The two brothers von RedSky ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Nein, mehr kann ich wirklich nicht mehr trinken!“ Das blonde junge Mädchen mit dem auffallend knallengen und ebenso knallrotem kurzen Kleid winkte lachend ab. Ihr war anzuhören, dass sie schon leicht beschwippst war. „Na komm, Einer geht noch. Ich bezahl auch.“ Taiji ließ nicht locker. So schnell wollte er seinen Fang für heute Abend nicht wieder ziehen lassen. Und er hatte sie schon fast so weit, das sah er ihr an. Die Musik war laut, das Licht bunt und kaum einer der Gäste um sie herum schien noch nüchtern zu sein. Die neue Cocktailbar hatte sich binnen nur drei Monaten zum absoluten Renner entwickelt und war der Lieblingsladen der ganzen Straße geworden. Es gab keinen Abend an dem der Schuppen nicht gut besucht war. Es hatte sich rumgesprochen wie ein Lauffeuer, wie heiß es hier abging. Scharfe Bedienung, klasse Musik, fantasievolle Location. Das wollte natürlich keiner der jungen, partyhungrigen Leute verpassen und selbst eine Generation darüber schaute hier gerne mal vorbei. „Na gut, noch Einen“, willigte das Blondchen schließlich ein, „aber mehr dann auch wirklich nicht!“ „Versprochen!“, log Taiji und winkte sofort die blutjunge Bedienung mit der braunen Lockenmähne zu sich, um seinem Fang ein weiteres, alkoholhaltiges, buntes Getränk zu bestellen. Blondie musterte den jungen Wilden neben sich. „Hälst du im Bett eigentlich genauso lange durch wie an der Bar?“ Sie stützte ihren schweren Kopf mit der Hand. Taiji wand sich ihr wieder zu und grinste nur keck. „Find's doch raus!“ Diese Aufforderung ließ nicht lange auf sich warten und keine Stunde später stolperten beide eng umschlungen und dauerknutschend in die halbdunkle Wohnung, die sich Taiji mit seinem älteren Bruder teilte. Blondie ließ ihre signalroten Stöckelschuhe im Wohnzimmer zurück, durch Welches sie sich küssten, bevor sie Taiji's kleines Schlafzimmer erreicht hatten und die Tür davon etwas heftig zufiel, weil Taiji seine Beute temperamentvoller als geplant gegen Selbige drückte. Die zwei Turteltäubchen störte das jedoch in keinster Weise. Yoshiki schlug die Augen auf. Nein. Nicht schon wieder. Wieso konnten sein Bruder und dessen Flamme es nicht leiser miteinander treiben? Verdammt, er versuchte zu schlafen! Genervt brummelnd drehte er sich um und wand seiner Zimmertür, und damit symbolisch auch den störenden Geräuschen, den Rücken zu. Es war alles dunkel in dem winzigem Zimmer in dem lediglich Platz für eine Matratze, einem Kleiderschrank, Tischchen und Stuhl war. Nur der Mond strahlte vom wolkenlosen Nachthimmel herab und warf sein Licht direkt auf Yoshiki. Oder auf das Bündel das sich da in den Decken verkrochen hatte und unter normalen Umständen als Yoshiki zu identifizieren wäre. Doch der schönsten Nachtkulisse zum Trotz – er hörte den ungewollten Heim-Porno noch immer. Lange hielt es den blonden Schönling nicht mehr in den Federn, dann sprang er wutentbrannt auf, griff, ohne hinzukucken, nach einem seiner Schuhe, riss seine Zimmertür auf und schleuderte das Wurfgeschoss quer durch das Wohnzimmer, direkt auf Taiji's gegenüberliegende Zimmertür zu. Der Schuh traf, doch das Pärchen tobte sich ungestört weiter aus als sei nichts gewesen. Vielleicht war der dumpfe Aufprall des Schuhs in deren Gestöhne auch untergegangen. „Macht wenigstens 69, dann habt ihr beide das Maul voll!