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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Einleitung

Es war Ende Sommer und Anfang Herbst, als Nevar mich fort gebracht hatte.

Die Trauer über Mary-Ann hatte mir sämtliche Kraft genommen, denn mir war bewusst geworden, wie schwach ich ohne die Hilfe anderer Menschen war.

Es war meine Schuld gewesen, ganz allein meine. Und das wusste ich.

Der Schmerz brannte sich bis in mein Innerstes und verfolgte mich in jedem Traum. Nevar nutzte dies aus, auf viele Weisen.

Anfangs sträubte ich mich dagegen. Ich fühlte mich in Nevars Obhut wie ein Gefangener und auch wenn ich in den ersten Wochen nichts dazu sagte, weil mir die Kraft fehlte und ich es als Buße sah, so zermürbte mich diese Tatsache irgendwann doch. Ich wollte kein Mörder mehr sein und auch nie mehr etwas mit der Inquisition zu tun haben. Hätte ich das Angebot bekommen, zurück ins Kloster zu gehen und dort ein neues, einfaches Leben zu führen, hätte ich es angenommen. Aber dafür war es zu spät. Himmel oder Hölle, Sullivan?

Ich hatte mich für die Hölle entschieden. Nun gab es kein Zurück mehr und das verstand auch ich irgendwann.

Es gab Zeiten, an denen saß ich in meinem Kellerzimmer und bekam den Mann tagelang nicht zu Gesicht. Er hatte mir alles dagelassen, was ich brauchte:

Essen, Decken und Trinken. Das alles verstaute er in einer großen Holztruhe, die in meinem Zimmer stand, verschloss sie – ebenso wie die Tür – und als letztes gab er mir eine ledernde Tasche. Darin befanden sich Werkzeuge, die ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, die ich aber nutzen lernen sollte, als hinge mein Leben davon ab. Bei den ersten Malen weigerte ich mich, die Dietriche zu verwenden und saß schweigend in eine der Ecken. Mehrmals fand Nevar mich nach vielen Tagen geschwächt oder fiebrig vor. Dann gab er mir etwas zur Stärkung und verstaute den Rest erneut. Ich war stur, ich war trotzig, doch es war zu kalt und ich war irgendwann zu hungrig, um das durchhalten zu können. Zudem wusste ich nicht, wann er wiederkommen würde. Ich müsste verhungern oder erfrieren. So lernte ich, Stück für Stück, ob ich wollte oder nicht. Und ich gebe zu, wenn ich die Truhe aufbrechen konnte, war ich nicht wenig stolz.

Irgendwann kam der Winter. Ich wusste nur jenes, was Nevar mir erzählte.

Der Schnee nahm kein Ende und alles war in weiß gehüllt: Berge, Täler und auch der Himmel selbst. Ich dachte, der Winter würde nie mehr enden und der blaue Himmel bliebe auf ewig verschluckt. Die weißen Schneemassen bedeckten die Felder und keiner konnte sie mehr überqueren, ohne bis zu den Waden darin zu versinken. Ich dachte oft an Annonce und teilweise war ich froh, nicht in der Stadt leben zu müssen. Der einst munter plätschernde Fluss, der sich schlängelnd durch die Stadt zog, war ohne Frage eingefroren und weigerte sich, die Exkremente fort ins Meer zu spülen. Und so sammelten sich die Ausscheidungen, schmolzen die weißen Massen und verwandelten sie in stinkenden, braunen Matsch. Die Menschen versuchten dem auszuweichen, aber besonders im Armenviertel war das nicht annähernd möglich. Krankheiten wie Erkältungen rafften etliche dahin und die Schornsteine warfen riesige, graue Nebelschwaden in die Luft.

Ich selbst bekam davon kaum etwas mit und wäre ich wirklich in die Stadt zurückgekehrt, dann wäre ich einer der Erfrorenen oder Kranken gewesen.

Dennoch sehnte ich mich nach Freiheit. Ich wollte raus, mich in den Schnee stürzen, frische Luft atmen und mich sinnlos freuen, über die kleinsten Dinge des Lebens. Stattdessen war ich eingesperrt, wochenlang, wenn nicht gar Monate und konnte lediglich aus einem winzigen Fenster nach draußen sehen.

Anfangs hatte ich alles nur widerspenstig gelernt, jedoch später voller Ehrgeiz. Ich wollte besser werden, als Nevar ihm beweisen, dass ich kein Idiot war. Wie ein kleiner Junge nahm ich jede Herausforderung an und versagte ich, dann versuchte ich es so lange wieder, bis es klappte. Ich hatte gelernt, besser mit den Geräten zu arbeiten und bekam irgendwann sogar die Tür geöffnet. Freiheit!

Zu meiner Enttäuschung waren wir nicht mehr in Annonce. Wo genau wir waren, wusste ich nicht, aber ich glaubte zu wissen, dass der Ort sich weit südlich der Stadt befinden musste. Der Keller befand sich unter einem leer stehenden Bauernhaus, umgeben von großen, verschneiten Feldern und im Westen erkannte ich die riesigen Berge. Das Meer war nirgendwo zu sehen. Ich erblickte es erst, als ich einen riesigen Baum erklomm und auch dort war es für meine Augen so winzig, dass ich mich auch hätte geirrt haben können. Es wurde zum Alltäglichen, dass ich mir hohe Bäume suchte und sie hinaufkletterte, nur um einen Blick auf das glitzernde Gewässer weit, weit weg zu werfen.

Allerdings hatte ich keine Wahl, als in mein Gefängnis zurückkehren, sonst wäre ich früher oder später erfroren. Aber ich möchte nicht behaupten, dass Nevar mich als Gefangenen angesehen hätte. Er suchte mich nicht und selbst, wenn ich nach meinen stundenlangen Spaziergängen nicht zurückkam, sagte er kein Wort. Weder demütigte er mich, noch lachte er mich aus. Wäre ich nicht zu ihm zurückgekehrt, hätte er mich gewähren lassen und dieses Wissen machte die Zeit bei ihm etwas angenehmer.

Dennoch machte es mich wütend und verletzte meinen Stolz, auf diese ungerechte Art leben zu müssen, denn kaum war ich zurückgekehrt, wurde die Tür zum Keller wieder verschlossen und ich blieb allein. Ich wurde aggressiv und wütend auf ihn, weil er mich in diese Lage gebracht hatte. In meinen Gedanken fühlte ich mich wie ein Hund, der ohne die fütternde Hand nicht mehr leben konnte. Bekam ich die Tür auf, konnte ich das Weite suchen – aber ich musste zurück, jedes Mal.

Und mit dem weiteren Schnee kam auch meine von Nevar erhoffte Kälte.

Er lehrte mich die verschiedensten Dinge, aber vor allem, kalt zu sein. Jedes Gefühl, das ich ihm entgegen brachte, ließ er unbeachtet zu. Er zeigte mir, dass er mir überlegen war, denn er hasste nicht. Er fühlte nicht. Und ich sollte es ihm gleich tun, das war meine zweite Lektion.

Wenn ich wütend war, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte, dann tobte ich und verlangte meine Freiheit. Ich schrie ihn an, er wäre es gewesen, der mich zu diesem Mord getrieben hätte und dass es nicht rechtens war, mich einzusperren und mit Essen zu erpressen. Er wäre schuld daran, dass all diese Dinge passiert waren und er hätte mir mehr helfen müssen. Das war meine Art, meine Demütigung zu verarbeiten und er wusste das. Das einzige, was Nevar jedes Mal mit einem amüsierten Schmunzeln sagte, war:

„Wenn es Euch hilft, so besser damit klar zu kommen, Sullivan, dann redet Euch das ein. Mich stört es nicht.“ Dann starrte ich ihn an und schwieg. Ich wusste darauf nichts zu antworten, stattdessen fühlte ich mich nur noch gedemütigter und wie ein Trottel. Also schwor ich mir, ich würde ihm nie wieder den Gefallen tun, ihm meine Gefühle zu zeigen.

Ganz gleich, ob Wut, Freude oder Hass. Nie mehr würde ich ihm das Gefühl geben, er stünde über mir. So wenig, wie ich über ihn wusste, so wenig sollte er auch über mich wissen. Zwar funktionierte das niemals wirklich, aber für kurze Zeitspannen schaffte ich es zumindest ein wenig, dieses Vorhaben zu verwirklichen.

Nevar baute den Unterricht aus, indem er begann auch die Tür des Hauses zu verschließen, so wie die Fenster und die dortigen Schränke. Mir fiel auf, dass er selbst so gut wie nie da war, außer dann, wenn er in den Keller hinunter kam. Wo er wohnte, wusste ich nicht. Jedenfalls arbeitete ich mich stückweise vor und genoss jeden kleinen Triumph. Ich glaube, er hatte Kenntnis davon, aber ich redete mir ein, dem wäre nicht so. Das Innere des Hauses wurde von Ausbruch zu Ausbruch vertrauter und an Tagen, an denen nach meinen Ausflügen neue Schlösser an meiner Tür waren, wurde ich fast wahnsinnig, da ich ins obere Stockwerk wollte.

Wenn ich es hinaus schaffte, dann machte ich lange, ausschweifende Spaziergänge und verwischte meine Spuren, damit er nichts merkte. Ich öffnete sämtliche Gegenstände, schaute überall hinein, stahl den einen oder anderen Dolch oder aß hier und davon, ohne ein Zeichen dafür zu hinterlassen. Ich testete es aus, was er bemerkte und was nicht. Wenn ich meinte, er wäre irgendwo im Haus, dann schlich ich umher, erforschte seine Bücher und Karten oder sammelte Holz für kleine Schnitzereien. Ich wusste, dass es nichts gab, von dem er nicht ausging, dass ich es finden würde, dennoch: Es begann mir Spaß zu machen, auf meinem Lager zu sitzen und hölzerne Figuren zu haben, mit dem Gedanken, er würde sich wundern woher ich Messer und Scheit hätte. Auch mochte ich die Werke, die in seinen Regalen standen. Jene, die ich von der Sprache her verstehen konnte, handelten über die verrücktesten Dinge und ich las sie sicher hunderte Male. An seltenen Abenden trafen wir uns durch Zufall und wenn er sah, was ich gelesen hatte, sprach er mich darauf an. Er wollte wissen, was ich von den Büchern hielt und was ich darüber denken würde. Zwar waren wir uns nicht immer einig, aber mit ihm konnte man jeden Gedankengang dennoch bereden. Es faszinierte mich. Vor allem, wenn man bedachte, über was wir sprachen. Ketzerswerke, so wie Logbücher, Berichte über Tiere und ihr Verhalten. Bücher, die die Inquisition mit dem Tod bestrafte.

Außerdem begann ich, eine Faszination für Raben zu entwickeln. Überall gab es Bilder oder waren diese mysteriösen, schwarzen Vögel zu finden. Ausgestopft über seinem Kamin, als Brosche an seinem Umhang, als Verzierung auf seinem Bogen. Sie wurden eine Art Sinnbild für Nevar.

Als meine Erfolge, das obere Stockwerk zu erreichen, alltäglich wurden, fand ich nicht nur seine Dinge vor, sondern Stoffe, Nadeln, und Fäden. Da es gut eine Woche niemand anrührte versuchte ich mich im Nähen. Misslang es mir, fand ich neue Utensilien vor. Und so entstand stückweise meine eigene, kleine Ausrüstung und mein eigenes, kleines Hab und Gut. Nevar wusste nicht, was ich damit anfing. Er wusste nur, wann ich wütend das Bündel ins Feuer geworfen hatte und meistens lag dann einen Tag darauf das Gebrauchte bereit, für einen erneuten Versuch. Ich erprobte mich darin, Schuhe anzufertigen, Hosen und Hemden, aber es dauerte Wochen, bis ich wirklich etwas zustande brachte. Manchmal war ich so voller Frust, dass ich für mehrere Tage aufgab, aber dann versuchte ich es doch wieder.

Alles in allem, war es eine bittere Zeit, da ich mich stark eingeschränkt fühlte, aber auf der anderen Seite war ich frei. Ich hatte, was ich wollte und brauchte und wenn ich mich anstrengende, konnte ich hingehen, wohin ich wollte.

Dennoch erwachte in mir der Drang nach Veränderung. Umso dankbarer war ich, als sie endlich kam.

Als der Winter sich dem Ende neigte, stand Nevar plötzlich mitten im Haus. Sein Blick war wie immer und auch so gab es keinerlei Anzeichen. Das einzige, was mir sagte, dass nun etwas passieren würde, war jenes, was er von sich gab. Langsam und ruhig, so wie er immer war, sah er mich an und verkündete leise:

„Die Zeit ist gekommen, Sullivan O’Neil. Es ist so weit.“

Die Stadt Brehms

Trotz der langen Zeit, die ich auf diese seltsame Art und Weise mit Nevar verbracht hatte, wusste ich noch genauso wenig von ihm, wie zu Anfang. Ich hatte nie wirkliches Vertrauen zu ihm fassen können und er hatte sich keine Mühe gegeben, dieses zu erschleichen. Und so kam es, dass wir zwei Fremde wurden, die sich dennoch irgendwie kannten. Ich meinte zu sehen, wenn er einen anstrengenden Tag, oder eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und egal wie neutral er stets auftrat glaubte ich zu wissen, wenn er wütend war, oder mitgenommen.

Etwas an seinem Verhalten war dann anders, auch wenn ich nicht beschreiben konnte, was.

Aber auch ich selbst veränderte mich in der Zeit. Ich wurde selbstbewusster, stiller und überlegter. Aus dem Misstrauen heraus nahm ich bewusst Abstand und achtete auf jedes noch so kleine Wort von ihm. Ich begann zu registrieren, wenn Dinge anders standen als sonst, oder entwickelte ein Gespür für Atmosphären und Stimmungen. Ob er bewusst dafür sorgte, dass meine Gefühle sich darauf spezialisierten weiß ich nicht und irgendwann dachte ich nicht mehr darüber nach, denn ich empfand nicht die geringste Feindseligkeit ihm gegenüber.

An manchen Tagen, wenn er in die Hütte kam, sprachen wir stundenlang über Gott und die Welt – im wörtlichen Sinne. Wir verglichen unsere Ansichten und gaben preis, wie wir erzogen worden waren. Während er Realist war und an allem zweifelte, versuchte ich an meinem Glauben festzuhalten und Beweise dafür zu finden. Wir besprachen Themen, die man nicht besprechen durfte und führten ruhige Diskussionen über solcherlei Dinge, die anderswo zu Streitereien führten, bis wir uns in unseren eigenen Worten verstrickten. Mit ihm konnte man sprechen und zwar über alles, ohne dafür schiefe Blicke zu erhalten. Man hatte bei Nevar stets das Gefühl, er verstünde was man meinte und dass er die gleichen Gedanken gehabt hatte, wie man selbst.

Dennoch wurde ich nicht schlau aus ihm. Seine Gestalt war wie ein Schatten aus Nebel oder Rauch und wenn ich versuchte, ihn zu packen, löste er sich zwischen meinen Fingern auf.

Ich hatte mich daran gewöhnt, keine Antwort auf meine Fragen zu erhalten. Niemand würde mich darüber aufklären, warum man mir geholfen hatte zu überleben und wieso man mir all diese Dinge beibrachte. Das einzige, was Nevar einmal sagte war, ich solle niemals vergessen, wem ich mein Leben verdanken würde. Und das sagte er so scherzhaft, dass ich es kaum ernst zu nehmen wusste. Einerseits fühlte ich mich wie ein Diener, oder Schüler, andererseits hatte ich denselben Rang wie er. Was war ich nun? Und wer? Ein Gefangener? Oder meinte er, ich wäre ihm nun auf ewig verpflichtet?

Dann war es so weit. Nevar wies mich an, meine Sachen zu nehmen und mich bereit zu machen, da wir los ziehen würden. Schweigend gehorchte ich, jedoch dachte ich mir meinen eigenen Teil. Egal wohin wir gingen, sobald sich die Gelegenheit bot, würde ich abhauen, die Chance am Schopf packen und neu anfangen. Ich war nicht dumm und wusste, dass man mich auf ein Verbrechen vorbereiten wollte. Und auf keinen Fall hatte ich vor diesem Verbrechen beizuwohnen.

Ich zog mit ihm über die Felder der umliegenden Umgebung, Nevar vorneweg, ich schweigend hinterher. Über meiner Schulter trug ich einen braunen Sack mit meinem wenigen Hab und Gut: Ein paar Schnitzereien, warme Kleidung und etwas Brot. An meinem Körper trug ich mein langärmliges Hemd und eine Hose, dazu ein Paar Lederstiefel und meinen Umhang. Dennoch war es fast zu wenig für die Kälte. Wir durchquerten einen Wald, der so weiß war, dass es blendete. Ich sah zu, wie Schnee von den Baumspitzen fiel und Etappenweise Ast für Ast befreite. Dann rieselte der Schnee wie Staub umher und warf große Löcher in die gesammelten Massen auf dem Boden. Desto näher wir der Stadt kamen, desto unwohler fühlte ich mich in meinen selbst gemachten Sachen, jedoch zogen wir nicht Richtung Annonce. Nevar und ich gingen über einen Hügel und an deren Spitze hielten wir, um die Aussicht zu genießen. Gut fünf Stunden waren wir zu Fuß unterwegs gewesen, ohne Worte zu wechseln. Nur Anweisungen wie „Hier rasten wir.“, oder „Dort hinten rechts.“, hatte es zwischen uns gegeben. Meine Beine schmerzten, meine Zehen waren bereits seit Stunden taub und meine Fingerspitzen spürte ich ebenso wenig. Aber ich hatte mir vorgenommen keine meiner Schwächen zu zeigen und dem ging ich auch schweigend nach.

Unser Ziel lag am Ende des Hügels und begann mit ein paar einzelnen, weit auseinander stehenden Bauernhäusern. Sie schienen verloren vor lauter weiß, manche waren bis zum Dach verschneit. Anschließend folgte eine kleine Kapelle mit wild verstreuten Grabsteinen und schiefen Turm und erst dann begann die eigentliche Stadt. Eine hohe, aus Findlingen gebaute Mauer mit Türmen und einem riesigen Tor, dahinter Häuser über Häuser. Man konnte es nicht annähernd mit Annonce vergleichen, denn es war ein überwältigender Anblick. Es gab keinen Hafen, jedoch eine Kathedrale von unvorstellbarem Ausmaß und das größte Rathaus, welches ich jemals gesehen hatte. Die Spitzen der Kirchen ragten weit über die Mauern hinaus und sogar von weitem erkannte man die Kreuze darauf, die Stauen und die Verzierungen der verschiedensten Arten. Mit Blattgold geschmückte Engel, schneeweiße Skulpturen von Kriegern und der heiligen Jungfrau. Vor mir lag etwas Neues, etwas Unentdecktes und ich wollte dorthin, um jeden Preis. Nach unserem Halt stapften wir durch den fast kniehohen Schnee und arbeiteten uns vor bis zur breiten Landstraße, doch ich hatte nur Augen für das riesige Tor. Zwei Wachen im blauen Uniformen postierten an der rechten und linken Seiten und musterten uns eher freundlich, als skeptisch. Das Gitter, welches nach oben gezogen war, ließ sich seit Jahren nicht mehr bedienen und die zwei Wappen an den Torpfosten waren verblichen und splitterig. Dennoch wirkte das Gesamte Gebilde edel, durch die verzierten Fenster an den Seiten der Wachtürme und den klaren Wassergraben unter der frisch restaurierten, hölzernen Brücke. Zwischen den Wappen befand sich eine Portrait-Büste: Ein männlicher Kopf mit kurzem Haar und Bart starrte hinunter und betrachtete mit aufmerksamen Blick alle Kommenden und Gehenden. Unter dieser stand in goldener Schrift:

Komme mit erhobenem Haupt und bringe Glückseeligkeit in unsere Stadt und wenn nicht, so gehe mit gesenktem Haupt und drehe ewig uns den Rücken zu. Willkommen in der Handelsstadt Brehms.

Ich fragte mich, wer der Mann war. Der Gründer der Stadt, der Erbauer dieses Walls, oder einfach nur jener, welchen man für diese Inschrift zitiert hatte? Vielleicht war es auch nur ein irgendein Kopf und hatte gar keine weitere Bedeutung, außer, dass er bei dem Volk beliebt gewesen war? Jedenfalls war das Bildnisrelief einst mal grau-braun gewesen und nun mit einer weißen Schicht überdeckt. Wenn die Menschen ihn gemocht hatten, so konnten die Tauben ihn scheinbar nicht annähernd leiden.

Nevar und ich passierten das Tor und obwohl es tiefster Winter war, war es laut auf den Märkten. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Die Stadt Brehms galt im gesamten Land St. Katherine als Haupttreffpunkt sämtlicher Kulturen und auch wenn es keinen Anschluss zum Meer gab, so war Brehms dennoch die größte Handelsstadt unseres Landes. Hier sammelten sich die Händler wie Ameisen denn Brehms war der Mittelpunkt und von jeder Stadt auf direktem Weg zu erreichen. Wollte man von Norden nach Süden, musste man durch Brehms und von Osten nach Westen ebenso. Zwar war die Stadt alles andere als reich, da sich keiner die hohen Mieten leisten konnte, doch der Handel hielt diese Stadt aufrecht. Es gab mehr Gasthäuser, als Normale Gebäude und mehr Geschäfte, als Schenken. Zünfte und Gilden hatten hier ihre Hauptsitze und nirgendwo herrschte so viel Bewegung, wie hier. Kindern erzählte man, dass es in Brehms alles auf der Welt gäbe: Kleider, Süßwaren, Gewürze und Spielwaren. Man konnte hier die merkwürdigsten Tiere sehen, die verrücktesten Ausländer, die unterschiedlichsten Früchte und nun sah ich, dass es stimmte. Auf den Böden standen Käfige gefüllt mit Hühnern und Katzen, Hunden und bunten Vögeln, die ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Von manchen Ständen drangen Gerüche zu mir herüber, die mir das Wasser im Mund zusammen liefen lassen, oder meinen Geist tanzen. Eine dunkelhäutige Frau voller Ketten und Armbänder lächelte mich in einem bunten Kostüm an und versuchte mich in einer fremden Sprache für bunte Steine und Knochenschnitzereien zu begeistern.

Es fiel mir schwer, Nevar nicht aus den Augen zu verlieren und ich schob meinen Fluchtplan erst einmal beiseite. Zu fasziniert war ich von den vielen Fremdartigkeiten und den Gebäuden der Stadt. Zwar war sie heruntergekommen und viele Häuser wurden nur noch als Lager genutzt, dennoch zeugten die reichen Verzierungen an den Wänden von einer Zeit des Stolzes und des Reichtums. Die einzelnen, kaputten Statuen und das abgeblätterte Gold waren nur noch ein Abklatsch dessen, was diese Stadt einst gewesen war, aber doch reichte es völlig aus, um jemanden wie mich zu begeistern. Die Wände waren teils beige teils blendend weiß und manche der Fenster hatten abgerundete Formen, wie die der Kirchen von Annonce. Mir fiel auf, dass es keine Scheiterhaufen gab und auch keine Galgen und ebenso wenig Käfige, in welchen man die Gefangenen vorführte. Es schien das Paradies zu sein.

Nachdem wir uns durch das Treiben gekämpft hatten gelangten wir an eine ruhiger gelegene Gasse und kurz bleiben wir stehen, um zurück zu sehen. Die vielen Menschen in ihren bunten Kleidungen und mit ihren so unterschiedlichen Gesichtern wirkten auf mich wie eine Horde verrückter Tänzer, dennoch fand ich es wunderschön. Es war ein so starker Kontrast zu meiner Heimat, dieser tristen, freudlosen und fast schon toten Stadt. Wenn man Annonce als schwarz und dunkel bezeichnen wollte, so war Brehms weiß, strahlend weiß.

Wir folgten dem Weg der Gasse und noch minutenlang konnte ich die wirren Stimmen der Menschen hören. Verschiedene Sprachfetzen drangen zu uns durch und versetzten mich in eine Traumwelt. Jemand spielte Fidel, eine traurige und ruhige Melodie und Hufgeklapper kam scheinbar aus dem Nichts. Die Gasse war uneben gepflastert, immer wieder ging es hinauf und hinab, weswegen die Häuser schief und verbogen wirkten. Oft musste ich niedrigen Schildern neben kleinen Türen ausweichen, welche erst ein paar Stufen hinunter in den Boden und dann ins Untergeschoss des Hausinneren führten. Ich fragte mich, wie sie die Türen auf bekamen, wenn der Schnee sich in dem Bereich davor sammelte.

Die meisten Eingänge waren jene von Herbergen, aber vor keiner herrschte Leben. Die Gäste waren entweder drinnen, um vor der Kälte zu flüchten, oder aber sie waren dort, wofür sie hergekommen waren: Auf dem Marktplatz. Es war fast unheimlich, wie es mit jedem Schritt stiller und einsamer wurde. So voll, wie es auf dem Platz gewesen war, so leer und eng wurde es nun in den Gassen. Wenn sie um die Ecke führte, sah es aus, als wäre es keine Abbiegung, sondern ein Ende und oft sah man Abzweigungen erst dann, wenn man daran vorüber ging. Sie führten durch abgerundete Tore, oder niedrige Gänge. Teils dreistöckige Gebäude erhoben sich rechts und links von uns in die Höhe, mit schiefen Fensterläden und braunen Balken. Schwibbögen spreizten die gegenüberliegenden Häuserreihen und schienen sie zu stützen, um ihren Sturz mitten über uns zu verhindern. Sie und auch etliche, verzierte, pechschwarze Lampen reichten ins Innere des Ganges. Manche der Bogen waren nicht einmal einen Meter breit, andere wiederum wirkten wie Tunnel und verwehrten uns ab und an die Sicht zum Himmel, so dass abwechselnd mal Licht, mal Schatten auf uns fiel. Ein Händler mit einem Karren kam an uns vorbei und grüßte freundlich, als wir in einen Häusereingang gingen, um ihm auszuweichen, dann setzten wir unseren Weg fort. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ich dachte an meinen letzten Spaziergang durch eine Stadt. Hätten die Rotröcke mich in Brehms verfolgt, hätten sie bereits nach zwei Sekunden aufgegeben. Es gab so viele Winkel und Ecken, dass eine Verfolgungsjagd gänzlich unmöglich war. Manche der Abstände zwischen den Häusern waren so gering, dass man sie nur seitwärts durchqueren konnte - oder gar nicht – und selbst bei Tageslicht waren sie bereits dunkel. Und so pfiff lediglich der Wind hindurch, um sich unbemerkt wieder in einem der Wege zu verlieren.

Hier will ich leben., dachte ich. Ich will unbedingt eines Tages hier leben…

Irgendwann gelangten Nevar und ich an eine Art Treppe. Eigentlich war es nur ein gepflasterter Weg, auf denen man Stufenähnliche ein par der Steine quer gelegt hatte. Und so konnte man die parallel zueinander angebrachten Streifen benutzen, als wären es Stufen und problemlos hinauf gehen. Vor dort aus ging es anschließend wieder direkt auf einen großen Platz. Sie gab es keinen Markt, denn dieser Ort stellte eher einen Platz der Kultur und des Ansehens dar. Er war rund gehalten und von Unmengen Häusern umgeben. Etliche Gassen führten von dort aus ab in alle Richtungen, als wäre dies das Zentrum der gesamten Stadt. Einige Menschen liefen umher, die meisten waren recht vornehm gekleidet und viele schienen gut gelaunt zu sein und trugen ein Lächeln im Gesicht. Auch die wenigen Soldaten, die eher spazieren zu gehen schienen, als zu patrouillieren wirkten freundlich und aufmerksam.

Mittig, auf einer rechteckigen, säulenartigen Anhöhe, welche mit Reliefen verziert war, stand eine große, weißliche Skulptur. Das Reiterbild eines Mannes auf einem riesigen Schlachtross. Durch die Patina war sie an manchen Bereichen grau, oder gar schwarz und wirkte nur umso älter und genauer. Während Nevar und ich daran vorüber schritten, musterte ich alles etwas genauer und versuchte das kleine Schild and er Vorderseite des Podestes zu lesen. Bisher kannte ich so große Figuren lediglich von Friedhöfen und davon nur Engelsversionen oder andere, katholische Werke. Das Abbild eines Helden, oder das Andenken an einen hohen Offizier, so etwas gab es in Annonce nicht. Der Soldat trug eine Rüstung mit unglaublich echt wirkenden Falten und sein Gesicht schien so real, als wäre es lediglich erstarrt. Er hob ein Schwert in die Höhe, in der anderen Hand trug er ein halb eingerolltes Pergament. Die Versuchung war groß, empor zu klettern um zu sehen, ob auch Schriftzeichen eingemeißelt waren. Neugierig betrachtete ich auch das Reittier. Der Schwanz des Pferdes war gekürzt und es warf den Kopf nach hinten, verziert mit geflochtenen Strähnen. Am Sattel waren Fransen und Bänder, an den Zügeln Glocken. Wer auch immer dieser Mann gewesen war, er hatte scheinbar ein gutes Leben gehabt. Dann ließ ich meine Blicke schweifen. Die meisten der den Platz umrundenden Gebäude waren keine einfachen Häuser, so wie in den Gassen, oder auf dem Markt. Es waren riesige Komplexe mit kleinen Anhöhen von zwei, drei Stufen, die zu den Eingängen führten. Über den meisten hangen Wappen, oder Schilder, so wie ein Handelskarren, oder überkreuzte Schwerter. Eines der Gebäude war besonders groß und zwischen den Stufen gab es in großen Abständen Freipfeiler, die das Dach über den Eingängen stützte. Das alles bildete eine große, nobel wirkende Arkadenmauer mit unwahrscheinlich aufwändigem Gebälk. Direkt darüber ging das Haus in Form eines Balkons weiter, dessen Umrandung aus schwarzem, pflanzenähnlichem Metall war. Die Wände waren verziert mit Pilastern und Ornamenten der künstlerischsten Arten und in goldener Schrift stand mit verzierten Buchstaben direkt über dem größten der Bögen:

Handelsgesellschaft Brehms.

Dies war also der Brehmser Hauptplatz, von dem ich so viel gehört hatte. Hier reihten sich die Gildenhäuser aneinander, wie nirgendwo anders auf dem gesamten Festland. In Annonce war das Zusammenschließen mehrere Menschen zu einer Gruppe verboten, da man Angst hatte, die Gruppierungen könnten Einfluss auf die Politik der Städte nehmen. Aber hier, in Brehms, war das nicht so. Hier hatten sich viele für Verschwörungen zusammen gefunden, hier gab es Organisation und Ordnung, hier gab es gemeinsames Denken und Zusammenhalt…hier gab es Gilden. Etwas, was in Annonce eindeutig fehlte. Händler aus dem gesamten Land hatten hier Partner und Freunde, die hinter ihnen standen, wenn ihre Waren gestohlen wurden. In Annonce musste man vielleicht sogar noch etwas als Strafe zahlen, weil die umgestoßene Karre eine wichtige Straße blockierte. Hier, in Brehms, bekam man Kredite, Ersatz, oder Unterstützung. Brehms, die Stadt des Geldes, der Kultur und der Freiheit… Und tatsächlich entdeckte ich nun immer wieder einen Mann mit einem goldenen Ohrring – dem Zeichen der Zunftzugehörigkeit.

Aber nicht jeder konnte in solch eine Zunft eintreten. Es galt, eine Meisterprüfung abzulegen, zudem gab es meines Wissens nach hohe Eintrittskosten und regelmäßige Zunftskosten, die gezahlt werden musste und zudem mussten die Mitglieder ein haus besitzen und von hoher Geburt sein. Jeder der Mitglieder genoss also hohes Ansehen, höher als ohnehin schon und es gab sicherlich den einen oder anderen, der sich zu viel darauf einbildete.

Nevar und ich steuerten jedoch nicht dieses Gebäude, sondern ein etwas Kleineres schräg gegenüber an. Auch dieses Haus war scheinbar das Gebäude einer großen Gruppierung, denn es sah nicht aus, als wäre es zum darin leben gedacht. Es war schlicht und grau und, das machte mich aufmerksam, das Erdgeschoss war auf einer Seite komplett offen. Es gab dort keine Wand, sondern nur einen schwarzen, verzierten Metallzaun, durch den man hindurch ins Zimmer treten konnte. Von dort aus führte dann eine hölzerne Tür nach rechts, zuvor kam man an einem langen Tisch mit Bank vorbei. Zu meinem Erstaunen stand auf dem Tisch ein Korb mit Fallobst – und weder er, noch deren Inhalt war geklaut worden. Wenn man sich auf die Bank setzte konnte man vom Schatten aus auf den belebten Platz hinaus blicken und die Statue bewundern, so wie die reichen Spielereien der Architekten. Nevar bat mich leise zu warten, dann zog er seine Kapuze zurück und glättete sein widerspenstiges Haar, ehe er die schwere Tür öffnete und in das Gebäude ging. Die Tür fiel langsam und von alleine wieder zu, keiner bewachte sie und sie hatte kein Schloss. Sicherlich konnte man sie von innen mit einem Balken verriegeln, wenn das in dieser Stadt überhaupt nötig war.

Der gesamte Aufbau wirkte naiv und leichtgläubig auf mich. Scheinbar waren alle sorglos und niemand sorgte sich darüber bestohlen zu werden. Ich setzte mich auf die Bank und beobachtete die Leute. Manche von ihnen waren in sich gekehrt und in Gedanken versunken, andere liefen aufrecht und fröhlich. Ich meinte fast jeden der Personen in eine dieser zwei Gruppen einsortieren zu können. In meinem Hinterkopf stellte ich mir vor, wie die Stadt im Sommer aussehen würde. Im Sommer war die Handelszeit und hier musste es von Karren und Wagen nur so wimmeln. Die wenigstens fuhren auch jetzt umher und wenn, dann pendelten sie nur zwischen zwei Städten umher und besuchten die umliegenden Dörfer.

Ich konnte mir solch ein Leben nicht vorstellen. Stets musste ich auf die Kurse achten, auf meine Waren aufpassen, Kontakte knüpfen und flexibel auf Angebote reagieren. Ein Leben als Händler stellte ich mir anstrengender vor, als das Leben eines Schreiners oder Schmieds. Wochenlanges Sitzen auf den Kutschböcken und Feilschen und Tricksen, das war nichts für mich. Mit einem Überfall, oder einer unerwarteten Wetteränderung konnte man sämtliches Hab und Gut verlieren und musste komplett von vorne anfangen. Zwar hatte man Geld, ein haus und vielleicht eine Familie, aber man war stets unterwegs und unter Zeitdruck, da man anderen Händlern zuvor kommen musste. Aber noch schlimmer stellte ich mir den Handel mit Silbermünzen vor. Fast jede Stadt hatte ihre eigene Währung und ihre eigenen Silberlinge mit entsprechenden Köpfen, oder Gebäuden darauf. Aus Angst, dass jene mit den Münzen, welche den größten Silber- oder Goldanteil besaßen die Wirtschaft und den Handel beherrschten, wurde der Silbergehalt immer wieder erhöht, oder gesenkt. Eine Art Krieg auf friedliche Art und Weise zwischen den verschiedenen Städten. Eine Annoncer Münze war zum Beispiel eine Zeit lang nur halb so viel wert gewesen, wie eine Veronische. Dadurch war in Annonce alles doppelt so teuer, wie in Verona, weswegen die Händler dort zwar verkauften, aber nichts auf ihren Karren luden – Annonce machte keinen Gewinn mehr, sondern nur noch Verlust und war gezwungen, den Silbergehalt um wenige Prozente zu erhöhen, so dass der Kurs wieder ausgeglichen war.

Kaum einer war wirklich in der Lage den Gold- und Silbergehalt in Münzen nachzuprüfen, nicht einmal Geldwechsler beherrschten diese Kunst wirklich. Dennoch gab es Menschen die damit ihr Glück versuchten, die einen an- oder die anderen verkauften, den einen oder anderen übers Kreuz legten und so Geschäfte machten ohne Risiko und Verlust. Entweder sie standen am gleichen Punkt, wie zuvor, oder aber sie besaßen ein wenig mehr, als am Anfang. Geschäfte, die Jahre dauerten, ehe man Profit machen konnte – wenn es denn Profit gab.

Manche waren sogar so dreist, dass sie Geldwechsler aufsuchten und beispielsweise zehn Annoncer Silberlinge gegen eine Goldmünze wechselten und diese wiederum in Verona gegen zehn neue, jedoch Veronische Silberlinge zurücktauschten. Mit zehn Silberlingen aus Verona konnten sie dann zwanzig Silberlinge aus Annonce kaufen, also hatten sie insgesamt einen Gewinn von zehn Münzen. Für solche Geschäfte mussten die Geldhändler von Stadt zu Stadt reisen, was je nach orten mehrere Tage oder Wochen und ebenfalls viel kostete. Zudem war es strafbar, denn Geldhandel war landesweit verboten und nicht jeder war schnell genug, solche Gelegenheiten beim Schopf zu packen. Oft, wenn die Händler die gesuchte Stadt erreichten, war der Silberanteil bereits wieder erhoben, weswegen sie zwar keinen Verlust, aber auch keinen gewinn mehr machen konnten, denn selbstverständlich versuchten die betroffenen Städte meist sofort etwas gegen diese Vorgehen zu unternehmen. Aber bei größeren Geldsummen und mit sehr viel Glück war es durchaus lohnend und man konnte binnen weniger Wochen der reichste Mann des Landes werden.

