinsam mit Daryan und Lenny betrat ich das Studio, mit der Erwartung, dass es kein Problem darstellen dürfte, zwei Songs innerhalb der nächsten Stunden einzuspielen. Mit Sicherheit wartete auf Tjark eine Nachtschicht, was die Abmischung anging. Für gewöhnlich betreute er all unsere technischen Angelegenheiten im Studio – im Gegensatz zu mir verstand er sich hervorragend auf Tontechnik. Ich hatte weder das Talent, noch die Muse, mich damit mehr als oberflächlich auseinander zu setzen. Zerfledderte Pizzakartons türmten sich auf einem Tisch, abseits des Mischpults, und das kulinarische Durcheinander wurde noch ergänzt durch benutzte Plastikbecher und einem Haufen Kaffeepads neben der Espressomaschine. Unter dem Tisch stand wie üblich eine Getränkekiste. Ich nahm mir eine Flasche Wasser, weil mir meine Zunge fast am Gaumen klebte. Durch den Raum tröpfelte das gedämpfte Zupfen einer Bassgitarre. Ich mochte es gern, wenn Ike gedankenverloren vor sich hinspielte. Er war dann in seiner eigenen musikalischen Welt, die sich zwar von meiner komplett unterschied – aber es klang ganz nett, ja? Zwischen den Pappkartons entdeckte ich eine fast unberührte Brokkoli-Pizza. "Wir haben alle Parts eingespielt. Deine fehlen noch, aber vielleicht willst du erst mal reinhören?", hörte ich Tjark hinter mir sagen. Trotzdem ich ziemlich hungrig war, wandte ich mich von der Pizza ab und setzte mich neben ihn vor das Mischpult. Zu den fehlenden Songs gehörte Guilty Love. Wir hatten schon einmal ein Demo hierzu eingespielt, aber ich hatte noch eine zweite Version komponiert, in der das Keyboard einen leichteren, verspielteren Charakter trug und meine E-Gitarre wie ein Sturmfeuerwerk dazu brennen sollte. Und so wie es gerade aus den Monitoren dröhnte, traf es genau meine Vorstellung. Fehlte nur noch meine Gitarre, ja? Der zweite Song hieß Victim's Diary und war mein heißgeliebter Favorit unseres zwölften Studioalbums, einfach weil ich Tage damit zugebracht hatte, ihn optimal zu arrangieren. Letzendlich wollte ich einen Wettbewerb zwischen einer sehr dezenten Jazzgitarre und einem dominanten Bass. Man sah es Daryan vielleicht nicht an, aber er verstand sich großartig mit Jazzgitarren. Ich war äußerst gespannt, wie die Jungs meine Vision umgesetzt hatten. Die ersten Klänge waren sehr verheißungsvoll... das Schlagzeug schellte, die Gitarre seufzte, das Keyboard klang in seinen dunkelsten Akkorden und der Bass... war eingenickt. Vielleicht war es nur eine Sache der späteren Abmischung. "Nur Bass und Schlagzeug bitte", sagte ich zu Tjark. Doch auch hier dümpelte der Bass vor sich hin, als wäre er subtiles Beiwerk, zart gezupft und mit Rhythmusschwierigkeiten garniert. "Ike, was ist das?" "Bass und Schlagzeug, oder?" Er legte sein Instrument beiseite und griff nach einem Stapel Notenblätter. "Ich hab die Noten auswendig gelernt, ganz ehrlich! Und den Text hab ich mir auch angesehen." Seine Augen flackerten über das Papier, sicher mit dem Willen irgendeine falsch gespielte Note zu finden, aber darum ging es hier nicht. "Vergiss den Text. Das sind nur Wörter. Musik wurde dazu erschaffen um das auszudrücken, was man mit Worten nicht beschreib-" Ein Plektrum knallte gegen meine Stirn. "Hör auf rumzusülzen!" Daryans Gesichtsausdruck erinnerte mich unwilkürlich an Fräulein Skye, nachdem sie heute Morgen Bekanntschaft mit meiner Vendetta gemacht hatte. Er legte eine Hand auf Ikes Schulter. "Klav ist ein Ass an der Gitarre und ein verfickt guter Komponist, aber ein lausiger Texter, verstanden? Er schreibt kitschigen Bullshit." "Seine Metaphern sind so abgedroschen und schmalzig, dass der Boden klebt", ergänzte Lenny. Tjarks massige Gestalt brummte zustimmend. "Kein Wunder, wenn man die Sugars und Honeys in den Liedtexten zusammen zählt." "Das reicht jetzt, ja?", sagte ich mit Zucker in der Stimme, auch wenn ich die drei lieber in einen Sack gesteckt hätte um dann kräftig mit einer Gibson auszuholen. Ike betrachtete uns abwechselnd, als hätten wir ihm gerade offenbart, dass das Alphabet nur zehn Buchstaben hätte. "Aber Texte sind doch auch wichtig." Seine Naivität war zu süß. "Weshalb bist du Musiker, Ike?" Er wich meinem Blick aus und fuhr mit den Fingern über die Bass-Saiten, dann murmelte er etwas in der Art wie "Weil ich Musik liebe. Ich möchte die Menschen mit meiner Musik berühren." Autsch. Daryan konterte mit einer Lachtirade und wer wollte ihm das verübeln? Das