“, keifte Yoshiki entnervt durch die Wohnung, bevor er seine eigene Zimmertür wieder zuschlug und sich gefrustet zurück in sein warmes Bett verkroch. Er hasste solche Aktionen seines kleinen Bruders. Er gönnte ihm ja die heißen Nächte, aber, gottverflucht, konnte er dabei nicht leiser sein und seine jeweilige Schnalle auch? Dieses ständige Rumgestöhne und Geschreie reizte ihn jedes Mal auf's Neue. - Ah, sein Bruder war soeben gekommen. Na wie schön. Diese Information brauchte er auch noch unbedingt vor'm Einschlafen. Yoshiki verbuddelte seinen Kopf unter's Kissen. Brachte nur leider auch nicht viel mehr und so war ihm der Schlaf erst gegönnt, als auch die zwei Fickhäschen endlich mal zur Ruhe kamen. So ungefähr knappe zwei Stunden später. Yoshiki saß gerade auf dem Sofa mümmelnd über seine Cornflakes-Schüssel gebeugt, als Taiji aus seinem Zimmer trat, Blondie natürlich im Schlepptau. Diese sammelte wie beiläufig noch ihre Stöckelschuhe ein und zog sie sich rasch über, während sie und Taiji noch diverse feuchte Küsse austauschten und sich scheinbar nur schweren Herzens voneinander trennen konnten. „Pass auf dich auf, Baby“, nuschelte Taiji in einen der letzten Küsse hinein, bevor sie die Wohnungstür erreicht hatten und Blondie's Hand Diese schon öffnete. „Ich ruf dich an!“ Noch zwei, drei dicke Schmatzer, dann war die Dame auch schon durch den Ausgang verschwunden. Taiji schloß hinter ihr die Tür. Yoshiki rollte mit den Augen. „Wann hast du denn schon mal eine deiner Miezen zurück gerufen?“, brummte er missmutig als morgendliche Begrüßung. Der Jüngere ging, mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt, gelassen auf das Sofa zu und ließ sich über die Rückenlehne purzeln um im nächsten Moment obercool neben seinem Bruder zu landen. „Mädchen hör'n das gerne. Und sie muss ja nicht wissen, dass heut' Abend schon wieder eine Andere auf'm Plan steht.“ Yoshiki stöhne innerlich auf. Also bedeutete das, dass die kommende Nacht auch nicht viel ruhiger sein würde als die Vergangene. „Ey, die hat mit ihrer Zunge letzte Nacht-“ „Ich hab's gehört“, unterbrach er Taiji, da er im Augenblick sowas von keine Lust hatte sich den Appetit durch die Schilderung irgendwelcher tollen, neuerfundenen Sexualpraktiken verderben zu lassen. „Schlecht drauf, Brüderchen?“, fragte der Jüngere und hatte dabei fast schon seinen Unschuldsblick aufgesetzt. Yoshiki schaute ihn leicht angepisst an. „Ich bin der Ältere von uns beiden – also wenn hier einer das 'Brüderchen' ist, dann ja wohl du!“ „Reg dich ab, Junge.“ Er setzte sich auf, stibitzte mit den Fingern ein paar halbfeuchte Cornflakes aus der Schüssel des Anderen, steckte sie sich in den Mund und sprang auf um sich in die offene Küche zu begeben. „Du brauchst nur auch mal wieder 'n flotten Feger im Bett! Bist definitiv untervögelt!“ Yoshiki hätte seinen Löffel zu Brei zerkauen können, so sehr trieb ihn sein Bruder zur Weißglut. Der Kerl nahm ihn auch überhaupt nicht mehr ernst! Was glaubte der eigentlich, sich alles erlauben zu können? Klar, er hatte nicht ganz unrecht: Sein Sexleben war in der letzten Zeit tatsächlich etwas eingeschlafen. Seit gut drei Monaten hatte er keine Braut mehr abgekriegt. Seine körperlichen Bedürfnisse nahmen darauf aber keine Rücksicht und so loderte in ihm jedes Mal glühende Eifersucht auf, wenn er Taiji mit dem nächsten Betthäschen antanzen sah. Sein kleiner Bruder nagelte fast jede Nacht irgendeine Mieze und er selbst hatte 'nen Hormonstau der langsam echt nicht mehr witzig