Nevar kehrte nach gut zehn Minuten noch immer nicht zurück und ich beschloss, mich etwas umzusehen. Mein Magen knurrte gequält und würde ich ihm weiter zuhören müssen, würde ich mich wohl bald selbst essen. Ich musste mich ablenken und zwar schnell. Lediglich einen Apfel hatte ich mir genommen und gegessen - das Brot hob ich mir auf, denn man wusste ja nie, was kommt. Und so stand erhob ich mich und schlenderte etwas über den Platz. Der Schnee war an vielen Stellen vollkommen zertreten und matschig, an manchen rutschte ich leicht aus, deswegen musste ich kleine Schritte machen. Umso mehr wirkte die Umgebung auf mich. Brehms war nicht annähernd so, wie ich es mir vorgestellt hatte – es war bei Weitem besser und schöner. Mit den Augen suchte ich über den Dächern nach dem Kreuz der Kathedrale und als ich es fand, schätzte ich die Entfernung ab. Da die Gassen so verwinkelt waren und ich mich nicht auskannte, würde ich sicherlich eine halbe Stunde bis zu ihr brauchen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit Nevars Erledigungen in Anspruch nahmen, aber gewiss nicht eine Stunde. Und so beschloss ich, sie ein anderes Mal aufzusuchen. Er hatte mich gebeten, meine Sachen mit zu nehmen, also würden wir wahrscheinlich eine längere Zeit hier verweilen, vielleicht sogar den ganzen Winter. Unter Umständen hatte Nevar das Haus aufgegeben, da der Weg durch den vielen Schnee immer unpassierbarer wurde.

Ich tröstete mich mit dem begutachten des Reiterbildnisses und lief in aller Ruhe um die Statue herum. Luther Henry Mattheus von Brehms, konnte ich nun lesen, aber weiterhelfen tat mir sein Name nicht. Ich hatte davon noch nie zuvor gehört und meine Neugierde wurde nicht annähernd befriedigt. Ich blieb lange vor ihm stehen und starrte ihm in sein Gesicht. Auf andere musste es wirken, als würde ich Antworten suchen oder hoffen, er würde mich begrüßen. In Wahrheit erforschte ich dieses für mich völlig unbekannte Gebiet. Man konnte seine Wangenknochen erkennen und einzelne Locken seiner Haare, so wie eingravierte Pupillen. An seinen Augen waren Wimpern und in seiner Nase Andeutungen von Löchern. Wer auch immer diese Figur angefertigt hatte, ich begann ihn dafür zu bewundern. In letzter Zeit hatte ich selbst kleinere Schnitzereien angefertigt, aber ich war froh, wenn ich es schaffte dass die Beine oder Schnäbel von Vögeln nicht abbrachen, oder man eine Katze auch als Katze identifizieren konnte und nicht als schwanloses Biest mit zwei Hörnern.

Zwei Wachmänner wurden auf mich aufmerksam und blieben stehen, um mich zu beobachten. In dieser Zeit inspizierte ich alles peinlichst genau und wurde von Minute zu Minute faszinierter. An den zwei erhobenen Beinen hatte das Pferd Hufeisen und abstehende Haare über den Knöcheln, der Sattel besaß eine Naht und die Hände des Mannes hatten sogar Sehnen. In meinem kopf malte ich mir den Hergang der Herstellung aus. Ich stellte mir vor, wie jemand sich vor einen großen Steinklotz setzte und stückweise begann, die Skulptur anzufertigen. Hatte er ein Vorbild gehabt? Oder hatte er es aus dem Kopf heraus anfertigen müssen? Irgendwann dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um, in der Erwartung, es wäre Nevar.

Doch er war es nicht…

Die Geschichte des alten Henrys

Ich stand den zwei Wachmännern gegenüber, die – wie ich später erfuhr – die Aufgabe hatten, dafür zu sorgen, dass niemand die Skulpturen der Stadt beschädigte.

Der Größere von ihnen stand rechts von mir und er musste seinen Hut nach hinten ziehen, um mich zu sehen. Sein Haar war bereits ergraut und sehr dünn, sein Gesicht unrasiert und ebenso wenig gepflegt. Es wirkte, als hätte man einen alten Greis in eine Rüstung gesteckt, bis sein Sarg fertig gestellt worden wäre. Und er war daraufhin einfach los gerannt, ohne zu merken, dass er längst tot war. Ich hätte nicht gedacht, dass es bis auf den Abt meines damaligen Klosters noch mehr solcher Menschen gab, die einfach nicht wussten, wann ihr Leben den Punkt namens Ende erreicht hatte.

Sein Partner war das absolute Gegenstück zu ihm: Klein, Dick, glatt und jung. Ich erinnerte mich an Jacks Uniform, jedoch war diese hier blau statt rot, im Großen und Ganzen aber fast die Selbe. Er trug eine Brille und hatte buschige Augenbrauen, die ihn wie einen kleinen Bären wirken ließen. Ich zog meine Kapuze zurück und baute mich etwas auf, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich irgendein Streuner wäre. Dennoch achtete ich darauf, den Kopf etwas zu senken und überließ den beiden das erste Wort. Während der Jüngere mich eingehend musterte und dabei keinen Hehl daraus machte, sondern selbstbewusst auf mein braunes Haar sah, mein rasiertes Gesicht und meine Nassen Schuhe, räusperte sich der Alte etwas.

Mir kam dieser kleine Zusammenstoß gelegen, denn ich war neugierig, wie die Menschen in Brehms waren. Der alte Mann folgte verwirrt meinem Blick hinauf zur Statue, dann sah er mich wieder an. „Können wir helfen? Ist etwas nicht in Ordnung, junger Mann?“

Es erstaunte mich, dass sie direkt anboten, mir eine Hilfe zu sein. In Annonce hätten die Wachen mich wahrscheinlich ausgefragt, wenn sie sich überhaupt die Mühe gemacht hätten, sich um mich zu kümmern.

Freundlich schüttelte ich den Kopf und erklärte ruhig und entschuldigend: „Nein, nein. Ich bin nur nicht von hier und habe mich gefragt, wer denn dieser Mann ist.“

„Das ist der alte Henry.“, erklärte er mir und blinzelte offen neugierig. Seine Augen waren klein und wie die eines Maulwurfes oder einer Maus tiefschwarz.

„Und wer ist der alte Henry?“, wollte ich wissen, diesmal wandte ich das Wort an den Kleineren.

„Ein war großer Mann.“, brummte er und sah mich misstrauisch an. Dann rückte er seine Brille mit den kreisrunden Gläsern zurecht. Dieser Kerl mochte es, nach etwas gefragt zu werden, das merkte man. Wahrscheinlich las er viel und bildete sich ebenso viel darauf ein. Mit einem Blick, als hätte man ihn darum gebeten und als wäre es eine lästige Pflicht dem nachzukommen, erklärte er: „Er hat vor zweihundertfünfundsiebzigeinhalb Jahren die große Botschaft des damaligen Königs Connell Marc Dexter dem Dritten überbracht, dass die Krone das Haupt gewechselt hat, da der König des Nachbarlandes gefallen ist, weswegen der Krieg beendet war und dreitausendzweihundertsiebenundzwanzig Soldaten, fünfzehn Dörfer und zwei Städte gerettet werden konnten, inklusive sämtlicher Frauen und Kinder.“

Ich zeigte mich erstaunt über sein Wissen und begeistert, obwohl mir diese Daten nicht wirklich weiter halfen und sie mich eher langweilten. Mit einem mit Absicht verehrenden Blick sah ich hinauf zur Steinfigur und fragte offenbar äußerst interessiert: „Und wie hat dieser Mann das fertig gestellt?“

Der Ältere der Beiden wollte antworten, doch der Jüngere kam ihm zuvor. „Ganz einfach:

Luther Henry Mattheus wurde des Diebstahls angeklagt und ins Exil geschickt. Angeblich soll er der Prinzessin, er war ihr Reitlehrer, ein wertvolles Diadem geraubt haben. Eigentlich hätte er hingerichtet werden sollen, aber sie allein glaubte an seine Unschuld und ihr Herr Vater war so gerührt, dass er ihn lediglich verbannte. Ein halbes Jahr später begann der Krieg und der neue Reitlehrer der Prinzessin entführte eben diese und allen war klar, dass dies von Anfang an geplant worden war. Man brachte die Prinzessin an einen geheimen Ort und da niemand wusste, wer nun wirklich darin verstrickt worden war, brach in Brehms und Umgebung ein Krieg aus. Der König fiel und somit auch der Vater der Prinzessin und alle anderen waren so in ihre Machtkämpfe verwickelt, dass niemand sich um das Wohl dieses armen Kindes kümmerte. Sie stritten um die Herrschaft, keiner wollte die Prinzessin zurückhaben – denn sie wäre ja die nächste Nachfolgerin des Königs gewesen.“

„Außer der alte Henry.“, erklärte der Alte rechts von ihm und zog abermals seine Mütze zurecht, denn scheinbar war diese ihm zu groß.

Daraufhin nickte der Dickere etwas entnervt, da man ihn unterbrochen hatte. „Genau, außer Luther Henry Mattheus.“

Ich schwieg und wartete auf die Erklärung. Selbstverständlich musste ich den Dicken nicht auffordern weiter zu erzählen und so sprudelte es aus ihm heraus: „Als die Botschaften des Krieges auch das Exil erreichte, machte er sich auf die Suche nach ihr, fand heraus wo sie war und befreite sie letzten Endes. Die Prinzessin jedoch war schwer verwundet und nicht mehr zu retten. Sie schrieb ihren letzten Willen auf – der Frieden des Landes – und sandte ihren Reitlehrer mit dieser frohen Botschaft nach Brehms, zu ihrem ehemaligen Schloss.“

„Dort sollte die Friedensbotschaft verkündet werden und den Krieg beenden.“, ergänzte der Alte, der sich scheinbar auch an der Erzählung beteiligen wollte.

Sein Partner bemerkte daraufhin trocken: „Wie es meistens bei Friedensbotschaften ist.“

„Aber?“, hakte ich nach, denn es klang durchaus nach einem Aber. Der Dicke wirkte beleidigt, scheinbar hatte ich ihm die Überraschung kaputt gemacht. Etwas zerknirscht über seine zwei Zuhörer fuhr er fort:

„Aber kurz bevor er das Schloss erreichte, wurde sein Pferd von einem Feind nieder geschossen, genau an dieser Stelle. Er wurde darunter begraben, so erzählt man sich und beide seiner Beine gebrochen. Mit letzter Kraft zog er sich weiter, die Schriftrolle in der einen, das Schwert in der anderen Hand.“, seine Stimme nahm einen verehrenden und fast übertriebenen Klang an. Es erinnerte an einen Theater-Dialog. „Er verkündete die Botschaft sterbend auf den Stufen des Schlosses und mit seinen letzten Atemzügen. Er war ein Held.“

Ungläubig zog ich eine Augenbraue hoch. „Und man hörte auf ihn?“

„Natürlich nicht.“, gab er nach einigem Zögern geknickt zu. „Eigentlich…hörte man ihn gar nicht.“

„Abgesehen von einem Wachmann des Schlosses.“, warf der Alte freundlich ein.

Sein Partner verdrehte die Augen. „Der aber so betrunken war, dass man ihm eh nicht glaubte. Man warf seine Leiche zu den anderen Kriegsopfern und verbrannte sie einfach, um die Pest zu vermeiden. Ich gebe zu, es war lediglich ein heldenhafter Tod und ein nicht sehr gerechter Umgang mit seinen Überresten. Aber als man später nach dem Krieg erfuhr, dass er die Wahrheit gesprochen hatte, feierte man ihn als Held.“

Eine Weile ließen die zwei ihre Geschichte des Wagemuts und der Tollkühnheit auf mich wirken, aber da sie nicht annähernd Wirkung auf mich ausübte, beschloss ich einen Schlusssatz zu machen. Der alte Henry sollte nicht ganz so schlecht dastehen, denn scheinbar mochte der Dicke ihn. Lächelnd bemerkte ich recht ironisch: „Da hatte er ja Glück, dass er da wenigstens noch gefeiert wurde, als er tot war. Denn lebendig schien er ja nicht gerade beliebt gewesen.“, im Hinterkopf fragte ich mich, ob der alte Henry sich wirklich darüber gefreut hätte, denn wirklich berauschend klang es nicht. Ich stellte mir vor, alle würden mich für einen Dieb halten, mich hassen, fortjagen, sogar hinrichten wollen und dann würde ich eine Prinzessin retten, dank ihr sterben und niemand hörte mir dabei auch nur annähernd zu. Ich für meinen Teil würde mich zumindest nicht über eine solche Statue freuen. Ich war dann tot und nicht mehr da, da half mir ein schön gestalteter Steinklotz auch nicht mehr.

„Oh ja.“, bestätigte der alte Mann eindringlich nickend und riss mich damit völlig aus meinen Gedanken. „Keiner wird ihn jemals vergessen.“

„Zumindest so lange die Statue hier steht.“, wandte ich ein, denn ohne die wäre diese Geschichte wohl längst Geschichte gewesen. Abgesehen von Historiker-Fanatikern wie diesem Wachmann hier, die sich solche Dinge anlasen und es sich sogar merkten. Aber solche Menschen hatten für gewöhnlich genauso viele Zuhörer, wie der alte Henry damals – gar keine, abgesehen von Betrunkenen Wachmännern, die genauso wenige hatten, außer weitere Betrunkene. Der Lauf der Dinge., dachte ich sarkastisch. So bleibt alles im Gleichgewicht.

„Zumindest so lange die Statue hier steht.“, wiederholte der Dicke nachdenklich. „Und das wird vermutlich sehr lange sein.“, dann schreckte er hoch und sah mich wieder misstrauisch an. „Aber nun genug zum alten Henry. Wer seid Ihr?“ Er erinnerte sich wieder daran, wieso er mich angesprochen hatte und seine Augen flammten vor Ehrgeiz auf, einen Verbrecher zu stellen. Scheinbar war in Brehms nicht viel los und die Soldaten langweilten sich. Ich lächelte zaghaft, verbeugte mich leicht und log: „Falcon O’Connor.“, dann richtete ich mich wieder auf und sah die beiden offenherzig an. Mehr sagte ich nicht, denn auch wenn es bei diesen beiden vielleicht nicht angebracht war, so wollte ich dennoch nicht wirken, als hätte ich etwas zu verbergen. Ich wollte nur das sagen, was man wissen wollte, sonst sah es aus wie eine früheilige Verteidigung und das wiederum, als würde man etwas verbergen wollen.

„Habt ihr Papiere dabei?“, hakte der Dicke nach.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es ist alles begraben worden.“

„Begraben worden?“, wiederholte der Ältere unverständlich.

„Ich bin mit einem guten Bekannten hier. Unsere Häuser sind unter den Schneemassen zusammengebrochen und nun suchen wir hier Unterkunft.“

„Verstehe.“

Der Dickere musterte mich übertrieben skeptisch, um noch einmal seine Position zu verdeutlichen, dann stellte er sich aufrecht und erklärte: „Nun, dann vergesst bitte nicht eine Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen. In Brehms kostet jeder Aufenthalt, der länger als einen Tag dauert nämlich eine Genehmigung.“

Neugierig wurde ich hellhörig. „Wieso denn das?“ Dann sah ich kurz zum Himmel. Schnee begann hinunter zu rieseln, winzige, kleine, weiße Flocken. Ich sah zu, wie sie auf die blauen Uniformen fielen und sofort schmolzen.

„Die Stadt durchqueren darf jeder, das dauert nur einen Tag. Aber wer länger bleiben will, der sollte schon etwas für das zahlen, was er hier zu sehen bekommt. Das hier ist schließlich Brehms und nicht irgendeine Kleinstadt!“

„Und wenn Ihr vorhabt, länger als eine Woche zu bleiben, müsst Ihr eine Adresse nachweisen können.“, erklärte mir der Rechte freundlich und beugte sich etwas zu mir herunter.

„Wir möchten hier keine Obdachlosen haben, darum.“, fügte sein Partner etwas schnippischer hinzu. Ich nickte und fragte, wo ich solch eine Genehmigung denn herbekäme und die zwei begannen mit wilden Erklärungen und Gesten, mit denen sie mir den Weg zum Rathaus beschrieben. Es schien ein leichter Weg, aber jeder der beiden wusste selbstverständlich den besseren. In Gedanken driftete ich etwas ab. Ich überlegte, wenn jeder diese Dinge so handhaben würde wie Brehms, dann wäre Annonce bald die schönste und sauberste Stadt der Welt. Aber wo wären all die Armen? Warf man sie einfach aus der Stadt? Oder richtete man sie hin? Zwar war es sauberer, schöner und vielleicht gesünder, doch um welchen Preis?

Die Zwei einigten sich darauf, dass ich einfach nach der großen Rathausfahne Ausschau halten sollte, dann würde ich den Bunten Platz schon finden. Irgendwann sah ich Nevar. Er war aus dem Gebäude gekommen und stand vor der Metallwand. Die Kapuze hatte er wieder über seinen Kopf gezogen und scheinbar sah er geduldig zu mir herüber. Ich bedankte mich freundlich für die Beschreibung, unterbrach die beiden in ihrer Diskussion ob es Bunter Platz oder Farbenfroher Platz hieß und löste mich einfach aus der Unterhaltung. Die Wachmänner sahen mir verdattert und etwas traurig nach. Scheinbar sprachen nicht oft Leute mit ihnen und nun waren sie enttäuscht, dass dieses große Ereignis wieder vorbei war.

Ich beschloss sie wieder anzusprechen und nach belanglosem Zeug zu fragen, sollte ich sie eines Tages wieder treffen. Ruhig zog ich die Kapuze hinauf und trat neben Nevar.

„Da seid Ihr ja wieder.“, sagte er ruhig und wir sahen den Wachen zu, wie sie ihrer Patrouille wieder nachzugehen begannen.

„Ich habe mich ein wenig unterhalten.“

„Und etwas Interessantes erfahren?“, wollte Nevar wissen.

Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ganz und gar ihm zu. Nun, wo er da war, waren diese kleinen Dinge wie Figuren oder Verzierungen nicht mehr von Belang. Solches bildete den Inhalt meiner Freizeit, wie ich meine Zeit ohne ihn nannte. Nevar deutete mein Schweigen scheinbar als nein, denn er fragte kein weiteres Mal nach, sondern trat mit mir hinter die Metallwand. Dort war es als erstes trocken und als zweites windgeschützter. Ich fragte mich, wieso es diese seltsame Art von Vorraum gab. Hätte man die eine, offene Wand nicht komplett öffnen und mit Säulen versehen können? Oder schließen, so dass es einen Raum ergab? Stattdessen wirkte es, als hätte man eine Terrasse bauen wollen und den Zaun aus einem versehen heraus hoch bis zur Decke gezogen. Man fühlte sich wie in einem Gefängnis, nur mit mehr Liebe zum Detail verzierten Gitterstäben. Irgendwann würde ich Nevar danach fragen, aber nicht jetzt, denn jetzt sah ich ihn nur geduldig an. Er hatte mir etwas zu sagen, das wusste ich, nur wusste ich nicht, was.

Nachdem wir in der hintersten Ecke standen, verkündete er ruhig:

„Ich war hier, um jemanden zu treffen. Dieser jemand hat großes Interesse an Euch, er möchte Euch kennen lernen.“

„Und wer soll das sein?“, fragte ich gelangweilt.

Nevar nickte und sah wieder zum Platz. Er beobachtete die wenigen Leute, die meisten flohen vor dem Schnee. Er wurde stärker und dichter, bald wäre alles weißer als ohnehin schon und meine Fußspuren würden verschwinden. Drei kleine Kinder jagten sich rutschend um die Figur herum und versuchten, sich mit Schneebällen zu treffen. Der einzige, der etwas abbekam, war der alte Henry und schon bald hatten sie ihn als ihr neues Ziel entdeckt und das ausgerechnet jetzt, wo die beiden Wachen verschwunden waren.

„Sein Name ist Antonius Domenico. Er ist der Gildenmeister und ein guter Bekannter.“

„Also gehört Ihr einer Gilde an.“, stellte ich fest und suchte in Nevars Gesicht nach Antworten. Er jedoch gab mir nicht die geringste, sondern fuhr desinteressiert fort:

„Er möchte Euch kennen lernen und Euch ein Angebot machen.“

Er ließ diesen Satz im Raum stehen, so wie die Tatsache, dass mich jemand zwar erst kennen lernen wollte, jedoch schon vorher wusste, dass er mir ein Angebot zu machen hatte. Wieso dann noch kennen lernen? Da von Seiten Nevars kein weiteres Wort zu kommen schien, fragte ich ernst: „Und was für ein Angebot?“, doch selbstverständlich zuckte mein Gegenüber nur mit den Schultern.

„Das fragt ihn besser selbst.“

„Ich habe kein Interesse daran, mit ihm zu reden.“

„Das habe ich ihm auch gesagt.“, wandte er amüsiert lächelnd ein.

Ich schnaubte kurz. „Dann ist ja alles geklärt.“

„Und ich sagte ihm, Ihr werdet es trotzdem tun.“, er sah mich an und in seinen blauen Augen lag Ernst und fast schon eine Warnung. „Hört Euch sein Angebot wenigstens an, Falcon. Ihr seid so weit, Ihr könnt Aufträge annehmen und Euch ein eigenes Leben aufbauen.“

„Und um welchen Preis?“, finster erwiderte ich seinen Blick und schüttelte den Kopf. „Nein, Nevar. Ihr habt viel für mich getan, das gebe ich zu. Aber Fakt ist, ich habe nie darum gebeten. Ich schulde Euch nichts, weder Dankbarkeit noch anderes. Und ich werde gewiss nicht den gleichen Fehler machen und mein Leben erneut als Verbrecher anfangen.“, seufzend beobachtete ich die Kinder. Sie kreischten und rannten um die Statue herum, während die zwei Wachmänner versuchten sie einzufangen. Immer, wenn einer je eines der Kinder gepackt hatte, bewarf das Dritte sie mit Schnee, bis sie los ließen. Man konnte nicht unterscheiden, ob es Spaß oder ob es eine ernsthafte Verfolgungsjagd war, aber auf jeden Fall sah es von weitem sehr amüsant aus. „Bei meinem letzten Versuch habe ich mein neues Leben begonnen, indem ich einen Priester erpresst und einen Verbrecher freigekauft habe. Ich habe daraus gelernt. Ich will ein ehrliches Leben, auf ehrlichem Weg erbaut.“

„Dann müsstet Ihr aus Eurer Vergangenheit eine komplette Lüge machen. Und spätestens, wenn das auffliegt, ist es vorbei.“, Nevar schien ungerührt und spöttisch. Er glaubte nicht daran, dass so ein Leben möglich war, zumindest nicht in dieser Welt. Und wahrscheinlich hatte er damit Recht. Ich hatte ihm den Rücken zugedreht und spürte, wie er sich nun von hinten an mein Ohr beugte. Ohne mich zu berühren zischte er: „Hört es Euch wenigstens an. Was kann es schaden?“

„Damit Ihr Eure Lorbeeren kassieren könnt für meine tolle Ausbildung?!“, zischte ich verhasst zurück, ohne mich auch nur annähernd umzudrehen.

„Hört es Euch an. Ihr habt mein Wort, das Ihr gehen könnt, wenn Ihr nein sagt. Ihr werdet es nicht bereuen.“

„Und wenn ich ja sage? Kann ich dann auch gehen, wann immer ich will?“

Nevar schwieg und ich wusste nicht, ob das nun als nein zu deuten war. Der ältere Soldat und rutschte aus, der Dicke fiel über ihn und rollte einige Schritte weiter. Als die zwei sich aufsetzten, waren sie schneeweiß, wie lebendige Schneemänner. Lachend suchten die Kinder das Weite.

„Also gut. Ich höre es mir an, aber ich werde auf nichts eingehen, was ich nicht will. Ich habe nicht vor an einem Verbrechen teilzunehmen, damit das klar ist.“, drohend sah ich ihn an. „Ich bringe mich eher um, als für jemanden Leute umzubringen oder weiß der Teufel, was noch.“

Nevar richtete sich wieder etwas auf und zog eine Augenbraue hoch. Als wäre ich ein absoluter Idiot flüsterte er: „Wie kommt Ihr darauf, dass wir eine Bande Verbrecher wären?“

„Seht Euch an, dann wisst Ihr wieso!“, fluchte ich. „Also? Was ist jetzt?“

Das brachte ihn zum schmunzeln, jedoch sagte er nichts, sondern drehte um und ging erneut durch die Tür. Ich seufzte leicht und warf einen letzten Blick zur Statue. Die zwei Männer versuchten sich gegenseitig hoch zu helfen, stellten sich aber mehr als nur unbeholfen an und warfen sich gegenseitig um. Ihnen würde niemand eine Statue bauen, wenn sie verschwänden, aber ich würde mich an sie erinnern. Und ich? Was war mit mir? Wer würde sich an mich erinnern, mir gedenken? Dem neuen Mann, Falcon O’Connor?

Schweigend folgte ich Nevar hinein in das Haus der Gilde Deo volente.

Niemand., dachte ich. Absolut niemand.

Deo volente – Mit Gottes Willen

Das erste, was ich im Innern sah, war ein Kreuz.

Es war gegenüber der Tür befestigt wie ein Willkommensgruß und der leidende Jesus hing vor mir, wie ein böses Omen. Seine Arme nach oben genagelt, seine Beine angewinkelt und sein Kopf zur Seite geneigt. Im dämmrigen Licht der einzigen Kerze, die etwa einen Meter unter ihm auf einem Holztisch stand, wirkte er mit seinen hervortretenden Rippen und den eingefallenen Wangenknochen wie eine verlorene Seele. Die Kerze schlug ihre Flammen nach ihm, als würde sie ihn greifen wollen. Es würde nicht viel fehlen, er würde brennen – so wie ich.

Das zweite, das ich sah, war der in gold geschriebene Text direkt unter ihm:

Deo volente.

Ich fragte mich, was genau diese Gilde ‚Mit Gottes Willen’ tat und wurde zusehends nervöser.

Und das dritte, was ich sah, war, dass der Raum direkt nach rechts führte und eine Art Flur bildete. Er hatte keine Fenster und keine Türen, bis auf jene am Ende des Ganges, wohin gehend er immer dunkler wurde. Bei dieser handelte es sich um eine weitere, große, nach oben abgerundete Holztür, die man jedoch beidseitig mit einem schwarzen, großen Eisenring aufziehen konnte. Nevar und ich gingen darauf zu und gelangten von dort aus in einen weiteren Flur, nur größer und mit sehr hoher Decke. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf. In der Mitte war eine Art Kuppel angebracht unter jener der Kronleuchter hing, jedoch war er so niedrig, dass man die Deckenverzierungen nicht erkennen konnte. Enttäuscht gab ich auf und sah mich um. Der Boden war gepflastert und die Wände kahl, so dass alles kühl und unfreundlich wirkte. Von hier gingen drei Türen ab, eine gegenüber, eine rechts und eine links. In der Mitte führte eine steinerne Treppe nach oben, mit altem, verziertem Geländer direkt zu einer fünften Tür, unmittelbar über der linken. Während wir hinauf stiegen über einen roten Teppich, der die Stufen säumte, lauschte ich angespannt. Bis auf unsere fast lautlosen Schritte und mein leises Atmen, war nichts zu hören. Rechts und links neben dem oberen Eingang standen zwei riesige, steinerne Vasen, jedoch ohne Blumen oder ähnliches. Zwischen diesen beiden blieb Nevar stehen und klopfte, dann hörte man die Stimme eines Mannes:

„Herein!“

Ich warf Nevar einen unsicheren Blick zu, doch da er mit dem Rücken zu mir stand, bemerkte er es nicht mal. Ohne zu Zögern öffnete er und trat ein. Der Geruch von frisch erloschenen Kerzen und Wein kam mir entgegen, während ich – genauso wie mein Begleiter – die Kapuze vom Kopf streifte und den hell erleuchteten Raum betrat. Er ließ mich vor und schloss die Tür hinter mir, doch ich hörte, dass er noch da war. Dann sah ich mich um. Wir befanden und in einem Raum, nicht größer als jene Zimmer aus dem schwarzen Kater. Direkt vor der Tür, drei, vier Meter entfernt, stand ein großer, hölzerner Schreibtisch, zu welchem Nevar mich von hinten schob. Diesen fixierte ich als erstes, denn dahinter saß ein alter Mann, der sich nun erhob. Mein Herz machte einen Ruck und ich konnte keinen weiteren Schritt machen. Unterschwellige Panik brach in mir aus und mit einem Mal begann ich zu schwitzen. Ich versuchte ruhig zu bleiben und meine Aufregung nicht zu zeigen, doch meine Vergangenheit lag mir im Nacken und versuchte, sich in eine Schlinge zu verwandeln.

Das Haar des Mannes war bereits weiß und kurz, er trug eine schwarze Robe und um seinen Hals befand sich eine lange, goldene Kette mit einem Kreuz daran. Seinem weißen Kragen nach zu urteilen handelte es sich um einen Geistlichen, aber das verwirrte mich umso mehr. Was machte ein Priester im Gebäude einer Gilde? Und was wollte er von mir, einem Mörder und Gesuchten?!

Ohne Frage war dies wohl sein Zuhause, denn rechts gab es ein Bett und links einen Tisch mit Stuhl. Das Licht wurde jedoch mit Absicht nur auf die Raummitte ausgerichtet, so dass es im ersten Moment den Anschein eines Arbeitszimmers hatte. Ich sah zum offen stehenden Fenster - rechts auf Betthöhe, auf dem äußeren Sims hatte sich Schnee gesammelt. Einzelne Flocken flogen durch den Spalt hinein und lösten sich auf den weißen Leinen auf, als hätten sie nie existiert. Ein kalter Hauch ließ die vier Kerzen auf dem Schreibtisch tanzen. Unbewusst suchte ich nach Fluchtwegen und als es mir auffiel, zwang ich mich, durchzuatmen und dem Fremden entgegen zu sehen.

Der alte Mann lief um den Tisch herum und sagte mit leicht erhobenen Händen, als würde er den Allmächtigen persönlich preisen: „Willkommen in der Stadt Brehms! Es freut mich, Euch kennen zu lernen, Sullivan O’Neil.“, freundschaftlich deutete er auf den Stuhl vor dem Tisch und setzte sich selbst auf jenen dahinter. Die ganze Zeit sah er mir freundlich in die Augen. „Setzt Euch doch, Ihr müsst müde von der Reise hier her sein.“

Weder bedankte ich mich, noch begrüßte ich ihn. Es war lange her gewesen, dass ich mich mit katholischen Dingen befasst hatte, zudem fühlte ich mich als verfolgter Ketzer und angeklagter Mörder nicht sonderlich zur Kirche hingezogen. Die Tatsache, dass Nevar mich nun direkt vor einen Priester geschleppt hatte, verwirrte und beängstigte mich. Ich spürte einen starken Kloß im Hals und ließ mich unsicher vor schieben. Nevar drückte mich sanft auf den Stuhl, dann nahm er irgendwo im Hintergrund seine Position ein.

„Mein Name ist Antonius Domenico.“, stellte der Priester sich lächelnd vor und faltete die Hände auf dem Tisch ineinander. Ich sah an seiner runzligen Haut und den wie Knochen hervorstehenden Adern, wie alt er war und auch seinen goldenen, blitzenden Ring, den er am linken Mittelfinger trug. Ein goldener Siegelring mit roter Platte, umringt von Verzierungen und in der Mitte das goldene Kreuz – das unverkennbare Zeichen der Inquisition. Als ich von seiner Hand wieder hinauf in sein wesentlich jüngeres Gesicht und die tiefbraunen Augen sah, musste sämtliche Farbe aus meinem Gesicht gewichen sein.

Domenico lächelte ausgesprochen gütig. Er fuhrt fort, wie zu einem alten Freund: „Es freut mich ungemein, dass Ihr die Zeit findet, mich zu treffen, O’Neil. Ihr müsst wissen, ich habe viel von Euch gehört und wollte Euch persönlich kennen lernen.“

Unbeholfen richtete ich mich etwas auf und versuchte im Winkelblick herauszufinden wo Nevar sich befand. Aufgrund des Lichtes konnte ich weder ihn, noch die Tür sehen. Ich hatte mich nicht umgedreht, waren noch mehr Menschen im Raum? Gab es Wachen oder war Nevar die Wache? Zögernd blickte ich dem alten Mann entgegen und räusperte mich, bemüht, selbstbewusst zu wirken. Im Hinterkopf versuchte ich panisch einen Fluchtplan zusammenzustellen.

„Nun, ich hörte, Ihr möchtet mir ein Angebot machen.“

Domenico schwieg einige Sekunden, dann nickte er schließlich. „Das ist wahr. Und ich denke, es dürfte Euch interessieren.“

„Wenn ich ehrlich bin…“, sagte ich zögernd. „…möchte ich so schnell wie möglich gehen. Ich bin wirklich sehr erschöpft.“

Ich warf einen winzigen, kaum merkbaren Blick zum Fenster, doch natürlich bekam Domenico es mit, denn seine Augen ließen die meinen nicht eine Sekunde in Ruhe.

Freundlich nickte er abermals. „Keine Sorge, Ihr werdet noch genug Zeit haben, Ruhe zu finden.“

Etwas verzweifelt sah ich auf das Kreuz unmittelbar über ihm an der Wand, dann wieder zu ihm. Auch hier hing eine Jesus-Schnitzerei und diese schien um einiges realistischer zu sein, als die erste. Fast schon beängstigend.

„Ich habe es wirklich eilig.“, begann ich erneut.

„Wer es eilig hat, hat meist Angst vor seiner Vergangenheit.“, lächelte er. Ich starrte ihn an, als wäre er der Teufel und meinte, ein Grinsen zu sehen. „Habt Ihr Angst vor Eurer Vergangenheit, Sullivan O’Neil?“

„Sollte ich?“

„Ihr nennt Euch nun anders, habe ich gehört. Man könnte also meinen, ja.“

„Und was meint Ihr? Ist es angebracht?“

Domenico lächelte nur und griff nach einer schwarzen Flasche und einem silbernen Kelch. Während er sich die süß riechende, rote Flüssigkeit eingoss, fragte er: „Wein?“

„Nein danke.“, ich sah zu, wie er die Flasche zurück stellte und an dem Wein roch, ehe er einen winzigen Schluck davon nahm. Seelenruhig stellte der Priester den Kelch zurück und nahm die gleiche Position ein wie zuvor: Wieder faltete er die Hände ineinander, wieder lächelte er mir unentwegt in die Augen. Die wenigen Sekunden ohne seinen permanenten Blick waren erlösend gewesen, das erneute Starren nun umso quälender. Ich begann mich auf dem Tisch umzusehen und seine Augen zu ignorieren, selbst wenn dort nichts war als ein Tintenfass samt Feder und ein Stapel leerer Blätter. Daneben standen eine Kerze und ein goldenes Kreuz, wie der Ring verziert mit rötlichem Achat. Im Hinterkopf versuchte ich vergeblich mein Herz zu beruhigen. Er war von der Inquisition, vielleicht. Aber hätte er mein Leben beenden wollen, hätte er mich einfach festnehmen und hinrichten lassen können. Doch das hat dieser Mann nicht getan. Wieso?

Nach einigem Schweigen griff Domenico in das Schubfach, das rechts von ihm lag. Er zog es auf, griff blindlings hinein und holte zufällig, ohne hinzusehen, einen Stapel Papier heraus. Dann ließ er eben dieses vor mir fallen. Ich zögerte, ehe ich von ihm zu den Blättern sah. Verwirrt las ich die ersten Worte, dann sah ich wieder hoch und fragte unsinniger Weise: „Was ist das?“

„Eine Aufenthaltsgenehmigung.“, Domenico nippte erneut an seinem Getränk, anschließend sah er mich gelassen an. „Für einen gewissen Falcon O’Connor, hier, in Brehms.“

Ich warf einen erneuten Blick auf die Blätter, ehe ich mich traute, das erste zögernd in die Hand zu nehmen. Es handelte sich um ein Pergament aus dem Brehmser Rathaus, verfasst durch den dortigen Zuständigen, in dem stand, dass ich – beziehungsweise Falcon O’Connor - eine Aufenthaltsgenehmigung für genau ein Jahr hatte. Ich hatte während dieser Zeit das Recht mir Arbeit zu suchen und ein Zimmer anzumieten, gegebenenfalls sogar ein Haus zu kaufen. Sollte ich diese Dinge Ende meiner Frist nachweisen können und keine Straftaten begangen haben, wurde ich als Bürger Brehms’ anerkannt. Gültig wurde dieses Schreiben mit meiner Unterschrift und jener dessen, der für mich bürgte. Dies war in diesem Fall die katholische Kirche, beziehungsweise ihr Stellvertreter: Antonius Domenico.

Nachdem ich alles gelesen hatte, blätterte ich um und erkannte ein weiteres Schreiben. Hierbei handelte es sich nicht um eine Aufenthaltsgenehmigung, sondern um Geburtsurkunde und Nachweis des Geburtsortes von Falcon O’Connor.

Falcon O’Connor war ein Waisenkind aus Annonce, welches – wie viele andere – Unterricht in Lesen und Schreiben durch einen dortigen, sehr fürsorglichen Priester erhalten hatte. Er war geschätzte dreiundzwanzig Jahre und hatte weder Kenntnis über seine Eltern, noch über seinen Geburtsort. Da er sich bei dem Priester als sehr lernfähig herausgestellt hatte, schickte dieser ihn nach Brehms, um dort etwas aus seinem Leben zu machen. Auch dieses Blatt musste unterschrieben werden und zwar von dem Priester, Domenico und mir. Die Unterschrift des Priesters war bereits vorhanden, sein Name war: Pascal Johannes.

Ich betrachtete das Blatt lange und stellte mir vor, was es verändern würde. Mit diesem Schreiben könnte ich neu anfangen und existieren. Ich könnte einen neuen Namen tragen und ein neues Leben beginnen. Fast schon ehrfürchtig blätterte ich zum dritten und letzten Blatt.

Dies war ein Nachweis der Absolution. Mit der Unterschrift von Antonius Domenico wurden mir, Sullivan O’Neil, sämtliche Sündtaten vergeben und ich war weder ein Ketzer, noch ein Mörder, noch ein Verbrecher.