war die dämliche Standartfloskel von Möchtegernstarletts, wie man sie in jedem Interview zu hören bekam. In einer Nachmittagstalkshow hätte er das erzählen können, die Leute erwarteten, dass man so einen Stuss von sich gab. "Du doch auch", sagte Ike, nun völlig verunsichert. Vielleicht war es nicht meine Aufgabe, seine Welt zu erschüttern, aber irgendwer musste dem Jungen die Augen öffnen. "Ich mache Musik, weil ich es kann, ja? Wenn ich die Menschen nur berühren wollte, hätte ich keinen einzigen Hit geschrieben. Ich will, dass sie süchtig sind nach meinen Songs, so dass ihnen die Wartezeit auf neues Material wie eine Qual erscheint. Die Leute kaufen meine Musik, weil ich sie in einen akustischen Drogenrausch versetze und nicht, weil sie meine Texte lieben. Genau deshalb bin ich Musiker." "Und damit dir die Weiber hinterher sabbern", fügte Daryan leicht genervt hinzu. Er lag goldrichtig, aber Ike schien ohnehin genug Input erhalten zu haben. Ich stand auf und öffnete die Tür zur Aufnahmekabine. "Sei ein Musiker, Ike." Ich sah ihn auffordernd an, während er sich wieder hilflos an seinen Bass klammerte. "Willst du nicht zuerst? Ich meine..." "Nein." Endlich nahm er seinen Bass und schlurfte in die Aufnahmekabine. Ich schloss die Tür hinter ihm und setzte mich wieder neben Tjark vor die Tonanlage. Ike hatte die Kopfhörer aufgesetzt und starrte wie hypnotsiert auf die elektronische Notenanzeige. Ich drückte auf die Sprechtaste. "Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich deine Partitur an erste Stelle gesetzt habe und nicht wie sonst über dem Schlagzeug. Das ist nicht üblich, aber ich wollte dir damit verdeutlichen, welche Rolle du in diesem Song einnimmst. Ike, du bist hier das Führungskommando, dann spiel bitte auch so." Die erste Stimme zu spielen war für ihn absolutes Neuland, vielleicht sah er mich deshalb so entsetzt an. "Du hast doch immer gesagt, dass ich mich ans Schlagzeug halten soll. Also dass Tjark der wichtigste Mann auf der Bühne ist. Mein Fundament, der Leuchtturm auf hoher See, die Kompassnadel.Das hast du gesagt und ich hab's auch so gemacht... denke ich." Das klang, als hätte er sich meinen Satz aufgeschrieben, eingerahmt und über das Bett gehangen. Den Tipp hatte ich ihm vor zwei Jahren gegeben, weil er sich regelmäßig von unseren exzessiven Gitarrenriffs außer Konzept bringen ließ, besonders bei Konzerten. Ike war jemand, der Sicherheiten brauchte, etwas Beständiges, an das er sich klammern konnte. "Das sind Grundlagen und ich empfinde es als Beleidigung uns allen gegenüber, dass du dich bei jedem Song wie eine Schnecke in dein Haus verziehst, aus Angst, du könntest etwas falsch machen. Du hast jetzt die Gelegenheit, zu zeigen, was du kannst und streckst nicht mal die Fühler aus. Was soll das?" Ich ging mit ihm nicht annähernd so hart ins Gericht, wie mir gerade zumute war. Er spielte seit zwei Jahren bei uns und hatte sich musikalisch kaum weiter entwickelt. Zudem kapierte er nicht mal ansatzweise, wie sehr er mir meinen Song ruinierte! Er schwieg, also sah ich mich gezwungen, wieder das Wort zu übernehmen. "Wir spielen dir jetzt das Schlagzeug rein. Und die Jazzgitarre. Versuch dich bitte mit dem Rhythmus zu arrangieren, wie er dort steht und nicht eine Sechzehntel davor oder daneben. Und du wirst der Gitarre entgegen steuern. Denk nicht mal daran, dich unterzuordnen, ja?" Ich deaktivierte die Sprechtaste und überließ Tjark die Mischpultregie. "Wenn der Knirps kapiert hat, was du ihm gerade vorgesungen hast, trage ich zur nächsten Aufnahme Ringellöckchen", sagte Daryan. "Das ist doch mal ein Ansporn", entgegnete ich und rollte mit dem Schemel zu dem Tisch mit den Pizzakartons, schließlich hatte ich Hunger. Lenny trat zu mir. "Du überforderst ihn mit dieser Basslinie, sie ist rhythmisch anspruchsvoll und obendrein willst du, dass er tonal spielt. Reduzier es doch einfach und gib dir oder Daryan den Angeberpart, sonst heult der Kleine wieder, weil er es nicht gebacken kriegt. Und überhaupt – soll er vor jeder Live Show einen Nervenzusammenbruch kriegen, weil er bei dem Song mal ein bischen gefordert wird?" Ich war noch mit Kauen beschäftigt, davon abgesehen hatte ich keine Lust ihm zu antworten. "Gavin, du bist einfach nur krank im Kopf! Wir hätten damals dutzende gut spielende Bassisten haben können, aber nein, es musste ja unbedingt dieses Kind sein. Wach endlich auf und schmeiß ihn