war. Klar, Taiji ging fast jeden Abend aus, durchkämmte alle umliegenden Clubs und Kneipen, bis er jemand Interessanten gefunden hatte. Das tat Yoshiki nicht, zumindest nicht so häufig. - Aber dafür ging er zur Arbeit denn irgendeiner musste ja für die Miete und das Essen aufkommen! Auch wenn sie schon in dieser beschissenen, kleinen Hütte im vierten Stock wohnten, aber selbst die kostete Geld. Geld welches sein kleiner Bruder so gut wie kaum anzuschaffen gelang denn diese schräge, kleine Band, in der er spielte, brachte auch um's Verrecken nichts ein. Somit war die Aufteilung – Taiji bekam seinen Spaß in Form von 'Sex, Drugs & Rock'n'Roll' und er selbst musste für den ungemütlichen Rest sorgen – ziemlich ungleich. „Aber vielleicht“, Taiji hatte sich unbemerkt, zurück aus der Küche, an das Sofa und seinem Bruder angeschlichen und positionierte seinen Mund dicht an dessen Ohr, „liegt es auch einfach an deinem Outfit.“ Er grinste. „Hm? Na sag schon, wieviele Kerle wollten sich in der letzten Woche an dich ranmachen?“ Es war ein offenes Geheimnis, dass Yoshiki durch sein doch stark feminines Auftreten immer wieder neugierige Männerblicke auf sich zog, obwohl er das nicht einmal beabsichtigte. Er mochte sich nur einfach gerne feminin kleiden und ja, er schminkte sich auch ab und an mal. Warum sollte Schminke nur Frauen vorbehalten sein? Er riss seinen Kopf rum und funkelte seinem kleinen Bruder zornig ins Gesicht. „Es gibt noch Frauen die sich für mich interessieren, keine Sorge!“ Taiji blickte sich daraufhin demonstrativ um. „Wo sind die dann alle?“ In Yoshiki brodelte wieder die Wut und der Hass. In solchen Momenten wünschte er sich ein Beil um es dieser kleinen Nervensäge in den Schädel zu schlagen. „Vielleicht solltest du doch mal über die Auswahl deiner Klamotten nachdenken“, gab die Nervensäge als Tipp und bewegte sich auch schon wieder auf sein kleines Schlafzimmer zu. „Sagt ausgerechnet jemand der Nachts rumläuft, als sei er dem örtlichem Transenverein entlaufen“, grummelte der Ältere und stellte seine, mittlerweile geleerte, Cornflakes-Schale auf dem Couchtisch ab. „Hey! Das ist Glam-Rock-Style! Die laufen alle so rum! Bon Jovi, Mötley Crüe, Poison...!“ Yoshiki zog eine Augenbraue hoch, wand sich nochmals dem Anderen zu. „Ich hab die Jungs von Poison noch nie mit 'ner pinken Federboa rumlaufen sehen...“ Taiji hatte seine Zimmertür schon geöffnet. „C.C. hat's immerhin zu 'nem pinken Schal gebracht!“ Er streckte dem Älteren noch kurz die Zunge raus, dann verschwand er auch schon in dem kleinen Raum, in dem es die letzte Nacht noch so heiß her ging. „Großkotz“, schnaubte Yoshiki daraufhin nur verärgert. Dass dieses Biest auch jedes Mal das letzte Wort haben musste. Wie erwartet hatte Yoshiki auch die kommende Nacht nicht die Ruhe die er sich sehnlichst erwünschte und auch die darauf folgende Nacht verlief nicht anders. Um sich selbst einmal was Gutes zu tun beschloss er, sich am dritten Tag früh Abends, kurz nach der Arbeit, zumindest mal ein entspannendes Bad zu gönnen. Taiji war nicht zu Hause und er hoffte, dass das auch für die nächsten paar Stunden so blieb. Doch sein Wunsch schien nicht erhört worden zu sein. Die Wanne war noch nicht ganz gefüllt und Yoshiki saß in seinem violettfarbenem Bademantel im Wohnzimmer und blätterte durch eine Zeitschrift – da erklang das unheilvolle Geräusch eines Schlüssels, der sich in das Schloss schob und umgedreht wurde. „Oh nein“, hauchte Yoshiki fast tonlos und schloss kurz die Augen. In der nächsten Sekunde stand auch schon sein kleiner Bruder im Raum. „Hey Brüderchen! Ich bin nicht lange hier, keine Sorge! Wollt' mich nur mal eben frisch machen, dann geht’s weiter.