Ohne es zu wollen begann ich etwas zu zittern und sah Domenico entgegen. Er hatte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hielt den Kelch in beiden Händen. Aufmerksam hatte er mir beim Lesen zugesehen und nun schenkte er mir erneut sein gütiges Lächeln. Er erwartete eine Reaktion, aber ich war völlig verwirrt und wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einigem Zögern flüsterte ich heiser:

„Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was hier vor sich geht.“

„Das ist verständlich.“, der Geistliche nickte und betrachtete nachdenklich die rote Flüssigkeit in seinen Händen. „Jeder wäre an Eurer Stelle verwirrt, das ist wohl normal.“

„Ich bitte um eine Erklärung.“, flüsterte ich und sah erneut auf das Papier. „Ich bin ein Ketzer, ich habe die Hilfe der Kirche wohl kaum verdient.“

„Laut den Äußerungen von O’Hagan ist dem wohl so.“, gab Domenico zu und stellte den Kelch beiseite. Gedankenverloren schob er die Gegenstände auf seinem Schreibtisch peinlichst genau zurecht, während er erklärte: „Aber ich weiß, dass Ihr unschuldig seid. Und ich mache Euch das Angebot, dies offiziell zu machen.“, er ließ die Worte auf mich wirken. Nach einiger Zeit, als alles ungefähr genauso stand wie zuvor, sah er mich wieder an. „Ihr fragt Euch sicher, für welchen Preis?“, ein knappes Nicken war die einzige Antwort. Ich spürte meinen Puls in meinem Kehlkopf und starrte ihn an, als hätte er mich gebannt. Domenico schenkte mir einen beruhigenden Blick, der mich nur noch mehr beunruhigte. Mit einem Mal war seine Stimme ernst und bedrohlich und seine Augen blitzten kurz auf, als er flüsterte: „Ich möchte, dass Ihr Euch von Euren Sünden rein wascht.“

„Aber Ihr sagtet, ich sei unschuldig.“, entgegnete ich verwirrt.

Domenico beugte sich vor und legte seine knorrigen Finger auf die Tischplatte. Zischend antwortete er: „Kein Mensch ist das, Sullivan O’Neil! Und auch wenn Ihr vielleicht kein Mörder seid, so seid Ihr dennoch ein Sünder. Eure Augen sind die eines Sünders und solch einem werde ich niemals Absolution erteilen…!“, er lehnte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen, doch es funktionierte nicht und so stand er auf. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen begann Domenico in aller Ruhe hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu laufen. Ich sah ihm schweigend zu, sichtlich unbegeistert und misstrauisch bezüglich seines offensichtlichen Fanatismus’. Irgendwann blieb der Priester stehen und sah nachdenklich hinauf zum Kreuz. „Wie auch immer. Ich habe Euch herrufen lassen, da ich Euch folgendes Angebot zu machen habe:

Ich bürge für Euch, zahle Euch eine gewisse Geldsumme und ermögliche Euch so, ein Jahr lang hier in Brehms zu leben.“, dann sah er mich kühl an. Sämtliche Wärme war aus seinem Blick verschwunden. Er machte mir mit den Augen klar, dass er es ernst meinte und dass es der einzig richtige Weg war. Und wahrscheinlich auch meine einzige Auswahl. „Dafür dient Ihr ein Jahr lang der heiligen Mutter Kirche und wascht Euch rein von Euren Sünden. Ihr beweist mir Eure Reue und führt ein freies Leben, ohne Kontrolle und ohne Verfolger.“, ich schwieg und sah ihm nur entgegen. Domenico kümmerte es nicht annähernd, wie und ob ich überhaupt reagierte. Sein Blick wechselte wieder zum Kreuz, während er fort fuhr: „In diesem Jahr werdet Ihr hier in Brehms neu anfangen. Weder werdet Ihr beobachtet, noch werdet Ihr verfolgt. Dadurch, dass Ihr niemanden kennt und niemand Euch, ist dies eine einzigartige Gelegenheit, ein komplett neues Leben zu beginnen. Ihr werdet Euch unter die Menschen begeben und Ohren und Augen nach Ketzern offen halten, die sich Die Samariter nennen. Ihr sucht Euch eine rechtschaffene Arbeit, lernt ein Handwerk nach Eurem Geschmack und kauft Euch, wenn Ihr genug gespart habt, ein eigenes Haus.“, der Priester wandte sich ab und ließ sich zurück auf seinen Stuhl sinken. Die Kerze flackerte kurz, als er die Hände wieder ruhig faltete und mich anlächelte. Mit honiggleicher Stimme erklärte er mir: „Natürlich steht Ihr unter dem Schutz der heiligen Mutter Kirche und bekommt sämtliche Unterstützung, die Ihr braucht und die in meiner Macht liegt.“, damit endete er. Domenico ließ seine Worte in Ruhe auf mich wirken und wartete geduldig eine Antwort ab. Er leerte seinen Kelch, goss sich nach und fragte erneut mit einem Lächeln, das kleine Fältchen um seine Augen entstehen ließ: „Wein?“

In meinem Kopf drehte sich alles. Weder wusste ich, wer die Samariter waren, noch verstand ich, wieso er gerade mich dafür auserwählt hatte. Nevar war ein Lästerer. Er sprach schlechter über den Allmächtigen, als der Abtrünnige höchstpersönlich, also wieso brachte gerade er mich hier her? War er es nicht gewesen, der mir sagte, dass es nichts brachte, ein Leben auf der Religion aufzubauen? Gut, ich hatte immer wieder gesagt, dass es nicht anders gehen würde.

Aber wieso sollte gerade ich diese Samariter ausspionieren und inwiefern sagte Domenico die Wahrheit? Was sollte ich antworten? Ja, nein? Und hatte ich überhaupt eine Wahl?

Mir wurde schlecht. Wahrscheinlich war dies alles zu viel für meinen geschwächten Körper und meinen fast nüchternen Magen. Keiner kümmerte sich um meine Übelkeit und so blieb ich gebeugt auf dem Stuhl sitzen, starrte auf den hässlichen Teppich und versuchte mich zu beruhigen. Wenn Domenico die ersten beiden Pergamente unterschrieb, hatte ich die ersten Steine, um mir etwas aufzubauen. In einem Jahr gab es sicherlich viele Möglichkeiten. Mit einer Unterschrift von ihm war ich ein neuer Mensch: Falcon O’Connor. Sollte ich in dem Jahr seinen Anforderungen nicht gerecht werden, würde ich die Absolution nicht erhalten, aber was machte das schon? Ich hätte dann eine neue Identität, was interessierte mich mein altes Leben? Ich hatte nicht vor, nach Annonce zurückzukehren. Sullivan war gestorben und so würde es bleiben. Ich müsste nur ein Jahr lang tun, was man von mir verlangte und könnte dann ohne Straftaten leben.

Als mein Mageninhalt sich etwas beruhigt hatte setzte ich mich wieder aufrecht. Domenicos Blicke war fragend, jedoch dennoch geduldig. Nach einigem Zögern fragte ich bemüht ruhig:

„Und wenn ich ablehne?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ihr könnt gehen und Eure Glück so versuchen, ohne meine Hilfe. Ich werde Euch ziehen lassen. Es ist mir gleich, was Ihr tut und ob Ihr frei herum lauft. Ich weiß, dass Ihr kein Mörder seid, das ist das einzig Wichtige. Für die anderen Sünden wird Gott Euch strafen, das ist nicht meine Angelegenheit. Aber wisset…“, er machte eine kurze Pause und sein Blick wurde wieder sehr ernst. „Wenn Ihr hier her zurückkommt und mich um Gnade anfleht oder nach einer zweiten Chance fragt… Oder wenn Ihr es wagt meinen Namen laut auszusprechen. Dann werde ich wissen, wer Ihr in Wirklichkeit seid und entsprechend handeln. Zu vollster Zufriedenheit von O’Hagan, versteht sich.“

„Und wieso sollte ich das tun?“, wollte ich wissen und warf einen Blick so weit nach hinten, wie es ging, ohne mich zu verdrehen. Nevar war nirgendwo zu entdecken und draußen wurde es bereits dunkel. Das wenige Licht, das durch das Fenster hinein kam, war nun verschwunden und so waren die Ecken des Raumes fast schwarz. Geduldig sah ich Domenico wieder an. „Hier her kommen und um eine zweite Chance bitten?“

„Nun… Ihr habt keine Aufenthaltsgenehmigung. Ohne diese könnt Ihr Euch kein Zimmer leisten und dürft keine Arbeit beginnen. Und ohne Arbeit wiederum könnt Ihr Euch keine Genehmigung kaufen. Was übrig bliebe wäre das Bettelgewerbe, aber auch dafür ist eine Lizenz nötig. Ihr könntet Euch damit Brandmarkungen oder Peitschenhiebe einhandeln, wenn man Euch erwischt, zudem würdet Ihr aus der Stadt geworfen werden, Schnee hin oder her. Oder aber Ihr tretet einer Bettlergilde bei. Diese würden Euch sicher aufnehmen, wenn Ihr Euch Verstümmeln lasst, um bessere Einnahmen zu machen.“

Er nahm seinen Kelch und trank einen Schluck, angewidert sah ich zu. Bitter stellte ich fest:

„Also habe ich keine Wahl.“

„Oh doch.“, freundlich stellte er ihn zurück und sah mir abermals entgegen. „Ihr könntet auch in der Kathedrale um Asyl bitten oder anderes. Ich bin sicher, dass Ihr den einen oder anderen Weg finden würdet. Aber es ist völlig unnötig, denn ich spreche ehrlich und aufrichtig mit Euch. Ich unterschreibe die ersten zwei Papiere, unterzeichne mit dem Siegel der heiligen Inquisition und gebe Euch zehn Goldmünzen in Form von hundert Silberlingen. Davon könnt Ihr, wenn Ihr sparsam seid, eine Woche lang leben und in Ruhe eine Arbeit suchen. Was haltet Ihr davon?“

„Ich habe keine andere Wahl.“, stellte ich abermals etwas zerknirscht fest. „Auch wenn ich gern wüsste, wer die… Samariter sind.“

„Das erfahrt Ihr, wenn Ihr bereit seid, eingeweiht zu werden.“

Ich nickte und sah auf die Papiere. Sie waren so nah, unmittelbar vor mir und dennoch schienen sie weit weg zu sein. Schwer seufzend löste ich mich von ihrem Anblick, nickte und flüsterte heiser:

„Also gut. Ich nehme an.“

Der Tod ist meistens unwillkommen

Als wir das Gildenhaus verließen, herrschte bereits tiefste Dunkelheit. Kleine Lampen an Häusern und auf Säulen waren entzündet und beleuchteten die Straßen und Gebäude. Manche der Statuen hielten Laternen in der Hand oder Kerzen, schimmerten nun gelblich und wirkten nur umso realistischer. Ich bekam von diesem Zauber jedoch kaum etwas mit. In meinem Kopf schwirrten die verrücktesten Gedanken umher und auch, wenn ich keine negativen Aspekte bezüglich meines Handels fand, so hatte ich dennoch das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.

Nevar half mir eine geeignete Herberge für die Nacht zu finden, denn weder kannte ich mich aus, noch war ich aufmerksam genug, um die Preisklassen der Angebote zu vergleichen. Ich hatte viele Fragen an ihn, doch ich war zu sehr in meine eigenen Gedanken vertieft und so lief ich nur schweigend hinter ihm her. In meinen Händen hielt ich die Papiere, meine Geburtsurkunde und meine Aufenthaltsgenehmigung. Der Start war leicht gewesen, nun hatte ich ein völlig neues Leben in meinen Händen. Aber für welchen Preis? Für welches Risiko?

Wir steuerten eine Schenke genannt Zur Rum-Marie an. Ich hätte sie wahrscheinlich nicht gefunden, denn um sie zu erreichen, musste man in einen Bogen treten und einem sehr engen Gang folgen, eine Art Unterführung. Er führte durch eine verwinkelte, überdachte Gassen mit zwei weiteren Abzweigungen und je nachdem gelangte man entweder auf einen Platz oder zu einer hölzernen Tür. Für einen kurzen Moment wirkte es wieder wie Annonce, denn es roch stark nach Urin und an manchen Stellen herrschte vollends Schwärze. Der Weg hatte etwas Verbotenes und verruchtes und tatsächlich sprach uns unterwegs eine leicht betrunkene Prostituierte an. Da ich lange nichts mehr mit einem Weib zu tun hatte, reagierten meine Lenden ungewollt auf die starke Schminke, die roten Lippen und das enge, weinrote Mieder, obwohl das Gesamtbild alles andere als anziehend war. Wir schoben uns an ihr vorbei, wobei ich mich zwangsweise gegen ihren Busen drücken musste und mit roten Ohren um Verzeihung bitten. Nevar zeigte sich gelassener, aber er hatte wahrscheinlich auch nicht ein Jahr lang auf solcherlei Intimität verzichten müssen. Dann sah ich die Tür, um mich abzulenken. Sie war rechteckig und sehr klein, in ihrer Mitte war ein Krug angenagelt worden und zu ihr herauf führte eine niedrige Stufe. Nevar blieb unvermittelt davor stehen und drehte sich zu mir, dann nickte er und hielt mir seine Hand entgegen.

„Hier trennen sich unsere Wege.“

Ich schreckte etwas aus meinen Gedanken hoch und sah unsicher zum Krug, dann zu ihm. Ich hatte fast ein halbes Jahr mit ihm zu tun gehabt. Noch immer kannte ich ihn so wenig, wie am ersten Tag. Es widerstrebte mir, mich nun zu verabschieden. Ich griff seine Hand, drückte sie, hielt ihn fest und flüsterte:

„Ich werde wohl nicht erfahren, wohin Euch Euer Weg führt?“

Er lächelte etwas und erwiderte den Händedruck. Nevar verstand, dass ich ihn noch nicht gehen lassen wollte. Dennoch löste er sich und sagte leise: „Ihr tut, als wäre dies ein absoluter Abschied.“

„Es wirkt so auf mich.“, und schwer seufzend fügte ich hinzu: „Und was Euch angeht, weiß ich so wenig, wie eh und je, Nevar. Ich weiß generell nichts mehr. Ich bin völlig durcheinander. Ihr helft mir, er hilft mir und ich verstehe nicht wieso. Wieso gerade ich? Und wieso gerade hier in Brehms? Und was mich am meisten beschäftigt: Ihr meintet, dass ich nicht vorankäme, würde ich mich auf meine Religion stützen und nun das! Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Ihr wolltet das oder nicht? Ein neues Leben und ein leben voller Religion. Bei unseren Gesprächen wart Ihr stets der Überzeugung, dass ein Leben ohne Gott nicht möglich wäre.“

Ich meinte ein Schmunzeln zu erkennen, dann verschwand sein Gesicht vollends im Schatten. „Es gibt viele Dinge, die Ihr nicht wissen sollt. Und vieles, was selbst ich nicht weiß.“

Gerade wollte ich etwas erwidern, da ging die Tür zur Schenke auf. Ein stark betrunkener Mann taumelte heraus und erschrak etwas, als er uns in den schwarzen Umhängen sah. Gedämpfte Gespräche drangen zu uns und der Geruch von Kerzen, Alkohol und Schweiß ebenso. Einige Sekunden blieb er unschlüssig stehen, dann entschuldigte er sich lallend für die Störung, machte einen Schritt zurück und schloss die Tür wieder. Ein wenig übereilt vielleicht. Der Krug klapperte leise, als wäre eine kleine Perle darin und dann war wieder alles still.

Wir warteten einige Sekunden, doch scheinbar hatte er es sich wirklich anders überlegt und so fragte ich an mein Gegenüber gewandt:

„Werden wir uns wieder sehen, Nevar?“

Er wog den Kopf. „Ich bin nicht sicher. Meine Aufgabe war es, Euch hier her zu bringen. Was ich als nächstes tun werde, weiß ich nicht.“

„Also ist Domenico Euer-…“, doch noch ehe ich beenden konnte, zischte Nevar und hielt sich den Finger vor den Mund. Er machte das auf eine Art und Weise, die ich sehr mochte und die ich bei keinem anderen mehr sah: Nevar schloss nicht alle Finger, bis auf jenen zum Zeigen, sondern hielt die Hand leicht geöffnet und streckte auch den kleinen Finger aus.

Er sah sich kurz um, doch bis auf die Prostituierte in mehreren Metern Entfernung, die das Bein an die Wand gelehnt hatte und gelangweilt mit einer schwarzen Locke spielte, waren wir allein. Leise warnte er mich:

„Keiner darf wissen, was Ihr treibt, Falcon. Also nennt nicht seinen Namen. Auch hier in Brehms hat er Feinde, gerade hier.“, er hob den Kopf etwas an, so dass ich seine blauen Augen sah und ich erkannte, dass Nevar seine Worte sehr ernst meinte. Ihm lag etwas an meinem Wohlbefinden oder aber am guten Ausgang meiner Mission. Auf jeden Fall sprach er seine Worte nicht aus Langeweile: „Niemand sollte erfahren, was Ihr treibt oder wer Euch geholfen hat. Keiner, niemals. Merkt Euch meine Worte.“

Ich nickte zum Zeichen meines Verständnisses uns sah zu Boden. Nevar legte mir eine Hand auf die Schulter. Er wollte gehen, doch ich hielt ihn am Arm zurück und zischte: „Nevar, ich habe wichtige Fragen an Euch.“

Abermals löste er sich und abermals schmunzelte er mir entgegen. Auch wenn ich es mir damals nicht eingestand, so hatte ich zu diesem Zeitpunkt dennoch Angst. Angst vor dem, was mich erwarten würde. Ich hatte keine Ahnung was dort kam, aber er wusste es und ich erkannte, dass es ernst war. Zudem wirkte ich zwar selbstbewusst, aber ich war nicht allein gewesen. Nun sollte ich einen Neuanfang machen, ohne fremde Hilfe und das hatte ich bis jetzt nicht geschafft – warum sollte es mir diesmal gelingen?

Ich brauchte jemanden, der mir gut zusprach. Jemanden wie Black, Philipp oder wie Nevar. Ohne solche Menschen konnte man nichts erreichen - zumindest glaubte ich das damals noch.

Nevar jedoch wusste, dass es nicht so war. „Ihr könnt das, Falcon. Wir sehen uns wieder, wenn es so weit ist. Ab nun müsst Ihr alleine sein, sonst glaubt Euch niemand Eure Geschichten.“

„Aber ich möchte wissen, wer Ihr seid und was Eure Arbeit ist. Ich möchte wissen, was Euch mit dem Mann verbindet. Und ich möchte wissen, wieso ihr gerade mich-…“

„Es war Zufall.“, unterbrach er mich und legte mir ein Weiteres Mal die Hand auf die Schulter. „Auch wenn Ihr mir nicht glaubt, ich bin durch Zufall auf Euch gestoßen. Ihr ward für diese Sache lediglich wie geschaffen, das ist alles. Irgendwann werde ich Euch mehr erklären, aber nicht jetzt und nicht hier. Dafür wisst Ihr zu wenig.“

„Dann ändert mein Unwissen!“

„Auf bald, Falcon.“, leicht drückte er meine Schulter ein letztes Mal, nickte mir zu und drehte ab. Ich sah zu, wie er durch den Tunnel ging, sich an der Frau vorbei schob und sie eiskalt ignorierte, während diese versuchte ihn für sich zu begeistern. Anschließend sah sie mich an. Sie hatte etwas von einem Raubtier, das Beute gesichtet hatte. Fast wie verängstigt drehte ich mich um und öffnete die Tür zum Wirtshaus.

Ich schaffte das. Irgendwie. Auch ohne ihn.

Die Schenke war sehr klein, denn man baute hier die Einnahmen vorwiegend auf die zu vermietenden Zimmer auf, das sah man gleich beim Eintreten. Links war direkt der Tresen mit geschlossener Tür dahinter – wahrscheinlich zur Küche – und wenigen Hockern davor. Rechts war die Treppe ins obere Stockwerk und geradezu führte eine Öffnung zu einem kleinen Nebenraum. In diesem standen lediglich zwei Tische mit Stühlen, für die wenigen, die sich zum Trinken hier her verirrten. An den Wänden waren Kerzen, so hoch, dass sie fast jede Ecke erleuchteten und die Fenster waren behangen mit Pflanzen und Blumen. An einer Deckenecke hang absurder Weise ein Wagenrad und an einer Wand ein Fischernetz in dem man einen Seestern und eine tote Krabbe befestigt hatte, so wie eine alte Flasche und jede Menge Muscheln. Diese Dekoration hätte zu einem Wirtshaus in der Nähe eines Hafens gepasst, aber in einer Schenke der Stadt Brehms, ohne Anschluss zum Meer, ergab das alles wenig Sinn. Ich sah, dass das Licht im Nebenraum etwas flimmerte, also stand dort scheinbar ein Kamin und die Fenster waren so geputzt, dass ich die geschlossenen Fensterläden dahinter sehen konnte.

Ein Mann hatte während der Fahrt mit Wilkinson zu mir gesagt, man würde am Aussehen einer Schenke erkennen, ob der Wirt ein Mann oder eine Frau war. Nun verstand ich diesen Satz.

Es gab nicht viele Menschen im Haus. Eigentlich nur drei männliche Gäste, die am Tresen saßen und ein Mädchen um die zwölf Jahre, scheinbar eine Aushilfe. Dieses saß auf einem Hocker in der hintersten Ecke und war damit beschäftigt, angebrannte Reste aus einem Topf zu kratzen. Zudem gab es eine große, schlanke Frau, mit langem, braunem Haar und roten Wangen. Sie hatte ein freundliches Gesicht und grinste eigentlich fast immer: Die Wirtin.

Das seltsamste war jedoch, dass alle Personen mich anstarrten, als wäre ich der Teufel in Person. Unsicher blieb ich stehen und starrte zurück, während die Tür hinter mir ins Schloss fiel und der Krug leise nachklang. Scheinbar sollte er so etwas wie eine Türglocke darstellen, die zwar sehr kreativ war, aber nur manchmal funktionierte.

Als ich dann meine Kapuze vom Gesicht zog, begann die Wirtin lauthals zu lachen.

„Das ist der Tod, vor dem du dich so erschreckt hast, Johnny?! Dieser junge Bursche?!“, sie klopfte sich auf die Schenkel und konnte sich kaum halten. „Da hast du aber einen feinen Tod, hoffentlich wird meiner auch so jung sein! So macht das Sterben doch Spaß!“

Diese Worte an Johnny galten dem Betrunkenen Mann, der zuvor hatte hinausgehen wollen. Er saß nun am Tresen und sah beschämt zu seinen Füßen, mit roten Ohren und zausen, blonden Haaren. Auch die anderen zwei Männer rechts und links von ihm, beide größer als der in der Mitte, begannen zu lachen, klopften ihm auf die Schulter und gossen ihm Bier nach.

„Mach dir nichts draus.“, sagte der vom Tresen aus links sitzende von ihnen. Er hatte eine dicke, rote Knollnase und eine schiefe, braune Wollmütze auf dem Kopf. „Jeder sieht mal seinen Tod und irrt sich dann doch. Freu dich lieber, du lebst noch!“

Doch Johnny schien gar nicht, als würde er sich freuen. Viel mehr wurde er auf seinem Stuhl immer kleiner und bekam kein einziges Wort heraus.

Langsam verstand ich, dass man mich meinte, aber ich kam nicht dazu etwas zu sagen. Die Wirtin schlenderte bereits zu mir und legte grinsend ihren schlanken Arm um mich. Mit einer Kraft, die ich ihr - bei Gott! - niemals zugetraut hätte, zog sie mich mit sich und rief:

„Amy, hol dem Mann einen Krug und etwas Suppe mit ordentlich Speck, der Kerl braucht was auf die Knochen, sonst erschreckt er unsere Männer noch zu Tode!“

Das braunhaarige Mädchen nickte, antwortete: „Ist gut, mach ich.“ Und schon war sie durch die Tür hinter dem Tresen verschwunden.

Man führte mich an diesen heran und stellte mich dort ab, wie einen Korb mit Obst. Ich hatte scheinbar keine andere Wahl und setzte mich etwas unbeholfen an die Tresenecke zwischen Wirtin und Gäste. Den Stoffsack platzierte ich neben mir auf den Boden. Neugierige Blicke der Männer und ein grinsendes Gesicht der Wirtin wurden mir entgegen gebracht. So viel Gastfreundschaft war ich nicht gewohnt, weder von Philipp, noch von anderen Schenken und ich gebe zu, dass mich diese Freundlichkeit nicht nur verunsicherte, sondern auch misstrauisch machte. Ich beschloss, diese Gefühle zu unterdrücken, denn bei einer einfachen Wirtin und ihren Gästen war das mehr als nur unangebracht. Unsicher sagte ich zu jenem, den ich für Johnny hielt:

„Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe. Das war wirklich nicht meine Absicht.“

Doch meine Worte verfehlten ihre gedachte Wirkung, denn das brachte die Kerle erneut zum lachen und einer von ihnen grölte: „Hast du gehört, Johnny? Der Tod hätte dich zwar fast zu Tode erschreckt, aber es wäre keine Absicht gewesen, das ist doch was!“

„Hör auf ihn zu ärgern, Morgan.“, grinste die Wirtin ihn spielerisch drohend an. „Sonst zerläuft er noch wie Wachs.“

„Ach was, das hält er aus.“, grinste Morgan zurück und klopfte dem armen Johnny so stark auf den viel schmaleren Rücken, dass dieser sich an seinem Bier verschluckte. „Im rot werden hat der Kerl schon Erfahrung, was, Johnny? Erzähl doch mal die Geschichte mit dem Mädchen und den Kürbissen!“

Johnnys Gesicht lief noch stärker rot an und auch ich konnte mir mein Grinsen nicht mehr verkneifen, denn er war durchaus ein lustiger Anblick. Während das Mädchen mir meine ungewollte Bestellung brachte und die Wirtin die Erheiterung zum Nachfüllen nutzte, Morgan erneut ermahnend, betrachtete ich die drei Männer etwas genauer.

In der Mitte saß Johnny, ein schlanker, fast schon knochiger Kerl mit hellen Locken und hoher Stirn. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine typische Engelstatue, es fehlte nur die Trompete oder eine Harfe, was ihn wohl zu einer Art Zielobjekt für Neckereien machte.

Links von ihm saß jener mit roter Knollnase und Wollmütze und rechts saß Morgan, ein großer Kerl mit Vollbart. Sein Haar war rötlich und seine Haut dunkel, so dass er einem Ächaten ähnelte, aber nur leicht. Alle drei trugen einfache, ärmliche Kleidung, wahrscheinlich waren sie Landarbeiter oder Handwerker.

Amy hatte mir einen Holzteller mit dampfender Suppe hingestellt und dabei schenkte sie mir ein freundliches Lächeln. Mir fielen ihre Augen auf, die so grün waren, dass sie fast wie unecht wirkten und ihre vielen, kleinen Sommersprossen. Leise bedankte ich mich, anrühren tat ich jedoch nichts.

Nachdem sich alle darauf geeinigt hatten, dass Johnny wohl für den heutigen Abend kein Wort mehr heraus bekommen würde, galten alle Blicke wieder mir. Es war offensichtlich, dass man wartete, dass ich mich vorstellte, doch ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Die Geschehnisse des Vorabends lagen mir noch immer im Nacken und eigentlich wollte ich nur so schnell wie möglich schlafen gehen. Ich sah zu, wie Amy sich wieder an ihren Topf machte und mir ab und an neugierige Blicke zuwarf. Scheinbar kamen nicht oft Fremde hier her, vielleicht standen sich deswegen alle so nahe oder es war einfach eine Charaktereigenschaft der Brehmser.

Die Wirtin war die erste, die das Wort erneut an mich wandte. Dabei lehnte sie sich lässig und fast ein wenig männlich an den Tresen und fragte offen heraus „Ihr seid nicht von hier, das sieht man. Woher kommt Ihr? Was führt Euch nach Brehms? Wie ein Händler seht Ihr nicht aus.“

Ich lächelte etwas verlegen und rührte mit dem Löffel sinnlos in der Suppe herum. So viel Aufmerksamkeit war mir etwas unangenehm.

Zögernd erklärte ich: „Ich komme aus Annonce und möchte den Winter hier verbringen.“, dann legte ich den Löffel zurück und sah wieder auf. Ich spürte, dass mein Magen sich etwas zusammenzog vor Hunger, doch ich wusste ja nicht einmal den Preis dieser Suppe. Auf keinen Fall wollte ich mich verschulden, wie zuvor bei Philipp. Viel lieber ging ich nach oben und aß mein eigenes Brot.

„So, so, Annonce.“, knurrte Morgan leise zu den anderen und die Stimmung schien mit einem Mal zu sinken.

„Na dann.“, brummte die Wirtin und begann einen Krug mit Bier zu füllen. Fast schon unfreundlich erklärte sie, ohne mich anzusehen: „Weil es die erste Kost ist, ist sie kostenlos, wenn Ihr ein Zimmer anmietet. Macht fünf Silberlinge pro Nacht, Laken und Geschirr kosten extra, macht dann fünf fünfzig. Wenn der Herr mir also bitte folgen würde?“, und damit griff sie den Teller, den Krug Bier und schlenderte in den Raum nebenan. Unsicher griff ich meine Habseligkeiten und folgte ihr. Weder die Männer sahen mich an, noch Amy, als wären sie alle plötzlich ganz andere Menschen. Es verwirrte mich sichtlich.

Die Wirtin stellte beides auf einen der runden Tische und noch ehe ich überhaupt dort ankam, kam sie mir bereits wieder entgegen. An ihrem Gesicht konnte ich erkennen, dass sie mich nicht mochte. Warum das so war, verstand ich jedoch nicht. Und so setzte ich mich etwas irritiert auf einen der Stühle und sah immer wieder zur Tür. Hier war es weitaus wärmer aufgrund des ziemlich schlicht gehaltenen Kamins und der fensterlosen Wände. Doch hier gab es keine Verzierungen und der Boden war an manchen Ecken dreckig und voller Staub.

Dies ist das Zimmer für die Leute, die nicht willkommen sind…, dachte ich etwas scherzend und begann zu essen. Die Gespräche im Nebenraum wurden so leise und gedämpft, dass ich kein einziges Wort mehr verstand, fast, als würden sie flüstern.

Mir kam diese Ruhe gelegen, denn ich hatte noch immer viele Gedanken, die ich noch nicht hatte ordnen können. Während ich begann zu essen und versuchte, das scheinbare Getuschel über mich, zu ignorieren, wandte ich mich meinen eigenen Dingen zu. Mich beschäftigten der Abschied von Nevar und die vielen Rätsel die ihn noch immer umgaben, aber vor allem die Samariter. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich suchen sollte und wie Kontakt zu ihnen aufnehmen. Ein ungutes Gefühl sagte mir, dass das nicht nötig wäre.

Nachdem ich fertig gegessen hatte kam die Wirtin herein - fast, als hätte sie es gespürt, dass mein Teller leer war – und griff sich ohne zu Zögern das Geschirr. Wahrscheinlich hätte sie es auch getan, wäre ich nicht fertig gewesen. Dabei brummte sie: „Der Schankbereich ist jetzt geschlossen.“, und machte mir mit ihrem düsteren Blick unvermittelt klar, dass es daran nichts mehr zu rütteln gab. Ich folgte ihr die Treppe hinauf ins obere Stockwerk und von dort aus durch einen um die Ecke führenden Flur zu einem der Zimmer. Ohne mich anzusehen schloss sie die Tür auf, deutete mir hinein zu gehen und drückte mir einen Stapel Laken samt Nachttopf gegen die Brust.

„Gute Nacht, der Herr.“, knurrte sie dabei.

„Angenehme Nachtruhe.“, antwortete ich zögernd, doch schon war die Tür wieder zu.

Ich stand einige Sekunden voll beladen wie ein Esel mitten im Raum, ehe ich mich zu einem wackligen Bettgestell drehte und alles achtlos darauf fallen ließ. Dann schloss ich ab und sah mich um. Das Zimmer war klein und quadratisch, ich empfand allein die Form schon als ungemütlich und das kleine Fenster mit Blick auf die direkt nur fünf Meter entfernt liegende Häuserwand machte es nicht besser. Wäre ich nicht aus Annonce, hätte ich dann mehr Luxus bekommen? Schwer seufzend schloss ich die Läden, setzte mich auf die Matratze und betrachtete die Kerze auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett. Sie war bereits angezündet gewesen, sicherlich hatte Amy das Zimmer für mich vorbereitet.

Ich versuchte alles positiv zu sehen. Wenn Leute mich nicht mochten, dann stellten sie auch keine Fragen, redete ich mir ein. Doch die Tatsache, dass es dann auch schwerer war, eine Arbeit zu finden, wirkte eher negativ.

Müde ließ ich mich rücklings fallen, starrte die niedrige Decke an und versank in meinen Gedanken. Ich dachte über Nevar nach, meine Pläne, über Domenico, die Samariter, darüber was ich tun sollte und darüber, was vielleicht falsch gewesen war.

Ich dachte und dachte, bis ich letzten Endes einschlief, ohne die teuren Laken benutzt zu haben.

Stattdessen brummte mir der Schädel.

Schlechte Chancen bei Meister Pepe

Als ich am Morgen erwachte, war der untere Teil meiner Beine taub. Schmerzerfüllt setzte ich mich auf und spürte, dass die Bettkante mir die ganze Zeit über in die Waden gedrückt hatte und so die Blutzufuhr stark reduziert. Ich zwang mich aufzustehen, wobei ich immer wieder einsackte und trotz Kribbeln umher zu laufen. Erst spürte ich meine Beine gar nicht, dann begannen sie zu kribbeln und zu kratzen, als wären Ameisen darin und letzten Endes taten sie nur noch weh. Ich verfluchte mich für meine Faulheit, die Laken nicht ausgebreitet und mich richtig hingelegt zu haben. Stattdessen hatte ich die ganze Nacht über meine Sachen getragen und spürte nun verschwitzte Haare in meinen Nacken.

Nachdem ich wieder einigermaßen Herr meines Körpers war, öffnete ich die Fensterläden und schloss geblendet die Augen. Zwar gab es noch immer keine Sonne, da der Himmel wie seit Tagen eine Mischung aus weiß und grau war, aber der Schnee strahlte hell auf dem gegenüber liegenden Dach und dem unbenutzten Hof dazwischen. Ich öffnete die Fenster, eisige Kälte kam mir entgegen und sah hinab. Ein kleines Quadrat gepflasterter Boden war zwischen den vier Häusern, aber nirgendwo gab es einen Zugang dorthin. Man könnte höchstens durch die Fenster im Erdgeschoss hinaus klettern, um ihn zu betreten. Machte das wirklich Sinn?

Ich gewöhnte mich schnell an meine neue Umgebung und bereits nach wenigen Minuten wusste ich, wo was stand. Leider gab es keinen Schrank, weswegen ich mein Gepäck unter das Bett schob und dann begann ich meiner neuen Routine bei fremden Zimmern zu folgen. Ich zog meinen Umhang aus, hing ihn über den etwas höheren Bettpfosten mit einer Kugel am Ende und hockte mich auf den Boden. Ich spürte den Windzug und mein Körper kühlte sich wieder ab, während ich begann, die Dielen abzusuchen. Die meisten waren mit zwei Nägeln je Ende befestigt, aber in einigen fehlten diese oder sie waren so locker, dass ich sie mit meinem Messer hinaus ziehen konnte. Am geeignetsten erschien mir jene Diele unter dem Nachttisch. Sie war direkt an der Wand und nur wenige Zentimeter kurz, so dass man sie problemlos anheben konnte, wenn man die Nägel löste. Nachdem ich das Holz neben mir gelegt hatte, tastete ich den Boden darunter ab. Es handelte sich um ein weißes Gestein, eine recht billige Mischung, die man mit etwas Kraft sicher heraus arbeiten könnte. Ich lauschte mit dem Ohr auf den Raum darunter, doch es war nichts zu hören. Mit großer Wahrscheinlichkeit befand sich direkt unter mit die Schenke. Kurz ging ich zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie einen winzigen Spalt. Ich hörte Stimmen, jemand war in der Nähe des Tresens, aber durch den Fußboden waren sie nicht zu hören. Das reichte mir und so schloss ich wieder ab. Wie tief der Boden war, konnte ich nicht genau einschätzen, aber sicherlich tief genug, um eine kleine Stelle auszuheben und die Papiere so wie etwas Geld darin zu verstauen. Ich machte mich daran, mit dem Griff meines Messers das Gestein zu zerschlagen und in wenigen Stücken neben mir zu einem Haufen zu kehren. Es war eine mühselige Arbeit, denn ich wollte nicht zu laut sein und so saß ich gut eine halbe Stunde lang zusammengekauert unter dem Tisch und klopfte ohne Pause. Als ich mit meiner Arbeit fertig war musterte ich zufrieden eine winzige Kuhle, so groß, dass eine Faust hinein passte. Ich griff nach meinem Geldbeutel, legte meine Papiere und dreißig der hundert Silberlinge hinein und streute etwas von dem Steinstücken wieder darüber. Dann befestigte ich sorgfältig wieder das Holz, steckte die Nägel in ihre Löcher zurück und klopfte sie mit dem Messergriff wieder etwas fest.

Keiner würde dieses Versteck so einfach finden, zumindest hoffte ich das.

Den restlichen Sand ließ ich mit einem kurzen Wurf aus meinem Fenster rieseln und ich sah zu, wie er hinunter flog in den Schnee. Er war so leicht, dass er einfach auf den angestauten Massen liegen blieb und so hell, dass man ihn nicht einmal erkannte. Bei dem kleinsten Schnee, der Brehms heute auf jeden Fall noch zuteil werden würde, wäre der Dreck verschwunden.