raus." Lenny hatte wohl vergessen, dass es nicht allein meine Entscheidung gewesen war. Ich erinnerte mich sehr gut an jenen Tag vor zwei Jahren, als wir einen neuen Bassisten casten mussten. Mir hatte keiner von ihnen zugesagt und als der 16-jährige Ike verspätet und übernervös vor diesem Studio auftauchte, hatte ich ihn mir nur angehört, weil er so süß aussah wie ein Mädchen. Ich hatte es bildlich vor mir gesehen, wie wir mit seinem Gesicht noch mehr Platten verkauften. Leider waren seine Fähigkeiten am Bass viel zu bescheiden für meinen Geschmack, aber Daryan und Tjark waren der Auffassung, dass es bei ihm das schwache Nervenkostüm gewesen war. Ich hatte mich damals den beiden gebeugt. Mittlerweile spielte er ganz passabel, aber immer noch nicht auf dem Niveau, das den Gavinners gebührte. Das sollte sich mit dem heutigen Tag ändern. "Ike ist ein guter Bassist. Er weiß es nur noch nicht", sagte ich zu Lenny und nachdem meine Hände mit einem Taschentuch gesäubert hatte, ging ich zurück ans Mischpult. Ich verzichtete darauf, seine Spielergebnisse auseinander zu pflücken. Das war nur eine Übungssequenz, die er haben sollte um Sicherheit zu gewinnen. Ich fuhr die Instrumentenregler runter und drückte auf die Sprechtaste. "Brauchst du die Gitarre noch?" "Weiß nicht. Rhythmisch klappt's, aber das Gegensteuern ist schwer." "Natürlich ist es schwer, wenn du die Saiten zupfst." Als auf Ikes Gesicht der Ausdruck einer Erleuchtung schlich, hätte ich am liebsten mein eigenes Gesicht auf das Mischpult geknallt. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass sein musikalisches Verständnis dem eines Schimpansen glich. "Du meinst ich soll..." "Anschlagen, zerren, slapping. Willkommen im Grundkurs für Bassisten." Er schluckte sichtbar. "Kann ich, also ich meine, darf ich dann noch mal die Gitarre haben?" "Nein, darfst du nicht. Du willst die Gitarre oder du möchtest sie." Es stand ihm beihnahe auf der Stirn geschrieben, dass er nicht verstanden hatte, worauf ich hinaus wollte. "Du hast zwanzig Minuten, dann gehen wir in die Aufnahme", sagte ich schließlich und blockierte die Sprechfunktion um dann die Regler wieder hochzufahren. Daryan war inzwischen dazu übergegangen eine Rennsimulation auf seinem Handy zu spielen. Und da Ike sich beim Wandeln auf Erkenntnispfaden am besten zurecht fand, wenn man ihn in Ruhe ließ, leistete ich Daryan Gesellschaft. Der Einzige, der nicht zur Ruhe kam, war Lenny; er tigerte unruhig durch das Studio und unterbrach sich zwischendurch nur, um einen drakonischen Blick auf die Uhr oder Ike zu werfen. "Was soll diese musikalische Späterziehung? Gavin, uns rennt die Zeit weg! Du musst deine Parts auch noch einspielen und singen. Tjark wird außerdem mehr als ein paar Stunden brauchen um das Ganze zu mastern." "Reg dich ab. Wenn Klav meint, wir schaffen das, dann wird's so sein", sagte Tjark mit der Ruhe eines winterschlafenden Bären. Weitere Minuten vergingen, in denen ich Daryans Lamborghini mit den Augen und Ikes Spielversuchen mit den Ohren folgte. Der Bass klang jetzt souveräner, aber das war noch nicht die Liga, in die ich Ike katapultieren wollte. Es fehlte der Feinschliff... meine Handschrift, ja? Kaum hatte ich mich dem Mischpult wieder zugewandt, unterbrach Ike sein Spiel. Er lächelte und schien sichtlich zufrieden mit seiner neuen Spielweise. Musste er sich denn immer mit der erstbesten Steigerung zufrieden geben? Ich betrachtete ihn für einen Moment unschlüssig, dann aktivierte ich die Sprechtaste. "Ich bin schwer begeistert, dass du einen Rhythmus halten und Töne treffen kannst, aber wo bist du, Ike? Du spielst die Nummer runter, als sei es eine Notwendigkeit. Ich will von dir kein Pflichtbewusstsein, sondern echtes Herzblut." Er sagte nichts, aber durch die Glasscheibe sah ich, wie schwer er atmete. Entweder fühlte er sich ungerecht behandelt oder suchte nach der alles entscheidenen Lösung. "Wenn du ein Instrument nicht fühlst, solltest du es nicht anfassen. Glaub mir, wenn dein Bass sprechen könnte, würde er sagen 'Ike wir müssen uns trennen, weil du immer nachgibst.'" Plötzlich erschien es mir, als wäre er in sich zusammen gesunken. Seine Hand löste den Gurt von den Schultern und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ike stellte seinen Bass ab, und Daryan schoss wie eine Kanonenkugel von seinem Stuhl hoch und riss die Tonkabinentür vor ihm auf. "Was glaubst du, was du hier