Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 35: Gefallen -------------------- Guten Mittag! Ich melde mich - bevor ich für eine Woche nach Paris fahre - noch mal mit einem neuen Kapitel! Diesmal wieder Chris' Sicht und das erste Erwähnen eines bald dazustoßenden Charakters ;) Für Leute, die sich fragen, wie lang das Ganze wohl noch dauert... wahrscheinlich tausend lang. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und entschuldigt, wenn ich ab jetzt eine Woche lang nicht auf Kommentare antworten kann, ich werd in Paris internetlos sein. Liebe Grüße, _______________________________ »Erzählst du mir noch in diesem Leben, was mit dir los ist?« Sinas Augen ruhen auf meinem Gesicht und sie sieht nicht genervt aus, sondern tatsächlich ein wenig besorgt. Das ist ein Wunder, denn normalerweise reagiert sie genervt, wenn ich ein einziges Aggressionsbündel bin. Und das bin ich seit drei Tagen, weil Anjo und Benni sich schon wieder geküsst haben und weil Benni ihn nach Hause gebracht hat – obwohl ich Anjo angeboten habe, ihn abzuholen – und weil ich mich schon wieder in irgendwas Hoffnungsloses verrenne und das macht mich garantiert bald wahnsinnig. Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und es läuft eine Dokumentation über Leonardo da Vinci. Ich hab mich eigentlich nur zu Sina gesetzt, um nicht allein in meinem Zimmer zu hocken und da am Rad zu drehen. Anjo ist mit Parker, Pepper und Lilli im Park. Draußen sieht es nach Regen aus und wenn er nachher nass nach Hause kommt, werde ich womöglich ausrasten, einfach nur weil mich momentan jede winzige Kleinigkeit auf die Palme bringt. Aber bei Sinas Frage sinke ich ziemlich in mich zusammen und gebe ein entnervtes Geräusch von mir, ehe ich mich zur Seite kippen lasse und mit meinem Kopf in ihrem Schoß lande. Sina wuschelt mir mit den Fingern durch die Haare und wartet darauf, dass ich rede. »Sie haben schon wieder geknutscht«, murmele ich dumpf gegen ihren Oberschenkel. Sie schweigt einen Moment. »Ich weiß. Er kam gestern bei mir rein und wir haben drüber geredet«, antwortet sie behutsam. Ihre Hand streichelt weiterhin meine Haare und ich will eigentlich gern meinen Kopf gegen die nächstbeste Wand schlagen. »Und er weiß nicht, ob er eifersüchtig war wegen dieser Ische, die Benni geknutscht hat. Und er hat ihn nach Hause gebracht. Und das sollte mich nicht kratzen…« Sina rutscht ein wenig unter mir herum und ihre Fingernägel beginnen, mich im Nacken zu kraulen. Ich schließe die Augen und seufze gegen ihre Jeans. »Also, wenn es dich beruhigt… er ist nicht in Benni verknallt. Aber sieh mal, das erste Mal will ihn jemand. Ich meine… körperlich. Und er mag Benni trotz allem was war und er will ihm helfen und er denkt, dass er bei dir überhaupt keine Chance hat. Wenn er wüsste, dass es dir deswegen mies geht, dann würde er das doch gar nicht machen«, erklärt Sina. Es macht ja auch irgendwie Sinn. Anjo hatte bisher noch nie jemanden. Und jetzt ist da jemand, der ihn offensichtlich will. Nicht, dass ich ihn nicht auch wollen würde, aber davon weiß er ja Gott sei Dank – oder leider Gottes? – nichts. Ich hab seit Ewigkeiten keinen Kerl mehr angerührt, weil ich irgendwie zu beschäftigt mit anderen Dingen bin, seit der Knirps in mein Leben gestolpert ist. Mittlerweile scheint mir dieser Umstand ausgesprochen bedeutungsschwanger zu sein und ich nehme mir vor, das beizeiten zu ändern. Wenn Anjo jetzt mit Benni anbandelt, dann brauche ich alle Ablenkung der Welt, um Benni nicht bei der nächstbesten Gelegenheit hinter die nächste Ecke zu zerren und umzubringen. »Anjo ist sauer, weil ich auf diese Benni-Sachen immer so blöd reagiere«, fahre ich fort. Wenn ich schon mal dabei bin, kann ich auch gleich alles ausspucken. Sina seufzt. Im Hintergrund