Zufrieden schloss ich die Fenster wieder und sah mich eingehend um, als hätte ich irgendetwas übersehen. Ich begann die Wände leise abzuklopfen, um Hohlräume zu finden und in der Hoffnung, vielleicht die ehemalige Öffnung eines Kamins zu finden. Die Wände waren schlicht und einfach, doch an manchen Stellen gab es neue Verkleisterungen, um Löcher und Risse zu stopfen. Aufgrund der Form des Raumes und der niedrigen Decke ging ich davon aus, dass dies vor längerer Zeit einmal eine Art Abstellkammer gewesen war. Vielleicht hatte man damals Regale in die Wände geschlagen und Teile der Wände ausgehöhlt und diese Stellen nun einfach mit Brettern wieder geschlossen. Die Hohlräume gab es also noch, man musste sie nur finden.

Zu meiner Enttäuschung gab es leider nichts dergleichen. Weder eine hohl klingende Stelle, noch ein Zugang von der Decke aus zum Dachboden und auch keine ehemalige Falltür ins untere Geschoss. Es half alles nichts, für mein restliches Geld musste ich mir ein Versteck außerhalb suchen.

Danach breitete ich meine Dinge auf dem Bett aus, um zu entscheiden, was ich mitnehmen sollte und was nicht. Dafür nahm ich auch sämtliche Dinge, die ich in meinen Kleidern versteckt hatte, um sie nun neu zu ordnen. Hier in Brehms war zwar alles offenherziger und freundlicher, dennoch war ich Wachen aus Annonce gewöhnt, die jemanden jederzeit zur Seite greifen und peinlichst genau kontrollieren konnten. Wenn man dann mit einem Dutzend Messern und Dietrichen vor diesen stand, half sicher die Erklärung, dass man aus Annonce kommen würde. Zumindest würden die Wachen sich dann nicht mehr über die Ausrüstung wundern, so viel war klar. Nur dass es die Situation zu verbessern, in welcher man dann war, das bezweifelte ich stark.

Vor mir auf dem Bett lagen nun nicht viele Dinge, aber zumindest hatte ich mir die Mühe gemacht, sie sehr hübsch anzuordnen und zu sortieren. Ich glaube, ich gab mir nur solche Mühe, da ich mich davor drücken wollte, durch Brehms zu laufen und nach Arbeit zu fragen. Vor mir lagen nun:

Ein kleiner Haufen Wäsche bestehend aus einer zweiten Hose, einem zweiten Hemd und einem schwarzen Schal – alles selbst gemacht und dementsprechend eher beschämend anzusehen. Dann noch ein kleiner, schwarzer Geldbeutel, ebenfalls eigene Handwerkskunst, gefüllt mit dreißig Silberlingen, einigen Hellern und Linsen, um es weniger klingen zu lassen, als es war. Der Beutel sah recht schief aus, da ich statt einen kreisförmiges Stück Stoff ein ovales genommen hatte und die Enden dann einfach mit einer Schnur zusammen gezurrt. Ein paar kleine Spitzen über dem Verschluss ragten nun in die Höhe und die Schnur war mit Holzperlen verziert, die ich auf Nevars Boden gefunden hatte. Der Geldbeutel wirkte wie der Spielsack eines Kindes, es fehlten nur noch die Murmeln darin und ein par schöne Stickmuster. Am Grund war eine runde Holzplatte, die ich mühsam festgenäht hatte und darunter gab es einen halbleeren Beutel mit Metallstückchen und kleinen Kieseln. Sollte jemand auf die Idee kommen, den Geldbeutel aufzuschneiden, würde kein Geld hinaus fallen, sondern nur Müll und Steine.

Daneben lagen zwei Messer, ganz und gar silberfarben, mit breiten Griffen, wie winzige Schwerter. In den Klingen hatten sie je ein kreisförmigen Loch, auch wenn ich nicht wusste, wofür eigentlich. Neben diesen lagen drei Dolche, alle gleich lang, spitz zulaufend und mit schwarzen Griffen. Sie wirkten sehr edel und waren mein ganzer Stolz. Ich hatte sie von Nevar bekommen und sie waren so scharf, dass ich es peinlichst mied, nicht an ihre Klingen zu kommen. Ich hatte für ihre Klingen kleine Ledertaschen angefertigt, damit ich sie tragen konnte, ohne mich zu schneiden.

Zwischen den beiden befand sich das rostige Messer, das ich im Tollhaus gestohlen hatte. Es handelte sich nur um ein normales Küchenmesser mit kaputtem Holzgriff und die Klinge war bereits braun gepunktet und an manchen Teilen angebrochen. Ich hatte es nicht los gelassen, hatte Nevar mir erzählt, trotz Ohnmacht und nun hatte ich es behalten, als Andenken an diesen chaotischen Tag und mein negatives Erlebnis mit Mary-Ann.

Daneben lagen Stücke gebogenes Metall, die wahrscheinlich einzigen Werkzeuge, mit welchem ich wirklich umgehen konnte: Meine Dietriche. Fünf Stück in verschiedenen Größen. Ich hatte ihre Enden zu Schlaufen gebogen und sie mit einem Ring zusammen gefädelt, so dass sie aussahen wie ein Schlüsselbund.

Außerdem lagen auf dem Bett mein hartes Stück Brot, eine kleine, schwarze Bibel – die ich aber noch kein einziges Mal aufgeschlagen hatte und die eher als Zeichen meiner Unschuld und meiner Gläubigkeit für uneingeladene Gäste galt – und ein Rosenkranz. Diesen hatte ich um die Bibel gewickelt, ein recht schöner Anblick. Der Rosenkranz war aus schwarzen Holzperlen und auch das Kreuz selbst war ein Werk aus Holz mit einem aus Metall befestigten Jesu. Man konnte ihn nicht wirklich erkennen und er besaß kaum Details, aber ich sollte schließlich aus ärmlichen Verhältnissen stammen und dafür erschien mir dieser angebracht. Ansonsten besaß ich nur noch meinen Umhang, der recht schmucklos am Pfosten hing. Da mir für einen so edel aussehenden Verschluss, wie Nevar ihn hatte, Geld und Mittel fehlten, hatte ich für meinen lediglich zwei Schnüre benutzt.

Mein letzter Besitz war etwas sehr Besonderes und vielleicht auch etwas Kindisches. Ich hatte die Erbse, die ich in der Vorratskammer des Tollhauses aus einem Schreck heraus in die Hosentasche gesteckt hatte, ebenfalls aufgehoben. Nun trug ich sie stets bei mir und manchmal, wenn ich nachdachte, ertappte ich mich selbst dabei, wie ich an meine Hosentasche fasste und nachsah, ob ich sie noch immer besaß.

Nach einigem Hin und Her beschloss ich, ein par der Geldmünzen in meine Stiefel zu tun, genauso wie zwei der Dolche, pro Stiefel einen Dolch. Man konnte sie von Außen nicht sehen, aber sie waren stets griffbereit für eventuelle Verteidigungen. Die Lederhüllen befestigte ich mit einer kleiner Schnur im Innern, so dass ich diese nicht mit hinaus zog, sondern nur die Klinge.

Eines der Messer befestigte ich an meinem Gürtel, das andere zusammen mit dem dritten Dolch ließ ich zurück. Ich band die Waffen in meinem Schal zusammen, den ich nur für eventuelle Vermummungen besaß und verstaute alles wieder im Sack, zusammen mit der anderen Wäsche. Den Geldbeutel band ich mir ebenfalls an den Gürtel, direkt über dem linken Oberschenkel. Zwar spürte ich ihn nun nervend bei jedem Schritt, aber so konnte niemand ihn mir ungewollt entwenden. Ich befestigte ihn mit mehrfachen Knoten, denn auch in Brehms gab es ohne Frage Taschendiebe. Reisende und Fremde wie ich waren meist die beliebteste Beute und ich wollte auf keinen Fall meinen Neuanfang aufgeben müssen, weil ich von einem kleinen Kind bestohlen worden war.

Die heilige Schrift und den Rosenkranz tat ich ins Schubfach des Nachttisches, die Dietriche band ich unter meinem Hemd fest. Ich würde sie irgendwo verstecken müssen, aber nicht hier. Papiere in ein Geheimversteck zu legen war eine Sache und bewirkte nur wenig Misstrauen, aber ein Haufen Einbruchswerkzeug daneben könnte für ungewollte Missverständnisse sorgen – die im schlimmsten Fall vielleicht gar keine Missverständnisse waren.

Nur einen, meinen Favoriten, steckte ich in meinen Stiefel. Dafür hatte ich extra ein Loch in den hinteren Teil geschnitten, so dass ich ihn in die Sohle stecken konnte.

Nachdem alles von meinem Bett verschwunden war, breitete ich die Laken in aller Ruhe aus und rollte mich anschließend ein paar Mal hin und her. Ich hinterließ Falten, meinen Geruch, ein paar Haare und vielleicht sogar Schuppen. Eventuell übertrieb ich, aber die Angst vor Fehlern war größer, als meine Sicherheit, dass niemand mir etwas Böses wollte.

Ich benutzte vorsätzlich den Nachttopf, stellte ihn unter das Bett und nickte dann zufrieden.

Nun war ich bereit mein Glück in Brehms zu versuchen.

Ich ging wie jeder andere Mieter auch als erstes zum Tresen um Bescheid zu geben, dass ich nicht mehr da war. Die Wirtin brummte nur und erinnerte mich daran, dass ich noch zahlen musste, dieser Bitte ging ich sofort nach. Einige Gäste hatten sich eingefunden, aber keiner nahm Notiz von mir und die meisten schienen Personen aus dem Haus zu sein.

Und so verließ ich das Gebäude, ohne dass es jemanden wirklich interessiert hätte.

Die Verlockung war groß, als erstes durch die Stadt zu laufen und mir die verschiedenen Gebäude und Figuren anzusehen, vielleicht sogar über die eine oder andere etwas herauszufinden, doch die Arbeit ging vor. Sollte ich keine finden, war ich bereits nach einer Woche auf die Gilde angewiesen und sicherlich würde ich Brehms dann vorerst gar nicht mehr genießen können.

Ich wusste nicht, wo ich mit meiner Suche anfangen sollte. Bis auf Schenken und Gasthäuser hatte ich noch keine Läden gefunden und dort wollte ich als letztes anfragen. Kellnern, kochen oder schälen konnte ich überall, aber ich wollte etwas Ernsthaftes machen. Ich wollte ein Handwerk lernen, von dem ich noch Jahre leben konnte, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Schmied, Bäcker, Schreiner oder Schuster.

Ich weiß nicht, durch wie viele Gassen ich lief, bis ich die Handwerksstraße gefunden hatte, aber als diese sich dann endlich vor mir aufbaute, war ich müde, durchfroren und kaputt. Meine Beine schmerzten und mehrmals war ich beinahe gestürzt. Nirgendwo konnte ich mich hinsetzen und etwas ausruhen, denn alles war zugeschneit und kalt. Das einzig Gute war, dass durch den vielen Schnee kaum einer aus dem Haus ging. Niemand wollte unnötig viel laufen, alle hielten sich an die Marktplätze und die Gassen waren fast totenstill. Ich hatte Zeit, mir die vielen Gebäude anzusehen und die Verzierungen und Zeichnungen an manchen der Wände. So fand ich nicht nur weitere Gasthäuser, sondern auch jede Menge andere Geschäfte.

In vielen fragte ich um Arbeit und ebenso viele scheuchten mich hinaus. Ich fragte bei Schustern, Schneidern, Bäckereien, Schmieden, Glockengießereien, Metzgern und anderem. Niemand hatte Interesse an einer Arbeitskraft ohne Vorkenntnisse und einer Herkunft wie Annonce. Es war zum Verzweifeln und ich musste irgendwann ein paar meiner Münzen für etwas zu Essen ausgeben, so erschöpft war ich. Erst zum Nachmittag hin lichtete sich für mich etwas der Himmel, denn ich entdeckte eine kleine Schreibstube. Sie war schon sehr alt, der Putz an den Wänden blätterte hinunter und die Aufschrift auf dem Aushängeschild in Form eines Buches konnte man kaum noch lesen:

Pepes Skriptorium

Ich hatte sie durch Zufall entdeckt, während ich etwas zerknirscht den Heimweg hatte antreten wollen. Hätte ich mich nicht verlaufen, hätte ich sie wahrscheinlich nicht gesehen. Die riesige Fensterscheibe war beschlagen und die Treppe hinein vereist, dennoch beschloss ich, dort als nächstes anzufragen. Schon im Kloster hatte mir das Lesen in Büchern Spaß gemacht, also wieso nicht auch hier, außerhalb der Mauern?

Als ich die Tür aufschob, klingelte laut die Türglocke direkt über mir und der Geruch von altem Papier, Tinte und Staub kam mir entgegen. Es war äußerst warm im Innern und ich beschloss zu bleiben, auch wenn man mich weg schickte. Alles erinnerte mich an die Bibliothek des Klosters: Die überfüllten, die Bücherstapel in den Ecken, die Kisten voller Papiere und die aufgereihten Tintenfässer in allen Farben, zudem Schreibfedern der verschiedensten Größen. Direkt neben dem Eingang stand ein hoher Tisch, sicherlich für den Ladenbesitzer eine Art Tresenersatz und geradezu führte eine Türöffnung in einen weiteren Raum. Das Zimmer war so klein, dass es völlig übersichtlich war. Es gab eine Leiter, die man an den Regalen entlang schieben konnte, die bis zur Decke gingen und sogar über dem Türrahmen führten noch zwei Etagen lang mit Büchern in allen erdenklichen Farben.

Zögernd rief ich: „Hallo?“, doch da mir keiner antwortete, klopfte ich meine Schuhe auf den Stufen vom Schnee ab und schloss die Tür. Es war absolut Still, doch beim genaueren Lauschen hörte ich leises Gemurmel eines alten Mannes. Wenn der Ladenbesitzer nicht zu mir kam, dann ging ich eben zu ihm.

Ich trat in den nächsten Raum und sah mich um.

Dieses Zimmer stellte die Schreibstube dar, denn es gab drei kleine Pulte mit Hockern auf denen leere Papiere lagen, Tinte stand und eine Feder. Daneben war ein Glas mit Sand, zum Trocknen der Farbe und ein Eimer, in den man den Dreck dann schütten konnte. Auch hier waren Regale über Regale, verstaubt und überfüllt mit Pergamenten. Ich fragte mich, was man mit so viel Papier machte in einer Gesellschaft, die doch kaum lesen konnte.

Zögernd fragte ich erneut: „Hallo? Ist jemand da?“

Das Geräusch des Redens kam aus dem dritten Raum, den man durch eine mit rotem Stoff verhüllte Tür direkt neben der anderen betreten konnte. Alle drei Türen waren dicht nebeneinander und mir wurde klar, warum nur noch die Türrahmen an sich existierten. Hätte man die Türen in ihren Halterungen gelassen, wären sie andauernd zusammengeknallt.

Im dritten Raum, dem scheinbaren Lager, war es heller. Hier gab es wieder Fenster, zwei Stück an der Zahl, die den Raum sanft beleuchteten und alles noch älter wirken ließen, als ohnehin schon. An den Wänden waren Kartons über Kartons gestapelt, teilweise so voller Staub, dass sie schneeweiß waren. Die Flusen tanzten im Licht und es wirkte, als stünde ich direkt in einem Feen-Nest.

Ein alter Mann hockte auf dem Boden und kramte mit dem Rücken zu mir Papiere aus einer der Kisten heraus, wobei er alles, was er scheinbar nicht gesucht hatte, wild herum warf. Ein riesiges Chaos aus Papier, Pergamenten, Buchbänden, Federn, leeren Fässern und Leseschnüren schien das Zimmer zu verschlucken. Er fluchte dabei und murmelte immer wieder: „Wo habe ich es denn?! Wo denn nur?! Das darf doch alles nicht wahr sein!“

Ich klopfte gegen den Türrahmen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, doch die einzige Reaktion war: „Ja, doch, ich habe Euch doch längst gehört, nun gebt doch endlich mal Ruhe! Seht Ihr denn nicht, dass ich beschäftigt bin?!“, und dabei drehte er sich nicht einmal herum. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten und so sah ich ihm zu.

Der Alte war weitaus kleiner als ich, wenn er stand, ging er mir wohl gerade mal bis zur Schulter. Durch seine braune Kleidung mit der beigefarbenen Schürze darüber, die bis zum Boden ging, hatte er etwas Niedliches an sich. Er hatte krauses, schneeweißes und sehr dichtes Haar, jedoch zog sich eine Glatze von seiner Stirn an bis nach hinten in den Nacken und teilte seine Haarpracht in zwei Teile. Ich stellte mir vor, wie er aussehen würde, wenn ich seine Haare grün anmalte und Sand auf seine Glatze streute. Ohne Frage hatte es dann Ähnlichkeit mit einem Kiesweg zwischen Wald und Büschen.

Irgendwann dann fluchte er erneut, warf die Pergamente wütend in die Kiste und stand auf. So stemmte die Arme in die Hüften und ließ seine Blicke kreisen. „Wo bist du nur?“, flüsterte er dabei gedankenverloren. „Wo?“

Wenn ich gedacht hatte, nun würde er endlich Zeit für mich haben, dann hatte ich mich geirrt. Der Greis kaute einige Zeit nachdenklich auf seiner Unterlippe herum, dann holte er den nächsten Karton aus dem Wandregal und machte sich daran, auch ihn quer über dem Boden zu verteilen. Ich ließ ihn suchen, etwa drei Minuten, doch dann wurde es mir zu langweilig. Ich wollte mit ihm sprechen und nicht lernen, wie man Unordnung machte.

Also fragte ich leise: „Meister, was sucht Ihr denn?“

„Eine Schriftprobe.“, brummte er wie selbstverständlich. „Aus Verona. Ich weiß, dass sie hier ist. Irgendwo muss sie sein.“, der alte Mann hatte in einem Stapel geblättert, nun griff er ihn und ließ ihn achtlos neben sich auf den Boden fallen. Erst klatschte es donnernd, dann rutschten die oberen Blätter nach unten, wie bei einer Treppe für winzig kleine Leute.

„Und woran erkennt man so eine Schriftprobe?“, wollte ich wissen.

Er hielt inne und sah mich an, wie einen Idioten. Das erste Mal sah ich sein Gesicht. Er hatte strenge Augen und tiefe Falten auf der Stirn und um den Mund herum, seine Wangen hingen etwas herunter aber trotzdem sah man seine Wangenknochen. Er war sehr dünn und das erkannte man an seinem Gesicht sofort. Buschige Augenbrauen, die widerspenstig in alle Richtungen zeigten, eine lange, gebogene Nase und seine Haare standen nach rechts und links ab. Auf seine Nasenspitze war eine kleine Halbmondbrille gerutscht, die im rechten Glas bereits einen Sprung hatte und die Augen hinter dem Glas wirkten größer und verzerrt. Auf mich wirkte er wie ein verrückter Quacksalber oder aber ein nettes altes Großväterchen, der böser wirken wollte, als es war.

„Daran, dass darüber steht: „Schriftprobe Verona natürlich.“

Und das war alles, was er sagte. Schon verschwand sein Oberkörper wieder in der Holzkiste. Ich sah ihm eine Zeit lang zu, dann begann ich ein wenig im Zimmer umher zu schlendern. Ich sah Blätter mit Schriftproben aus dem gesamten Land: St. Katherine, Esas, Norian und anderen, mir völlig unbekannten Städten. Und dann sah ich ein ganz bestimmtes Blatt, auf welchem groß und lesbar stand: …rona.

Es lag unter einem Karton, so dass die linke Hälfte verdeckt war, aber darunter erkannte ich das Alphabet in Großbuchstaben mit bunten Verzierungen. Manche waren mit Ranken versehen, andere voller Blumen und wieder andere hatten einfach nur schwarze Linien und Muster. Ich hievte den Karton hoch und las es ganz:

Schriftprobe Verona

A B C D E F G H I J …

Zufrieden nickend ging ich zum alten Mann und hielt es ihm vor die Nase. Es dauerte, bis er es überhaupt registrierte, doch irgendwann hob er den Kopf und starrte es an.

Unschuldig fragte ich: „Ist es das, was Ihr sucht, Meister?“

Er schob seine Brille nach oben und kniff die Augen zusammen, ehe er es mir abnahm und genaustens musterte. Währenddessen stand der Alte auf und murmelte unzusammenhängendes Zeug. Ich folgte ihm hinaus, denn ja, er ging einfach und fand mich letzten Endes im ersten Raum wieder. Dort ging er hinter seinen provisorischen Tresen, legte das Pergament zur Seite und lächelte mir entgegen. Als wäre ich gerade erst hinein gekommen fragte er:

„Bitte, wie kann ich dem Herrn behilflich sein?“

Er ist ein wenig verrückt., dachte ich. Aber Verrückte sind mir sympathisch. Und scheinbar ziehe ich sie sowieso an, ausweichen bringt also nichts.

„Mein Name ist Facon O’Connor.“, stellte ich mich vor und lächelte ihm freundlich entgegen, um meine Gedanken möglichst nicht zu zeigen. „Ich bin neu hier in Brehms und möchte ein Jahr lang bleiben. Jedoch brauche ich dafür Arbeit. Und da ich-…“

„So, so, neu hier.“, unterbrach er mich. Der Alte Mann hatte den Mund leicht geöffnet und musste sich anstrengen über seine Gläser hinweg zu schauen. Mal sah er mich an, dann meine Kleidung und dann wieder mich. „Und woher kommt Ihr, wenn ich fragen darf?“

„Aus Annonce. Und-…“

„Annonce?“, er rümpfte die Nase. „So, so. Schöne Stadt. Wenn man sie von weitem sieht, jedenfalls. Von sehr weitem.“

Es machte mich etwas aggressiv, dass er mich nicht einmal aussprechen ließ, zudem hatte ich mir vorgenommen, hartnäckiger zu werden. Mit diesem Grundsatz fuhr ich einfach fort, etwas dreist vielleicht: „Und da ich bereits im Kloster in der Bibliothek gearbeitet habe-…“

„Im Kloster?“, unterbrach mich der Greis abermals und nun schob er seine Brille wieder hinauf. Er schien mich nun besser zu erkennen, denn er zog die Augenbrauen erstaunt hoch und begann mich mit dem Bild ohne Brille zu vergleichen. Während er die Brille auf und ab schob erklärte er mir: „Das Skriptorium des Klosters ist im Kloster und nicht hier mitten auf der Straße, junger Mann, da habt Ihr Euch ein wenig vertan. Aber das macht nichts, Ihr seid ja nicht von hier. Und man kann sich ja mal vertun.“

„Aber ich möchte ja auch gar nicht dahin.“, versuchte ich zu erklären.

„Hätte mich auch gewundert.“, gab er etwas amüsiert zu und grinste. „Denn wir haben kein Kloster hier in Brehms. Nur außerhalb, aber das ist eigentlich nur eine alte Burg. Seit dem Krieg nennen sie das Kloster, ist aber Unsinn. Solltet Ihr Euch nicht von verwirren lassen, junger Mann, denn Ihr scheint ja doch sehr verwirrt zu sein.“

„Ich bin nicht verwirrt.“, sagte ich ernst. „Ich versuche nur auszusprechen.“

„Sprecht Euch aus, aber eilt Euch, ich habe zu tun, wie Ihr seht.“ Er begann demonstrativ in einem der Bücher herum zu blättern und mit einer Schreibfeder manche der Stellen zu unterstreichen. Dabei lehnte er sich mit dem Ellenbogen auf den Pult, eine sehr unhöfliche Haltung wie ich fand. Ich verdrehte innerlich die Augen und setzte meinen Text fort:

„Jedenfalls, was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich suche Arbeit. Hier, in dieser Schreibstube.“

„Skriptorium, wenn ich bitten darf. Dies ist kein Ort für Pöbel, sondern ein Platz des Wissens und des Intellekts.“, nun sah er mich über seine Brillengläser hinweg an. Ich erkannte, dass die Tinte das Blatt stückweise zu tränken begann, sagte aber kein Wort dazu.

„Skriptorium.“, verbesserte ich mich stattdessen entschuldigend.

Er starrte mich noch eine Zeit an, dann blätterte er einfach um und fuhr mit seiner Arbeit fort. Ich blieb unschlüssig stehen und sah zu, in der Hoffnung, der Mann würde noch irgendetwas sagen, aber er sagte nichts. Draußen begann ein Glockenspiel und läutete den Nachmittag ein. Nicht mehr lange, dann würde es dunkel werden und mir war nicht einmal ein Sonnenuntergang gegönnt, aufgrund der vielen Wolken.

Irgendwann fragte er, ohne aufzusehen: „Lehre?“, ich war nicht sicher, ob er mich meinte und starrte ihn nur an. Er erwiderte meinen Blick wieder über die Brille hinweg und fragte erneut, etwas lauter: „Lehre?“

„Lehre, Herr?“

„Was habt Ihr für eine Lehre, Holzkopf! Sied Ihr Skriptor? Illustrator? Rubrikator?“

Ich stockte, dann schüttelte ich den Kopf. „Nichts dergleichen, Herr.“

Der alte Mann schien ungläubig und er richtete sich auf.

„Was seid Ihr dann? Protokollant? Chronist? Urkundenverfasser?“

„Nein, Herr.“, gab ich beschämt zu und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Er schlug das Buch zu und zog die Stirn kraus.

„Ihr wollt mir doch nicht weismachen, dass Ihr Literar seid?“

„Nein, nein. Ich komme aus dem Kloster, Herr. Ich war angehender Kopist, also-…“

„…- Bibelkopierer.“, als ich nickte, starrte er mich schweigend an, dann fuhr er seine Arbeit fort und murmelte dabei: „Ich habe keine freien Stellen zur Zeit. Kommt nächsten Winter wieder, Kopisten brauche ich nicht. Ich brauche jemanden, der etwas kann. Einen Schreiber-Illustrator zum Beispiel. Nicht jemanden, der nur schreiben kann, schreiben und noch mal schreiben. Ich brauche jemanden mit Talent. Jemand, der eine Seite auch alleine schafft, ohne Rahmung.“

„Aber das ist ja ein ganzes Jahr!“, sagte ich schockiert. Er antwortete nicht, sondern blätterte nur um und ließ mich stehen. Das Gespräch war für ihn beendet und ich stand da, als würde ich gar nicht existieren. Mit jeder Sekunde spürte ich, wie ich wütender wurde und ich begann mich zu schämen. Ich hatte das Gefühl, er würde mich auslachen, auch wenn es nicht so war.

Dieser Mann brauchte nicht jemanden, der nur Texte gut abschreiben konnte, sondern jemanden, der zugleich Verzierungen Zustande brachte und Diktaten folgen konnte. Beides hatte ich nie gelernt, aber ich war mir sicher, dass ich es mit genug Übung schaffen könnte. Ich hatte oft den Illustratoren des Klosters zugesehen oder Bücher sortiert, während Skriptoren vorgelesene Werke mitschrieben. Warum sollte ich das nicht auch können?! Wenn ich eine Vorlage hatte, war ich sicherlich durchaus in der Lage zu, sie nachzuzeichnen. Vielleicht nicht eins zu eins, aber mit genug Versuchen klappte es ganz sicher!

Doch egal wie lange ich vor dem alten Mann stand, für ihn war ich nicht mehr da. Weder sah er auf, noch nahm er irgendeine Notiz von mir. Gereizt verließ ich den Raum und ging nach nebenan. Ich dachte nicht nach, ob es ein Fehler wäre oder vielleicht gar verboten, sondern langte nach einem beliebigen Buch, setzte mich an den Pult, griff mir ein Blatt, eine Gänsekielfeder und Gallustinte.

Es war schwer das Fass zu öffnen und etwas getrocknetes, schwarzes Puder rieselte auf das Blatt, doch ich pustete es hinunter und begann zu zeichnen. Ich hatte schon lange keine Feder mehr in der Hand gehabt und meine Hand verkrampfte sich etwas, so dass ich zu zittern begann, dennoch wurden die ersten Linien gerade und sauber.

Ich zeichnete den Buchstaben A, den ich aus dem Buch ablas, verziert mit dünnen Schnörkeln, die Tropfenähnlich endeten. Dabei musste ich aufpassen, dass ich nicht zulange das Blatt berührte, denn sonst sog sich die schwarze Farbe in das Pergament hinein und zwischen den Strichen waren keine Abstände mehr. Zehn mal zeichnete ich den Buchstaben immer und immer wieder und mit jedem Mal wurde ich ruhiger. Die Konzentration verdrängte mein Ärgernis und mein Zorn verschwand irgendwann. Und umso ruhiger ich wurde, desto besser wurden die Ergebnisse. Bei dem achten Buchstaben spürte ich, dass der alte Mann hinter mir stand, er beobachtete mich. Ich gab mir nur umso mehr mühe. Nachdem ich fertig war ließ ich die Feder fallen und massierte mir das Handgelenk. Es schmerzte vor Anstrengung, da ich mich zu sehr verkrampft hatte, aber ich war zufrieden.

„Nun.“, brummte er leise hinter mir. „Ich denke, wenn ich vorzeichne, wird es schon gehen.“

„Also bin ich angenommen?“, ungläubig drehte ich mich herum und sah ihn an, doch er trottete bereits wieder hinaus zum Eingang. Er ging gebeugt mit im Rücken verschränkten Armen, an seinem Rücken war eine kleine Schnalle. Währenddessen rief er mir zu: „Aber nur, bis ich Ersatz gefunden habe! Ich habe meine zwei Arbeitskräfte verloren, gute Kerle waren das. Aber wenn ich neue finde, dann war das Euer letzter Tag.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und nickte. „Verstanden. Vielen Dank, Meister.“

„Ja, ja.“, abwesend blätterte er wieder in seinem Buch herum und unterstrich einige Stellen, die nicht wie gewollt geworden waren. „Wie sagtet Ihr, wäre Euer Name?“

„Falcon, Meister.“, rief ich ihm zu. „Falcon O’Connor.“

„Gut, Falcon.“, er sah mich kurz an. Ich saß noch immer auf dem Pult und schaute ihm über die Lehne hinweg entgegen. Als mir auffiel, dass dies vielleicht unangebracht war, stand ich auf und stellte mich aufrecht hin. „Ich schlage vor, Ihr fangt heute hier an und zeigt mir, was Ihr schon könnt. Als erstes bringt Ihr die Dinge weg, die Ihr hier angerührt habt. Und zwar dorthin, wo sie hingehören. Ordnung ist das halbe Leben, junger Mann, das halbe Leben.“, und während ich mich bereits daran machte, meine Aufgabe zu erfüllen und das Tintenfass sorgfältig verschloss, fuhr er murmelnd fort: „Und dann machen wir zwei uns daran, das Lager aufzuräumen und die Fässer zu sortieren. Da habe ich doch tatsächlich Dornentinte, statt Russtinte in der Hand gehabt. Das ist unakzeptabel, absolut unakzeptabel.“, er schüttelte dabei den Kopf und versank wieder in seiner eigenen Arbeit.

Ich war währenddessen auch in meiner eigenen Welt. In meinem Kopf war ich voller stolz und Ehrgeiz, denn ich hatte es scheinbar endlich geschafft eine Arbeit zu finden und wollte sie auf keinen Fall wieder verlieren. Nachdem ich alles weg geräumt hatte, ging ich ins Lager und begann aufzuräumen und zwar ohne den alten Mann. Ich wollte ihm zeigen, wie fleißig ich war und davon überzeugen, dass ich all diese Arbeit auch ohne Lehre verrichten konnte, sogar alle Arbeiten vereint. Ich beschloss, wenn er mich nach Hause schickte, einen Laden zu suchen, um mir Schreibmaterial zu kaufen und in meinem Zimmer zu üben, bis mir die Hände bluteten. Stück für Stück nahm das Lager neue Gestalten an und binnen vier Stunden begann ich ein völlig neues System zu entwickeln. Ich kippte die Kartons stückweise aus und sortiere die Inhalte nach Dokumentenarten:

In den ersten Karton kamen Schriftproben A-E, in den zweiten F-K und in den dritten L-P und so weiter. In andere Kisten tat ich jene Dokumente, die amtlich waren und mit Siegel der Rathäuser, Inquisition oder anderen, wichtigen Anlaufstellen. Sämtliche Blätter, die noch völlig leer waren, ordnete ich nach Papyrus, Pergament oder Papier und verschmierte, kaputte und verdreckte Blätter legte ich auf einen extra Stapel. Mehrmals stand er in der Tür, beobachtete mich eine Weile und verließ den Raum dann wieder. Dabei schüttelte er den Kopf und murmelte vor sich hin. Ich hörte, wie er die Ladentür irgendwann abschloss, da der Arbeitstag vorbei war und sah, wie er sich an einen der Pulte saß, um zu lesen. Ich war froh, dass er mich nicht hinausjagte, denn auch wenn ich müde war – ich hatte nichts gegessen, bis auf etwas Brot – so wollte ich dennoch nicht gehen, um ihm mein vollendetes Ergebnis zu zeigen.

Als ich dann endlich aufstand und mein Werk musterte, war das Lager komplett aufgeräumt und entstaubt. Es herrschte so starke Ordnung, dass man das Gefühl hatte, man befände sich in einem völlig neuen Raum. Ich warf mir den Umhang über und ging nach nebenan, dort erkundete ich mich freundlich:

„Wann soll ich morgen hier sein, Meister?“

Ich weckte den alten Mann, denn er war beim Lesen eingeschlafen. Verwirrt schreckte er hoch und war im ersten Moment einfach nur irritiert. Es dauerte, bis er auf die Idee kam, sich die Brille aufzusetzen, um mich zu erkennen. Nach einigem Blinzeln und dem Anheben der Kerze dämmerte es ihm dann, was ich von ihm wollte. Verschlafen brummte er:

„Wenn die dicke Bertha sieben schlägt, Junger Mann.“

„Aye.“, ich verbeugte mich etwas und wünschte ihm eine gute Nacht.

Als ich nach draußen trat war es bereits stockdunkel und ich wusste, ich würde den Weg nicht so schnell finden, wie es mir lieb wäre. Der Schreibstubenmeister schloss hinter mir die Tür ab und die Kälte der Nacht wirbelte mir entgegen. Ich hatte nur eines meiner Hemden angezogen und der Umhang blähte sich durch die starken Windzüge auf. Ich zog ihn dicht um mich und stapfte durch die Schneemassen nach Hause. Weiße Flocken rieselten herunter und das Pfeifen der Luftströme durch die Gassen kündigte einen Schneesturm an.

Vor meinen inneren Augen tanzten Buchstaben und Zahlen, doch ich war fröhlich und guter Dinge. Ich hatte Arbeit und ich hatte ein warmes Bett, das ich nun nur noch finden brauchte. Ich hatte es geschafft. Ich war frei und rechtschaffen, so, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Ich würde noch vor sieben Uhr vor der Ladentür stehen und vielleicht sogar zuvor in einen der Läden gehen können, um mir Tinte zu kaufen und etwas Papier. Ich würde diesen Mann nicht enttäuschen und er würde seine Drohung, mich bei der erstbesten Gelegenheit raus zu werfen, zurücknehmen. Er würde sogar betteln, dass ich doch weiter für ihn arbeiten würde!

Aber zuerst musste ich den Weg nach Hause finden – Irgendwie.

Ungewollte Einblicke

Als ich endlich die Herberge erreichte, war ich nicht nur todmüde, sondern auch völlig durchfroren und durchnässt. Ich zitterte am ganzen Körper, so stark, dass sogar die sonst so unfreundliche Wirtin Mitleid mit mir hatte. Sie gab mir ein weiteres Laken und machte mir einen dampfenden Tee. Mit tauben Zehen und zitternden Knochen legte ich mich unter alle Laken und Decken, warf sogar den Umhang über mich und versuchte zu schlafen.

Die neue Umgebung, meine neue Arbeit und die Kälte hielten mich jedoch noch lange wach.

Als ich dann einschlief erwachte ich am Morgen so plötzlich, als hätte ich nie ein Auge zugetan. Es schien, als hätte sich mein Körper durch die Erschöpfung einfach ausgeschaltet. Es fiel mir schwer aufzustehen. Meine Idee, mir Feder und Tinte zu kaufen, verschob ich erst einmal. Viel mehr kämpfte ich mit mir selbst, denn ich fühlte mich am nächsten Morgen nicht wirklich von meiner neuen Arbeit angelockt. In meinem Hals kratzte es stark, mein Kopf dröhnte und meine Nase lief – eine Grippe war auf direktem Wege zu mir. Da ich keinen Appetit hatte, verzichtete ich abermals auf mein Frühstück und diesmal zog ich mir zwei meiner Hemden an, statt nur eines. In meinem Hinterkopf dachte ich an die Bemerkung der Wirtin und wenn es so weiter ging, hatte sie wahrscheinlich Recht:

Es fehlte nicht mehr viel und ich würde aussehen, wie ein wandelndes Skelett.

Da ich den Umhang zum Trocknen nicht angehangen hatte, roch er nun stark nach Feuchtigkeit und auch die Decken hatten den Geruch übernommen. Seufzend hüllte ich mich dennoch in ihm ein und zwang mich, auf die nassen und kalten Straßen zu gehen.

Der Schnee war um einiges höher und als ich die Schreibstube endlich fand, spürte ich meine Füße nicht mehr. Meister Pepe hatte den Laden bereits weit vor sieben Uhr geöffnet und war schon in seiner Arbeit vertieft. Als ich ihn begrüßte, brummte er nur und ich fragte mich, ob er seine Entscheidung, mich einzustellen, bereute. Schweigend zog ich meinen Umhang aus und hängte ihn über einen Kleiderhaken neben dem Tresen. Ich hoffte, er würde den Geruch nicht bemerken, doch zu meiner Enttäuschung hatten auch meine Hemden ihn nun übernommen. Schniefend und die Nase immer wieder hoch ziehend ging ich ins Lager, mein kleines, selbst gestaltetes Reich. Ich musste mir, bevor ich Tinte und Pergament besorgte, unbedingt ein Taschentuch kaufen, denn ich hasste es, den Rotz hinunter schlucken zu müssen.