“ Mit diesen Worten stiefelte er auch schon ins Bad. Yoshiki's Fäuste zerknüllten die festgehaltenen Seiten der Illustrierten fast schon – natürlich unbewusst. 'Nenn mich nicht Brüderchen', ging es ihm nur zähneknirschend durch den Kopf. Diesen wand er auch langsam in Richtung Bad, wo er den Jüngeren bereits vor dem Spiegel stehen und an seiner Steckdosenfrisur rumzupfen sah. 'Frisch machen' dauerte bei dem kleinem Miststück immer eine gewisse Zeit, somit war das mit 'Ich bin nicht lange hier' eine glatte Lüge. Leise knurrend legte er die halbzerknautschte Zeitschrift nun beiseite auf den Tisch und erhob sich um seinem Bruder ins Badezimmer zu folgen. An den Türrahmen lehnte er sich mit der Schulter an. „Sach ma', was hälst eigentlich davon, wenn du ausziehst und dir mal 'ne eigene Bude suchst?“ Taiji war gerade dabei sich den Lippenstift nachzumalen. „Huh? Warum?“ Das Badewasser lief noch immer in die Wanne. Yoshiki verschränkte seine Arme vor der Brust. „Ganz einfach: Ich hab keine Lust mehr mich hier für uns beide dauernd abzurackern und dafür zu sorgen, dass wir hier nicht rausfliegen - und von dir kommt rein gar nix.“ „Wieso, ich mach doch was! Glaubst du, in 'ner Band zu spielen sei keine Arbeit?“ Der Jüngere studierte sein Spiegelbild aufmerksam und fummelte wieder an seinen Haaren rum. Yoshiki schnaubte verächtlich. „Ihr habt ja kaum Auftritte, wie soll da Geld zusammen kommen?“ „Uns fehlt einfach noch der große Durchbruch“, redete Taiji sich raus. „Aber der wird noch kommen! Hey, ich geh nachher gleich ins 'Big Red', da treten oft junge Bands auf. Vielleicht kann ich da mit dem Besitzer was abmachen.“ Yoshiki's Augäpfel drehten mal wieder ihre Runden. „Da gehst'e doch nur zum Bräute abschleppen hin...“ Nun löste sich das Party-Küken endlich von seinem Spiegelbild und drehte sich zu seinem Bruder um. „Was ist eigentlich dein Problem?“, wollte er wissen. Der Ältere musterte das geschminkte Gesicht des Anderen, die schwarz umrandeten Augen, den signalroten Lippenstift. Die blondbraunen Ponyfransen die ihm frech ins Gesicht hingen. Musterte ihn in seiner knappen Jacke und seinen knallengen Hosen. „Du“, lautete dann irgendwann die kalte Antwort und plötzlich löste er sich vom Türrahmen, packte den Jüngeren am Schopf, stieß ihn mit einem kräftigen Ruck in die Badewanne und drückte dessen Kopf gewaltsam unter Wasser. Taiji wusste gar nicht wie ihm geschah, so schnell ging alles! Er realisierte nur plötzlich, dass er sich mitten im warmen Badewasser befand und nach unten gedrückt wurde. Panisch zappelte er in dem beängtem Behältnis, riss seine Arme immer wieder in die Höhe, versuchte Yoshiki's Hand in seinem Nacken zu entkommen. Doch nutzlos, der Ältere mobilisierte all seine Kraft und zwang den Jüngeren mit dem Gesicht unter Wasser zu bleiben. Er sollte endlich ruhig sein, er sollte endlich das Maul halten...! Wie fanatisch bohrten sich seine Finger in die nassen Haare seines Bruders und zwangen ihn, mit dem Kopf nicht wieder hoch zu kommen. Das wilde Zappeln der Arme und Beine ignorierte er gekonnt, ebenso das herumspritzende Wasser, dass sich im kleinem, hell gefließtem Raum zunehmend verteilte. Ruhig sollte er endlich sein, einfach ruhig! Keinen Mucks sollte er mehr von sich geben! Er wollte seine Ruhe vor ihm haben, wollte ihn nicht mehr länger um sich ertragen müssen. Das Gezappel von Taiji wurde schwächer, seine Kräfte schwanden. Er hatte schon zwangsweise das warme Wasser schlucken müssen, er konnte es nicht mehr aushusten. Er kam nicht frei, der Andere schien plötzlich wie ein unüberwindbarer Feind zu sein. Warum tat er das...? Warum ließ er ihn nicht mehr los, half ihm hier raus.....? 