erzählt der Sprecher irgendwas über die Mona Lisa. »Er versteht es halt nicht. Weil er eben nicht weißt, dass du was für ihn übrig hast. Wenn du ihm das endlich mal sagen würdest, dann könntet ihr zusammen in den Sonnenuntergang reiten und später sieben Kinder adoptieren«, erklärt Sina trocken und ich stöhne unwillig. »Ich hab dir das doch schon erklärt, ich bin nicht–« »Gut und richtig für Anjo. Jaja. Ich seh das allerdings anders. Und er sicherlich auch. Ich versteh sowieso nicht, wie zwei Menschen nicht gut für einander sein sollen, wenn sie sich doch unbedingt wollen!« Ich drehe den Kopf in Sinas Schoß ein wenig und sehe ungnädig zu ihr hinauf. »Wir sind hier nicht in einem Liebesroman«, erkläre ich ihr sicherheitshalber. Sina kennt mich besser als viele Menschen, ihr muss doch irgendwie klar sein, dass ich für feste Bindungen einfach nicht geschaffen bin. Ich weiß wirklich nicht, woher sie all ihren Optimismus nimmt. Vielleicht ist das wegen der Sache mit Fabian. Seit neustem glaubt sie an die große Liebe und an kitschige Hochzeiten und Rosenblüten beim ersten Mal Sex… oder so. »Ich mag keine Liebesromane«, ist ihre Antwort darauf. Sie zuckt mit den Schultern und greift nach ihrem Glas mit Fanta, das auf dem Tisch steht, um einen Schluck zu trinken, während in der Doku etwas übers Letzte Abendmahl berichtet wird. Ich seufze, dann beschließe ich, dass ich das Thema erst mal genug behandelt habe. »Habt ihr euch mittlerweile geküsst?«, will ich wissen. Meine Augen sind auf den Teil von Sinas Gesicht gerichtet, den ich von unten sehen kann. Sie hält kurz in ihrer Bewegung inne, stellt dann ihr Glas ab und sieht zu mir hinunter. Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. »Also nicht«, sage ich und rappele mich mühsam aus ihrem Schoß auf, um mich wieder gerade hinzusetzen. Sie seufzt. »Ich hab mich entschieden zu warten, bis er was tut. Damit ich ihn nicht überrumpele«, sagt sie und es klingt ziemlich kläglich. Ich kann mir vorstellen, dass es ausgesprochen anstrengend für sie ist, das durchzuhalten. Sina ist immer sehr gerade heraus, von Zurückhaltung kann sie definitiv kein Lied singen und außerdem weiß sie ja, dass Fabian sie will. Ich stelle mir das ausgesprochen scheiße vor. »Ich bin dafür, dass du dich auf ihn schmeißt«, erkläre ich und sie wirft mir einen strafenden Blick zu, so als sollte ich sie besser nicht auf dumme Gedanken bringen. »Ich geh nachher mit ihm ‘ne heiße Schokolade trinken…«, erwidert sie, als wäre das eine Antwort auf irgendeine ihrer Fragen. Ihre schlanken Finger schieben ein paar der rotbraunen Strähnen hinters Ohr. »Ich werd nachher in die Halle gehen und ein bisschen Papierkram erledigen. Ich krieg bald die neue Gruppe«, antworte ich und strecke mich ein wenig. Ich hab keine Ahnung, wie ich Sina mit der Fabian-Sache helfen soll. Sie traut sich ja nicht mal, ihn mir vorzustellen, aus Angst, dass er sich noch weiter in sein Schneckenhaus verkriecht und vor lauter Minderwertigkeitskomplexen implodiert. Keine Ahnung, was das soll. Immerhin bin ich stockschwul. »Wie viele sind es diesmal?«, erkundigt sich Sina und sie klingt eindeutig so, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. »Sieben bisher. Ist ein bisschen blöd, ich hab lieber gerade Zahlen. Wegen der Teambildung. Aber wird schon irgendwie gehen«, gebe ich bereitwillig zurück, auch wenn ich weiß, dass Sina nur mit halbem Ohr zuhört. Sie greift nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus, dann seufzt sie ein weiteres Mal und lehnt sich an mich. »Gefühle sind kompliziert«, nuschelt sie. »Wem sagst du das«, gebe ich grummelnd zurück und lege meinen Arm um sie. Wir sitzen eine Weile schweigend auf dem Sofa und hängen unseren Gedanken nach. Es dauert etwas, bis mir auffällt, dass es draußen tatsächlich zu regnen begonnen hat. Als die Tür aufgeschlossen wird und einige Sekunden später Pepper ins Wohnzimmer gerannt kommt, setzt Sina sich auf, erhebt sich und nimmt ihr Glas Fanta. »Ich geh mich mal fertig machen«, sagt sie. »Soll ich dich nachher rumfahren? Draußen sieht’s eklig aus«, biete ich ihr an und stehe ebenfalls auf. Sina lächelt zu mir hoch. »Das wäre nett.