Die einzige Aufheiterung war, dass im Lagerraum alles so stand, wie ich es verlassen hatte, nur manche der Kisten waren nun beschriftet. Ich war stolz darauf, dass der alte Mann scheinbar nichts gegen meine Ordnung hatte – sie sogar befürwortete und ein Blick durch das Schreibzimmer ließ mich entschließen, auch hier aufzuräumen. Ich begann in aller Ruhe damit die Tintenfässer in einem der Regale zu sammeln, die leeren Blätter im anderen und die benutzten in einem dritten. Nebenbei beobachtete ich, wie der Skriptoriumsmeister umher lief und Bücher studierte. Er hatte einen ganzen Stapel auf dem Tisch zu liegen und hatte nun begonnen, sie zu lesen und manches anzustreichen. Wann immer ich ihn bei einem Buch unterbrach, brummte er aggressiv oder fuhr mich an, ich sollte gefälligst kurz mal leise sein. Aus diesem Grund fragte nicht nach, was er tat, dadurch würde er sich nur noch gestörter fühlen. Stattdessen lauschte ich seinem Gemurmel und lernte dadurch, worauf man beim Schreiben achten musste. Es gab Stile, die er mochte und Stile, bei denen er nur den Kopf schüttelte.

Nachdem ich alles sortiert und eingeräumt hatte, begann ich, die Tinten zu überprüfen. Ich sah nach, welche ausgetrocknet war und nicht mehr verwendbar und sortierte die verschiedenen Farben und Arten. Das Selbe tat ich mit den Federn und den Pergamenten. Er ließ mich gewähren, etwas, wofür ich sehr dankbar war, denn damit steigerte er mein Selbstbewusstsein ungemein. Er schenkte mir Vertrauen, obwohl er mich nicht kannte und gab mir eine Chance – etwas, was andere nicht getan hatten. Ich wollte dieser Gerechtigkeit entgegen kommen und mir so viel Mühe geben, wie nur irgend möglich. Ab und an kam er zu mir, um nachzusehen, was ich gerade tat. Dann sagte er ein, zwei kurze Sätze, wie: „Die Russtinte dort hat Vorrang.“ oder „Am besten, du tauschst auch die verschmierten Beschriftungen aus. Manche sind gar nicht mehr lesbar oder aktuell.“, aber meistens hielt er sich heraus. Ich glaubte, er hatte gemerkt, dass ich selbstständig denken und auch arbeiten konnte.

Der gesamte Vormittag verlief so ruhig und mit jeder Stunde drohte ich mehr, wieder einzudämmern. Dennoch genoss ich diese entspannte Atmosphäre sehr. Auch wenn mich die Ruhe manchmal quälte. Ich hatte viele Fragen an ihn, aber da ich ihn nicht stören wollte, waren Gespräche nicht möglich. Ich beschloss zu warten, bis er eine Pause machte, doch das tat er scheinbar nie.

Gegen Nachmittag dann kam ein Kunde. Das Erste, was ich hörte, war der Hufschlag von Pferden, dann die Türklingel. Ein recht junger Mann trat in das Skriptorium, in einem blauen Samtanzug mit weißer Perücke und stark gepudertem Gesicht: Ein Adliger.

Ich war gerade dabei einige Bücher ins Lager zu tragen, die der Meister mir gezeigt hatte und drehte mich neugierig herum.

Während die meisten vor solchen Menschen förmlich in die Knie gingen, sich verbeugten und Respekt und Ehrfrucht heuchelten, war der alte Mann ganz normal. Dies war etwas, was ich an ihm bewunderte. Er empfing den Gast freundlich hinter seinem improvisierten Tresen und begann mit dem Buchbesprechen, als säße er mit dem Mann beim Tee.

Aus unbewusster Angst heraus trat ich ein paar Schritte zurück, bis ich an einen der Pulte stieß und dort blieb ich stehen und ließ die Bücher sinken. Wie lange war es her, dass ich mit der höheren Gesellschaft zu tun gehabt hatte? In St. Marianne waren öfters reiche Leute gewesen und hatten Aufträge an das Kloster gegeben, bezüglich Buchkopien oder dem Abschreiben von längeren Manuskripten. Nie aber hatte ich mit einem von ihnen gesprochen.

Meine zweite Begegnung mit einem der reicheren Klasse war Blackborn gewesen und meine letzte jene mit O’Hagan, dem Richter, dem Priester Johannes und letzten Endes mit Domenico. Fast könnte man behaupten, ich hätte keine einzige positive Begegnung mit einem Reichen Mann gehabt. Ohne es zu merken hatte ich gelernt, mich vor Leuten mit weißen Perücken und Gehstock in Acht zu nehmen.

Und so stand ich unschlüssig im zweiten Raum und beobachtete, wie der Fremde dem Skriptoriumsmeister ein kleines Buch überreichte, mit bräunlichem Einband und gold gefärbten Außenseiten. Der Meister nahm es entgegen und musterte es, während der Lordsdiener – denn scheinbar war es lediglich ein recht gut gekleideter Bote – erklärte, er würde gern drei solche Bände haben. Sie unterhielten sich über den Preis, das benötigte Gold, die Tinte und vor allem die Zeit der Anfertigung und ich erfuhr, dass seine zwei besten und einzigen Schreiber leider das Land verlassen mussten. Dennoch vertraute man ihm, Meister Pepe, diesen Auftrag an, denn der ehrenwerte Lord war schon seit mehreren Jahren treuer Kunde und hatte vollstes Vertrauen zu ihm als Kopist. Die einzige Bitte, die der Lord hatte – und bei der Äußerung beugte sich der Bote etwas vor und flüsterte für mich dennoch hörbar – keiner darf davon erfahren, dass dieses Werk sich in den Händen seines Herrn befände. Neugierig betrachtete ich aus einiger Entfernung den Einband, als Meister Pepe es herum drehte:

Das heilige Wort in zwei Sprachen

Ein Ketzerswerk. Nachdem der Meister ihm mehrmals versichert hatte, dass kein Wort über seine Lippen kommen würde, unterschrieb der Diener den Auftrag. Er zahlte die erste Gebühr, verabschiedete sich freundlich und sie gaben sich die Hand. Dann stieg der Bote wieder in seine Kutsche und kurz wehte ein kalter Windhauch durch den Laden.

Ich kam fast zufällig in das erste Zimmer zurück, um einen zweiten Bücherstapel zu holen und wartete, dass der Meister mich ansprach, bezüglich des neuen Auftrags. Zu meiner Verwunderung jedoch tat er dies nicht, sondern verstaute das Buch lediglich in einem der Regale und las in seinem eigenen weiter. Die Geräusche der Hufe erfüllten die ganze Straße und als ich ein weiteres Mal durch die Scheibe der Ladentür sah, war die Kutsche bereits verschwunden.

Ich schwieg, schließlich wollte ich nicht zu aufdringlich werden und machte mich daran, auch die weiteren Bücher nach nebenan zu tragen. Als alles in den Regalen verstaut war konnte ich meine Neugierde jedoch nicht mehr zurückhalten. Mir fiel auf, dass der Boden im Vorraum ziemlich durchtränkt war durch den Besuch des einzigen Kunden und so griff ich einen Lappen, sank in die Knie und begann zu wischen. Dabei rutschte ich mühselig auf den Knien umher und musste schon bald merken, dass Kies und Sand so einfach nicht los zu werden waren.

Unschuldig fragte ich: „Meister, gibt es endlich einen Auftrag?“, dann schob ich allen Dreck zu einem Haufen. Ich versuchte so viel Schmutz wie möglich mit dem Stoff aufzunehmen, um ihn mit einem kräftigen Schlag vor die Tür zu befördern. Als ich wieder eintrat, sah der Meister mich skeptisch über die Brille hinweg an.

„Ich befürworte es nicht, bei wichtigen Verhandlungen belauscht zu werden.“

„Das habe ich nicht.“, die Tür fiel klirrend zurück ins Schloss und ich sank zurück auf die Knie. Ächzend fuhr ich mit meiner Arbeit fort und erklärte im Plauderton: „Sonst müsste ich ja nicht fragen.“

Es dauerte, bis er sein Buch zuschlug und sich mit den Armen auf den Tresen beugte. Aufmerksam beobachtete er mein Treiben und etwas amüsiert murmelte er:

„Nun, vielleicht seid Ihr kein Kopist, Falcon, aber für Ordnung sorgen könnt Ihr.“

Ich lächelte bescheiden. „Danke, Meister.“, war alles, was ich herausbrachte. Seine Art von einer Antwort abzulenken erschien mir mehr als nur amateurhaft. Etwas frecher hielt ich inne und suchte seinen Blickkontakt. „Aber Ihr habt mir nicht geantwortet.“

„Habe ich nicht?“, er wirkte verwirrt.

„Nein. Gibt es nun einen Auftrag? Oder traut Ihr mir das nicht zu?“

Ich stellte mich aufrecht und bemerkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Nicht nur der Diener war mit von matschigem Schnee verklebten Schuhen eingetreten, sondern auch der alte Mann und ich. Es fiel stark auf, dass lediglich vor dem Tresen gewischt worden war. Überall anders gab es kleine, schlammige Pfützen, Abdrücke unserer Stiefel und Dreck über Dreck. Erst jetzt fiel mir auf, wie der Kies unter meinen Sohlen knirschte und schwer seufzend sank ich zurück zum Boden. Was man anfängt, das muss man zu Ende bringen, also machte ich mich wehmütig daran, auch die anderen zwei Räume zu wischen.

Nachdenklich sah der Greis mir zu und murmelte, mehr zu sich, als zu mir: „Gut wäre es natürlich, wenn ich diktieren würde, während wir zwei schreiben. So hätten wir gleich zwei auf einmal. Aber…“, mehr sprach er nicht. Seufzend wandte er sich ab und griff ein neues Buch zum Kontrolllesen.

Ich wusste, wieso er die Arbeit mit mir mied. Wenn es sich bei dem Auftrag wirklich um ein verbotenes Werk von Ketzern handelte – und das war scheinbar zweifellos der Fall – wäre er mehr als nur dumm, dieses Werk bei einem ehemaligen Bibelkopierer in Auftrag zu geben. Mir kam der Gedanke, dass hier all jene Bücher kopiert wurden, die man im Kloster nicht abgeben konnte und die Regale bekamen ein verlockendes Aussehen für mich. Ich nahm mir vor auf einige der Bücher ernstere, genauere Blicke zu werfen. Aus Erfahrung wusste ich, dass Ketzerswerke oftmals nicht nur ehrlicher, sondern auch detaillierter und aufschlussreicher waren, als jene, die die Inquisition aussortiert hatte. Es war schon immer mein Traum gewesen, in eine Bibliothek der Inquisition zu gehen.

Aber als erstes galt es, Meister Pepe davon zu überzeugen, dass ich ihn gewiss nicht an einen Priester oder gar Inquisitor verraten würde. Auf keinen Fall wollte ich bereits nach einer Woche den Laden verlassen müssen, da ich bis auf Putzen keinen Nutzen hatte. Wie ich das tun sollte, war mir allerdings noch nicht ganz klar.

Gegen Nachmittag wurde es lebendiger. Zwei weitere Kunden kamen, jedes Mal Adlige, um Aufträge abzuholen oder Anzahlungen zu begleichen und jedes Mal hielt ich mich in den hinteren Zimmern auf, bis man mich rief, um Bücher aus den Lagern zu holen. Ein zweiter Mann gab eine Kopie in Auftrag, jedes sollte das Buch komplett neu gestaltet werden und so suchte ich ihm verschiedene Schriftarten heraus und mehrere Lektüren als Beispiele für das Aussehen. Die zwei unterhielten sich eine Stunde lang und mir blieb nichts anderes übrig, als schweigend im Nebenzimmer an einem der Pulte zu sitzen und zu warten. Ich nutzte die Gelegenheit um mein Schreiben und Zeichnen zu verbessern, jedoch waren die Ergebnis nicht wirklich zufrieden stellend. Meine Vergangenheit ruinierte mir die Gegenwart – selbst über ein Jahr darauf und mit neuem Namen. Vieles erschien mir plötzlich schwer und mein Handgelenk fing sehr früh an, zu schmerzen. Ich fragte mich, ob Black daran schuld war.

Der Meister würde mich keine verbotenen Werke kopieren lassen, daran gab es nichts zu rütteln und dieser Gedanke demotivierte mich. Besonders, wenn sie ohnehin nicht gut aussehen würden.

Nach der Stunde Wartens hatte der Kunde noch immer keine genauen Vorstellungen und ich bat den Meister entschuldigend um eine Pause. Er nickte nur und so ging ich hinaus.

Als ich in die Kälte trat spürte ich, dass ich in den staubigen Räumen Kopfschmerzen bekommen hatte und während die Tür zu fiel, hörte ich den Kunden sagen:

„Oh, ihr habt einen neuen Schreiber?“

„Ja, so etwas in der Art.“

„Wo sind Eure Söhne? Etwa-…“, ich vernahm das gedämpfte Schellen der Türglocke. Als ich das Wirtshaus verlassen hatte war es noch dunkel gewesen und nun war die Sonne dabei, wieder unterzugehen. Ich war betrübt über das Wetter, der Winter machte mich traurig und die ständige Dunkelheit melancholisch. Zudem schneite es wieder und meine Wangen brannten vom eisigem Wind. Dennoch beschloss ich zum Markt zu gehen und mir etwas zu Essen zu kaufen. Ich konnte unmöglich zum Abend das Brot der vergangenen Tage essen, dieses war sicherlich nicht mehr brauchbar. Weder wusste ich, wie viel Pause ich hatte, noch, wann ich mit meiner Arbeit fertig war. Aus einem Gefühl heraus beschloss ich, dass ich nun eine Stunde lang frei hätte, denn eine halbe würde ich sicherlich schon brauchen, um den Marktplatz zu finden. Die Gassen waren bei Licht noch verwirrender, als bei Nacht, denn nun waren sie nicht nur alle schwarz, sondern sahen auch noch alle gleich aus. Ich irrte umher mit dem Gedanken, alle Wege führten irgendwie ins Zentrum, doch nachdem ich drei Mal ein und dieselbe Büste passierte, orientierte ich mich am Kreuz der Kathedrale. Ich wusste noch in etwa, von welcher Seite aus ich es gesehen hatte, als Nevar und ich vor dem Gildenhaus standen. Ich musste nur irgendwie einen Weg finden, dass ich abermals aus dieser Perspektive sah. Auf dem Platz mit dem alten Henry gab es genug Menschen, die mir helfen könnten, etwas Essbares zu finden. Doch dann kam mir eine Idee.

Mir fiel die Beschreibung der Wachmänner ein und ich ging ohne zu Zögern los dem Kreuz entgegen. Ich wollte zum Bunten Platz, das hatte ich mir vorgenommen und nun war die Zeit dazu.

Die Gassen schlängelten sich wild umher, so unberechenbar wie ein Fluss. Mal nach rechts, mal nach links und stets hatte man das Gefühl, man hätte sich verlaufen. Manchmal verliefen sie so eng und die Häuser standen so schief zueinander gebeugt, dass ich das Kreuz nicht mehr sehen konnte und wenn ich es dann endlich erblickte, fluchte ich, denn ich war zu weit gelaufen. Meine Suche führte mich durch Tunnel in die entferntesten Winkel und anhand der Schneemassen vermutete ich, dass manche davon bereits seit Wochen nicht mehr betreten worden waren. Die Einzigen Besucher waren Katzen gewesen und kleine, Knöcheltiefe Spuren zeugten noch davon.

Kurz bevor ich den besagten Platz endlich erreichte – ich hatte das Gefühl, ich war bereits Stunden unterwegs – hielt ich inne, denn ich hörte ein Geräusch. Anfangs war ich unsicher gewesen, denn der Wind trug manche der Stimmen meterweit durch die Gänge, doch diesmal war ich sicher. Schmerzensstöhnen, Verfluchen und lachen, eine recht böse Kombination.

Unsicher rührte ich mich keinen Zentimeter mehr, um die Personen orten zu können, doch es fiel mir sehr schwer. Mal hallten die Geräusche von links, mal von rechts, aber auf keinen Fall konnte ich das einfach ignorieren. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Vielleicht hätte ich weitergehen und es einfach nicht mehr beachten sollen. Stattdessen ging ich leise einige Schritte vor, überhörte das Knacken des Schnees unter mir und lauschte. Nach einiger Zeit fand ich Spuren im Schnee, von zwei Personen, so verwischt, dass man meinen könnte, sie wären gerannt. Wie aus einem Instinkt heraus verfolgte ich sie und kam zu einem Torbogen, links von mir. Hörbar dahinter befanden sich scheinbar die Ursachen der Geräusche und so schlich ich an die Wand und lauschte angespannt. Alles was ich hörte, war die Stimme eines Mannes, die mir bekannt vorkam. Ich überlegte fieberhaft, woher, aber es fiel mir nicht ein. Er sagte:

„Du weißt, dass du es hättest besorgen sollen, stattdessen lässt du es dir einfach von den Idioten abnehmen?!“, scheinbar folgte ein Tritt, denn ich hörte einen unterdrückten Schmerzenslaut, gefolgt von Wimmern. „Wir haben dich nicht dafür bezahlt, dass du sämtliche Pläne verrätst!“

„Ich habe Euch nicht verraten!“, wimmerte nun jemand, so leise, dass ich es kaum verstand. Vorsichtig ging ich einige Schritte vor, näher an die Abzweigung heran. Durch das Knacken des Schnees verstand ich die restlichen Worte nicht mehr. Erst, als ich stehen blieb, hörte ich abermals den ersten Sprecher. Dieser war aggressiv und schien mehr mit sich selbst zu reden, als mit jenem, den er des Verrats beschuldigt hatte.

„…ist doch nicht zu fassen! Wie konntest du überhaupt so bescheuert sein und es einfach liegen lassen?!“

„Aber das habe ich doch gar nicht!“, jammerte die andere Person. „Ich flehe Euch an, so hört mir doch zu, ich habe nichts getan! Ich habe-…“

„Halt endlich den verdammten Rand! Wegen dir stehen wir wieder am Anfang!“, dann herrschte Stille.

Ich kannte die Stimme und die Unwissenheit machte mich fast wahnsinnig. Ich ging abermals einen Schritt vor und lehnte mich an den runden Torbogen, der in die Sackgasse führte. Vorsichtig lugte ich um die Ecke, um mehr sehen zu können, doch es reichte noch nicht. Sie standen nicht geradezu, sondern etwas weiter links, weswegen ich mich ganz zum Eingang wandte und abermals versuchte, etwas zu sehen. Das einzige, was ich erkannte, war, dass der Bogen in einen ehemaligen Hinterhof führte. In der Mitte stand ein Brunnen, mit Holzbrettern verschlossen und zugeschneit und die Häuser waren unbewohnt und verrottet. Überall war erfrorenes Gestrüpp und die Fenster hatte man mit Brettern vernagelt.

Der Mann fluchte leise weiter:

„Ich garantiere dir, wenn du ein Wort verlierst, dann besuche ich deine gesamte Familie, du Schweinehund! Und dann wirst du dir wünschen-…“

Ein Schlag in den Rücken ließ mich vorstolpern, der Sprecher fuhr herum und bevor ich wusste, wie mir geschah, landete ich unsanft im Schnee.

Nur wenige Meter weiter befand sich der Sprecher, scheinbar ein Arbeiter. Ich erkannte von der Kälte gereizte Wangen und langes, krauses Harr, leicht rötlich: Morgan, der Mann aus der Rum-Marie. Er hatte im Profil zu mir gestanden und zu einer weiteren, sich krümmenden Gestalt hinunter gesehen, doch nun starrte er mich an. Allem Anschein nach handelte es sich bei der knienden Person um einen jungen Kerl in der Kleidung eines Boten, eine recht bemitleidenswerte Gestalt. Im Schnee waren Blutstropfen und Spuren eines Kampfes, aber wer der Verlierer war, war offensichtlich.

Jener, der mich gestoßen hatte, packte mich nun unsanft am Kragen und zerrte mich hoch. Er riss mir die Kapuze vom Kopf und mit einem weiteren Stoß landete ich unsanft vor meinem alten Bekannten.

„Haben Besuch.“, knurrte er dabei. Abermals hockte ich im kalten Schnee und es dauerte einige Sekunden, bis ich realisieren konnte, was geschehen war. Morgan sah mich an, als wäre ich ein hassenswertes Insekt und auch der junge Mann vor ihm erhob seinen Blick. Er zitterte, wobei ich nicht wusste, ob aus Angst oder vor Kälte, sein Gesicht war voller Blut. Im ersten Moment glimmte in seinen Augen eine Spur von Hoffnung, aber als er erkannte, dass keine Hilfe nahte, ließ er den Kopf nur wieder sinken.

„Sieh mal einer an.“, brummte Morgan dann und kam mir einige Schritte entgegen. „Dich kenn ich doch?“

„Kann schon sein.“, gab ich zögernd zu. Ich rappelte mich hoch und rückte meinen Umhang zurecht, ehe ich einen weiteren, unsanften Stoß zwischen die Schulterblätter verspürte. Gereizt stolperte ich Morgan entgegen, meinen Fänger direkt hinter mir. Der Hüne musterte mein Gesicht und seine dunkelgrünen Augen waren voller Misstrauen und Vorsicht. Er war nicht sicher, wieso ich hier war und wohl auch nicht, ob er es mit einem Zufall zu tun hatte. Ich unterdrückte den Drang mich herum zu drehen und zu überprüfen, wer genau dort hinter mir stand, stattdessen sah ich auf Morgans braune Lederstiefel. In meinen eigenen steckten meine zwei Dolche und an meinem Gürtel hatte ich noch immer mein Messer. Im Notfall konnte ich mich also verteidigen, nur gegen wen? Wie viele Leute waren noch hier und wer? Nur einer? Anhand der Stimme vermutete ich, dass der zweite Mann hinter mir ein weiterer aus der Rum-Marie war, jener mit der Mütze und der Knollnase. Sicher war ich mir jedoch nicht. Ich hörte das Knacken des Schnees, während er leise von einem Fuß auf den anderen trat. Allem Anschein nach war ihm kalt, das ergab Vorteile meinerseits. Sollte er ein Messer ziehen, wären seine Finger vielleicht zu kalt um es zu halten, zudem war seine unterkühlte Haut wesentlich schmerzempfindlicher als sonst. Unbewusst sah ich mich mit den Augen nach Johnny um, den letzten der Dreiergruppe, doch dieser war nirgends zu sehen.

Gereizt fragte Morgan, sich drohend aufbauend: „Verfolgst du uns?!“

Sofort sah ich mein Gegenüber wieder an und mir fiel auf, dass er gut eine Handbreite größer war, als ich. Ich hielt seinem Blick gequält stand und schüttelte nur den Kopf. Dieser rothaarige Kerl war mir nun noch unsympathischer als ohnehin. Dazu wuchs in mir die Unsicherheit. Gut, ich hatte Waffen, aber ich hatte sie nie zuvor benutzt. Mir wurde bewusst, dass ich noch immer nicht ansatzweise Erfahrung im Kampf hatte.

„Ich bin zufällig hier, ich...“, doch ein Stoß gegen die Brust ließ mich abbrechen. Unbeholfen taumelte ich zurück und fing mich im letzten Moment auf.

„Spionierst du mir nach?!“, fuhr er mich an, diesmal etwas aggressiver.

Wütend zischte ich: „Nein, verdammt! Ich bin zufällig hier!“, und stellte mich wieder aufrecht.

„Und zufällig in der Rum-Marie gestrandet, was?!“, erneut knallte er mir seine Hände gegen den Brustkorb, diesmal landete ich unsanft auf meinem Hinterteil. „Bist du von der Gilde?!“

Ich wollte aufstehen und zurückweichen, doch die Person hinter mir trat mir die Beine weg, noch ehe ich wirklich stand. Seufzend gab ich auf und versuchte die kalten Schneemassen an meinen Knien auszublenden.

„Ich bin zufällig hier.“, versuchte ich zu erklären, so ruhig es ging. „Ich habe Geräusche gehört und wollte nachsehen, was los ist. Das ist alles.“

Morgan spuckte mir vor die Füße und wandte sich ab. Er war nicht nur ungeduldig und schnell reizbar, sondern auch noch schnell überfordert. Während ich seinen Beinen zusah, wie er aggressiv mal nach hier und mal nach dort lief, versuchte der Kerl weiter hinten sich hoch zu raffen. Er hielt sich an der Wand fest und zwang sich, aufzustehen, doch kaum drehte Morgan sich zu ihm, sackte er ängstlich und wimmernd zurück.

„Was machen wir jetzt?“, fragte jener hinter mir. „Sollen wir ihn mitnehmen?“

Morgan grunzte verächtlich. „Bist du bescheuert? Wie viele noch?“, entschieden schüttelte er den Kopf, blieb stehen und starrte mich an, wie ein Problem, dass man dringend beseitigen musste. „Du hättest deine Nase hier heraus halten sollen.“

Ich versuchte entschuldigend zu lächeln, meine Knie begannen vor Kälte zu schmerzen und ich musste mich zwingen, nicht an mein Messer zu fassen. „Nun, eigentlich habe ich ja nichts gesehen oder gehört.“, er ignorierte mich.

Der Mann im Hintergrund hatte es auf die Beine geschafft und stand nun zitternd an der Wand. Ich bemühte mich, nicht zu ihm zu sehen und Morgan, der mit dem Rücken zu ihm stand, hatte nur Augen für mich. Scheinbar war jener hinter mir genauso unaufmerksam, denn mit einem Mal stolperte ihr Opfer los. Er rannte, so gut es ging, rutschte aus und fiel fast, doch sofort rappelte er sich erneut auf und floh keuchend an mir vorbei aus der Gasse. Niemand rührte sich, nur Morgan knurrte: „Lass ihn herumschreien, keiner hört ihn.“, und nach einigen Sekunden fügte er leise grinsend hinzu: „Wenn der sich überhaupt traut, zu schreien.“ Ich hatte die Hoffnung, er würde Hilfe für mich holen, doch die Angst in seinen Augen und die Gelassenheit der Männer neben mir ließen diese Hoffnung sofort wieder ersterben. Innerlich seufzend sah ich wieder auf Morgans Schuhe und konzentrierte mich auf den Griff des Dolches, der mir gegen den Knöchel drückte. Ich musste ihn nur ziehen, angreifen und los rennen. Aber was, wenn der Mann hinter mir bereits ein Messer in der Hand hielt? Als ich hatte aufstehen wollen, hatte er sofort reagiert, mit solchen Reflexen sollte man sich nur im Notfall anlegen.

Nach einigem Schweigen hatte Morgan scheinbar beschlossen, wie mit dem Problem umzugehen war. Er gab dem Mann hinter mir einen Wink und ehe ich mich versah, befand ich mich fest in seinem Griff. Er packte meine Arme und drückte meine Oberarme so nah beieinander, dass ich meinen Rücken durchdrücken musste. Gezwungenermaßen sah ich Morgan schmerzerfüllt und düster entgegen. Bedrohlich sah er mich an. „Also? Wieso verfolgst du mich?“

„Ich verfolge niemanden.“, knurrte ich zur Antwort, böses ahnend.

Morgan wendete den Blick nicht von mir ab. „Und warum bist du dann hier?“, fragte er ruhig.

„Weil ich Geräusche gehört habe.“, erklärte ich abermals. „Ich wollte lediglich sehen, was hier lost ist. Es ist Zufall, dass wir im gleichen Gasthaus sind. Und ich habe auch keine Ahnung, was Ihr hier treibt oder wer der Mann war.“

„Welcher Mann?“, Morgan zog eine Augenbraue hoch.

Seufzend sah ich weg und murmelte das, was er scheinbar hören wollte: „Keine Ahnung, ich habe hier nirgends einen Mann gesehen.“

Jener, der mich hielt, ließ den Griff etwas lockerer und ich überlegte, ob ich mich los reißen sollte. Doch auch wenn die Spannung nachgelassen hatte, so spürte ich dennoch fest die Finger in meinen Oberarmen. Morgan sah mich aufmerksam forschend an und brummte:

„Und sonst? Was hast du sonst so gesehen und gehört?“

„Nichts.“, sagte ich abermals. Etwas gereizt sah ich ihm entgegen. „Wie gesagt. Nicht das Geringste.“

Er nickte, dann begann er, mich zu durchsuchen. Sofort wurde der Griff wieder fester und ich war gezwungen ganz still zu stehen. Meine Schultern schmerzten, als würden sie zerreißen und ich bekam Angst, er würde mir die Arme brechen. Das erste, was Morgan mir und seinem Partner zeigte, war skeptisch das Messer an meinem Gürtel, dann griff er an meine Stiefel. Ich hörte ein schweres Seufzen und fast vorwurfsvoll hielt er mir die zwei edlen, schwarzen Dolche vors Gesicht.

„Zufall, was?“, knurrte er.

Ich spürte Wut in mir aufsteigen, aber auch Beunruhigung. Das war nicht gut, gar nicht gut. Zumindest hatte er meine Dietriche nicht entdeckt, denn wie ich das erklären sollte, war mir ein Rätsel. Schweigend ließ ich Morgan weiter machen und als er fertig war, warf er die Waffen etwa zwei Meter weiter in den Schnee. Ich folgte ihnen mit den Augen, dann sah ich Morgan finster an. Dieser beugte sich zu mir runter und zischte, unmittelbar vor meinem Gesicht:

„In Ordnung, ich frage ein letztes Mal: Wer bist du und wieso verfolgst du mich?! Bidt du von der Gilde, du Ratte?!“

Kühl erwiderte ich: „Ich heiße Falcon O’Connor, stamme aus Annonce und möchte hier ein neues Leben beginnen. Das ist alles.“, dann blieb mir die Luft weg.

Ich stöhnte auf, auch wenn kein Laut über meine Lippen drang, bis auf ersticktes Röcheln. Erschrocken riss ich die Augen auf und wollte mich krümmen, als die Faust mir direkt in die Magengrube schlug, doch kaum hatte ich mich vorgebeugt, riss man mich wieder hoch. Ich wand mich vor Schmerz und atmete schneller, doch schon traf mich der nächste Schlag und ich stürzte zu Boden. Wimmernd landete ich auf allen Vieren und hielt mir den Magen.

„Wer bist du?!“, schrie Morgan mich an, ehe seine Stiefel begannen, mir in die Seiten zu treten. „Antworte!“, verzweifelt versuchte ich irgendwie meinen Kopf zu schützen, doch die Tritte waren so hart, dass ich mal auf die Seite, dann auf den Rücken flog. Ich wich aus, so gut es ging und mein Hirn blendete alles aus, bis auf die Messer. Ich musste zu den Messern, irgendwie. Wahrscheinlich kroch ich unbewusst zu ihnen, denn irgendwann riss man mich auf den Rücken und ich spürte den schweren Körper von Morgan auf mir. Er hatte sich breitbeinig über mich gesetzt und begann, auf mein Gesicht einzuschlagen. „Antworte!“, fuhr er mich dabei immer und immer wieder an. „Kein Mensch in Brehms hat so viele Waffen! Wer bist du?! Von der Inquisition?! Häh?!“

Vor meinen Augen begannen Punkte zu tanzen und kurz war ich nicht sicher, ob ich Flimmern sah oder Schneeflocken. Verwirrt versuchte ich meine Arme zu heben. Ich wollte mich wehren, mein Gesicht verdecken, doch scheinbar hielt der zweite Mann mich fest. Morgan packte meine Haare und schlug mir immer und immer wieder gegen den Kopf. Heißes Blut lief mir aus der Nase und dann war alles vorbei. Die Schläge hörten auf und der über mir sah keuchend und angewidert auf mich herunter. Schmerzerfüllt drehte ich den Kopf, mein Stöhnen drang aus weiter Entfernung zu mir durch und mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es angeschwollen und voller blauer Flecke.

„Ist wirklich ’n einfacher Idiot.“, stellte der andere Mann fest. Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen und sah nun seine Mütze. Es war der andere aus Morgans Gruppe, den ich aus dem Gasthaus kannte..

Der scheinbare Anführer der Gruppe erhob sich ebenfalls.

„Scheint so.“

„Ganz schöne Sauerei.“

Ich drehte mich auf den Bauch und hustete. Kleine, rote Blutspritzer flogen vor mir in den Schnee und ich versuchte, wieder atmen zu können. Durch den Speichel wirkte es, als würde literweise Blut meinen Hals hinunter laufen und Morgans Gewicht hatte mir die Luft abgeschnürt. Panisch schlug mein Herz mir gegen den Brustkorb und ich wimmerte, bemüht nicht zusammenzubrechen. Als ich es auf alle Viere geschafft hatte, ließ ein kräftiger Tritt mich zurück krachen. Tränen schossen mir in die Augen und ich sackte zurück in den kalten, rot gesprenkelten Schnee.

„Das war’s dann wohl.“, murmelte Morgan und spuckte erneut aus, direkt neben mir. Ich blieb auf der Seite liegen und rollte mich zu einem schmerzerfüllten Bündel zusammen. „Lassen wir ihn hier, der hält den Mund.“

„Bist Sicher?“, Morgans Partner deutete mit einem Nicken zu den Waffen. „Sehen edel aus. Vielleicht ernst zu nehmen. Sollen wir sie einstecken?“

„Wenn er damit umgehen könnte…“, stellte Morgan leicht spöttisch fest. „…dann würde er jetzt nicht da unten liegen, wie ein Stück Scheiße. Wir lassen sie hier, sicher geklaut. Nicht, dass wir dann Probleme kriegen. Na los, Abgang. Wie müssen zusehen, dass wir das Zeug wieder bekommen, sonst haben wir morgen ein Problem.“

„Geht klar.“, der Rothaarige kniete sich zu mir, aber ich schaffte es nicht, den Kopf zu heben, um ihn anzusehen. Hasserfüllt und voller Schmerzen starrte ich stattdessen nur auf seine braunen Stiefel.

„Wir gehen jetzt. Du hast nichts gesehen und nichts gehört, kapiert?“

„Kapiert.“, flüsterte ich heiser und kaum hörbar. Von meiner Wut wie betäubt schloss ich die Augen und versuchte, die Schmerzen auszublenden. Es gelang mir aber nicht im Geringsten.

Morgan nickte. „Gut. Und du bleibst in der Rum-Marie, ich behalte dich im Auge. Wenn du heute Abend weg bist…“, aber er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern wuschelte mir wie einem alten Köter durchs Haar. „Sei einfach brav und es passiert dir schon nichts.“ Grinsend erhob er sich anschließend und ging einfach.

Ich blieb gedemütigt liegen, verfluchte mich für meine Neugierde und Schwäche und lauschte den sich entfernenden Schritten. Das Knacken des Schnees erschien mir unheimlich laut und als es bereits einige Minuten verschwunden war, öffnete ich endlich die Augen. Es hatte angefangen zu schneien und ich zitterte vor Kälte. Wütend starrte ich vor mich hin und sah zu, wie die Schneeflocken vom Himmel fielen. Erst nach gut fünf Minuten dann rappelte ich mich endlich hoch. Zuerst schaffte ich es nicht aufzustehen und mir den Magen haltend sah ich mich nach meinen Messern um, dann stand ich auf und humpelte langsam zu ihnen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gedemütigt gefühlt. Morgan hatte mir mehrmals in die Bauchgegend getreten, aber auch meine Arme und Beine hatten viel abbekommen. Nicht mehr lange und sie würden von grünen und blauen Flecken nur so übersäht sein. Am schlimmsten jedoch war mein Gesicht. Egal wie oft ich schniefte, das Blut aus meiner Nase hörte nicht auf und ich spürte, dass ich mir die Wangeninnenseiten aufgebissen hatte.

Schwer seufzend bückte ich mich nach den Messern. Die Griffe der Waffen waren eiskalt und ich zuckte leicht zusammen, als sie mein Bein berührten, während ich die Klingen zurück in die Halterungen schob. Dann ließ ich das Hosenbein zurück sinken und sah zum Tor.

Nicht mehr lange und der Schnee würde das Blut und die Schritte verdeckt haben. Dann wäre nur noch die Wut vorhanden und diese zermürbte mich gerade. Ich sank auf die Knie und begann mir mit dem Schnee das Gesicht vom Blut zu reinigen, so gut es ging. Dann sah ich zum Himmel. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie die weißen Flocken auf grauem Untergrund aus dem Zentrum heraus zu mir herunter fielen. Man sah nicht, woher sie kamen. Sie erschienen einfach als kleine Punkte oben am Himmel und stürzten mir dann entgegen. Nebenbei legte ich mir etwas Schnee an die Wange, in der Hoffnung, dies würde Schwellungen vermeiden. Ich blieb lange so und senkte den Kopf erst wieder, als mein Nasenbluten nachließ. Allmählich kam die Fähigkeit zu denken zu mir zurück.

Vor welcher Gilde hatte Morgan Angst, wieso vor der Inquisition und wieso fragte er stets nur, ob ich ihn verfolgen würde? War sein Komplize etwa an keinerlei Verbrechen beteiligt? Was hatte ihr Opfer sich abnehmen lassen und an wen hat er die zwei angeblich verraten?

Es fiel mir sehr schwer, aufzustehen, denn meine Knie waren taub durch die Kälte. Mit langsamen Schritten ging ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Die Kapuze des Umhangs zog ich mir tief ins Gesicht und insgeheim wünschte ich mich zurück ins Kloster. Die Illusion, Brehms die Stadt des Friedens und des Glücks, war für die nächste Zeit erstmal nicht mehr vorhanden. Ich war entsetzlich müde und es gab nichts, was mich zum Skriptorium lockte, bis auf die Vernunft. Und so schlich ich geradezu zurück zum Laden und formulierte bereits meine Ausrede. Man hatte mich überfallen, ohne Frage und ich hatte keine Chance gehabt. Aber das passiert ja öfters bei Leuten aus anderen Städten. Kurz bevor ich dann die Ecke zu Meister Pepes Laden erreichte, blieb ich stehen und hockte mich zu einem Vorsprung in einer der Wände. Dort versteckte ich meinen Geldbeutel, so wie meine Dietriche und überschüttete alles mit Schnee. Das alles tat ich wie in Zeitlupe, denn ich war noch immer wie gelähmt von den Schlägen und dem Schreck. Einen Überfall zu überleben war eine Sache, aber danach noch genauso reich zu sein, wie vorher, eine andere. Dann schlich ich weiter.