tust!?" "Lass mich..." "Einen Scheiß werde ich dich lassen!" Ike versuchte sich an Daryan vorbei zu schieben, doch dieser versperrte ihm den Weg. "Abhauen kannst du vergessen. Und Jammern steht heute auch nicht auf dem Programm!" Die Art wie Daryan Ike belehren wollte, gefiel mir nicht; das war mir eine Spur zu aggressiv und erinnerte mich an alte Highschoolzeiten, in denen er Schlägereien schon dann provozierte, wenn ihn jemand schief angesehen hatte. "Ich kann's nicht, okay? Ich weiß nicht wie ich's spielen soll. Nie seid ihr zufrieden!" Ike klang panisch und die erste tränenerstickte Nuance schwang in seiner Stimme mit, um im nächsten Moment unter Daryans Gebrüll unterzugehen. "Weil du nicht zuhörst! Wenn wir dir sagen, du spielst scheiße, dann tu,was wir dir sagen und fang nicht an zu heulen. Echt mal – wie alt bist du?" "Daryan...", sagte ich warnend und erhob mich vorsichtshalber von meinem Schemel. "Ihr seid auch nicht perfekt. Und trotzdem nörgelt ihr nur an mir rum! Du kannst ja nicht mal Noten lesen." Daryans Faust traf Ike so hart im Gesicht, dass er rücklings zu Boden fiel. Mit einem Satz war ich an Tür und konnte nur mit Mühe verhindern, dass er sich auf Ike stürzte. Glücklicherweise war Tjark mir gefolgt und übernahm den tobenden Daryan; ihm fiel es augenscheinlich leichter ihn im Zaum zu halten, da er doppelt so schwer war. "Nimm deine Griffel weg. Ich war noch nicht fertig!" Ich wandte mich Ike zu, der vornübergebeugt saß und sich das Gesicht abtastete. Nach ein paar Routinefragen konnte ich ausschließen, dass er eine Gehirnerschütterung davon getragen hatte, also half ich ihm auf und besah mir sein Gesicht. Ike klagte zwar über einen schmerzenden Wangenknochen, aber zu sehen war nichts. Es war gut möglich, dass sich das in den nächsten Stunden oder Tagen änderte. Tjark hatte Daryan inzwischen losgelassen; er starrte Ike zwar immer noch an wie eine Pumpgun, aber er vermittelte mir nicht mehr das Gefühl, dass er unseren Bassist in Stücke reißen wollte. "Ich hätte das nicht sagen sollen. Tut mir leid", murmelte Ike. "Vergiss es einfach", erwiderte Daryan und ging aus der Kabine. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und entriss Lenny ein Magazin, das die letzten Minuten wohl mehr Unterhaltungspotential hatte als der kleine Nahkampf. Ich sah Daryan an, wie zerknirscht er sich fühlte, aber im Moment war er einfach nicht fähig, sich zu entschuldigen. Dazu würde ich ihn später zwingen. "Ich versuch's noch mal", sagte Ike. "Kannst du spielen?" Ich war mir nicht sicher, ob er den Schlag wirklich verdaut hatte oder nur sich nur tapfer auf den Beinen hielt. Er nickte und schnallte sich den Bass um, sodass ich mit Tjark zurück in den Regieraum kehrte. Zunächst schwieg ich, weil die Situation mit Ike einfach zu verfahren war. So musste sich ein Mathelehrer fühlen, der seinem Schüler einfach nicht begreiflich machen konnte, dass Zwei plus Drei nicht Vier ergab. "Wie kann ich dir helfen?", fragte ich. "Ich verstehe nicht, wieso ich ohne Herzblut spiele. Ich geb mir richtig Mühe. Wie machst du es denn?" Er meinte diese Frage wirklich ernst und ich konnte mich nicht entsinnen, dass sie mir überhaupt jemals gestellt wurde, deshalb war es schon mal keine schlechte Frage. "Ich verrate dir mein Geheimnis, aber sag's nicht weiter, okay?" Der verschwörerische Ton in meiner Stimme war wohl übertrieben, denn Ike starrte mich an, als ob ich ihm gleich einen geheimen Masterplan offen legte. "Ich fasse meine Gitarren an, als seien sie meine Geliebten. Nur so kann ich ihnen Töne entlocken, die mir gefallen. Aber da ist noch jemand, der an deinem Liebesspiel teilnimmt: Der Zuhörer. Es liegt in deiner Hand, ob er nach einer Nummer mehr will. Im Moment klingst du wie ein belangloser Quickie, den er an jeder Straßenecke haben kann." Ike gab ein ersticktes Keuchen von sich und sah dann auf sein Instrument hinab, als sei es ganz plötzlich zu einer abartigen Spezies mutiert. "Ich gebe dir hiermit die Erlaubnis mich mit deinem Bass zu vögeln, aber bitte... mit Gefühl, ja?" Hinter mir hörte ich etwas zu Boden fallen, vermutlich das Magazin, welches gerade noch mit mäßigem Interesse durchgeblättert wurde. Keine zwei Sekunden später drängelten sich Lenny und Daryan ans Mischpult und starrten Ike mit offenen Mündern durch die Glasscheibe an. "Alter, der glüht heller als 'ne Signalleuchte." "Erinnere mich daran, dass ich dir nie wieder