'Hör auf!', hätte er ihn an liebsten angefleht, 'Hör auf und hilf mir!' Doch er konnte nicht schreien. Konnte nicht atmen. Konnte sich nicht mehr wehren. Seine Kraft war verschwunden, geraubt. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Geist war vernebelt, löste sich langsam auf. Leblos lag der junge Bruder im Wasser, alle Glieder völlig erschlafft. Yoshiki starrte fanatisch auf den nassen Haarschopf, ließ ihn immer noch nicht los. Er wollte ganz sicher gehen, wollte nicht auf irgendwelche miesen Tricks reinfallen. Der Andere durfte nicht mehr atmen, er durfte es nicht mehr! ….irgendwann riss er den Kopf des verhassten Feindes doch noch aus dem Wasser, sah ihm ins Gesicht. Dieses Gesicht hatte mit dem von eben kaum noch irgendwelche Gemeinsamkeiten: Das Augen-Make-Up war völlig verschmiert, ebenso der leuchtende Lippenstift. Die triefenden Haare hingen schwer herab, gaben Millionen von Wassertropfen frei die ungehindert über das leblose Gesicht perlten. Die wilden Augen waren geschlossen. Der gottverdammte Mund auch. Er würde nicht mehr sprechen können, nie wieder. Yoshiki spürte tiefe Zufriedenheit in sich aufkeimen, die rasch heranwuchs und sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er hatte das nichtsnutzige Biest für immer zum schweigen gebracht. Ein Lächeln des Sieges schlich sich auf seine Lippen. Er hiefte den bewegungslosen Körper aus der Wanne und schleifte ihn quer durch das Wohnzimmer Richtung provisorischem Balkon, zu Welcher auch die Feuerleiter an der Aussenwand des Hauses führte. Der Leichnam hinterließ bei der Aktion eine breite Wasserspur auf dem Boden. Das Wasser, der einzige Zeuge dieser Tat. Als Yoshiki endlich das große Balkonfenster erreicht hatte und öffnete, hatte er es fast geschafft. Ein ordentlicher Ruck, schon lag der Körper über dem Geländer. Noch ein Ruck und er fiel in die Tiefe. Schlug vier Stockwerke später auf dem harten Steinboden auf. Yoshiki betrachtete, immernoch zufrieden lächelnd, sein Werk. Hätte ihn das Wasser nicht längst umgebracht, hätte es spätestens der Sturz. Doppelt hielt besser. Er konnte beobachten, wie sich langsam aber mählich eine kleine, rote Blutlache um den Kopf des Anderen bildete. Gut so. Er war ihn los. Endgültig. Der verlassene Hinterhof mit den überquillenden Mülltonnen und den Pappen, in denen ab und an ein Penner Schutz vor Regen und Kälte suchte, war der Ort geworden, an dem Taiji's ermordeter Körper das letzte Mal in dieser Form ruhen würde. Ein trostloser, leerer Ort, an dem, ausser den Ratten, kaum Einer vorbeischaute. Es war einsam hier. Einsam, trübe und feucht. Es waren drei Tage vergangen, seit Yoshiki seinen Bruder umgebracht hatte. Drei wunderbar ruhige Tage, in denen er von niemandem gestört wurde, in denen er die Nächte für sich hatte und – ja, er war tatsächlich mal wieder ausgegangen und hatte sich mit einem Mädchen getroffen. Von dieser Verabredung kam er nun an diesem Morgen entspannt zurück und steuerte seine Wohnung