Ich hasste Morgan und ich hatte verdammtes Glück, dass er mich hatte einfach gehen lassen. Zudem plagte mich eine unbewusste Angst vor den Samaritern. Wenn Menschen wie Morgen mir so gefährlich werden konnten, was war dann mit ihnen? Vielleicht waren sie eine Horde Diebe und Verbrecher, vielleicht Mörder, vielleicht fanatische Besessene einer absurden Glaubensrichtung mit Blutopfergaben? Sollte auch nur eine dieser Sachen in ihre Beschreibung passen, war ich ein toter Mann. Ich hatte mich durch die Zeit bei Nevar wirklich gut und stark gefühlt, doch nun war mir bewusst, wie schwach ich noch immer war. Wie konnte man das ändern?

Bevor ich die Ladentür zum Skriptorium öffnete, überprüfte ich noch einmal mein Gesicht. Es war an manchen Stellen angeschwollen und durch das rechte Auge konnte ich kaum noch sehen. Wenn Meister Pepe Kontakt zwischen mir und den Kunden bisher vermieden hatte, so gab es keine Zweifel, dass er es jetzt noch mehr tun würde. Die Türglocke schellte über meinem Kopf und der Geruch von alten Büchern begrüßte mich fast auf zärtliche Art und Weise.

„Ich bin zurück.“, begrüßte ich heiser den alten Mann an seinem Tresen. Dieser – er las gerade – sah leicht tadelnd auf, wurde dann jedoch todernst. „Ich wurde überfallen.“, erklärte ich etwas aufgelöst, ehe er etwas fragen konnte und tatsächlich begann ich zu zittern, ohne es zu wollen. Scheinbar drang der eigentliche Schreck jetzt erst in mein Bewusstsein vor. Hilflos sah ich dem Greis entgegen. Wieso sagte er denn nichts?

Dann wurde mir schwindelig und ich sackte zu Boden.

Das Gleichnis des Samariters

Ich fühlte mich wohl, als ich zu mir kam, obwohl meine Gliedmaßen und auch mein Kopf unheimlich schmerzten. Der Geruch der alten Bücher, die Wärme des Raumes und das dämmrige Kerzenlicht hatten etwas Gemütliches. Mein Zuhause. Wie ich es liebte.

Erst nachdem ich die Decke gut drei Minuten lang angestarrt hatte, registrierte ich, dass ich nicht annähernd solch eine Heimat besaß. Als Kind hatte ich mir mein Heim zwar genau so vorgestellt, aber diese Fantasie umgesetzt hatte ich nicht. Verwirrt setzte ich mich auf und hielt mir den Hinterkopf.

Ich war im Skriptorium und lag auf dem Boden des Lagers. Über meine Beine hatte man meinen Umhang gelegt und neben mir stand eine Kerze. Vom Meister war nirgends eine Spur. Ich fragte mich, ob er Hilfe holen gegangen oder ob er vielleicht wieder eingeschlafen war, doch mein Körper spielte mir Streiche, weswegen ich nicht nachsehen konnte. Ich sah verschwommen und hatte das Gefühl zu fallen und so sank ich gequält zurück. Es half nichts, die Augen zu schließen, im Gegenteil:

Die Einbildung, alles würde größer und kleiner zugleich werden wurde intensiver als zuvor. Weit entfernt hörte ich die Türklingel. Schritte von drei Personen kamen näher und betraten letzten Endes das Lager, dann erklärte Meister Pepe kurz und knapp:

„Das ist er.“

Ich öffnete die Augen und drehte den Kopf, als wäre ich betäubt. Seufzend registrierte ich, wer da gekommen war. Die zwei Wachmänner vom Platz sahen auf mich herunter und begannen zu lächeln, als sie mich erkannten. Müde zwang ich mich, mich hinzusetzen, erneut begann der Raum sich zu drehen und nur nebenbei bemerkte ich, wie sie sich zu mir hockten.

Einer von ihnen, der kleinere Dicke, fragte: „Wie geht es Euch?“

Ich nickte knapp und murmelte: „Es geht schon.“ Scheinbar war ich alles andere, als ein angenehmer Anblick, denn er musterte mich von oben bis unten, ehe er fragte:

„Ihr wurdet überfallen, haben wir gehört?“

Ich spürte, dass meine Arme schmerzten und registrierte blaue Flecken darauf. Mein Hirn schlug Kreise, ich musste klar werden. Auf keinen Fall durfte ich ihnen von Morgan und seinem Partner erzählen, aber genauso wenig durfte ich den Eindruck erwecken, ich würde sie decken wollen.

Nach einigem Zögern, das man meiner Verwirrung zuschrieb, sah ich die zwei an und zwang mich, trotz der Schmerzen in meinem Mundinnern zu reden. Ich hörte, dass meine Stimme heiser war und rau. „Ich habe den Marktplatz gesucht und dann kamen drei Männer.“

„Was genau ist passiert? Fangt vorne an.“, forderte der Dicke mich sofort auf. Er konnte es kaum erwarten, die Täter zu fassen. Zu selten passierten in Brehms Verbrechen, dies war scheinbar seine Chance. Ich hielt mir den Kopf und dachte nach. Sie ließen mir Zeit, mir eine passende Geschichte einfallen zu lassen. Während ich schwieg und grübelte, suchte der Ältere etwas zu schreiben. Er griff eine der teuersten Federn, die der Meister ihm vorwurfsvoll wieder wegnahm. „Ich ging einen Weg entlang, ich weiß nicht mehr welchen, so gut kenne ich mich hier noch nicht aus. Einer sprach mich dann an, er wolle wissen, wo das Rathaus sei. Ich hielt natürlich, um zu antworten.“, die zwei warfen sich kurz Blicke zu, dann hockte der Ältere sich ebenfalls auf den Boden und räumte fein säuberlich einen Papierstapel von einer der Kisten, die er als Tisch nutzen wollte. Der Meister setzte sich auf einen alten Karton.

„Und wie sah er aus?“, unterbrach der Dicke mich.

Ich stockte kurz und erklärte dann ruhig: „Der, der mich gefragt hat, war so groß wie ich, in etwa und er hatte einen schwarzen Mantel an.“

„Also ein Adliger.“, stellte der Alte fest, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein, der Mantel war ganz kaputt. Ich glaube nicht, dass er adlig war.“

„Wieso sollte ein Adliger auch arme Kerle wie diesen hier ausrauben?“, fragte der Dicke arrogant. „Ich wüsste nicht, wieso jemand von solcher Klasse das nötig hätte.“

Meister Pepe sah von einem zum anderen, dann seufzte er fast tonlos und schüttelte den Kopf. Schweigend erhob er sich und machte sich daran, die Ladentür abzuschließen, um keine weiteren Kunden empfangen zu müssen.

„Nun…“, ich schloss kurz die Augen, als das Gefühl des Fallens besonders stark war. Dann atmete ich tief durch und erklärte: „Ich hielt jedenfalls an und dann ist es passiert.“

„Dann ist was passiert?“, fragte der Ältere nach.

„Dann wurde ich überfallen.“

„Schon wieder?“, der Alte schien verwirrt und zog die faltige Stirn kraus.

„Nein, erst dann.“, brummte sein Kollege entnervt. „Bis jetzt haben sie ihn ja nur angesprochen und das ist nicht strafbar, so weit ich weiß.“

Sie sahen sich erneut eine Zeit lang an und es wirkte, als wäre zwischen ihnen ein kleiner Machtkampf, anschließend sahen beide wieder mich an. Unsicher fuhr ich fort: „Zwei packten mich plötzlich von hinten. Sie wollten mich bestehlen und ich habe mich gewehrt so gut es ging. Einen habe ich getroffen, gegen die Nase. Er wurde so wütend, dass er auf mich eingeschlagen hat. Dann sind sie geflohen und das war es auch schon.“

„Haben sie was mitgenommen?“, hakte der Dicke nach. Ich dachte kurz nach, ehe ich leicht verzweifelt zugab: „Mein ganzes Geld.“

Der Meister kam zurück und setzte sich schweigend wieder. Die zwei Blauröcke schienen auf etwas zu warten und da ich nicht von selbst antwortete, erkundigte sich der Ältere von ihnen:

„Und wie viel?“

Wütend zischte sein Kollege ihm zu: „Ich stelle die Fragen, George, du bist Protokollant!“, dann lächelte er mir aufmunternd entgegen. „Und wie viel?“

George verdrehte die Augen und machte sich daran, die Frage zu notieren, während ich beschämt zugab:

„Fünf Heller.“, Niedergeschlagenheit und ohnmächtige Verzweiflung machten sich auf meinem Gesicht breit, als ich hoffnungslos auf meine Hände sah. „Alles, was ich noch besaß.“

Betretene Stille, dann erhoben die zwei Soldaten sich wieder.

„Nun gut. Zumindest ist es kein großer Verlust.“, versuchte der Dicke die Tat zu mildern und warf mir einen etwas enttäuschten Blick zu. Scheinbar hatte er mit Banditen unwahrscheinlicher Größe und Beute unvorstellbaren Ausmaßes gerechnet.

„Für mich schon.“, ich seufzte und fuhr mir durchs Haar. „Ich muss davon meine Miete zahlen, ich besitze ja nicht mal ein eigenes Haus.“

Meister Pepe wog den Kopf. „Nun ja, Ihr habt zumindest einen Tag bei mir gearbeitet und das würde einen gewissen Lohn schon rechtfertigen.“, ich sah ihn hoffnungsvoll an und lächelnd fügte er hinzu: „Und wenn Ihr wirklich die gesamte Woche so pünktlich hier erscheint…“ Weiter sprach er nicht.

Dankbar sah ich ihn an. „Das werde ich, auf jeden Fall! Vielen Dank, Meister, Ihr helft mir sehr damit.“, die Kerze neben mir zischte leise, als die Flamme durch eine Bewegung zu tanzen begann und für einen kurzen Moment im Wachs unterging. Die Wachen halfen mir aufzustehen und ich warf mir den Mantel um. Meine Knochen schmerzten, am schlimmsten Bauch, Rücken und Kopf. Es grauste mir davor, mein Hemd auszuziehen und meinen Körper zu mustern, ich musste wahrlich schrecklich aussehen. Dass mein Gesicht sich schlimmer anfühlte, als es aussah, war nur ein geringer Trost. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer meine Stiefel trug. Zum Glück gab es im Skriptorium kein Bett, sonst hätte man sie mir mit Sicherheit ausgezogen und die Messer darin entdeckt. Nach kurzem ordnen des Lagers brachten sie mich zum Vordereingang. Meister Pepe drückte mir zehn Heller in die Hand, damit ich mir etwas zu Essen kaufen könne. Dabei versicherte er mir, dass, wenn ich erst einmal ein paar Seiten kopiert hätte, gewiss einige Silberlinge dazu kommen würden. Ein wenig erleichtert hinkte ich in die Nacht hinaus.

Als ich auf die Straße trat, fiel mir auf, wie dunkel es bereits war. Meine Ohnmacht musste mindestens eine Stunde angedauert haben, wenn nicht gar länger. Kurz rutschten meine Stiefel, da der Boden völlig vereist war und zitternd schlug ich den Umhang fester um mich. Die Stadt wirkte wie tot und zugleich viel zu lebendig. Ich fürchtete, härter am Kopf getroffen worden zu sein, denn vor meinen Augen tanzten noch immer Punkte und es dauerte, bis ich die Sachen erkannte, die ich sah. Die zwei Männer treten hinter mich und verabschiedeten sich mit kurzem Anheben ihrer Mützen beim Skriptoriumsmeister, dann stellten sie sich zu mir.

„Dann wollen wir mal, was?“, fragte der Alte grinsend.

Verwirrt starrte ich ihn an. „Was denn?“

„Wir bringen Euch.“, erklärte mir der Dicke und ehe ich mich versah, lotsten sie mich zwischen sich die Straße entlang. „Man weiß nie, was noch so kommt und Ihr seht nicht gesund aus. Wohin soll es gehen?“

Hilflos durchsuchte ich mein Gedächtnis nach dem Namen eines Wirtshauses, doch so viele Gasthäuser ich auch gesehen hatte, bis auf ‚zur Rum-Marie’ hatte ich mir keinen Namen gemerkt. Vor meinem inneren Auge sah ich Morgan und seine Freunde, wie sie am Tisch saßen, die Tür aufging und ich in Begleitung zweier Wachen hinein stolzierte. Leise flüsterte ich den Namen meiner Herberge und schluckte schwer, als der Ältere freudig bekannt gab: „Ah, das kenne ich! Kein Problem, wir bringen Euch dorthin.“

Gezwungener Maßen trottete ich zwischen den Beiden umher. Ein wenig froh war ich wirklich, denn die Kälte machte mich müder, als ohnehin und einmal hatte ich das Gefühl, ich würde zur Seite fallen und reglos liegen bleiben. Die zwei erwiesen sich als sehr gesprächig, denn sie redeten auf mich ein, dass sie die Täter fassen würden und ich mein Geld zurückbekäme, und wenn dies das letzte wäre, was sie täten! Dann erklärte mir der Dicke ausgiebig, wie er ein mal einen Straßendieb gefasst hatte – die meiste Zeit sprach der Dicke, während der Ältere nur immerzu bejahend brummte und nickte, dass seine Mütze ihm ununterbrochen ins Gesicht rutschte. Es klang eher nach einem Abenteuerroman, als nach dem Alltag eines Statuenbewachers. Sie beklagten, dass ihr Beruf mehr als nur lästig sei, da sie stets die niedrigen Arbeiten machen mussten, versicherten mir jedoch, dass mein Anliegen alles andere als unwichtig war und dass sie das selbstverständlich nicht zu den niedrigen Arbeiten hinzuzählten. Im Gegenteil, es war sogar eine gesunde Abwechslung, fast schon erfreulich – natürlich nicht von meiner Seite gesehen. Und sie erklärten mir, dass sie eigentlich sogar den schwersten aller Aufträge hatten. Es war fast schon unmöglich, ihre Aufgabe zu erfüllen! Die zwei sollten die Kulturschätze von Brehms behüten und darauf achten, dass niemand sie beschädigte oder gar stahl. Viele hegten Hass gegen manche der abgebildeten Personen oder suchten Streit, so dass sie diese beschmierten mit Obst und Gemüse. Und genau hier begann das Problem, das ihre Arbeit so unglaublich unmöglich machte, weswegen sie eigentlich hätten als Helden gelten sollen:

Die Leute taten solche Verbrechen nämlich immer genau dann, wenn die zwei Wachmänner nicht mehr da waren.

Wenn sie die Statuen erreichten, waren sie beschmiert und besudelt, so dass sie sie putzen mussten, sie hatten einfach keine Chance! Deswegen rannten sie auf ihren Patrouillen teilweise durch die Stadt – und war das nicht heldenhaft? Diese Selbstaufopferung? Diese Hingabe? Dieses Arrangement? Und nach einem ausschweifenden Text über faule Arbeiter und Soldaten, bei denen sie sich ausgiebig besonders über ihre Arbeitskollegen beschwerten, die das Kunstgut der Stadt gar nicht zu schätzen wussten, erfuhr ich noch so einiges über eben jene Schätze der Schönheit dieser Stadt.

Wir erreichten irgendwann die Unterführung zur ‚Rum-Marie’ und ich hatte das Gefühl, wenn ich auch nur noch fünf Minuten mit diesen zwei Soldaten verbringen musste, würden mir die Ohren abfallen oder mein Hirn explodieren. Ich hatte so viel Kulturwissen intus, dass ich meinte, ein wandelndes Brehms-Lexikon zu sein. Als wir die Unterführung erreichten, atmete ich auf. Der bewölkte Himmel über uns, eine Mischung aus grau und schwarz, verschwand durch das Gewölbe des Tunnels und alles was blieb, waren die Gänge mal dunkel, mal hell, je nachdem ob die Fackeln gerade hinter oder vor uns waren. Unsere Schritte hallten an den Wänden wieder und der kalte Wind hörte endlich auf, mir die Wangen zu betäuben. Dann blieb ich stehen.

Ich drehte mich unmittelbar vor der Tür zur Schenke um und sah den beiden fröhlich entgegen. „Vielen Dank, dass Ihr mich gebracht habt. Ich habe mich so wirklich sehr sicher gefühlt.“

Die zwei sahen sich verwirrt an, dann lächelten sie.

„Aber nicht doch.“, der Alte grinste etwas. „Das haben wir doch gern gemacht.“

„Nun, ab hier verabschiede ich mich dann.“, kündigte ich an und lächelte ebenfalls.

„Schon?“, wollte der Dick e erstaunt wissen. Ich nickte nachdrücklich, bemüht leise zu sprechen. Ich hatte die Hoffnung, niemand würde hören, dass ich in Begleitung war. Auf keinen Fall wollte ich weitere Probleme mit Morgan haben.

„Ja. Wisst Ihr, es gibt dort eine Frau.“, beschämt sah ich zu meinen Stiefeln. „Nun ja… Und es wäre mir etwas peinlich, in Begleitung zweier Soldaten. Nicht dass sie denkt-…“

„Verstehe schon.“, der Alte klopfte mir kameradschaftlich gegen die Schulter.

Der Dicke versuchte die Förmlichkeit wieder herzustellen. Er räusperte sich und säuselte: „Dann geht mal hinein und ruht Euch aus. Wir sehen mal im Skriptorium vorbei und erkundigen uns nach Euch. Wenn es Neuigkeiten zu diesen Halunken gibt, geben wir Euch bescheid.“

„Wenn wir die erwischen-…!“, drohend hob sein Kollege die Faust und schüttelte sie. Ich verbeugte mich leicht dankbar, anschließend wünschte ich eine gute Nacht.

Ich sah zu, wie die beiden umdrehten und in einer mies gelaunten Diskussion darüber endeten, dass Brehms nicht mehr das ist, was es mal war. Als der alte Henry noch gelebt hatte, da hatte es keine Menschen gegeben, die wegen fünf Heller einen anderen im Schnee liegen ließen. Ihre Stimmen hallten lange durch die Gänge und einige Zeit lang sah ich nur ihre langen, schwarzen Schatten an den Wänden, bis sie dann vollends verschwanden. Ich seufzte schwer und auch erleichtert, dann wandte ich mich der Tür zu. Der Krug klapperte, als ich eintrat und klapperte erneut, als die Tür sich wie von Geisterhand schloss. Wie ich befürchtet hatte saßen am Tresen sowohl der rothaarige Morgan, Johnny und auch der dritte Mann mit Knollnase und brauner Stoffmütze. Alle, inklusive Amy und Wirtin sahen mir mürrisch entgegen, während ich die Kapuze zurückschlug und den Blick unsicher und eingeschüchtert erwiderte, jedoch nur Morgan gegenüber. Dieser begann zu grinsen.

„N’Abend, Falcon.“

„Guten Abend.“, ich verbeugte mich leicht zur Begrüßung, dann starrte ich von Morgan zu seinem Partner, der mich festgehalten hatte. Dieser sah wieder in sein Bier und trank desinteressiert daraus. Die Wirtin wandte sich ab und erklärte dem Mädchen, wie es den Tisch abzuwischen hatte.

„Siehst mitgenommen aus.“, stellte der Rothaarige fest, ein wenig spöttisch vielleicht. „Prügelei gehabt?“

Ich stockte, dann antwortete ich: „Ich…wurde ausgeraubt.“

„Oh.“, Morgan gab sich enttäuscht. „Das tut mir leid. Geht es denn?“

„Ja, danke der Nachfrage.“, erneut warf ich seinem Partner einen Blick zu, dann sah ich Morgan wieder an, verbeugte mich abermals und flüsterte: „Angenehme Nachtruhe.“

Morgan winkte mir nur zu. Ich drehte um und ging hinaus, wohl wissend, dass die Blicke aller Anwesenden mir zugewandt waren. Ob die Wirtin von unserem Zusammenstoß wusste?

Auf dem Weg nach oben entzündete ich eine Kerze, die auf einem kleinen Tisch im Flur stand, extra für die Gäste und nahm sie mit hinein in mein Zimmer. Dort überkam mich die Erleichterung und ich legte die Stirn gegen das Holz, während ich abschloss. So blieb ich stehen, ich sollte noch öfters in dieser Haltung verharren. Weder zuhause, noch im Flur - im kleinen Mittelpunkt zwischen Tag und Tagesende. Mit geschlossenen Augen lauschte ich den stark gedämpften Stimmen des Erdgeschosses und beruhigte mein Herz. Ich fürchtete um mein Leben, als wäre ich wieder auf der Caroline und ich fühlte mich in meine Zeit dorthin zurückversetzt, als alle gegen mich waren und nichts gegen ein frühes Lebensende einzuwenden hatten. Erst nach einigen Minuten ließ ich die Klinke wieder los, warf den Umhang auf den Boden und setzte mich aufs Bett. Der Tag erschien mir wie die leibhaftige Hölle und trotzdem, als wäre er nie wirklich passiert. Als wäre ich gerade aus einem Albtraum erwacht und nun müsste ich aufstehen und zurück zum Skriptorium gehen. Müde und lustlos schlüpfte ich aus meinen Stiefeln, warf sie achtlos weg und legte mich hin. Noch immer waren meine Laken nichts weiter, als ein zerwühlter Haufen und auch jetzt hatte ich keine Lust, sie zu ordnen und mich hinzulegen. Es war mir gleich, ob ich auf der Matratze schlafen musste. Ich wollte nur liegen, mich zudecken und erst wieder aufwachen, wenn mein Körper sich vollends erholt hatte. Und so rollte ich mich gequält stöhnend auf die Seite, zog die Stoffe über meinen Kopf, zappelte so lange herum, bis auch meine Füße zugedeckt waren und versuchte vor Kälte zitternd den Schlaf zu finden. Der Nachttopf unter meinem Bett stank entsetzlich, da Amy sich scheinbar nicht darum gekümmert hatte und die Kerze hatte ich nicht gelöscht. In meinem Kopf drehten sich etliche Dinge umher und irgendwo draußen bellte laut ein Hund. Ich hasste die Stadt, ich hasste Morgan und ich hasste die dämliche Rum-Marie.

Irgendwann überwand ich mich, meinen Kopf wieder aus der Decke zu stecken, um die Kerze zu löschen, da fiel mir etwas auf. Ich hatte sie nicht auf den Tisch gestellt, sondern auf etwas kleines, mir unbekanntes. Etwas, was ich zuerst nicht bemerkt hatte und was mich jetzt verunsicherte. Ich setzte mich auf und vergaß die Kälte, dann nahm ich das kleine, grüne Buch in die Hand und starrte es misstrauisch und verwirrt zugleich an. Wie ist es hier her gekommen?

Es war alt und kaputt und einige Seiten schienen zu fehlen. Zum Ende hin war eine große Lücke, ein ganzer Block Seiten schien heraus gerissen worden zu sein. Manche Teile waren voller Ruß, andere fleckig oder aufgequollen. Wessen Buch es auch immer war, es hatte scheinbar viel mitgemacht.

Ich schlang die Decke enger um mich, stellte die Kerze vor mir auf die Matratze und begann zu lesen, was in alter Schrift darin verfasst worden war:
 

Das Gleichnis des barmherzigen Samariters
 

Jesus, der heilige Sohn unseres allen Vaters, wurde einst von einem Schriftgelehrten auf die Probe gestellt. Dieser fragte ihn:

„Jesus, sprich, wie erlange ich das ewige Leben?“

Und Gottes Sohn fragte den Gelehrten:

„Was steht in der heiligen Schrift geschrieben?“

Und daraufhin antwortete der Gelehrte jenes, was er gelesen und gelernt hatte:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Jesus nickte daraufhin und forderte den Schriftgelehrten auf: „So tue dies, welches in der heiligen Bibel steht und du wirst das ewige Leben erhalten. Liebe den Herrn, unser aller Gott wie du dich selbst lieben würdest, ebenso, wie deinen Nächsten.“

„Aber wer ist mein Nächster?“, fragte der Gelehrte daraufhin und Jesus erzählte ihm Folgendes:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho. Der Abstieg war lang und steil, schlecht für Händler und gut für Räuber und so fiel er unter die Räuber und hatte keine Gelegenheit dazu, sich zu wehren und zu verteidigen sein Hab und Gut. Sie zogen ihn aus und schlugen ihn nieder und gingen davon mit ihrer Beute, nicht beachtend das Jammern und Wehklagen des Mannes, welchen halb tot sie liegen ließen.

Es begab sich aber von ungefähr, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog gen Jericho zur heiligen Stätte und dieser den Mann und blieb stehen. Er sah hinab zur gekrümmten Gestalt, die doch keinen Laut mehr von sich gab und er gedachte sich:

„Die Tora gebietet mir, verunreinige dich nicht am Leichnam eines Stammesgenossen, außer derer, welche deine nächsten Verwandten sind.“ Und so ging er vorüber aus Angst vor dem Tod und seiner Entweihung, so kurz vor seinem heiligen Ziel, nicht wissend, dass der Mann noch lebte.

Dann begab es sich, dass ein Levit da kam zu der Stelle, an der der Armselige lag und auch er sah ihn und ging vorüber. Denn auch der Tempeldiener war auf dem Wege hinab nach Jericho, der heiligen Stätte und so sagte ihm doch das Gebot:

„Eine allfällige Berührung eines Toten oder mit dem Blute bedeute sieben Tame für ihn und mit diesen sieben Tagen ritueller Unreinheit dürfe er im heiligen Jericho, obgleich es seine Heimat war, keine rituellen Handlungen vornehmen.“

Und so ging auch er vorüber aus Angst vor dem Tod und seiner Unreinheit, mit welcher er im Tempel nicht mehr dienen dürfe, so kurz vor seinem heiligen Ziel, nicht wissend, dass der Mann noch lebte.

Als drittes ging ein weiterer über die abfallende Straße und da dieser aus Samaria stammte, der Hauptstadt des Königreiches von Israel, nannte man ihn Samariter.

Dieser ritt vorbei auf dem Weg zur heiligen Stätte Jericho und traf so auf den liegenden Mann, welcher tot schien, ganz ohne Leben. Und er hielt und fragte:

„Mann, bist du noch am Leben?“, und er hörte leises Wimmern. Das reichte dem Samariter, zu wissen, dass der Mann noch am leben war und er fragte laut und deutlich, so dass auch der Gepeinigte seine Worte verstehen konnte: „Mann, bist du Christ?“, diesmal zögerte der Liegende, denn er spürte, zwar war er gläubiger Christ, aber dennoch wünschte er sich die Beute der Diebe zurück. Dann wimmerte er wehleidig und unsicher:

„Ja, ich bin Christ, Herr.“

„Bist du wirklicher Christ?“, hakte der Samariter nach, denn er wollte sich nicht täuschen lassen. „Trägst du den heiligen Geist in dir?“

Wieder zögerte der Liegende, denn er spürte, zwar war er gläubiger Christ, aber dennoch wünschte er sich die Beute zurück und Rache an jenen, die ihn gepeinigt hatten. Dann wimmerte er wehleidig und noch unsicherer als zuvor:

„Ja, ich denke ich bin Christ, Herr.“

„Bist du dir sicher, dass du Christ bist und den heiligen Geist in dir trägst?“, hakte der Samariter nach.

Wieder zögerte der Liegende, denn er spürte, zwar war er gläubiger Christ, aber dennoch wünschte er sich die Beute der Diebe zurück, Rache an jenen, die ihn gepeinigt hatten und verspürte Wut gegenüber jener, die einfach vorüber gegangen waren. Dann wimmerte er wehleidig, aber voller Reue:

„Ja, ich glaube, dass ich gläubiger Christ bin, Herr. Und wenn nicht, so will ich alles tun, um den heiligen Geist wieder in mir zu tragen.“

Und da stieg der Samariter von seinem Pferde und erbarmte sich des Armseligen, welcher geschunden worden war für seine Sündtaten und nun bereit, sich zu bessern. Er säuberte die Wunden des Liegenden mit Wasser, versorgte sie mit Öl, gab ihm zu Essen und zu Trinken und hob ihn letzten Endes an auf sein Pferd. Zuvor noch zog er sich den Mantel aus, nahm sein Schwert und zerteilte diesen in zwei gerechte Stücke. In eines dieser wickelte er den Nackten und so ritt er zurück, fern von Jericho, seinem eigentlichen Ziel, den Berg wieder hinauf zu einer Herberge. Dort nahm er dem Mann ein Zimmer, bezahlte jenes und wies den Wirt an, ihn auch weiterhin zu pflegen, er würde auch für alles Weitere aufkommen. Er gab sein Wort, er würde zurückkehren und alle weiteren Kosten zahlen und so machte er sich auf, weiter seinem Weg zu folgen“.

Nachdem Jesus mit seiner Geschichte geendet hatte fragte er den Schriftgelehrten:

„Sprich, welcher der Männer war dem Verwundeten sein Nächster?“

Und der Gelehrte antwortete: „Der Samariter.“

Jesus bestätigte das Gesagte und trug dem Gelehrten auf: „Nun gehe und handele genauso. Sei allen der Nächste, wie die heilige Schrift es uns lehrt.“

Und da hatte der Gelehrte verstanden, der Samariter hatte nicht nur auf den Liegenden herab gesehen, nein, er hatte sich seiner erbarmt und den nächsten Weg zu ihm gesucht. Er war sein Nächster gewesen, hat ihn seiner Gläubigkeit geprüft und sich seiner angenommen, als dieser bekannte, nicht mit ganzem Geiste und ganzem Herzen dem Glauben beizuwohnen. Er half ihm den rechten Weg zurück zu finden und hat sich seiner angenommen, obgleich er Jericho zu spät erreichte. Er nahm in Kauf, sich selbst zu verunreinigen, um jemandem Fremdes zu helfen.

Jesus sprach zu uns, um uns zu zeigen, dass die Liebe zu Gott die Liebe zu den Menschen sei. Er lehrt uns nicht zu verkommen, wie die Räuber, die Sinnbilder der Dämonen, aber auch nicht wie jener Betroffene, welcher Gottes Strafe durch diese erfahren hat.

Der Priester, das Gesetz, zog an diesem einfach vorbei, der Levit, der heilige Prophet, ebenso. Nur Christus, der barmherzige Samariter, hielt, um sich der armen Kreatur anzunehmen. Er beendete die Buße des Gefallenen, nachdem dieser Einsicht gezeigt hatte und führte ihn zurück auf den rechten Weg, zurück nach Jerusalem, zur Herberge, einer Kirche gleich, die alle aufnimmt, die die Aufnahme begehren und zwar auf dem Leibe des Herrn – dem Pferde des Samariters.

Und der Samariter versprach wieder zu kehren, gleichzusetzen mit dem Wiedererscheinen des heiligen Jesus Christus.
 

Und damit endete das erste Kapitel. Als ich diese Seiten gelesen hatte, schloss ich das Buch, legte es zurück auf den Tisch neben meinem Bett, stellte die Kerze darauf und sah zum Fenster. Ich war etwas verwirrt.

Mir war dieses Gleichnis des Jesus bekannt, in dem der Samariter half, obwohl er verachtet und verstoßen war. So weit ich es gelernt hatte, waren Samariter jene, die zwar im Land des Herrn lebten, diesen jedoch nicht fürchteten. Um dies zu ändern sandte der Allmächtige Löwen unter sie, so dass sie zwar lernten ihn zu fürchten, jedoch dienten sie weiterhin ihren eigenen Göttern.

Ich wusste jedoch nicht, dass der Samariter dem Mann solche Fragen gestellt hatte. Unter Umständen hat ein Kopist seine eigene Version erfunden, das kam häufiger vor, aber für einen Zufall war es mir zu gezielt. Mit großer Wahrscheinlichkeit war das Buch von Nevar. Es beschäftigte mich, wie er es geschafft hatte, in mein Zimmer zu kommen. Die Tür war abgeschlossen gewesen und auch das Fenster war keinen winzigen Spalt geöffnet, aber schon nach kurzer Zeit, hörte ich auf, mir Fragen dazu zu stellen. Er war eben Nevar, das reichte mir.

Es hatte wieder begonnen zu schneien, doch ich bekam es kaum mit, sondern starrte unentwegt den schriftlosen Einband an. Was bezweckte er damit, wieso sollte ich das lesen?

Wenn es wirklich von ihm war - und keine Warnung von Seiten Morgans, der vielleicht mit den berüchtigten Samaritern zu tun hatte und nun fürchtete, ich würde mich in Dinge einmischen, die mich nichts angingen - dann war es ein Hinweis auf die Samariter. Aber worin genau sollte ich diesen Hinweis finden? Der Inhalt dieser Geschichte brachte mich kaum weiter. Weder hatte das Buch Öffnungen im Einband, noch im Buchrücken und auch als ich die Seiten gegen das Licht der Kerze hielt, erkannte ich nichts, was mir weiter half. Wohl oder übel kam ich wohl nicht drum herum das gesamte Stück zu lesen.

Ich beschloss das nicht mehr an diesem Abend zu tun. Zu müde war ich von der Prügelei, zu erschöpft von der Kälte und kurz musste ich schmunzeln, als mir bewusst wurde, dass ich, wie der Gepeinigte des Gleichnisses geschlagen und liegen gelassen worden war. Bei mir war kein Samariter vorbei gekommen – leider. Das hätte mir die Suche nach ihnen ohne Frage erleichtert.

Da ich nicht wusste, ob es sich bei dem Buch um ein Ketzerswerk handelte, was jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit der Fall war, steckte ich es sicherheitshalber unter mein Kopfkissen. Ich würde es mit zum Skriptorium nehmen und während meiner Pause lesen, heimlich, das nahm ich mir fest vor. Müde blies ich die Kerze aus und zog die Decke über meinen Kopf, in der Hoffnung auf etwas Wärme. Ich stellte mir vor, wie ich den Berg hinab von Jerusalem nach Jericho zog, in einem heißen Land auf einem Esel und wie Morgan, Robert und der Zuchtmeister mich nieder schlugen. Sie zogen mich aus, raubten mir alles, was ich besaß und flohen samt meinem Tier. Ich blieb liegen und jeder ging einfach an mir vorbei. Jeder bis auf Nevar.

Ob er ein Samariter war? Was waren diese Samariter überhaupt? Ich bezweifelte stark, dass es sich um Menschen aus Samaria handelte, schließlich existierte diese Stadt, die auf dem zweiten Kontinent am Weltende lag, seit über hundert Jahren nicht mehr. Zudem verwirrte mich die Tatsache, dass der Samariter den Liegenden gefragt hatte, ob dieser Christ sei. Das war doch völlig absurd! Wieso sollte ein Ketzer einen Christen fragen, ob dieser den heiligen Geist in sich trug und ihm dann sogar helfen, wenn dieser bejahte?

Irgendwann war ich so konfus, dass ich nicht einmal mehr merkte, wie ich einschlief. Ich dachte nach und versank in einem so tiefen Schlaf, dass er traumlos war und kaum erholsam. Ich vergaß die Kälte, vergaß meine Schmerzen und wachte erst auf, als es bereits viel zu spät war.

Unschuld

Als ich zu mir kam, schlug die Glocke gerade halb sieben und ich fuhr auf, als hätte ich einen deftigen Schlag bekommen. Die Kälte war sofort vergessen, die Schmerzen ebenso und ich stolperte los, ohne meinen Tagesablauf auch nur ansatzweise zu planen. Mit zausen Haar, übergeworfenem Umhang und Brot im Mund rannte ich die Treppe hinunter zum Skriptorium. An einer Ecke kam ich durch das Eis ins Schlittern und legte mich quer über den Boden und als ich den Laden dann endlich erreichte, hatte ich mehr blaue Flecken, als ohnehin schon. Mein Buch hatte ich mir wie Jacks zuvor in den Hosenbund gesteckt, das Geld lag noch immer in meiner Hosentasche. Ich schaffte es gerade noch pünktlich zu Meister Pepes Geschäft und er begrüßte mich außergewöhnlich gut gelaunt mit einem:

„Guten Morgen, junger Mann!“ Scheinbar freute der Greis sich, dass er endlich wieder Aufträge entgegen nehmen konnte. Zu meiner Freude hatte er vor, mich richtig in die Arbeit mit einzubringen und wir verbrachten viel Zeit damit, zu zweit die bestellten Bücher zu kopieren. Der Meister zeichnete vor und ich bekam die Aufgabe nachzuzeichnen. Leider war ich so darin vertieft, keine Fehler zu machen, keine Flecken zu hinterlassen, nichts zu verwischen und nicht zu stark aufzudrücken, dass ich nicht annähernd dazu kam, die Dokumente auch zu lesen, die ich kopierte. Ich stellte mich unbeholfen an, denn die Tinte verstopfte unentwegt meinen Kiel und es gelang mir nicht, mein Zittern bei feineren Linien abzustellen. Besonders schwer fiel es mir, da der Pult nun nicht mehr eben war, da der Greis diesen mithilfe einer Kurbel diagonal angehoben hatte. Die Arbeitsfläche verwirrte mich und erschwerte mir alles und als er für einen Moment hinausging, senkte ich die Platte wieder ab. Mit einem normalen Tisch wurden die Ergebnisse sichtbar besser, was bei dem alten Mann für Verwunderung sorgte, dennoch war er zufrieden und ließ mich weiter arbeiten. Er gab mir mehrmals eine zweite Chance, um meine Arbeiten zu verbessern und gewährte mir Pausen, um mein ungeübtes Handgelenk zu schonen.