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und huscht in den Flur, um Anjo zu begrüßen. Ich folge ihr nach kurzem Zögern. Anjo hat gerade seine Jacke an den Garderobenhaken gehängt und seine Haare sind nass. Sina verabschiedet sich mit ihrem Glas in ihr Zimmer, ich stehe einen Moment unschlüssig neben Anjo. »Du siehst nass aus«, erkläre ich geistreich. Anjo schmunzelt, während Parker um seine Füße herumtapst und nach den Tropfen schnappt, die von Anjos Haaren hinunter Richtung Boden fallen. »Es regnet«, gibt er amüsiert zurück. Ich schnaube, strecke einen Arm aus und ziehe ihn an mich. Anjo ist einen Augenblick ganz still und er scheint die Luft angehalten zu haben. Mein Herz ist mir in die Hose gerutscht. Anjo riecht nach Regen und Herbst und Anjo. »Chris?«, fragt Anjo leise und ein wenig verunsichert. Ich kann’s ihm nicht verübeln, so oft kommt das schließlich nicht vor, dass ich ihn aus heiterem Himmel umarme. »Geh heiß duschen, sonst erkältest du dich«, brummele ich, drücke ihn noch einmal kurz an mich und stapfe dann in mein Zimmer. Ich spüre Anjos Blick im Nacken und es kostet mich einiges an Anstrengung, mich nicht umzudrehen. Eine halbe Stunde später fahre ich Sina in die Stadt, wo sie sich mit Fabian trifft. Ich versuche vergebens einen Blick aus dem mit Regentropfen verschleierten Seitenfenster zu werfen, um ihn zu sehen. Wahrscheinlich kriege ich ihn erst vorgestellt, wenn sie einen Verlobungsring am Finger hat. Das Ganze erinnert mich arg an die Sache mit Larissa. Die wollte Sina ihren Freund auch nicht vorstellen. Ich grübele über Anjo nach und über Benni und über Fabian und fahre zur Sporthalle, um mich ins Trainerbüro zu hocken und den Papierkram zu erledigen, der jedes Mal anfällt, wenn ich eine neue Gruppe kriege. Berichte von Lehrern und Psychologen und Anmeldeformulare… Wahrscheinlich auch wieder zwanzig Emails von besorgten Eltern darüber, was genau das Training beinhaltet. Die Halle ist nicht abgeschlossen, das heißt, entweder trainiert gerade irgendjemand, oder es schlägt sich noch jemand anders mit Papierkram herum. »Ah, Chris! Ich wusste nicht, wann du kommst, aber gut, dass du schon da bist«, werde ich von Roland begrüßt, als ich ins Trainerbüro gehe. Roland ist einer der älteren Trainer hier, er unterrichtet nicht nur Kickboxen, sondern auch Judo. Ich betrachte kurz seine Geheimratsecken und seine etwas schiefe Nase, die nach einem Bruch nicht mehr recht gerade werden wollte. »Gibt’s irgendwas?«, erkundige ich mich und lasse mir einen Stapel Papier in die Arme drücken, während Roland nach irgendwas in den zahllosen Schubladen des Aktenschranks wühlt. »Ja, da wartet jemand auf dich, schon seit vierzig Minuten. In der Halle. Sagte, sein Name sei Adam und er würde dich von früher kennen«, informiert Roland mich, nimmt mir die Zettel wieder ab und sieht aus seinen braunen Augen zu mir auf. Ich blinzele verwirrt. »Adam?« Roland nickt. Ich runzele die Stirn und lege den Hallenschlüssel auf den Tisch. »Ich geh mal nachsehen. Wenn du schon am Wühlen bist, kannst du mir die Unterlagen für die neue Gruppe raussuchen?