an. Kurz bevor er um die letzte Ecke bog, erweckte ein scheinbar Obdachloser seine Aufmerksamkeit. Oder vielleicht war es auch gar nicht der Obdachlose selbst sondern das Ding, was neben ihm an der Mauer lehnte. Da stand nämlich eine gut erhaltene, rustikale Akustik-Gitarre. Aber irgendwas an diesem Bild war seltsam... Yoshiki kuckte nochmal genauer hin. Er konnte nirgendwo auf dem Boden einen Hut, Gitarrenkoffer, Plastikbecher oder sonstiges Behältnis vorfinden, in Welches man dem armen Mann ein paar Münzen hätte reinwerfen können. Nicht, dass Yoshiki das vorgehabt hätte... Was ihn aber so stark an diesem Bild irritierte nahmen gar nicht mal seine Augen wahr, sondern hauptsächlich seine Ohren: Die Gitarre spielte. Sie spielte eine ihm unbekannte Melodie – aber der Penner saß neben ihr und rührte sie nicht einmal mit dem kleinen Finger an. War das irgendein neuer Zaubertrick mit dem der Alte versuchte an ein paar Spendenfreudige zu geraten? Yoshiki konnte sich gar nicht dagegen wehren, seine Füße lenkten ihn automatisch direkt zu dem Mann und seinem Instrument. Dabei blieb sein Blick hartnäckig auf der Gitarre haften; es war seltsam, er hatte das Gefühl dieses Ding schonmal irgendwo gesehen zu haben.... Gleichzeitig sah sie aber auch so einmalig aus, wie ein Unikat. Der Alte lächelte ein fast zahnloses Lächeln als Yoshiki nun vor ihm stand und seine Aufmerksamkeit nicht von dem Instrument reissen konnte. „Ein fantastisches Stück, nicht wahr?“ Die Stimme des Alten war rau aber herzenswarm. „Wo haben sie die her?“, wollte Yoshiki wissen ohne dem Mann auch nur einen Blick zu schenken. Dafür lenkte ihn die sich selbst spielende Gitarre einfach zu sehr ab. „Die habe ich selbst gebaut, aus dem Körper eines toten Jungen.“ Yoshiki gefror das Blut in den Adern und mit aufgerissenen Augen starrte er nun den Alten an. Dieser begann zu erzählen: „Vor drei Tagen habe ich dort im Hinterhof einen toten Jungen gefunden. Er war ganz nass und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Vielleicht war er aus einem der darüberliegenden Fenster gestürzt nachdem er Streit mit seiner Freundin hatte...“ Das konnte nicht sein! Wollte der Typ ihm jetzt weiss machen, er hätte sich an Taiji's totem Körper vergriffen und daraus ein Instrument gebastelt? Andererseits....eine, wie von Geisterhand, gespielte Gitarre war irgendwie genauso absurd, nur dass es sie wirklich gab. Hier, direkt vor ihm. „Den Korpus habe ich aus dem Brustkorb geformt. Für den Hals diente mir die Wirbelsäule“, zählte der Alte auf. „Und die Saiten hab ich aus seinem Haar geflochten.“ Mit einem liebevollem Blick sah er sich das Ergebnis seiner eigenen Arbeit an. „Und kaum war sie fertig, fing sie einfach von ganz alleine an zu spielen...“ Die Saiten aus seinem Haar..... Die Worte hallten in Yoshiki's Kopf noch lange nach. Er musterte die sechs Gitarrensaiten, die ungefragt diese eigenwillige Melodie spielten. Die Farbe...dieses Blondbraun....es erinnerte tatsächlich an seinen kleinen Bruder.... Es war sein kleiner Bruder. Nur die Form hatte sich verändert. Er konnte ihn nicht zum schweigen bringen. Selbst die Tatsache, ihn getötet zu haben, war für ihn kein Hindernis sich zu äussern. Er würde nie schweigen. Und plötzlich glaubte Yoshiki, wenn er ganz genau hinhörte, in dieser gespielten Melodie des Instruments eine Geschichte raus zu hören. Eine Geschichte über zwei Brüder...... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)