Whisper von june-flower (Voice in the Darkness, calling softly, telling sweet lies...) ================================================================================ Eine leere Hülle, mehr nicht ---------------------------- Whisper Sezru war – wie nannten es die Menschen noch? Die Menschen, die für jede Situation einen Namen hatten, für jedes Wesen und jedes Gefühl, weil ihnen die Sinne fehlten, um sie wahrzunehmen oder einzuschätzen. Es war dieses Gefühl... Sezru war langweilig. „Komm, süßes Kind“, flüsterten die Stimmen rings um ihn her wie verführerische Düfte. Gerüche, an die er keine Erinnerung hatte. „Lass uns spielen.“ Spielen? „Spielen.“ Die Stimmen kicherten, leise und scharf wie splitterndes Glas. Nicht weich, nicht fröhlich. Nicht menschlich. Warum fiel ihm dieses Wort ein? Weil er die meiste Zeit seines Lebens unter Menschen gelebt hatte. Aber Sezru war kein Mensch. Und nun war er hier, und nur die Stimmen leisteten ihm Gesellschaft. So lange war es her, dass er zuletzt einen Menschen gesehen hatte, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. „Lass uns Weglaufen spielen!“ Weglaufen? Von wo? Vor wem? „Na... Vor uns! Und von hier. Oder bist du freiwillig hier?“ Freiwillig? Was ist das? „Siehst du?“ Erneutes Kichern. Warum scharf wie Glas? War Glas scharf? Bedeutete Schärfe, dass Berührung schmerzte? Tat deshalb sein ganzer Körper so weh? Und warum, wenn er doch nichts berührte? „Süßes Kind, das nicht einmal weiß, dass es unfreiwillig hier ist. Das uns niemals entkommen kann... Aber versuchen kannst du es. Spiel einfach! Du wirst sehen, es macht Spaß.“ Er stellte sich vorsichtig auf seine Füße und folgte. Vielleicht... Dunkelheit. Sie störte ihn nicht. Der lange, dunkle Flur lag wie ausgestorben vor ihm. Der Palast, in dem er die letzten Jahre – Jahrhunderte? Jahrtausende? – verbracht hatte... Er war tödlich still. Wie immer. Bei den Menschen war immer ein Geräusch da gewesen: das Rauschen des Windes in den Birkenzweigen, das Lachen der Kinder, die Stimmen... Eine ferne Erinnerung, die wieder verblasste. Hier herrschte Stille. Stille, Dunkelheit – und der König. Sonst nichts. Und nun? „Siehst du?“ Sehe was. Ein nervtötendes, splitterndes Gelächter des Spotts. „Weißt du überhaupt, was Spott ist, süßer Junge?“ ... „Siehst du?“ Sehe ich was? „Das war Ironie. Ironie wirst du wohl nie verstehen, was? Oder Spott. Als der König dich eingeschlossen hat, ist dir wohl etwas abhanden gekommen.“ Ich verstehe nicht. „Wie könntest du auch! Diese Menschen. War es Absicht oder Idiotie, dass du anscheinend dein Wesen irgendwie zurückgelassen hast? Sieh dich doch nur an!“ ... Ich sehe nichts. „Natürlich nicht. Wie auch? Das spielt jetzt keine Rolle. Macht dir das Weglaufen Spaß? Oder eher...“ Das Flüstern stockt kurz. „Oder eher das Wegfliegen. Anscheinend bevorzugst du diese Fortbewegungsart.“ Stirnrunzeln. Eine menschliche Ausdrucksweise. So menschlich, so unnütz – er hatte sie bereits vergessen. Es spielte keine Rolle. Wieso fliegen? Auflachen. Klirrend wie aneinandergereihte Glaskelche. Laut in der Welt der Stille und der Furcht. Furcht? Der Welt der Stille und der Dunkelheit. In der Welt des Königs. Die einzige Welt, die Sezru kannte. Seine Welt, erfüllt von einem unheimlichen, unweichenden Schmerz. Verlangen, flüsterte etwas in ihm. Was es bedeutete, wusste er nicht. „Du fliegst gerade, kleiner Junge. Noch nicht bemerkt?“ Natürlich. Fliegen war so viel natürlicher als das Fortbewegen auf den Füßen. Dafür war er gemacht. Die Wege des Palastgartens – wie kleine, schwarze Pfade unter ihm. Wie die kleinen, winzig kleinen Straßen auf der Miniaturlandschaft, die er einmal gesehen hatte. Wann war das gewesen? Und wo? „Woran denkst du, süßes Kind? Wir sind in deinen Gedanken...“ Wintersonnenwende. Lange, lange her, ein Leben her. Ein Leben? Zwei? Mit wem war er dort gewesen, mit wem hatte er die Landschaft gesehen. Wer war er gewesen. Leiser Schnee fiel auf die ausgestreckten Hände des kleinen Kindes. Lachend drehte sich ein Mädchen im Kreis, ihr goldenes Haar wie glänzendes Licht, ihr Kleid wie ein blauer Schleier vor seinen Augen, ihr Gesicht ein verwischtes Porträtfoto, ihr Name vergessen. Ein Leben, vorbei, vergangen und vergessen. Tot. Eine Vergangenheit. Wie viele Vergangenheiten hatte er gehabt. „Süßes, kleines Kind“, wisperten die Stimmen in seinem Kopf. „Gefällt dir unser Spiel nicht?“ Doch. „Aber du bist abgelenkt. Woran denkst du? Erzähle es uns.“ Einschmeichelnd. Süß. Verführerisch. „Wer ist das Kind, das durch deinen Geist wandert?“ Ich weiß es nicht. „Ist es wichtig für Uns?“ Ich weiß es nicht. „Kennst du es?“ Ich weiß es nicht. „Dann ist es nicht wichtig“, entschieden die Stimmen der Vernunft freundlich. „Vergiss das Mädchen. Denke nicht weiter darüber nach. Was nützt es dir? Du bist hier. Bei Uns. Du bist Unser Kind. Hier gehörst du hin.“ Ja. Wenn er nicht hier hin gehörte – wohin sonst. „Siehst du?“ Die Stimmen schnurrten zufrieden. „Du verstehst es.“ Ja. „Und macht dir das Spiel Spaß?“ Ja. „Schön.“ Ja. „Vergiss...“ Die schwarze Schneelandschaft des Palastes des Königs zog unter ihm vorüber. Ab und an ragte der kantiger Scherenschnitt eines Baumes himmelwärts – wie anklagende Finger auf ihn deutend. In der Ferne hinter ihm lag das dunkle Leuchten des Palastes. Der einzigen Heimat, die er kannte. Wohin sollte er gehen. Die Stimmen unterhielten sich untereinander. Leises Rauschen in seinem Kopf... Wie der Wind in den Birkenzweigen. Stille und Dunkelheit. Und das Traumbild von einem Birkenwald im untergehenden Sonnenglanz, einem kleinen Mädchen mit goldenem Haar, der faltigen, warmen Hand einer Person, die er liebte. Ein Leben, das er niemals gelebt hatte. Nicht mehr als der Hauch eines Traumes. _______________________________________________________________________________ A/N - also Nachwort^^ Jep, das ist das Ende. Allerdings... Allerdings gibt es ein Alternatives Ende, weil weder ich noch meine Schwester offene Enden sehr lieben. Aber das hier musste ich einfach so stehen lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)