beim Gitarrespielen zuhöre, Gavin." Kurz nach Mitternacht saß ich im Manila und sah Daryan dabei zu, wie er seinen dritten Bourbon hinunter stürzte. Ich hielt mich an alkoholfreie Cocktails, weil ich ungern das Taxi nahm, um am nächsten Tag meine Vendetta von Telefonnummern, Liebesbekundungen oder Dessous zu befreien. Ich ließ mich in das Lounge-Sofa sinken und schloss die Augen. Die grünen und blauen Laserstrahlen blendeten entsetzlich in dem abgedunkelten Club. Im Manila wurde ausschließlich Elektromusik gespielt. Normalerweise mochte ich diesen Sound, aber gerade heute drohte ich von den sehr basslastigen Beats ernsthafte Herzrhythmusstörungen davon zu tragen. "Pennen kannst du zu Hause", nörgelte Daryan. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich jetzt friedlich in meinem Bett geschlummert, aber er war der Auffasung gewesen, dass wir die vollendete Studioarbeit hier ausklingen lassen mussten. Ich schlug die Augen auf und beobachtete, wie Daryan sich den Kopf nach einem Fräulein verdrehte und dann fluchte. Sie hatte sich zu einer Traube anderer Frauen gesellt. Vielleicht war Daryan nicht das Synonym für einfühlsam, aber auch er wusste, dass man als Mann besser einen Bogen um geballte Hühnerstallpower machte. "Wie nennen wir das Album überhaupt?", fragte er unvermittelt. Ich hatte mir darum noch keine Gedanken gemacht. "Wie wäre es mit 'Die Gitarre haut rein'? Das trifft die Sache ziemlich gut, ja?" Daryan verschränkte die Arme und und sah demonstrativ weg. Ich überließ ihn sich selbst, während ich mir vor lauter Langweile tatsächlich Gedanken über einen potentiellen Albumtitel machte. Gleichzeitig ruhten meine Augen auf den lasziven Bewegungen eines spärlich bekleideten Fräuleins. Sie tanzte auf einem Podest, das keine zehn Meter von uns entfernt stand und auch noch nicht lange, andernfalls wäre sie mir schon früher aufgefallen. "Das war so 'ne impulsive Sache, Mann. Wieso musste Ike auch so das Maul aufreißen?" "Er ist Achtzehn. Erwarte nicht, dass er dir das Ave Maria vorsummt, während du ihn bedrängst", antwortete ich, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Inzwischen hatte sie meine Beobachtung realisiert und war sehr bedacht darauf, dass ich es nicht mitbekam. Wenn sie zu mir sah, dann viel zu kurz und auch zu oft, als dass es wirklich als Desinteresse durchgegangen wäre. "Ich möchte, dass du dich bei ihm entschuldigst", sagte ich zu Daryan, weil er wieder den Schweigsamen mimte. "Du bist nicht meine Mutter! Und ja, ich werd mich bei ihm entschuldigen, aber glaub bloß nicht, ich mach das wegen dir. Ich mach's, weil ich es sowieso vorhatte, alles klar?" "Alles klar", sagte ich und schmunzelte in mich hinein. Der Grund, weshalb ich schon so lange mit Daryan befreundet war, lag in seiner durchsichtigen Unberechenbarkeit. Ich wusste fast immer, in welcher Windrichtung seine Nase lag, aber niemals wie weit sein Weg führte. Mein inneres Grinsen kehrte sich zu einem äußeren, als das tanzende Fräulein in ihre Bewegungen noch enthusiastischere Geschmeidigkeit feuerte. "Was ist eigentlich mit dir los? Seit du diesen Fall am Hals hast, wirkst du überfordert mit allem." Mit allem? Ich betrachtete Daryan nachdenklich. Für ihn musste es so aussehen, als hätte ich die Lage nicht im Griff: Mein Detective hatte versucht mich bloßzustellen und dann war da noch das verschwitzte Treffen mit Carl. Daryan kannte mich gut genug um zu wissen, dass ich meine auf Abwegen geratene Schäfchen immer selbst zur Rechenschaft zog. "Vielleicht hast du Recht. Ich hatte nicht alle Faktoren berücksichtigt. Mein Fehler." "Verarsch mich nicht, Klav. Du machst keine Fehler, jedenfalls keine im herkömmlichen Sinne." Sollte das jetzt ein Verhör werden? Er konnte wohl kaum erwarten, dass ich meine Schweigepflicht als Staatsanwalt verletzte oder mich zu etwas äußerte, das ihn partout nichts anging. "Nimm dich einfach ein bischen zurück, dann ist es weniger kompliziert. Die Aufnahmen sind durch und vorerst stehen keine Konzerte an. Den Rest schaffen wir auch mal ohne dich." Wie konnte ich nur einen Moment glauben, dass Daryan mich an den Pranger stellen würde? "Du schmeißt mich aus meiner eigenen Band?", fragte ich amüsiert. "Nicht offiziell. Und auch nur vorübergehend." Der Gedanke, ein Stück Verantwortung abzugeben, gefiel mir nicht und dennoch konnte ich nicht leugnen, dass er reizvoll war. "Einverstanden", antwortete ich schnell