«, frage ich über die Schulter gewandt. Roland nickt, dann verschwinden seine Geheimratsecken wieder unter dem Schreibtisch und er fährt fort mit wühlen. Ich habe keine Ahnung, wieso Adam hier ist. Ich sehe ihn so gut wie nie, manchmal kommt er zu meinen Kämpfen. Die Halle ist beleuchtet, aber außer Adam ist niemand da. Er sitzt im Schneidersitz genau in der Mitte auf dem Linoleumboden und hat die Hände locker auf seine Knie gelegt. Seine Augen sind geschlossen, er trägt die Haare jetzt lang und in einem Pferdeschwanz. Seine asiatischen Gesichtszüge sehen immer noch genauso aus wie damals. Damals, als er mich trainiert hat. »Was verschafft mir die Ehre?«, erkundige ich mich, schiebe meine Hände in die Hosentaschen und gehe auf ihn zu. Seine fast schwarzen Augen öffnen sich und er sieht lächelnd zu mir herüber. »Christian«, sagt er, steht in einer fließenden Bewegung auf und erinnert mich wie schon vor einigen Jahren an eine übergroße Raubkatze. Adams eigentliche Sportart ist Kung Fu. Aber er hat in seinem Leben wahrscheinlich schon alles andere an Kampfsportarten ausprobiert und auch einige Jahre Kickboxen gemacht. Als ich ihn kennen gelernt habe, war ich ein wütender Fünfzehnjähriger, der ein Antiaggressionsprogramm durchlaufen musste, weil er einen Mitschüler krankenhausreif geprügelt hatte. Heute bin ich ein Stück größer als er, ein bisschen breiter und etwa so alt wie er damals war, als er mich in seine Gruppe bekommen hat. »Schön dich zu sehen. Du siehst gut aus«, sagt er und reicht mir die Hand. Sein Händedruck ist fest und besonnen. Ich muss unweigerlich grinsen. »Danke gleichfalls«, gebe ich amüsiert zurück. Auf Adams Gesicht schleicht sich ein Schmunzeln. »Wie läuft das Training mit den Halbstarken?«, will er wissen und lässt sich wieder auf den Boden sinken. Ich setze mich ihm gegenüber. »Die letzte Gruppe war ganz ok. Ich hatte schon schlimmere, aber auch schon bessere. Die nächste kriege ich erst in ein paar Wochen«, gebe ich bereitwillig zur Auskunft. Immer, wenn ich Adam sehe – was selten genug vorkommt – überschwemmt mich ein Gefühl von Ehrfurcht und Dankbarkeit. Wenn ich jemanden nennen müsste, der mich aus meinem Loch gezogen hat, dann wäre sein Name der erste, der mir in den Kopf kommen würde. »Ich habe eine Bitte«, sagt er und sein Gesichtsausdruck wird ernst. Ich lege den Kopf schief und mustere ihn fragend. Ich hab keine Ahnung, was Adam von mir will, das er nicht auch selbst tun könnte. Rein sportlich gesehen, meine ich. So gut wie ich auch sein mag, Adam habe ich nicht einmal besiegt und ich bin sicher, dass sich das bis heute nicht geändert hat. »Meine Familie ist neu in die Stadt gezogen, nachdem ich endlich den Vertrag für die neue Kampfsportschule unter Dach und Fach hatte«, informiert er mich. Ich nicke stirnrunzelnd. »Mein Bruder…« Adam bricht ab und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Ich weiß, dass Adams Bruder sehr viel jünger ist. Als ich von Adam trainiert wurde, war er noch Grundschüler, soweit ich weiß. »Er hatte einige Schwierigkeiten in der Schule. Er kannte hier niemanden und war wegen des Umzugs ohnehin nicht sonderlich glücklich… Jedenfalls haben sie ihn mit seinem besten Freund auf einer Party gesehen und fotografiert. Und einige Jungs haben ihn deswegen ziemlich aufgezogen«, fährt Adam mit ernster Stimme fort. Unweigerlich denke ich an Anjo. »Also ist er…?« »Schwul? Ja. Und er macht sich überhaupt nichts daraus«, erklärt Adam und seine Mundwinkel zucken. Ich fahre mir etwas verlegen durch die Haare. »Kann ja nicht jeder Jugendliche so ein Volltrottel sein wie ich«, gebe ich zurück. Adam schüttelt kaum merklich schmunzelnd den Kopf, dann seufzt er. »Haben sie ihn verprügelt?«, will ich wissen, in Gedanken immer noch bei Anjo. Adam schüttelt den Kopf. »Nein. Nein, im Gegenteil… er hat… er hat einen seiner Klassenkameraden halb totgeschlagen, als der ihn Schwuchtel genannt hat.