Zeit, das seltsame Buch zu lesen, fand ich kaum und größtenteils nur abends. Es stellte sich als ein Erklärungswerk zur Samaritergeschichte heraus, in welchem es grundlegend darum ging, zu erklären, dass jeder Mensch so handeln sollte, wie der Samariter es tat. Es stand geschrieben, dass dieser verstoßen worden war, aber trotz alledem weder Hass, noch Abneigung zeigte. Trotz seiner Ausgrenzung zeigte er stattdessen Liebe und Barmherzigkeit und gab dieses sogar an seine Nächsten weiter. Er wurde mit Jesus gleichgesetzt und teilweise war ich nicht sicher, ob man ihn als Abbild Jesus’ sah oder als den Messias persönlich.

All diese Informationen sammelten sich in meinem Kopf an, vermengt mit jenen Dingen, die ich im Skriptorium lernte. Stück für Stück wurde ich zum Kopisten und bereits nach einer Woche konnte ich sämtliche Tintenarten unterscheiden, ganz gleich, ob Eisengalluss-, Dornrinden- oder Russtinte. Ich lernte, wie man bemessen konnte, welchen Zeilen-, Buchstaben- und Wortabstände es in einem Buch gab und durfte zusehen, wie Meister Pepe eine dreiseitige Goldschnittverzierung an jenem Buchblock vornahm, an welchem er seit Tagen selbst gearbeitet hatte. Bei diesem Werk handelte es sich allem Anschein nach um ein ganz Besonderes und vor allem teures Stück, weswegen ich verstand, dass er es nie aus den Augen ließ. Ich sah zu, wie er das Buch erst fest presste, dann die Seiten erst polierte, mit einem roten Farbschnitt versah und anschließend mit einer Flüssigkeit bestrich, um die Seiten danach mit Blattgold aufzulegen, um dieses anschließend ebenfalls zu polieren. Ich hätte niemals gedacht, dass für ein einzelnes Buch mit goldenen Verzierungen so viel Arbeit nötig war und mein Respekt gegenüber diesen kleinen Werken stieg fast ins Unermessliche. Die gesamte Prozedur der Herstellung hatte gut drei Monate gedauert, erklärte er mir und mir wurde klar, wieso er darauf bestand, dass dies kein einfaches Geschäft sei.

An jedem Buch, das diesen Laden fertig gebunden und verziert verließ, war mehr Mühe, als der Leser jemals beim Lesen haben würde.

Ich nahm mir fest vor noch besser zu arbeiten, um irgendwann vielleicht bereit dafür zu sein, ein eigenes, kleines Buch zu kopieren, zu binden und sogar zu verzieren. Jedes Mal, wenn der Meister einen neuen Schritt machte, wies er mich an genau zuzusehen und forderte mich auf, zu wiederholen, was ich bemerkt hatte. Ich wies mich als gehorsamer und vor allem aufmerksamer Lehrling und es war offensichtlich, dass Meister Pepe dem sehr zugetan war. Es machte ihm immer mehr Spaß, mein Können auf die Probe zu stellen und öfters musste ich die Buchschnitte polieren, sogar wenn es Hohlschnitte waren. Die Arbeit im Skriptorium begann mir immer mehr Spaß zu machen und auch wenn ich nichts hatte, über was ich mit dem alten Mann sprechen konnte, so genoss ich dennoch seine Gesellschaft. Ich galt als schweigsamer Arbeiter, der sich gerne zurückzog und sich selbst alles beibrachte, was es beizubringen gab. Pepe stellte weder Fragen, noch spionierte er in meinen Sachen, wenn ich sie irgendwo niederlegte. Ich tat, was man mir auftrug, das reichte ihm.

Im Laufe der nächsten Woche kamen die zwei Wachmänner vorbei und gestanden enttäuscht, dass sie keinerlei Anzeichen für die Gesuchten Räuber hatten. Sie taten mir fast leid, wie sie im Türrahmen standen, ihre Mützen in der Hand, mit traurigen Augen und hängenden Köpfen. Doch sie versicherten mir, sobald es Anzeichen geben würde, würden sie ohne zu zögern zuschlagen. Mir war es gleich, so lange Morgan mich nur in Ruhe ließ und das tat er. Die nächsten Tage waren sogar so entspannt, dass ich teilweise ganze Stunden mehr in der Schreibstube verbrachte, als ich eigentlich wollte. Je nachdem, wie viel ich an einem Dokument geleistet hatte, fiel meine Bezahlung aus und diese war alles andere als schlecht.

Nach einer weiteren Woche bat mich Pepe neben sich, während er einen Kunden betreute. Dies tat er immer öfters, damit ich lernte, was für Fragen man den Kunden stellen musste und worauf bei Büchern zu achten war. Zudem bekam ich die Aufgabe, jeden Tag einen anderen Schrifttypus zu lernen oder verschiedene Seiten zu vergleichen und Unterschiede zu suchen. Irgendwann vertraute er mir sogar so sehr, dass er mich beauftragte, neue Materialien zu kaufen und es war ein gutes Gefühl, als normaler, arbeitender und vor allem freier Mensch Aufträge in der Stadt zu erfüllen. Als die Verkäufer hörten, dass ich von Meister Pepes Laden käme, brachten sie mir Respekt und äußerste Höflichkeit entgegen, zudem waren sie ungemein freundlich. Der alte Mann galt als intelligent und warmherzig, was ihm ein hohes Ansehen verlieh und ich gebe zu, dass ich es nicht als schlecht empfand, auch etwas davon abzubekommen. Es war eine nette Abwechslung zu hören: „Beehrt uns bald wieder, werter Herr.“, statt „Raus hier, du Lump!“

Eine der Verkäuferinnen gab mir sogar etwas Tinte mit und von Meister Pepe bekam ich eine alte, abgenutzte Feder. Mit Wasser gelang es mir, ihren Kiel zu befreien und auch wenn sie nicht mehr hübsch anzusehen war, so begann ich dennoch, mich in meinem Gasthaus im Schreiben zu üben. Sonntags, wenn der Ruhetag war und die meisten die Kirchen und Kathedralen aufsuchten, verbunkerte ich mich in meinem Zimmer und schrieb seitenweise das Alphabet auf. Ich wollte so viele Schriftarten wie möglich beherrschen und zwar perfekt. Da ich keine Schriftart von Annonce gefunden hatte, erfand ich meine eigene und nachdem mein Werk vollbracht war, schmuggelte ich das Pergament unter die anderen der Schreibstube. Meister Pepe hatte es nicht bemerkt und ich stellte mir vor, was passieren würde, würde er die Schriftproben einem Kunden zeigen und dieser würde sich ausgerechnet für meine Schriftart entscheiden.

Ich ging in meinem neuen Leben richtig auf und auch dem alten Mann entging es nicht, dass ich immer öfter lächelte. Die Prostituierte vor der Rum-Marie unterließ irgendwann ihre Verführungsversuche, da sie wohl dachte, ich hätte ein Weib. Was sonst sollte mich so fröhlich machen? Es störte mich nicht im Geringsten, dass ich in den Augen des Meisters ein junger Spund und Lehrling war, ich genoss es sogar. Mein Kopf war frei von allen Dingen, so dass meine eigenen Gedanken genug Platz darin fanden. Ich tat, was man mir auftrug und die neuen Herausforderungen sorgten dafür, dass ich mich niemals langweilte. Ich war glücklich.

Nach fast einem Monat, als ich mich vollends an meinen neuen Alltag gewöhnt hatte, geschah es, dass Pepe mich sogar einen Kunden betreuen ließ. Er erlaubte mir, mich an den Tresen zu stellen und unter Betreuung die Beratung durchzuführen, so wie die Feststellung des Preises. Ich war ungeübt und ab und an musste er mir unter die Arme greifen, wenn mir Fachbegriffe fehlten, aber im Großen und Ganzen war ich stolz und zufrieden. Ich konnte mir vorstellen, mein gesamtes Leben in den Diensten des alten Mannes zu verbringen. Morgan verlor für mich immer mehr an Bedeutung. Ich hatte mir angewöhnt, den Rothaarigen zu grüßen, wenn ich ihn sah und es war zu solch einer Routine geworden, dass ich sämtlichen Respekt vor meiner eingesteckten Prügel verlor. Er wurde für mich zu einem normalen Mann, wie jeder andere auch und wenngleich er mir böse und drohende Blicke zuwarf, so musste auch er gemerkt haben, dass ich ihm nie hatte etwas Böses tun wollen.

Dieser Gedanke stellte sich jedoch als Fehler heraus, denn Morgan wurde misstrauisch. Ich war ruhig, zu ruhig, außerdem hatte er das Bedürfnis, seinen Aggressionen Luft zu machen. Eines Abends auf dem Weg zur Rum-Marie lauerte er mir im Gang zum Eingang der Herberge auf und stieß mich gegen die Brust. Er forderte mich auf, meine Taschen zu leeren und mit einem Mal fiel mein letztes Erlebnis mit ihm zu mir zurück. Schweigend und ohne Widerwehr gehorchte ich, ungewohnt ruhig, fast wie betäubt. Johnny, sein zweiter Partner und er fanden nichts, als ein paar Heller, denn das meiste meines Verdienstes versteckte ich im Loch des Gasthauses, in meinen Schuhen und in einem Mauernriss unter meinem Fenstersims, doch auch dieser kleine Gewinn reichte der Bande, um eine Woche später erneut aufzutauchen. Immer wieder nahmen sie mir zwischen fünf und zehn Heller ab und als ich eines Abends ohne Geld nach Hause ging, setzte es Schläge, für die ich den Kerl verfluchte. Wehren tat ich mich jedoch nicht und ausziehen stand völlig außer Frage. Ich wollte auf keinen Fall noch mehr Streit mit ihnen, außerdem sollte Nevar wissen, wo ich steckte.

Ich beschloss Morgan zu geben, was er wollte, um meine Ruhe zu behalten und trug von dort an immer sechs oder sieben Geldstücke bei mir. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass er gieriger werden könnte und so stand er fast jeden Abend bereit, um mich zu empfangen, nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, wo ich arbeitete. Schreiber zu sein bedeutete, gut zu verdienen und aus den sechs Hellern wurden sechzig.

Ab diesem Punkt weigerte ich mich, denn ich war nicht bereit, einen halben Silberling an ihn zu verschenken und diesmal schlug er so heftig zu, dass ich zu Boden ging und liegen blieb. Auf diese Weise lernte ich Melina kennen. Melina war die Prostituierte, die regelmäßig in den Marie-Tunneln, wie man die Gänge zur Rum-Marie nannte, stand und nachdem die drei Männer verschwunden waren, kam sie zu mir. Sie half mir aufzustehen und fluchte laut über „diese stinkenden Rattenkerls“, wie sie immer sagte.

Ich sprach nicht viel mir ihr, da sowohl ich, als auch sie Abstand wollten, dennoch genug, um zu wissen, dass sie fünfundzwanzig war und zur Mendici-Gilde gehörte. Dies war eine Art Bettlergilde, aber man brauchte mir nicht zu sagen, dass es sich dabei durchaus um eine Ansammlung von Dieben und Halunken handelte. Jeder, der eine Bettellizenz haben wollte, musste dieser Gilde beitreten und regelmäßig gewisse Beträge zahlen. Meist waren diese jedoch so hoch, dass es ohne illegale Aktivitäten gar nicht möglich war.

Dennoch folgte ich ihr immer öfter in die hinteren Teile der Gassen und es störte mich auch nicht, dass mir danach die Münzen aus meinen Taschen fehlten, die Morgan mir nicht abgenommen hatten. Die wenigen Heller waren ein sehr geringer Preis für das, was Melina mir gab und ich erwischte mich, wie auch dies zu meinem Alltag wurde.

Umso mehr ich verdiente und zur Seite lag, desto mehr Neider entstanden. Ich hatte irgendwann so viel sparen können, dass ich meinen selbst angefertigten Umhang in meinem Sack verstaute und mir einen neuen kaufte, mit verzierter Holzbrosche und eingraviertem Stern. Ich würde nicht behaupten, ich wäre eitel gewesen, aber ich besaß das erste Mal im Leben Geld und es ist nur verständlich, dass ich den Umgang damit noch nicht beherrschte.

Da ich gegen Morgan und seine Gefährten keine Chance hatte, aber auf keinen Fall Wachmänner mit hineinziehen wollte, fügte ich mich ihren Forderungen irgendwann oder ich begann, riesige Umwege zu laufen und so auszuweichen. Meine Rippen waren teils geprellt und ich war durch die Schläge so erschöpft, dass es auch meine Arbeit erheblich beeinträchtigte.

So begann ich auch die Samariter und Nevar irgendwann zu vergessen, dafür wurde die Wirtin der Rum-Marie mit der Zeit immer neutraler mir gegenüber. Umso länger ich in Brehms war, desto weniger war über mir der dunkle Schatten namens ‚Annonce’.

Ich traute mich eines Abends sogar eine Suppe zu bestellen, als Morgan und die anderen nicht anwesend waren und begann eine Unterhaltung mit Amy.

Amy war die Ziehtochter der Rum-Marie, diese hatte sie von ihrer Schwägerin aufgenommen, welche Amy hatte an einen Händler verkaufen wollen. Seitdem lebte und arbeitete das Mädchen in der Schenke und träumte davon, einmal eine große Schneiderin zu werden. Sie mochte mich sehr und half mir, ab und an heimlich heißes Wasser aus der Küche zu holen. Nicht viel, da ihre Arme schwach und dünn waren, aber genug, um mich wöchentlich ordentlich zu waschen und zu rasieren. Manchmal besuchte das Mädchen mich auf meinem Zimmer und dann setzten wir uns auf das Bett und sie erzählte mir von ihren Träumen und Fantasien. Ich habe noch nie ein so fantasievolles und kreatives Mädchen wie sie getroffen. Sie hatte die wildesten Ideen und träumte teilweise mit offenen Augen. Dann starrte sie vor sich hin, murmelte leise mit sich selbst oder summte Melodien, die einfach so aus ihrem Kopf heraus sprudelten. Wir erfanden ein Spiel in dem sie ein Wort sagte, ich es wiederholte, sie eines hinten dran hängte und so weiter. So bildeten wir lange Satzreihen und durch ihr gutes Gedächtnis musste ich mich das eine oder andere Mal geschlagen geben.

Die positive Verbindung zu dem Mädchen steigerte auch jene zwischen mir und der Wirtin. Sie begann, mich ab und an anzulächeln oder warf mir entschuldigende Blicke zu, wenn ich mit blutiger Nase auf mein Zimmer ging, mehr jedoch nicht.

Ich begann zu vermuten, dass sie die Frau von Morgan wäre oder zumindest irgendeine nähere Bekannte. Amy sagte nichts konkretes dazu und ich wollte sie nicht direkt fragen, um sie nicht in irgendwelche Streitigkeiten mit hinein zu ziehen, aber ihr Unbehagen gegenüber dem Rothaarigen und ihr Seufzen, wenn die zwei in der hinteren Kammer verschwanden, ließen vermuten, dass Morgan bereits länger hier Gast war. Allem Anschein nach konnten wir ihn beide nicht leiden, denn des Öfteren endeten wir mit unserem Spiel damit, dass Morgan in ein Fass fiel oder sich den Fuß an einem Stein stieß. Und dann lachte das Kind so laut, dass das ganze Haus davon erfüllt war und ich beschämt zugeben musste, dass mich das ungemein entzückte. Ich mochte es, das Mädchen lachen zu hören und schämte mich dafür, da sie weitaus jünger als ich war. Dennoch versuchte ich immer wieder, sie zu einem weiteren Lachen zu ermuntern.

Schließlich wurde es endlich wärmer in der Stadt, meinem neuen Zuhause.

Nicht erheblich und nicht warm genug, als dass ich auf Hemden und Umhang hätte verzichten können, aber die Schneemassen auf den Hauptwegen schmolzen und gaben die Pflastersteine nach und nach frei. Immer mehr wurde der weiße Boden wieder zu grau und es dauerte nicht lange, da sah man bereits die ersten Bettler an den Straßenrändern. Der Frühling war noch nicht nahe, aber das Ende des Winters kam sichtbar immer näher und Brehms gewann an Lebendigkeit. Ich hatte durch lange Spaziergänge in meiner Freizeit viele Einblickte in das Innere der Stadt bekommen und nun merkte ich, wie stückweise alles aus seinem Winterschlaf aufzutauen schien. Manchmal, wenn die Sonne schien und der Himmel nicht mehr weiß und grau war, dann saß ein alter Mann auf einem Stuhl draußen in der Gasse vor einer der Herbergen, die ich passierte. Ich nickte ihm freundlich zu und wenn ich ihn nicht sah, wusste ich, dass es schlechtes Wetter gab.

Man könnte sagen, ich wurde ein Teil dieser Stadt, auch wenn jeder mich nur vom Sehen kannte und niemand wusste, wer genau ich eigentlich war. Durch meine Aufträge von Meister Pepe war mein Gesicht in vielen Geschäften bekannt und durch meine Freundlichkeit hatte man oft ein nettes Wort für mich übrig. Dennoch wusste kaum einer, woher ich stammte oder wie ich hieß. Genau so, wie ich es mir als Kind immer vorgestellt hatte. Ich fühlte mich frei und daran konnte nicht einmal Morgan etwas ändern.

Doch es gab einen Tag, an dem all diese positiven Dinge schlichtweg in den Schatten gestellt worden waren.

Die Wirtin der Rum-Marie wollte allem Anschein nach keinen Tumult in ihrem Haus, denn sobald ich auch nur einen Fuß über die Schwelle setzte, war ich vollkommen sicher. Ich wäre leichte Beute für Morgan gewesen, wenn das nicht so gewesen wäre, denn sie hätten lediglich ein Stockwerk höher gehen müssen. Bis zu einem Abend jedenfalls.

Ich hatte mich bereits drei Tage lang davor gedrückt Morgans Männern zu begegnen und war ihnen erfolgreich ausgewichen, indem ich mit Melina mitgegangen war. Irgendwann hatten sie die Kälte nicht mehr ausgehalten und gaben ihre Lauer so auf. Dann war ich in die Herberge gegangen, nach oben verschwunden und hatte mich eingeschlossen.

An diesem Abend jedoch war es anders. Melina war nirgends zu sehen und auch auf dem Weg zum Eingang war kein einziger Mensch. Ich ging durch den Tunnel mit bösen Vorahnungen und geistig bereits auf die Prügelei mit den Dreien vorbereitet, doch ich erreichte die Tür mit dem angebrachten Krug ohne jedes Problem. Als ich sie öffnete und eintrat, kam mir die Wärme der Rum-Marie entgegen, die ich im kalten Winter so lieben gelernt hatte und wie so oft sah ich nach links zum Tresen.

Morgan und seine Partner saßen dort und tranken Bier, die Wirtin stand daneben, doch diesmal war es anders. Es war fast totenstill im Haus. Langsam zog ich die Kapuze vom Kopf und ich registrierte, was anders war.

Marie stand mit gesenktem Kopf und geröteten Augen, alle sahen in ihre Krüge und nur Morgan grinste die ganze Zeit, angetrunken, aber keineswegs Streit suchend. Amy war nirgends zu sehen.

Als Morgan mich registrierte drehte er seinen Kopf zu mir und hob den Krug an.

„Ah, Falcon, wie schön. Guten Abend.“, diesmal antwortete ich nicht. Schweigend wandte ich mich an die Treppe und sah hinauf, dann wieder zu Marie. Ihr Anblick war beängstigend. Die sonst so starke Frau wirkte nun ganz anders, als sonst und ich erkannte, dass ihre linke Wange leicht geschwollen war. Wie ein Schatten ihrer selbst stand sie einfach nur da, als wäre ihr Geist ganz woanders. Und wo war Amy? Als würde er meine Gedanken lesen können, rief Morgan mir zu:

„Wenn du das Kind suchst, das war oben. Vorhin. Hat nach dir gesucht.“

„Hat nach mir gesucht?“, wiederholte ich verwirrt und sah ihm entgegen. Ich registrierte im Winkelblick, dass die Frau zu zittern begann und sich mit dem Rücken zu mir stellte.

„Ja, hat die kleine Amy. Wusste gar nicht, dass du mit ihr zu tun hast, Falcon?“

Auch ich begann zu zittern, als Gänsehaut meinen Rücken entlang fuhr und ich atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. Leise sagte ich:

„Habe ich. Flüchtig. Wieso auch nicht?“ In meinem Innern wurde es heiß und kalt zugleich, als mir bewusst wurde, was ich allem Anschein nach getan hatte. Ich hatte Amy in meine Angelegenheiten mit hinein gezogen und nun war sie weg. Aber wo? Wo war sie?

„Weil du ein Haufen Scheiße bist.“, nuschelte er betrunken und lachte über seinen eigenen Witz, der so sehr ohne Humor war, wie er voller Alkohol. Keiner teilte seine Belustigung, nicht mal jener mit Mütze und Knollnase. Dann erklärte Morgan lallend: „Das Miststück wollte mir nicht sagen, wo dein Geld ist. Na ja, hat es wohl nicht gewusst, kann man nichts machen. Aber ich habe-…“

Weiter hörte ich nicht zu. Schon während er den nächsten Satz begann, war ich los gerannt und stürmte die Treppe hinauf. Er rief mir lachend hinter her: „Wo rennst du denn hin?!“, doch ich blendete seine verfluchte Stimme einfach aus. Wie blind rannte ich in den Flur und brüllte:

„Amy?!“, doch es gab keine Antwort. Panisch sah ich mich um und drehte mich um mich selbst, obwohl bis auf Türen nichts zu sehen war. Aus dem Erdgeschoss drang das Schluchzen der Wirtin zu mir herüber. Dann brüllte ich erneut: „Amy?!“ Irgendwann hörte ich Wimmern aus meinem Zimmer. Sofort fuhr ich herum und riss die Tür auf, ohne zu registrieren, dass sie aufgebrochen worden war. Das erste, was ich registrierte, war das Kind, das heulend unter meinem Fenster hockte, die Beine angezogen und das Gesicht in den Händen vergraben. Einige ihrer Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen nun zerzaust in ihr Gesicht. Das zweite was ich registrierte, war, dass alles, was mir gehörte zerstreut auf dem Boden herum lag.

Ich stürzte zu ihr vor und für einen Moment war ich hilflos, da ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und wagte es nicht, sie anzufassen, aus Angst, ich würde alles nur noch schlimmer machen, doch Amy nahm mir die Hilflosigkeit ab. Das Mädchen stürzte mir in die Arme und begann noch stärker zu weinen, als ohnehin schon. Dabei vergrub sie sich bei mir und ich umarmte sie unsicher. An ihren Armen waren blaue Flecken und für einen kurzen Moment hatte ich einen Blick auf ihr Gesicht werfen können. Ihre Lippe war aufgeplatzt, mehr nicht und es beruhigte mich, dass sie nicht schreiend vor mir zurückwich. Ich nahm das Kind fester in den Arm, zischte beruhigend und streichelte ihren Kopf. In Gedanken sandte ich Danksagungen gen Himmel, dass Morgan ihr nichts Ernsthaftes getan hatte. Wenngleich dieser Mann allem Anschein nach ein Bastard war, so war er zumindest kein Monster, das war etwas Gutes. Nur langsam wurde mir bewusst, dass er sämtliches Hab und Gut von mir durchsucht und auch auseinander genommen hatte, aber ein kurzer Blick zu meinem Geheimversteck lies mir das egal werden.

Ich blieb auf dem Boden hocken und hielt das Kind so lange im Arm, bis es sich beruhigt hatte. Ich war nicht sicher, ob Amy schlief, aber ich wagte es auch nicht, sie los zu lassen, aus Angst, sie würde zerbrechen. Ihr Körper war so viel kleiner als der meine und ihre Arme erschienen mir noch dünner, als ohnehin. Mit jeder Minute, die ich sie weinen oder schluchzen hörte, stieg in mir der Hass und ich wünschte mir, ich könnte Morgan alles zurückzahlen.

Unbewusst löste ich eine Hand aus ihrem Haar und fasste mir an den linken Knöchel. Der Griff meines Dolches war eiskalt durch die Winternacht, dennoch schien er nach mir zu rufen.

Amy hatte nichts mit mir zu tun und dieser Mann würde dafür zahlen, dass er sie geschlagen hatte. Das schwor ich mir. Er würde büßen...

...und wenn ich damit mein neues Leben ruinieren würde!

Rache

Morgan und seine Freunde saßen noch immer, als ich die Schenke betrat und schweigend und seelenruhig zu ihnen hinüber ging. Ich stellte mich etwas abseits an den Tresen, noch immer in meinem Unhang und verlangte recht kühl:

„Ein Bier.“

Die Wirtin sah mich nicht an, während sie meiner Bitte nachkam und ich spürte die Blicke des Rothaarigen, der damit rechnete, dass ich einen Streit anfangen würde. Amy hatte ich zurückgelassen. Das Mädchen war erschöpft vom Weinen und brauchte Ruhe, zudem wollte ich nicht, dass sie mit hinunter kam. Noch nicht.

Ich sah, dass ihre Ziehmutter wissen wollte, was geschehen war. Allem Anschein nach war sie mit Absicht im Untergeschoss gewesen, damit Morgan unten blieb und nicht erneut hoch ging. Ihre Hilflosigkeit und Unwissenheit nahm mich etwas mit. Sie wusste weder, wie es dem Kind ging, noch, was der Mistkerl ihr angetan hatte. Wenn ich eines hasste, waren es Männer, die Schwächere schlugen. Aber wenn diese Schwächeren Frauen waren, dann wurde ich fast blind vor Wut. Bevor ich in das Heim gekommen war, hatte ich bis zu meinem fünften Lebensjahr bei meiner Mutter gelebt. Sie war oft von meinem Vater geschlagen worden, zumindest glaubte ich das. Ich meinte, mich erinnern zu können, wie sie vor mir stand, mit einem blauen Auge und einem schwachen Lächeln. Meine einzige Kindheitserinnerung und vielleicht nur Einbildung, aber wenn ich ein solches Weibsbild sah, dann dachte ich an sie, an Mary-Ann oder all die anderen Frauen, die sich nicht von ihren Männern scheiden lassen durften und die dies laut heiliger Schrift sogar verdient hatten.

Mit einem unsicheren Blick der Wirtin und düsteren der Bande nahm ich das Bier entgegen, trank einen Schluck und stellte den Krug zurück auf den Tisch. Ich griff in meine Tasche und legte ein Silberstück daneben, bewusst und langsam legte ich erst die Kante des Stückes auf das Holz, dann ließ ich es laut klacken.

„Für einhundert Heller kriege ich wohl besseres Bier, nehme ich an?“

Meine Stimme war rau und leise, ungewohnt ruhig noch dazu. Johnny und der Mann mit Mütze sahen Morgan kurz an, wie um zu überprüfen, ob auch ihm meine Veränderung aufgefallen war. Dies war durchaus der Fall. Der Rothaarige stellte nun auch seinen Krug zur Seite, denn er war darauf gefasst, dass ich mich als nächstes an ihn wandte.

Marie, sichtbar eingeschüchtert von der geladenen Stimmung, erklärte leise: „Das ist mein bestes Bier, Falcon. Auch wenn Ihr nun ein feiner Herr zu sein scheint, ich kann Euch nichts Besseres geben.“

„Das könnt Ihr sicher.“, ich nickte zur Tür hinter Marie. „Im Lager ist sicher welches.“

Sie verstand den Wink und schluckte schwer. Würde sie nach nebenan gehen, würde sie ihren Mann verraten, dennoch nickte sie, steckte das Geld ein, kramte den Schlüssel hervor und drehte ab.

„Marie…!“, knurrte Morgan, der scheinbar leicht unsicher wurde. Doch sie erwiderte nur gereizt:

„Der Gast verlangt besseres Bier, also soll er welches bekommen.“, und mit einem drohenden Blick fauchte sie, während sie eintrat: „Das hier ist noch immer mein Wirtshaus, Morgan Cunningham!“, ich sah schweigend auf den Tisch vor mir und nickte nur, während sie mit einem Lächeln hinzufügte: „Es kann einen Moment dauern, darin herrscht das Chaos in Person.“, und schon ging die Tür zu und wir waren allein.

Gut eine Minute lang geschah nichts. Man hörte das Poltern aus dem scheinbaren Lager, ab und an, wie einer von den Dreien etwas aus seinem Krug trank und für einen kurzen Moment das Zischen einer ausgehenden Kerze. Der Wind pfiff durch die Fensterläden und ich hörte, wie der Mann mit Mütze neben mir sich am Bein kratzte.

Johnny stand irgendwann unerwartet auf und erklärte: „Ich geh pissen.“, und damit verschwand er durch die Eingangstür. Nun waren nur noch Morgan Cunningham und sein Partner mit Knollnase und Mütze unmittelbar direkt neben mir da. Ich sah keinen der beiden an, als ich in den Raum fragte:

„Schmeckt das Bier?“, kurzes Zögern, dann ein bejahendes Brummen als Antwort. Ich musste schmunzeln. „Kein Wunder, wenn ich es zahle.“

„Suchst du Streit?“, fauchte der Rothaarige gereizt. Wie erwartet war er ungeduldig und aggressiver, als nötig.

Ich zuckte mit den Schultern. „Habe ich den mit Euch nicht schon?“

Morgan wurde finsterer und starrte mich an. Sein Partner hielt sich interessanterweise völlig raus und trank seelenruhig einen weiteren Schluck seines Getränks. „Was soll das, du gelehrter Schnösel?! Geh auf dein Zimmer zu deinem Balg und lass mich in Ruhe…!“

„Lass du doch mich in Ruhe, Morgan.“, antwortete ich bewusst unhöflich und entgegnete seinen Blick. „Soweit ich weiß, lauert ihr doch mir auf und nicht umgekehrt. Woran liegt das? Bist du nicht in der Lage, dir dein eigenes Geld zu verdienen?“, ich musste grinsen. „Das ist das dumme bei euch Pöbel, die weder lesen, noch schreiben können. Bis auf einfache Berufe könnt ihr halt nichts machen.“

Wütend sprang er auf, scheinbar hatte ich einen Nerv getroffen. „Wag es nicht, zu behaupten, ich wäre dumm, du verfluchter-…!“, doch weiter sprach er nicht. Auch ich erhob mich, jedoch um einiges ruhiger und sah ihn gelangweilt an. Wütend baute er sich direkt vor mir auf, stieß mir gegen die Brust und zischte: „Du denkst wohl, weil du Bücher abschreibst, bist du was besseres?“, aufgeblasen schnaubte er. „Vielleicht sollten wir dir mal wieder ein wenig mehr Zeit schenken, damit du dich erinnerst, wer der Stärkere von uns beiden ist?“ Nun stand auch sein Partner auf und lehnte sich gelassen gegen den Tresen. Er rückte seine Mütze zurecht und musterte mich von oben bist unten. Wie Morgan war er einen geringen Teil größer als ich und sicherlich um Längen stärker, aber ich hatte nicht vor, mich davon aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich ließ mich zurück stoßen und stellte mich mit Absicht in die Rolle des Schwächeren und zugleich naiveren. Anheizend lachte ich:

„Ohne deine Freunde traust du dich noch nicht mal, mir aufzulauern!“

„Ach nein?!“, er stieß mir abermals gegen die Brust und ich stolperte zurück. Sofort rückte Morgan nach, um mich noch einmal zu stoßen.

„Nein, weil du ein feiger Bastard bist.“

„Dir werde ich zeigen, wer feige ist!“

„Ja? Da bin ich aber mal gespannt. Auch ohne deinen Freund?“, und bei dieser Frage nickte ich zum Tresen. Unbewusst folgte Morgan meinem Blicke und so schaffte ich es ihn zurück zu lenken, fern von der Tür, wieder näher ins Rauminnere. Er drehte sich zurück zu mir und zischte:

„Ja, auch ohne ihn! Du wirst dir wünschen, deine Klappe nicht so aufgerissen zu haben…!“

Dann tat Morgan das, was ich mir erhofft hatte. Er zog ein Messer, wie Amy es mir vorhersagte, denn wenn er allein war, griff er stets zu den Äußersten Mitteln. So kam er drohend näher an mich heran und seine Augen waren eine Mischung aus Trunkenheit und Mordlust. Mit Absicht wich ich zurück und begann einen großen Kreis zu schlagen und hob abwehrend die Hände. Ich tat erschrocken und stammelte:

„Morgan, mach keinen Mist…! Steck die Waffe weg!“

Doch das feuerte ihn nur noch mehr an. Mit meinen Schritten lenkte ich ihn so, wie ich es wollte.

„Bekommst du jetzt Schiss oder was?!“

„Morgan, steck die Waffe weg!“, forderte ich leicht ängstlich erneut und stolperte etwas. Er stürzte vor und es gelang mir, aus zu weichem. Sofort folgte er wieder meinem Kreis, diesmal in die andere Richtung. „Morgan, ein kleiner Streit ist keinen Mord wert…!“

„Halt den Rand und kämpfe!“, er schrie mir so laut entgegen, dass kleine Speicheltropfen durch die Luft flogen. Die weißen Sprühen landeten auf dem Holzboden, der Mann mit der Mütze trank einen Schluck Bier und die Glocken der Kathedrale begannen neun Uhr einzuläuten. Sie waren so laut, dass jeder, wirklich jeder es hören konnte, auch Amy.

Wie auf Bestellung ging im ersten Stockwerk die Tür auf, dann wieder zu und leise Schritte näherten sich der Treppe.

Ich bekam das mit, ich wusste schließlich worauf ich achten musste. Morgan jedoch bemerkte es nicht. Das einzige, was er sah waren meine Augen und der Bereich dazwischen, in den er wahrscheinlich die Klinge jagen wollte.

„Ich bringe dich um…!“, zischte er mir wie im Wahn zu, um sich selbst hinein zu steigern. „Du hast lange genug getan, wozu du Lust hattest! Dämlicher Annoncer! Leute wie dich sind hier nicht willkommen!“

Bei dem letzten Satz hatte er wieder angefangen zu schreien und fast schon panisch stolperte ich unbeholfen weiter nach hinten.

„Morgan, beruhige dich…!“, flehte ich. „Es war nicht so gemeint, ich gebe dir das Geld, aber bitte hör auf damit…!“ Doch es kam gar nicht an.

Der Nachtwächter begann zeitgleich seine Patrouille, so wie jeden Abend, nachdem er die Lampen angezündet hatte. Laut hörte man ihn durch die Fensterläden hindurch singen:

„Hört, Ihr Herrn, und lasst euch sagen,

unsere Glocke hat neun geschlagen.

Löscht Feuer und Licht, dass man nichts sieht

und dass dem Haus kein Leid geschieht.

Menschen wachen kann nichts nützen,

Gott muss wachen, Gott muss schützen

Herr, durch deine Güt und Macht-…“

Doch weiter kam er nicht. Morgan stürzte auf mich und warf mich mit seinem Körpergewicht zu Boden. Es krachte laut, als ich wie geplant gegen den Tisch knallte und ihn mit etwas Schwung und einem deftigen Tritt auf die andere Seite eben dessen beförderte. Er schleuderte über die Tischplatte hinweg, auf der ich lag und knallte zu Boden. Währenddessen war Amy auf die Treppe getreten und hatte vor Schreck so laut „Ah, zu Hilfe, er bringt ihn um!“ geschrieen, dass selbst der Nachtwächter es hörte und falls nicht, so schrie sie noch mal. Sie schrie immer und immer wieder und hielt sich dabei die Augen zu.

Marie stürzte aus dem Lager und das erste was sie sah, waren Morgan und ich, wie wir uns hoch rappelten und erneut stürzten, weil er quer über den Tisch auf mich sprang.

Dann sah sie das Mädchen und rannte panisch zu ihr, etwas übertrieben vielleicht. Ich hatte Morgan von der Treppe fern gehalten und es waren mehrere Schritte, bis er sie erreichen würde. Dennoch presste sie das Kind an sich und versuchte es zu beruhigen – vergeblich.

Amy schrie, holte Luft und schrie weiter. Und nur ich wusste, wieso.

Morgan versuchte währenddessen mir die Klinge in den Hals zu rammen. Es fiel mir schwer, ihn von mir fern zu halten und ich hatte es mit Absicht verpasst, meine eigene Waffe zu ziehen. Nun lag er über mir und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen mich. Irgendwann entwand ich ihm die Klinge und sah im Augenwinkel, wie auch Morgans Partner sich endlich einmischte. Doch als die Tür aufging und der Nachtwächter eintrat, hob er die Hände und wich zurück.

Es war nur ein einfacher Mann mit Hellebarde und Lampe, doch er war ein Beamter und das sorgte für den nötigen Respekt. Gut, Nachtwächter waren ebenso unerwünscht, wie Henker, aber zumindest hatten sie mehr zu sagen, als einfache Leute. Zuerst suchten seine Augen nach dem schreienden Kind und dann, als ihm auffiel, dass dieses gar nicht mehr schrie, entdeckte er uns.

Etwas ungläubig registrierte ich, dass der Mann wieder verschwand, doch er rief nur lauthals nach Verstärkung, ehe er wieder hinein stürmte.

Morgans Freund – ein echter und wahrhaftiger Freund – wich zurück zum Zeichen, dass er mit uns nichts zu tun hatte und ich gab mich geschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Wehrlos lag ich unter dem Rothaarigen und spürte, wie immer und immer wieder die Faust in mein Gesicht knallte. Der Nachtwächter versuchte ihn von mir herunter zu ziehen, Morgans Partner erwies sich sogar als Helfer des Gesetzes und Marie und Amy halfen mir aufzustehen.

„Er hat mich angegriffen!“, stotterte ich übertrieben verwirrt und mit blutiger Nase. „Mit einem Messer! So tut doch etwas!“

Anschließend rannten verwirrt zwei blau gerockte Wachen hinein – die Statuenbewacher. Sie erkannten mich, meine blutige Nase und dann verstanden sie, was sie verstehen wollten: Die Täter haben erneut zugeschlagen!