und der rationale Teufel in mir fiel in Ohnmacht, weil ich ihm nicht gestattete die möglichen Konsequenzen abzuwägen. Außerdem war das attraktive Fräulein etwas aus dem Takt gekommen, so wie ich sie plötzlich erneut zu meinem Fokus gekrönt hatte. Ach, wie unhöflich von mir. Daryan lehnte sich zu mir rüber. "Hör auf ihr Löcher in den Rock zu starren. Geh mal ran an die Braut." "Nein." Ich war kein überzeugter Tänzer. Hinzu kam, dass mir noch der Anreiz fehlte, sie anzusprechen. "Wie du willst. Ich muss mal aufs Klo." Konnte er seine menschlichen Bedürfnisse nicht wenigstens so lange zurück halten, bis ich mir über die Ausschlusskriterien in Bezug auf das junge Fräulein im Klaren war? Sie verfolgte Daryans Abgang mit den Augen und das rationale Teufelchen fiel wieder in Ohnmacht, als ich ihr per Handzeichen zu verstehen gab, dass sie zu mir kommen sollte. Selbstverständlich ließ sie sich nicht zweimal bitten. "Du hättest ihn nicht extra wegschicken müssen", sagte sie, kaum dass sie neben mir saß. Das war nicht der geschickteste Eisbrecher, aber ich ließ ihr diese Auffassung, indem ich ein verlegenes Lächeln auf mein Gesicht zauberte. Auch aus der Nähe betrachtet gab sie ein sehr attraktives Bild ab; alles an ihr wirkte sorgsam gepflegt und optimal in Szene gesetzt, angefangen beim freizügigen Dekolleté, bis hin zu den beinbrechenden Schuhabsätzen. "Ich habe es nicht so gern, wenn man mir permanent in den Ausschnitt starrt", sagte sie sichtlich gelassen. Mit nur einem Satz manövrierte sie sich von 'nicht sehr geschickt' zu 'fadenscheinig'. Bemerkenswert. Ich lehnte mich etwas näher zu ihr. "Entschuldige, dass mir deine sicher sehr intelligenten Augen noch nicht aufgefallen sind, aber das Licht in diesem Schuppen lässt es einfach nicht zu, ja?", Ganz minimal schürzte sie die Lippen, aber sie erwiderte nichts. "Möchtest du, dass ich mehr über dich erfahre? Wie du heißt, wie alt du bist, welche Musik du magst, wie sehr dich dein Ex verarscht hat, deine Lieblingsfarbe und generelle Einstellung zum Leben?" "Du findest dich wohl unglaublich witzig." "Um ehrlich zu sein, bin ich absolut nicht in Stimmung für Smalltalk oder tiefschürfende Gespräche. Also warum sagst du mir nicht einfach, was du von mir möchtest?" "Ich von dir? Du wolltest doch, dass ich hierher komme." Grinsend ließ ich mich wieder in das Sofa sinken. "Ich habe dir das lästige Kopfzerbrechen über einen Vorwand erspart. Im Gegenzug beantwortest du jetzt meine Frage." Sie drehte sich etwas von mir weg, wohl damit ich nicht mehr ihr Dekolleté bewunderte. Ihre braunen Locken fand ich aber auch ganz ansehlich. Mittlerweile fragte ich mich, wo Daryan steckte, und als ich mich erhob um ihm ein Stück entgegen zu laufen, hielt sie mich am Arm fest. "Fahr mich nach Hause und du bekommst deine Antwort." Jetzt war ich wohl an der Reihe, mich nicht zweimal bitten zu lassen. Ehe wir den Club verließen, steckte ich der Bedienung ein paar Geldscheine zu, mit der Bitte, Daryan darüber in Kenntnis zu setzen, dass meine Gitarre in seinem Auto lag. Jeder Dieb wäre gnadenlos enttäuscht gewesen, kein Wunder, bei diesen armseligen Codes, die wir Gavinners untereinander nutzten. Die Gitarre im Auto hieß nichts anderes, als dass Daryan mein Handy orten sollte. Das war eine Sicherheitsvorkehrung. Für den Fall, dass wir in unangenehme Situationen gerieten, trugen wir alle einen Ring an der rechten Hand, der sowohl elektrische Impulse empfangen als auch ausstrahlen konnte. Um ein Signal auszulösen, musste man den Sensor in einem bestimmten Rhythmus aktivieren, um einen Fehlalarm auszuschließen. Des weiteren waren die Sender und Empfänger unterschiedlich gekoppelt. Mein Ring sendete Impulse an Daryan und empfing wiederum nur die von Lenny. So konnten wir sofort feststellen, wer gerade in Not war. Dieses System hatte ich mit Tjark entwickelt, sobald wir die ersten Bekanntschaften mit Stalkern hinter uns hatten. Sie wohnte nicht weit entfernt vom Manila. Keine Viertelstunde später stand ich etwas verloren in ihrem Wohnzimmer, ihr erster Gang hatte kommentarlos in der Küche geendet. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich genauer umzusehen. Davon abgesehen stand ich unter Beobachtung: Eine dicke Katze lag auf der Couch, alle vier Beine von sich gestreckt, und taxierte mich kopfüber. Ich hatte noch nie viel für Tiere übrig. Kristoph besaß eine Hündin, die sich den Tag mit Kläffen und Beißen vertrieb, und das war für mich Grund genug, ihn bevorzugt außerhalb seines Heims zu treffen. Ein klimperndes Geräusch ließ mich aufhorchen. Ich ging aus dem Wohnzimmer und die offene Küchentür bestätigte mir, dass es Gläser waren, die aus einem Schrank geholt wurden. Ich lehnte mich in den Türrahmen und beobachtete, wie sie mit fahrigen Handbewegungen einen Korkenzieher auf eine Weinflasche zwängte. Zumindest versuchte sie es, die Flasche rutschte ihr beinahe aus dem Griff. Ich stieß mich vom Türrahmen ab und ging mit leisen Schritten auf sie zu, bis ich dicht hinter ihr stand. Die ungeöffnete Flasche nahm ich ihr aus den Händen. "Ich mag Rotwein nicht besonders." Am nächsten Morgen wurde ich von Vibrationen geweckt. Von äußerst haarigen Vibrationen. Die verdammte Katze lag auf meiner Brust und schnurrte. Ich versuchte das Vieh von mir zu schieben, aber es streckte sich nur genüsslich und versuchte mit der Pfote eine meiner Haarsträhnen zu erhaschen. Galten Katzen nicht als stolze Tiere? Ich griff nach der Katze und beförderte sie auf das Kopfkissen links neben mir. Dann stand ich auf und sammelte meine Klamotten ein um mich anzuziehen. Das Zimmer verließ ich nur halb angekleidet; Hemd, Jackett und Kette hatte ich wohl woanders fallen lassen. "... Das glaubst du nicht, Jessica. Klavier Gavin!", tönte es aus der Küche. Ich hielt inne in meinen Schritten und lauschte dem folgenden Quietschen, das mich stark an einen giggelnden Teenager erinnerte. "... Gestern im Manila. Erst dachte ich, es wäre nur ein Typ, der ihm ähnlich sieht. Er hat die ganze Zeit nur mich angestarrt, sonst keine. Dann wollte er, dass ich zu ihm komme. Wir haben ein bischen gequatscht und dann hat er mich nach Hause gefahren. Und jetzt halt dich fest: Er liegt in meinem Bett!" Wieder dieses Giggeln. "... Ja, haben wir... Jetzt sei doch nicht so neugierig!... Okay, aber du schwörst, dass du es für dich behältst. Ich weiß ja selbst noch nicht, was das zu bedeuten hat." Innerlich stöhnte ich und unterdrückte den Wunsch, meinen Kopf gegen die Wand zu hauen, gegen die ich gerade gelehnt stand. Das hier rockte überhaupt nicht. "Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Er war so fordernd, als ob er mich besitzen wollte." Hä? Hatten wir echt die gleiche Nacht hinter uns? "... Nein, er hat keine Tattoos. Piercings auch nicht.... Was? Na, was glaubst du denn?" Als sie erneut kicherte, stieß ich mich von der Wand ab und ging ein paar Schritte zurück. Bevor Jessica noch alle Einzelheiten meiner körperlichen Beschaffenheit erfuhr oder welche Positionen ihre Freundin letzte Nacht begleitet hatte, wollte ich eingreifen. Ich zog meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und warf ihn zu Boden, sodass er laut genug klirrte. "... Ich ruf dich später zurück." Kaum hatte ich ihn aufgehoben, da kam sie um die Ecke und empfing mich strahlend. "Morgen. Gut geschlafen?" "Deine Katze hat mich geweckt", gab ich freundlich zurück und lief an ihr vorbei, um den Rest meiner Klamotten zu suchen. "Kitty ist total verschmust. Ich hab vergessen die Schlafzimmertür zu schließen, das hat sie wohl ausgenutzt." "Steiler Name für eine Katze." "Findest du?" Ich entdeckte meine Sachen auf einem Stuhl in der Küche, sie wurden ordentlich über die Lehne gehangen. Sie räusperte sich hinter mir. "Deine Klamotten lagen auf dem Boden, also hab ich sie auf den Stuhl gepackt. Ich hoffe, das war okay?" "Danke." Mein Handy klingelte. "Ja?" "Hier spricht Simon Bennett." "Gibt's Neuigkeiten?" "Allerdings. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich das selbst ansehen. Wir sind immer noch in Hillers Wohnung." "Schicken Sie mir bitte die Adresse auf mein Handy. Ich bin in Kürze da." Mit gemischten Gefühlen steckte ich das Handy wieder weg und stieg in meine Boots. Was hatten sie gefunden, dass Mr. Bennett mich zur Durchsuchung bestellte? "Musst du los?", fragte sie leise. Ich nickte, zog mein Hemd an und hängte dann meine Kette um den Hals. "Du hast mir noch nicht deine Nummer gegeben", sagte sie. "Das weiß ich." Ich schnappte mir mein Jackett und ging Richtung Wohnungstür. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie mir folgte. "Okay! Der Sex mit dir war sowieso beschissen!" Prompt blieb ich stehen und drehte mich halb zu ihr um. "Verstehe. Dann werde ich mir beim nächsten Mal etwas mehr Mühe geben, ja?" "Beim nächsten Mal?" Hörte ich da Hoffnung aufkeimen? Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, als ob ich mir darüber Gedanken machte und sagte dann: "Vielleicht mit Jessica." Ich öffnete die Wohnungstür und lief mit schnellen Schritten die Treppen abwärts. "Klavier Gavin, du bist ein Riesenarschloch!", brüllte sie noch durch das Treppenhaus. Das konnte sie gern mit ihren Nachbarn besprechen, ich hatte dafür leider keine Zeit. Eine halbe Stunde später parkte ich mein Motorrad vor einem Bungalow in einem der Randbezirke von L.A. Fräulein Skye traf ich vor dem kleinen Haus an. Sie hatte ein Klemmbrett im Arm und machte sich eifrig Notizen. Sobald ich näher kam, musterte sie mich eingehender als sonst. "Wie sehen Sie denn aus?" Vermutlich glich meine Frisur einem Desaster, aber darum konnte ich mich später immer noch kümmern. "Darf ich erfahren, was Sie hier draußen machen?", fragte ich stattdessen. "Hillers Mutter macht mich wahnsinnig. Seit wir hier sind, heult sie ununterbrochen wie eine Sirene. Ich kann mich dabei kaum konzentrieren." Ich lehnte mich über das Klemmbrett um zu lesen, woran sie gerade schrieb, doch sie zog es unwirsch aus meinem Sichtfeld. "Warten Sie einfach, bis ich fertig bin. Inzwischen können Sie sich da drinnen umsehen." Vielleicht war es nicht die schlechteste Idee, mein Fräulein Detective in Ruhe zu lassen, denn sie steckte sich schon wieder einen von diesen Keksen in den Mund. Die Tür war nur angelehnt, also trat ich leise ein und musste feststellen, dass Fräulein Skye mit ihrer Beschwerde nicht übertrieben hatte. Eine Frau saß völlig aufgelöst an einem Tisch, vor ihr lag ein Berg Papiertaschentücher und sie weinte so hysterisch, dass man direkt Skrupel bekam, sie anzusprechen. Natürlich konnte ich ihren Kummer verstehen – sie hatte vor wenigen Tagen ihren einzigen Sohn verloren. "Mrs. Hiller? Ich bin Staatsanwalt Gavin", stellte ich mich vor. Sie hob den Kopf und betrachtete mich durch ihre tränenverschmierten Augen. Im nächsten Moment schrie sie wie eine Irre, sprang von ihrem Stuhl hoch und bevor ich mich versah, hatte sie ein Glas nach mir geworfen, das knapp neben mir an der Wand zerbrach. Erschrocken betrachtete ich die Scherben, als Nächstes flog die Tür hinter mir auf. Fräulein Skye verlor keine Zeit und nahm die Frau in einen Sicherungsgriff, da sie schon dabei war eine Vase auf mich abzufeuern. "Wenn Sie in Ihrem eigenen Haus randalieren, ist das Ihre Sache. Aber wenn Sie den fallhabenden Staatsanwalt körperlich attackieren, kriegen Sie ein großes Problem, Mrs. Hiller", sagte sie ruhig, aber streng. "Schaffen Sie den hier raus! Ich will ihn nicht in meinem Haus haben!", schrie Mrs. Hiller und versuchte sich Fräulein Skye zu entwinden. Ich wusste nicht, welcher Teufel diese Frau geritten hatte. Wir waren uns noch nie zuvor begegnet. "Mr. Gavin, jetzt gehen Sie schon!" Fräulein Skye deutete mit dem Kopf auf den Flur, von dem noch weitere Zimmer abgingen. Ich sah Mr. Bennet aus einem der hinteren Räume kommen und lief ihm entgegen. "Was ist passiert?", fragte er. "Sie hat ein Glas nach mir geworfen. Aus irgendeinem Grund scheint sie mich zu hassen." Mr. Bennett kratzte sich mit dem kleinen Finger über eine Augenbraue. "Kommen Sie mal mit, Gavin." Ich folgte ihm in das letzte Zimmer und sah... mich! Ich musste blinzeln, weil das selbst für meinen Geschmack zu krass war. Das gesamte Zimmer war mit Postern tapeziert. Auf den meisten war ich abgebildet, ein paar einzelne zeigten die Gavinners als Gruppe. Selbst an der Decke war kein Fleck Tapete mehr frei. "Louis Hiller war ein großer Fan von Ihnen." Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Die Schränke und Regale waren übersäht mit CDs und Konzert-DVDs in sämtlichen Editionen, die sich eigentlich nur in der Farbe unterschieden. Des weiteren türmten sich hier Merchandising-Berge mit Artikeln, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie gab. "Das hier haben wir unter seiner Computertastatur gefunden. Keiner von uns konnte es lesen." Mr. Bennett überreichte mir einen gefalteten Zettel. Der Text wurde handschriftlich auf Deutsch verfasst: Klavier, wenn du das liest, bin ich vermutlich schon tot. Bitte erfülle mir meinen letzten Wunsch und höre niemals auf Musik zu machen. Deine Klänge werden mich im Himmel erreichen. Dein größter Fan, Louis "Mr. Gavin?" Zum ersten Mal in meinem Leben fehlten mir die Worte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)