« Oh. Oh! Es ist ein wenig, als wären Anjo und mein fünfzehnjähriges Selbst verschmolzen worden. Adams Bruder ist nicht wütend, weil er schwul ist, sondern deshalb, weil Leute ihn deswegen fertig machen. »Ok, klingt übel«, gebe ich zurück. »Übler, als du ahnst. Ich trainiere ihn, seit er sechs Jahre alt ist. In so ziemlich allem. Wenn Gabriel jemanden verprügelt, dann ist das kein blindes Draufschlagen. So instabil, wie er jetzt ist, ist er wirklich gefährlich. Das hat er selber auch gemerkt. Er hat gefragt, was er tun soll und ich hab gesagt, ich würde mal mit dir reden. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du ihn in deine Gruppe nehmen könntest«, erklärt Adam. Ich will mir gar nicht vorstellen, was für eine Kampfmaschine Adams kleiner Bruder ist. Und mit so viel Wut im Bauch sind solche Fähigkeiten keine gute Sache. »Wie soll ich ihn denn mit normalsterblichen Jungs zusammen trainieren lassen? Ich kann dich doch nicht mal im Zaum halten, wie soll das dann bei einem zornigen Kampfzwerg funktionieren?« Adam lächelt leicht. »Er kennt sein Problem. Und ich bin sicher, dass er dich sehr respektieren wird.« Ich fahre mir durch die Haare. Eigentlich halte ich das für keine gute Idee. Respekt hin oder her, wenn sich da ein Schalter umlegt, weiß ich nicht, ob… »Er kann sich dir persönlich vorstellen, wenn du willst. Mit deiner Menschenkenntnis bist du doch bisher ganz gut gefahren«, meint Adam und erhebt sich ein weiteres Mal. Ich nehme an, dass er meine Antwort als positiv verbucht hat. Ich seufze tonnenschwer und rappele mich auf. »Ok… dann schick ihn mir doch nächste Woche mal vorbei. Ich bin nachmittags zum Trainieren hier. Er kann um sechs herkommen«, sage ich und Adam reicht mir die Hand. »Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen«, entgegnet mein ehemaliger Trainer. Ich sehe ihm nach, als er die Halle durchquert. »Wieso trainierst du ihn nicht?«, rufe ich ihm nach. Adam dreht sich an der Tür zur Umkleide, durch die man nach draußen gelangt, noch einmal um. »Ich versteh ihn nicht. Du schon. Und außerdem… hättest du dich von deinem Bruder trainieren lassen wollen?« Ich sehe ihm nach und grummele leise. Mal ganz abgesehen davon, dass Tim vier Jahre jünger ist als ich, ist das Sportlichste, was er tut, Basketball zu gucken. Aber womöglich hat Adam Recht. Ich verstehe Gabriel ja jetzt schon ein wenig und das sogar ohne ihn zu kennen. Den Kopf voller Gedanken, gehe ich zurück zum Trainerbüro und beschließe, den ganzen Papierkram aufs Wochenende zu verschieben. Mein Kopf ist nicht bei der Sache und ich schulde es den Jungs, mich auf ihre Unterlagen zu konzentrieren. Ich sage Roland Bescheid und fahre wieder nach Hause, um mich unter die heiße Dusche zu stellen. Anjo telefoniert in seinem Zimmer – wahrscheinlich mit seiner Ma – und Pepper und Parker haben sich auf dem Sofa im Wohnzimmer eingerollt und dösen gemütlich nebeneinander. Unter der Dusche versuche ich mir vorzustellen, wie Adams kleiner Bruder sein wird. Wahrscheinlich hat er nicht diese sanften Augen und die ernste, besonnene Ausstrahlung, die einen automatisch ruhiger werden lassen. Meine Gedanken schweifen ab zu den ersten Stunden meines Trainings, als Adam – damals noch mit kürzeren Haaren – die Halle betreten hat und ich überhaupt keine Lust auf den ganzen Zirkus hatte. Er hat gelächelt und sich vorgestellt und war immer die Ruhe selbst, wenn es irgendwelche Reibereien gab. Wegen ihm mach ich heute das, was ich mache. Weil ich anderen genauso helfen wollte wie er mir. Aber was, wenn ich Gabriel nicht helfen kann und Adam dann enttäuscht ist? Ich würde ihm gern den Gefallen zurückzahlen, den er mir damals erwiesen hat. In Gedanken versunken trockne ich mich eher schlecht als recht ab, wickele mir das Handtuch um die Hüften und betrete den Flur. Zwei Paar Augen starren mich an. Das eine kenne ich sehr gut. Das andere nicht. Sina sieht versteinert und ein wenig entsetzt aus. Der junge Mann neben ihr scheint zur Salzsäule erstarrt zu sein und ich registriere nur am Rande blaugraue Augen, zottelige, hellbraune Haare und ausgewaschene Jeans, bevor mir klar wird, dass das Fabian ist und ich gerade fast nackt vor ihm stehe. Was seinen Komplexen vermutlich nicht zuträglich ist. Blitzschnell wäge ich die Möglichkeiten ab. Sollte ich möglichst scheiße zu ihm sein, damit er denkt, dass ich ein Arschloch bin und er sich keine Sorgen machen muss? Aber das ist Sinas Fast-Freund und ich bin ihr bester Freund und ich habe das Gefühl, dass ich einen guten Eindruck machen sollte. »Chris… du bist hier… ich dachte du… machst Papierkram«, sagt Sina mit matter Stimme. »Ja, wollte ich. Aber dann kam was dazwischen und jetzt…äh…« Fabian starrt mich an, als wäre ich der Antichrist. Oh man. Herr, wieso hast du mir fast zwei Meter Größe und so breite Schultern geschenkt? »Hi, ich bin Chris«, füge ich hastig hinzu und strecke Fabian meine Hand hin. Er nimmt sie zögernd und schüttelt sie kurz. »Fabian.« »Chris ist… mein… wie ich ja schon sagte… bester Freund. Und…« Sinas Stimme verebbt. »Ja. Der allerbeste, rein platonische und vor allem total homosexuelle Freund. Kumpel. Und… so…« Fabian blinzelt verwirrt und läuft rot an. Anjos Zimmertür geht auf und ich weiß nicht genau, was in mich gefahren ist, aber ich strecke den Arm aus, zerre den Knirps an meine Seite und drücke ihn fest an mich. Anjo wird sofort ebenfalls rot. »Und das ist Anjo. Der auch schwul ist«, sage ich überdeutlich und drehe meinen Kopf zur Seite, um Anjo einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. Mein Herz hämmert. Anjo sieht aus, als wäre ihm nach Wimmern zumute. Sinas Gesichtsausdruck schwankt zwischen Empörung und Dankbarkeit. »Und… ich wünsche euch noch einen schönen Abend!« Ich ziehe Anjo mit mir in sein Zimmer und schließe hastig die Tür. Das war das Peinlichste, das mir seit langem passiert ist. Ich glaube, ich hab mich seit Jahren nicht mehr vor irgendwem dermaßen zum Deppen gemacht. Aber was soll ich machen, wenn Fabian so verschreckt aussieht, als würde ich mich jeden Moment auf Sina stürzen und mein nicht vorhandenes Revier markieren? Im nächsten Moment wird mir klar, dass ich Anjo immer noch schraubstockartig an mich gedrückt halte und lasse ihn los. Er starrt mich vollkommen fassungslos an. »Fabian hat Komplexe, weil ich Bauchmuskeln habe und er nicht und ich hab versucht, irgendwie möglichst harmlos zu wirken«, erkläre ich mit schwacher Stimme und komme mir total dumm vor. Anjo räuspert sich und schluckt, dann schafft er ein Lächeln. »Das war sehr umsichtig von dir. Wenn auch ein wenig… überraschend«, gibt er zögerlich zurück. Ich lache beschämt. »Tut mir Leid.« Er schaut zur Tür und scheint nachzudenken, dann geht er hinüber zum Schlüsselloch und wirft einen Blick nach draußen. »Sie sind weg. Ich wollte nämlich eigentlich in die Küche«, erklärt er und richtet sich wieder auf. »Und ich wollte mich eigentlich anziehen«, antworte ich und folge ihm in den Flur hinaus. Anjo lacht leise. »Gute Idee. Ich wollte Hawaiitoast machen, willst du auch?«, fragt er. »Gerne… ich komm gleich nach«, sage ich und gehe in mein Zimmer, um mir etwas anzuziehen. Normalerweise würde ich es für eine gute Idee halten, Fabian und Sina auch zum Essen einzuladen, aber unter gegebenen Umständen ist das womöglich nicht der beste Plan. Ich bete inständig, dass ich Sina nichts versaut habe und ziehe mich hastig an, um Anjo in der Küche Gesellschaft zu leisten. Während ich über Fabian, Sina, Adam und Gabriel nachdenke, stelle ich mir vor, wie es wäre, Anjo als meinen Freund vorzustellen, ohne dass eine Notlüge dahinter steckt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)