Sofort stürzten sie vor um den wütenden und schreienden Betrunkenen festzunehmen, dessen Gesicht nun noch stärker gerötet war, als seine Haare. Sie erwiesen sich als äußerst ungeschickte Soldaten, denn der Dicke kämpfte damit, den Mann festzuhalten, während der Ältere versuchte, einen Knoten zu machen. Erst als sie ihre Aufgaben tauschten, gelang es ihnen.

Der Nachtwächter gab Anweisungen, Morgan sofort auf das Revier zu bringen und scheuchte den Alten los, die Aufgabe zu erfüllen. Der Dicke blieb, um den Tathergang aufzunehmen.

Dafür stellte er sich vor mich, baute sich nicht wenig stolz auf und fragte: „Was ist hier passiert?!“

„Er hat mich angegriffen!“, erklärte ich noch immer ungemein schockiert. „Wir hatten einen Streit und plötzlich ist er auf mich losgegangen! Mit einem Messer!“

„Mit einem Messer.“, wiederholte der Blaurock. „Grundlos.“

Man sah ihm an, dass er mir nicht glaubte, wenngleich wir uns kannten und er mich wohl mochte. Sein Blick war zweifelnd, seine Stirn kraus und er schob nachdenklich seine Brille zurecht. „Mit allem Respekt, aber wieso sollte jemand gleich zum Messer greifen, wegen eines einfachen Streites?“

„Aber es ist wahr!“, protestierte Amy. Noch immer hatte sie Tränen in den Augen und ihre zausen Haare hingen ihr wild ins Gesicht. Sie löste sich aus Maries Umarmung und ließ die Wirtin einfach an der Treppe stehen. Diese war noch immer verwirrt und leicht schockiert, was genau nun eigentlich passiert war.

Amys Anblick ließ den Soldaten lächeln. Er beugte sich zu ihr herunter und fragte freundlich:

„Was genau hast du denn gesehen, meine Kleine?“

Das Kind nickte eindringlich und nahm all ihren Mut zusammen, um zu antworten: „Ich kam hinunter um Wasser zu holen für den Boden und da haben die beiden geredet.“

„Geredet?“, hakte der Blaurock nach, mich skeptisch ansehend. Ich wich seinem Blick aus zum Zeichen, dass ich das Kind in keinster Weise beeinflusste. Ich warf Marie einen Blick zu, doch diese sah nur zu Morgans Partner. Wahrscheinlich suchte sie eine Erklärung. Er stand wieder am Tresen, schweigend und düster, leicht bedrohlich. Seine Blicke jedoch galten nicht Marie, sondern mir. Ich bekam ein ungutes Gefühl und ließ mich auf einen der Stühle sinken. Als Amy scheu zu erklären begann, hörte jeder einzelne ihr aufmerksam zu:

„Ich… Ich weiß nicht, was genau sie geredet haben, Sir. Nur… Er…“, dabei zeigte sie zu mir. „…hat immer gesagt, Lass das! und Steck das Messer weg!, und Beruhige dich doch! Und dann ist es plötzlich passiert.“

Der Dicke richtete sich wieder auf und fragte in den Raum: „Kann das jemand bestätigen?“, und da niemand zu antworten schien, fragte er etwas deutlicher: „Kann jemand bestätigten, dass dieser Mann versucht hat, den anderen zu beruhigen und nicht, ihn zu provozieren?“

„Ich war im Lager.“, platzte es aus Marie heraus. „Ich kann das nicht wissen. Aber wenn die Amy das sagt, dann ist das so. Sie lügt nicht, sie ist ein gutes Kind.“

„So, so.“, der Dicke wackelte mit seiner Nase, wie ein Kaninchen. „Nun und Ihr? Was ist mit Euch?“

Diese Frage galt Morgans Freund. Er sah den Dicken seelenruhig an und brummte nach einigem Nachdenken: „Ich? War hier, klar. Hab aber nichts geseh’n, nichts gehört. Nur geguckt. Und da kam schon der Wächter.“

„Ich verstehe.“, der Dicke kratzte sich den Kopf, setzte sich die Mütze wieder auf und erklärte: „Ich werde mich darum kümmern. Nun, dann noch einen angenehmen Abend. Gnädigste.“, er zog die Mütze kurz vor Marie, dann vor Amy. „Junges Fräulein.“, anschließend wandte er sich an mich. „Und Ihr… Ihr solltet aufhören, Euch ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Auf mich wirkt Ihr sympathisch, aber scheinbar zieht Ihr Streitereien an? Passt gefälligst mehr auf.“

Verlegend lächelnd nickte ich. „Selbstverständlich. Verzeiht die Unruhen.“

„Unruhen nennt er das!“, der Dicke lachte und steckte seine Daumen in den Gürtel. „Unruhen, bei Gott, wenn es denn wenigstens nur die Unruhen wären!“, dann wurde er ernst und leicht vorwurfsvoll. „Wegen Euch mussten wir bereits den Schrank aufräumen. Seit die Kreuzer für Ordnung sorgen ist alles ruhig, aber Ihr?! Ihr verschwendet mehr Protokoll-Pergamente als jeder andere dieser Stadt! Zwei Protokolle bereits, Mister O’Connor. Und nun ein Drittes! Langsam werdet Ihr auffällig.“

„Ich bin wohl der erste, der so viel Aufmerksamkeit als Opfer auf sich zieht, was?“, fragte ich grinsend.

„Allerdings. Vielleicht solltet Ihr anfangen, Verbrechen zu begehen. Einbruch, Mord, so was, ein wenig mehr Abwechslung!“, mit einem Seitenblick zu den anderen wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte und er hielt sich beschämt den Mund zu. Schnell winkte er ab, als würde das seine Worte rückgängig machen. „Beim Allmächtigen, nein! Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. Jemand, der aus so einer Stadt wie Ihr kommt und das mit einer reinen Weste, das findet man selten. Also dann, schönen Abend wünsche ich.“, erneut zog er den Hut, dann stolzierte er mit großen Schritten wieder hinaus.

Ich sah ihm nach, auf meinem Stuhl sitzend, dann zu Morgans Freund, der wie unverändert seinen Krug in der Hand hielt und als letztes zu Amy und ihrer Ziehmutter. Keiner wusste von meiner Vergangenheit, das spürte ich in diesem Moment sehr deutlich.

Nachdem der Dicke bereits mehrere Sekunden verschwunden und seine Schritte im Tunnel nicht mehr zu hören waren, löste sich Amy aus Maries Umarmung und kam zu mir. Sie stellte sich zwischen meine Beine und unbewusst griffen wir die Hände des anderen und strahlten uns an. Spätestens jetzt mussten wir auf Marie wie zwei Komplizen wirken. Stolz und mit Hoffnung auf Erwiderung lobte sie:

„Ihr wart wunderbar, Falcon, Sir!“

Lächelnd streichelte ich ihr den Kopf. „Du auch, Amy.“, dann erhob ich mich.

Marie und der letzte, übrig gebliebene von Morgans Freunden starrten mich mit Blicken an, die verschiedener gar nicht sein konnten. Die Frau ahnend, vielleicht wissend, aber auf jeden Fall mit einem Grinsen und der Mann düster und voller Rachlust.

Doch irgendwas war an diesem Kerl, was mir nicht gefiel und einen kalten Schauer über meinen Rücken jagte. Vielleicht lag es daran, dass Morgan wegen mir festgenommen worden war, aber vielleicht war es auch die öffentliche Demütigung, der ich den Mann ausgesetzt hatte?

Nein. In seinen Augen schwang etwas anderes mit und ich bekam das Gefühl, dass hinter ihm etwas Anderes, weitaus Größeres stand. Etwas, was ich bisher nicht annähernd gesehen hatte und was sich jetzt gegen mich richten würde, würde ich die falschen Schritte machen.

Er war die ganze Zeit über still und zurückhaltend, aber genau das machte mich so unsicher:

Intelligente Leute halten sich im Hintergrund, daran glaubte ich. Und er war so jemand. Zwar klang er nicht so, aber ich spürte, dass er anders war.

Nach einiger Zeit wandte er sich ab und trank sein Bier, als wäre nie etwas passiert.

Marie riss mich aus den Gedanken, als sie mir leise sagte: „Ich danke Euch. Ich verstehe nicht, wieso und wie, aber Ihr habt viel für mich getan.“

Unsicher sah ich sie an, erst dann verstand ich, was sie meinte. Ich versuchte den Fremden aus meinem Kopf zu vertreiben und mich wieder der Wirtin und dem strahlendem Mädchen zuzuwenden.

„Ich hatte schon lange Probleme mit ihm und seinen Leuten.“, erklärte ich ihr. Der Kerl am Tresen zeigte keine Regung, als wäre er nicht gemeint. „Ich glaube nicht, dass sie Morgan lange festhalten werden. Er war betrunken, mehr als eine Geldstrafe wird es wohl nicht geben.“

„Besser als nichts.“, lächelte Marie. „Der Idiot hat eine Lektion verdient. Keiner wagt es, sich mit Morgan anzulegen, deswegen ist er etwas…zu selbstbewusst geworden, glaube ich.“ Ich kam mir vor, wie ein Hund, der einen anderen besiegt hatte und nun das Interesse seiner Hündin geweckt. Es war mir unangenehm, dass sie plötzlich Sympathie für mich hegte und stieß mich ab. Von einer Sekunde auf die andere schien ich eine anziehende Wirkung zu haben. Den Abstand wahrend nickte ich, ging zum Tisch und griff meinen Bierkrug, um auf mein Zimmer zu gehen. Morgans Freund beobachtete meine Hand, als wäre er misstrauisch gegenüber jeder meiner Bewegungen.

Auch die Wirtin bekam mit, dass ich mich zurückziehen wollte. Sofort bot sie mir Suppe an. Als ich dankend verneinte, meinte sie:

„Aber der werte Herr hat so viel für uns getan und sicher nicht einmal Etwas gegessen! Selbstverständlich ginge die Suppe aufs Haus, keine Frage.“

„Nein, danke.“, erwiderte ich abermals, etwas eindringlicher, aber dennoch höflich. Dann wandte ich mich zum Gehen.

Marie schien etwas enttäuscht zu sein und wies Amy an: „Kind, geh, koch Wasser und bring dann Suppe hinauf zu ihm. Wir-…“, doch der Fremde unterbrach sie düster und knurrte:

„Er hat gesagt, er will nicht. Also lass, Marie.“ Und damit schwieg sie. Ich lächelte, nickte entschuldigend zum Abschied und ging die Treppe hinauf, mit einem unguten Gefühl im Magen. Seine Augen folgten mir, bis ich nicht mehr zu sehen war und ich glaube noch lange danach.

Ich hatte mich eingemischt und Morgan wohl noch mehr gegen mich aufgehetzt, als ohnehin schon. Er wurde nun wahrscheinlich unter Arrest gestellt und wenn die Benebelung nachließ, laufen gelassen. Was würde er dann tun? Mir im Schlaf auflauern? Oder gar Amy etwas antun, etwas Richtiges? Würde ich es bis zur Arbeit schaffen und wenn ja, auch wieder zurück? Lebendig?

Amy sah mich nun wohl mit anderen Augen und wenn sie der Wirtin erklärte, was geschehen war, galt für sie wohl das Selbe. Trotzdem: Marie würde nicht gegen ihn aussagen und auch wenn Amy ein Kind war und gewiss die Wahrheit sagte, wer interessierte sich dafür? Zwar war dies Brehms, aber Brehms war nicht das Paradies und wahrscheinlich hatte die Stadt keine härteren Gesetze als in Annonce. War das überhaupt möglich?

Als ich den Flur betrat fiel mir auf, dass Johnny die ganze Zeit verschwunden war, dieser Feigling. Er hatte gemerkt, dass es wohl Streit geben würde und hatte die Flucht ergriffen, ohne den geringsten Anlass. Bitter lachend stellte ich fest, dass er mir so zumindest nicht gefährlich werden konnte, im Vergleich zum Mann mit Knollnase und Mütze.

Dieser schien anders zu sein, gefährlicher. Wie war eigentlich sein Name? Und wen meinte der Soldat mit Die Kreuzer? Sie sorgten für Ordnung, hatte er behauptet. Also eine Art Elite-Wachtruppe?

Schwer seufzend schloss ich die Tür hinter mir und lehnte nach langer Zeit wieder mal die Stirn dagegen. Es war dunkel und um mich herum herrschte fast vollkommene Schwärze. Ich hatte keine Lust die Kerze zu entzünden und festzustellen, dass meine Sachen noch immer wild verstreut herumlagen. Stattdessen beschloss ich zu warten, bis sich meine Augen an das wenige Licht gewöhnten. Vielleicht war es besser nie wieder das Licht anzumachen und dass diese Nacht wieder vorbei ging.

Ich war ein Idiot gewesen für ein kleines Mädchen so viel riskiert zu haben. Ich hatte noch immer keine Spur von den Samaritern, das stimmte, aber zumindest hatte ich es geschafft, mir ein Leben aufzubauen. Ein Leben als Falcon O’Connor statt als Sullivan O’Neil, aber ein Leben. Ich brauchte nun nur noch den Freispruch von sämtlichen Sünden und ich würde weiter leben können, als hätte es niemals einen Mathew Hullingtan Black gegeben. Als hätte ich niemals jemanden umgebracht, niemals etwas gestohlen und wäre niemals irgendwo eingebrochen. Wie sagte der Wachmann? Mit reiner Weste.

Stattdessen setzte ich alles aufs Spiel für ein Kind, das ein wenig Prügel bezogen hatte. Schön, meinetwegen, aber was ging mich das an? Ich könnte auch einfach das Gasthaus wechseln und woanders weiter leben, verdienen tat ich genug. Morgan würde es nun vielleicht nicht einmal mitbekommen und den einen Komplizen könnte ich wahrscheinlich problemlos einfach abhängen.

Ich seufzte abermals und flüsterte: „Super, Sullivan. Klasse hast du dein Leben neu begonnen. Wirklich klasse.“

Und dann ging hinter mir das Licht an. Eine ruhige, männliche Stimme flüsterte leise:

„So, so. Sullivan heißt Ihr also?“, ich hörte ein Grinsen, während er fortfuhr:

„Etwa der Sullivan? Oliver Sullivan O’Neil?“

Geschockt fuhr ich herum.

Die erste Aufgabe

Ich drehte mich so schnell um, dass ich das Bier quer über dem Boden verteilte, völlig vergessend, dass ich den Krug noch immer in der Hand hielt. Es klatschte, als wäre mein Herz hinunter gefallen, stattdessen machte es einen deftigen Satz und stieß erschrocken die Luft aus.

Erst nach einigen Sekunden registrierte ich, wer dort saß und erleichtert sackte ich mit dem Rücken gegen die Tür. „Nevar! Müsst Ihr mich so erschrecken?!“

Der Mann grinste nur und stellte die Kerze, die er angezündet hatte, auf den Nachttisch. Er saß auf meinem Bett, hatte ein Bein Schneidersitzartig angezogen und die Kapuze noch immer tief im Gesicht. Schweigend streifte er sie nun ab. Schwer seufzend und etwas beleidigt tat ich den Krug beiseite und wischte lieblos mein Bier mit dem Fuß und einem ohnehin bereits auf dem Boden liegenden Hemd auf. „Euer Humor lässt mehr als nur zu wünschen übrig.“, murmelte ich dabei.

Nevar grinste nur weiter. „Vielleicht solltet Ihr Euch, wenn Ihr schon mit Euch selbst redet, nicht beim Namen nennen.“, scherzte er dabei amüsiert. „Ich denke Euer Gesprächspartner weiß in diesem Fall sicher auch so, wie Ihr heißt oder nicht?“

Es kam mir vor, als wäre dieser Mann niemals weg gewesen. Ich antwortete nicht, sondern fuhr ihn ignorierend mit meinem lieblosen Gewische fort. Nachdem ich fertig war, seufzte ich und wandte mich wieder ihm zu. Etwas vorwurfsvoll wollte ich wissen:

„Was macht Ihr hier? Wieso schleicht Ihr hier herum? Ich habe mich fast zu Tode erschrocken.“

„Ich wollte Eure Streitigkeit in der Schenke nicht stören, da dachte ich, ich warte besser hier.“, er klopfte neben sich auf die Matratze. Widerstrebend folgte ich seiner wortlosen Aufforderung. „Was war los?“

„Nichts.“

Nevar sah mich schweigend an und ließ mir einige Sekunden, Ruhe zu finden, doch ich war gereizt und fühlte mich ausspioniert. Ich wollte nicht, dass er in meinem Leben herum schlich und schon gar nicht an solch chaotischen Abenden. Ich hatte wahrlich genug eigene Probleme, zudem fühlte ich mich gedemütigt dadurch, dass er meine Probleme mit ansah.

Scheinbar merkte er, dass er unerwünscht war, dann als er zu sprechen begann, empfand ich seine Stimme als ruhig und mitfühlend.

„Ihr seid nun fast zwei Monate in Brehms, Falcon. Ich habe Euch in Ruhe gelassen, damit Ihr frei atmen und handeln könnt. Wie ich sehe, habt Ihr Euer Leben aufgebaut, so, wie Ihr es Euch vorstellt. Wie läuft es bis jetzt?“

Knurrend antwortete ich: „Das habt Ihr doch mitbekommen.“, selbstverständlich galt meine Aggressivität mehr Morgan und seiner Bande, als Nevar. „Ich arbeite und lerne, damit alles seinen rechten Weg geht und diese Mistkerle versuchen, es mir kaputt zu machen.“

„Ihr sprecht von Morgan und seinen Männern, vermute ich.“, Nevar faltete die Hände und betrachtete sie nachdenklich. „Nun, das kommt allerdings ungelegen, denn sie führen Euch in die völlig falsche Richtung.“

„Aha.“, knurrte ich, teils desinteressiert, teils wütend. Man begann im Erdgeschoss aufzuräumen, denn ich hörte Krüge und Verrücken der Tische. Sogar für die Rum-Marie war bereits die Nacht angebrochen. Eigentlich hätte ich längst schlafen und bald wieder aufstehen sollen. Seufzend stützte ich meinen Kopf in die Hände und hoffte, dass die Wirtin nicht auf die absurde Idee kam, doch noch irgendwas auf mein Zimmer zu bringen.

„Euer Buch habe ich erhalten.“, murmelte ich dabei. „Aber weiter geholfen hat es mir nicht.“

Nevar nickte. „Das ist nicht tragisch. Was nicht gleich kommt, kommt mit der Zeit.“

„Sagt mir doch einfach, wohin ich gehen soll, das macht es einfacher.“

Ich hörte, wie er leicht grinste. „So einfach auch wieder nicht. Es ist besser, wenn Ihr nichts von mir erfahrt. Ich bin parteiisch. Ich wollte Euch auch gar nicht informieren, sondern nur nach Euch sehen, das ist alles. Das und Euch an Eure Aufgabe erinnern. Man hat Euch einen Monat gelassen, Falcon, dieser ist nun schon lange rum.“

Leise flüsternd antwortete ich: „Ich weiß.“ Ich brauchte keine Drohungen und genauso wenig eine Warnung. Mir war bewusst, wie ich den letzten Monat gelebt hatte und dass dies gewiss nicht kostenfrei war und gegen die Abmachung.

Nevar sprach eindringlich weiter: „Wenn Ihr nicht langsam anfangt, zu tun, was Domenico von Euch will, müsst Ihr Euch von diesem Leben verabschieden und werdet festgenommen. Falcon, ich meine es ernst. Er umso mehr.“

„Ich weiß.“, wiederholte ich, etwas lauter. Das stellte Nevar zufriedener und er nickte knapp, ehe er aufstand. „Nehmt Euch vor diesem Morgan Cunningham in Acht. Er kann zwar nicht viel, aber im Prügeln ist er gut.“

„Er schlägt Kinder und Frauen.“, murmelte ich und sah auf, ohne meine Pose zu ändern. Nevar sah mir entgegen und ich suchte Reaktionen in seinen Augen, aber es schien ihn völlig kalt zu lassen, was ich sagte. Er zog die Kapuze wieder über seinen Kopf und alles was ich sah, war ein schattiges Gesicht mit tiefen, schwarzen Flecken über der Nase. „Er hat Amy, das kleine Mädchen, geschlagen, um mir eins auszuwischen.“

„Warum sagt Ihr mir das?“, wollte er nun wissen.

„Ich will, dass das aufhört. Er erpresst mich, lauert mir auf. Für heute Abend ist er weg. Aber morgen wird er zurückkommen.“

„Und verdammt wütend sein?“, als ich nickte, verstand Nevar und betrachtete die Kerze. Ihre Flamme ging steil nach oben, als wäre sie aus glühendem Metall. Es war ein faszinierender Anblick und nur ein Atemzug reichte aus, um ihn zu zerstören. Sofort begann sie wieder zu tanzen. „Ich verstehe. Ihr habt hiermit die Erlaubnis der Inquisition über diesen Mann zu richten, wie es im Sinne des Herrn angemessen wäre. Aber nur, wenn er Euch zu nahe kommt.“

Verwirrt setzte ich mich auf. „Was?“

Lächelnd wiederholte er: „Ich erteile Euch hiermit die Erlaubnis über Morgan Cunningham so zu richten, wie Ihr es für angemessen haltet, sollte er Euch ein weiteres Mal zu nahe kommen. Ihr braucht nicht mehr zu fürchten, dass es Euer Leben gefährdet, wenn er verschwindet. Ich stehe hinter Euch und damit auch Domenco und somit wiederum die Kirche und durch diese anschließend Euer Gott. Wenn Morgan Euch anfasst und ihm dadurch etwas geschieht, seht es als seine Buße an oder irgendwie so was… Euch fällt schon etwas passendes ein.“, der Mann vor mir machte eine weg werfende Handbewegung. Ungläubig starrte ich Nevar entgegen. Ich hatte gehofft, dass er mir sagen würde, er würde mich zur Arbeit begleiten oder zurück. Morgan gemeinsam mit mir eine Lektion erteilen, die er niemals vergessen würde. Stattdessen erlaubte er mir Dinge, die ich mir selbst nicht einmal erlauben könnte. Ernst fuhr er fort, als wären seine Sätze das Normalste der Welt gewesen: „Aber ansonsten lasst die Finger von ihm. De Angelegenheiten zwischen ihm und der Frau gehen Euch nichts an. Ihr habt eine Mission, die hat Vorrang. Was seine Freunde angeht: Kennt Ihr sie?“

Ich stockte kurz. „Nun… Ja, nein. Vom Sehen. Johnny und den anderen, meint Ihr?“, Nevar nickte.

„Johnny gehört zu uns.“

„Zu uns?“, wiederholte ich verständnislos. „Zur Inquisition?“

„So in etwa.“, gab Nevar zu und wog den Kopf. „Eher zu Domenico. Der andere, Lewis, nicht. Ich weiß noch nichts über ihn und das wiederum ist sehr auffällig.“

„Aber…“, ich war etwas verwirrt und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Müdigkeit und schlechte Laune betäubten meinen Geist, zudem hatten mich Morgans Schläge erschöpft. „Johnny gehört zu uns? Aber wieso er redet er nicht mit mir?“

„Weil er nichts von Euch weiß und das sollte so bleiben. Das ist sicherer.“, mein Gegenüber verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand. „Er ist länger dabei als ihr. Eigentlich solltet Ihr nichts davon wissen, aber so ist es sicherer, dass Ihr ihm keine Probleme macht. Wenn er auffliegt, ist das ein großer Verlust.“

„Wenn ich auffliege nicht?“, Nevar ignorierte meine Frage, was mir als Antwort weitaus genug war.

„Ich möchte noch einmal betonen, dass Ihr von Morgan Abstand nehmt, so weit es geht, Falcon. Um ihn braucht Ihr Euch nicht zu kümmern. Es gibt verschiedene Sachen, weswegen er gesucht wird. Erpressung, Mord, Diebstahl… Und auch wenn er gewiss niemand ist, der seine Pläne selber schmiedet, so kann er Euch durchaus gefährlich werden. Wenn er Euch angreift, wehrt Euch, aber wenn Ihr eigensinnig handelt, rechnet mit den entsprechenden Konsequenzen. Ich kann Euch nicht helfen, wenn Ihr Streit sucht.“

„Und wieso nimmt man ihn nicht fest?!“, fragte ich empört.

Nevar zuckte mit den Schultern. „Wir dachten, Morgan wäre ein Samariter oder hätte zumindest Kontakt zu ihnen. Deswegen wird er zwar festgenommen, aber auch jedes Mal frei gesprochen. Mittlerweile wissen wir, dass es nicht so ist, aber er hat Kontakt zu vielen Gruppierungen und Gilden. Durch ihn kriegen wir tiefe Einblicke. Das ist wichtig.“

„Und die sind Leichen wert?!“, erneut ging meine Frage einfach unter. Die Inquisition bekam für mich einen immer bitteren Beigeschmack.

„Jedenfalls ist er für Euch unwichtig, also lasst ihn in Ruhe, wenn es möglich ist. Verstanden?“, ich antwortete nicht, sondern sah nur gereizt vor mich auf den Boden. Die Sache gefiel mir nicht. Ich sollte nicht nur für die Inquisition spionieren, sondern nun auch noch einen Mörder und Schläger einfach machen lassen, was er wollte, solange er mich in Ruhe ließ. Ich zweifelte stark daran, dass dies Gottes Wille war, aber blieb mir eine andere Wahl? Nevar fragte erneut, etwas eindringlicher, aber trotzdem noch immer ruhig: „Verstanden?“, schweigend nickte ich, ohne ihn anzusehen. Das stimmte ihn zufrieden und er fuhr fort. Seine Stimme wurde ungewöhnlich ernst. „Ab nun ist Eure Schonzeit vorbei. Ich werde Euch jede Woche aufsuchen und nachsehen, was Ihr herausgefunden habt, elf Monate lang, an verschiedenen Tagen, vielleicht auch öfters. Sollte ich Euch innerhalb von drei Tagen nicht gefunden haben, wird man das gesamte Land nach Euch durchkämmen und ohne zu Zögern vor das heilige Gericht zerren. Ihr habt Geld gespart und Euch eingelebt, das ist gut. Nun beginnt mit der Arbeit und stellt Domenico zufrieden.“

„Allein finde ich die Samariter nie.“, erklärte ich kühl und zeigte zur Tür. „Wisst Ihr, wie viele Menschen da sind? Und ich kann schlecht irgendjemanden danach fragen, wer oder was die Samariter wären.“

„Das ist mir bewusst, selbstverständlich helfe ich Euch. Aber Ihr müsst verstehen, dass ich Euch nicht alles sagen kann, was wir wissen. Zumal weil viele dieser Dinge nicht für das gemeine Volk bestimmt sind, nicht einmal ich weiß sie. Außerdem, wer sagt, dass Ihr Euch nicht verplappert? Es wäre auffällig, wenn Ihr Dinge wisst, die Ihr gar nicht wissen dürftet. Ein Jahr ist eine lange Zeit, setzt Euch nicht unter Druck.“

Ich schnaubte verächtlich. „Mich nicht unter Druck setzen? Nevar, man geht für diese Sache über Leichen. Ich werde hier in etwas hineingezogen, in das ich nicht hineingezogen werden will.“

„Falsch.“, kühl überkreuzte Nevar die Beine und sah mich an. „Ihr habt Ja gesagt zu diesem Weg und nun folgt Ihr ihm. So einfach ist das.“, ich gab darauf keine Antwort, sondern sah nur weiter schweigend zu Boden. Nach einiger Zeit wollte er wissen: „Gibt es noch Fragen, ehe ich gehe?“

Ich dachte nach, bemüht mich über Nevar Kälte nicht aufzuregen. In meinem Kopf flogen Bilder von Morgan herum und ich sah, wie er Amy, Marie oder den Mann aus der Gasse so lange prügelte, bis sie zu Boden gingen und ich durfte nichts machen. Ich konnte ihn lediglich provozieren, damit er auf mich losging, aber ich zweifelte stark, dass Nevar nicht wüsste, dass ich dies mit Absicht getan hatte. Ich musste kälter werden, gleichgültiger, sonst würde ich wohl irgendwann kaputt gehen. Heiser flüsterte ich: „Die Kreuzer. Ich würde gerne wissen, wer die sind. Eine Art Soldaten oder Wachen?“

Er nickte. „,So etwas in der Art, jedoch im Auftrag der heiligen Mutter Kirche. Hier in Brehms gibt es mehr Organisation als in Annonce. Hier hat die Stadt einen direkten Überblick, wer was tut und wo. Zumindest glaubt sie das.“, Nevar schwieg einige Sekunden, ehe er fortfuhr: „Die Kreuzer sind eine Art Gruppe, die sich darum kümmert, dass das so bleibt. Sie sorgen für Genehmigungen, Ordnung und Gesetzeseinhaltung. Sie sind die Richter, die Vertreter, die Kommandanten und so weiter, kurz:

Sie sind Brehms. Sie haben das Recht zu handeln, wie es ihnen passt und zwar mit Waffengewalt und Kreuz zugleich. Etwas außergewöhnliches, aber durchaus effektives.“

Ich seufze leicht. Brehms war so viel anders als Annonce und schönes Leben hin oder her, für einen kurzen Moment wünschte ich mich in dieses Loch zurück. Mir kam der Gedanke, dass ich gestorben wäre, hätte Nevar mich nicht mit sich genommen. Aber vielleicht wäre dieser Tod ja das Beste für mich gewesen. Was, wenn die Samariter mir einen weitaus schlimmeren brächten, als nur am Straßenrand zu verbluten?

Nevar zog seine Kapuze zu Recht, ein Zeichen für den Abschied. Dabei erklärte er: „Wenn Ihr Angst um Euer Geld habt, könnt Ihr überschüssiges mir geben. Ich verwahrte es für Euch. Natürlich müsst Ihr nicht.“, schwach und unglaublich kraftlos sah ich ihn an, dann nickte ich. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf und mein Geist nur umso mehr.

„Es geht schon, danke.“

Er schmunzelte etwas. „Gut.“ Dann warf er mir ein zusammen gefaltetes Pergament vor die Füße. „Hier. Ein Verdächtiger, kümmert Euch darum. Das ist Euer erste Chance, Falcon. Wenn Ihr Eure Arbeit gut macht, verkürzen wir die Zeit bis zum Freispruch. Verbrennt es gut, wenn Ihr es gelesen habt.“

Nickend hob ich es auf. „Werde ich.“

„Also dann, auf bald.“

Ich antwortete nicht. Nevar schloss die Tür auf, lugte hinaus und verließ das Zimmer. Er ging, wie ein normaler Gast, die Treppe hinunter, nur weitaus leiser. Seufzend zwang ich mich aufzustehen und abzuschließen.

Ich spürte, dass mein Kopf dröhnte. Wahrscheinlich war die Idee Morgan zu einem Kampf zu provozieren doch nicht so gut gewesen, wie ich zuerst dachte. Man müsste meinen nach einem Monat solcher Prügel hätte man sich daran gewöhnt, aber meine schmerzenden Wangen belehrten mich eines Besseren. Ich ließ mich auf mein Bett zurückfallen, musterte das Chaos und dann das Papier in meinen Händen. Der Nachtwächter sang irgendwo draußen, zu weit entfernt als dass ich es verstanden hätte. Doch die Tatsache, dass er sang, ließ mich wissen, dass es bereits viel zu spät war. In das Skriptorium würde ich es wahrscheinlich schaffen, aber in welcher Verfassung? Wir mussten zwei Bücher kopieren und übermüdete Augen und zitternde Hände waren dabei Nachteile.

Langsam öffnete ich das Pergament und mustert jenes, was darauf stand. Es handelte sich um Aufzeichnung bezüglich eines Mannes namens Luke Caviness, in denen unter anderem stand, dass er einundzwanzig Jahre alt war und ein eventueller Samariter. Er folgte bereits seit drei Monaten immer dem Selben Ablauf:

Er steht auf, belädt seinen Karren mit den Waren aus dem Allerleigeschäft seines Vaters und beliefert dann die Läden der Stadt, die etwas bestellt haben. Anschließend bringt er den Karren zurück, isst etwas und geht zu Bett.

Aber manchmal kommt es vor, dass er für mehrere Stunden in ein Wirtshaus geht. Er lässt dann seinen Karren einfach in einer Gasse stehen und das jedes Mal vor einem anderen Gasthaus. Domenicos Männer haben nun den Verdacht, dass er Kontakte zu einem Samariter hat und sich in dieser Zeit mit ihm trifft.

Ich las weiter, dass er recht schlank war und kurzes, braunes Haar hatte, im Nacken kürzer als auf dem restlichen Kopf. Er trug keinen Bart und war meist einfach bekleidet. Aufgrund seines Standes besaß er offiziell keine Waffen, aber der Umgang mit einem entsprechenden Händler ließ einen größeren Dolch vermuten.

Dukes Familie bestand aus seinem Vater, dreiundfünfzig Jahre alt, Besitzer eines Allerleigeschäftes im nördlichen Stadtteil Brehms. Er kaufte Gegenstände von den Händlern des Platzes und belieferte damit kleinere Läden der Stadt. Bis auf Duke hatte er keine Kinder, seine Frau erlag vor fünf Jahren dem Fieber.

Wohnen taten die zwei im oberen Stockwerk über ihrem Geschäft. Sie schliefen in getrennten Zimmern, ein Bad gab es nicht und die Küche befand sich im Erdgeschoss im Lager.

Baden und dem alltäglichen Geschäft ging man im Hinterhof nach, den man durch die Hintertür der Küche oder aber hinten herum durch das Durchqueren des Hinterhauses erreichen konnte.

Außerdem gab es auf dem Hinterhof einen Zugang zu einem dritten Nachbarhaus, aus dem ein Hund freien Auslauf hatte. Er konnte den Hof jederzeit betreten und schlug an, wenn Fremde sich näherten.

Nachdem ich alles sorgsam gelesen hatte stand ich auf, ging mit der Kerze zum Fenster und begann, das Papier zu verbrennen. Ich seufzte leise und die Kälte der Nacht hüllte mich ein, als würde sie mir das Leben aussaugen wollen. Leise summte ich jene Melodie, welche Marie-Ann mir beigebracht hatte. Als ich es bemerkte, hörte ich sofort auf.

Ich musste nun also einen jungen Mann namens Luke ausspionieren. Wahrscheinlich klang es einfacher, als es war, denn nebenher arbeitete ich immer noch im Skriptorium und Morgan ließ mich gewiss nicht in Ruhe.

Ich fragte mich, unter was für einen Schicksalsvertrag ich Lukes Namen damit schrieb. Was geschah mit ihm, wenn er mit den Samaritern zu tun hatte? Ruinierte ich sein Leben?

Im ersten Moment dachte ich, er wäre selbst schuld, wenn er sich auf diese mysteriösen Leute einließ, aber im zweiten fiel mir auf, dass er es auch gar nicht wissen könnte. Was, wenn auch ich mit Samaritern zu tun hatte, ohne es zu wissen?

Man hatte vermutet, dass Morgan etwas mit ihnen zu schaffen hatte. Wäre ich nicht aus Annonce, vielleicht wäre ich mit Morgan befreundet gewesen und vielleicht wäre ich dann ebenfalls an die Samariter geraten.

War es rechtens sich so stark in das Leben anderer einzumischen?

Auf keinen Fall durfte ich darüber nachdenken, was rechtens war und was nicht. Ich hatte eigene Sorgen und musste nun versuchen, etwas für mich zu tun, für mich allein. Es ging bei dieser Sache konsequent um mein Leben und das durfte ich auf keinen Fall vergessen. Weder ging es um Nevar, noch um Amy oder Marie. Es ging um mich, Sullivan O’Neil und da mussten mir andere schlichtweg egal sein.

Ich hatte jedes noch so kleine Stück Pergament ins Feuer gehalten, dann schloss ich das Fenster wieder und zog mich aus. Ich fror stark aufgrund der eisigen Luft und sah, wie sich meine Haare am ganzen Körper aufstellen. Schweigend setzte ich mich splitternackt aufs Bett, nahm das Kreuz und betrachtete es. Die Figur des Jesus war so klein, dass sie weder Augen noch Mund hatte, nicht einmal eine Nase. Seine Hüften waren ein abstruses Gebilde, da der Schmied wohl versucht hatte, ein bedeckendes Tuch anzubringen und die Füße verschmolzen mit dem Kreuz, als gäbe es sie nicht. Dennoch wirkte er leidend und schwermütig auf mich. Das Dreieck über seinem Kopf, das der Heiligenschein sein sollte, sah aus wie ein schwerer, spitzer Stein, dazu da, ihn hinunter zu drücken.

Wie lange war es her, dass ich gebetet hatte? Wirklich gebetet? Über ein halbes Jahr? Oder sogar schon ein ganzes?

Nach einiger Zeit des Anstarrens legte ich es zurück auf die heilige Schrift neben der Kerze. Stand Gott noch hinter mir? Hatte er jemals hinter mir gestanden? Die Kälte schwand etwas.

Ich musterte meine nackten Füße, meine Beine und meine Hände. Sie waren schmutzig und vernarbt, wie die eines Streuners. Es schien mir, als wäre dies ein Abbild meiner schmutzigen Vergangenheit, die Überreste des verschmutzten Gefängnisses, des Tollhauses und der See. Dreckig und schwarz, wie mein bisheriges Sein. So viele Sünden hatte ich begangen. Nun gab man mir die Chance auf ein zweites Leben und ich baute es komplett auf weiteren Sünden auf:

Lügen, Betrug, Spionage, eventuell sogar Mord. Ich gab mich der Wolllust hin und besaß Dinge, die nicht Gott mir gab, sondern die ich mir selbst verdiente. Meine Zeit als Mönch war schon lange vorbei und nun fühlte ich mich wie ein Dämon. Unbewusste Angst überkam mich, dass ich verdorben war und nicht mehr zu retten. Wieder wollte ich mich einem Priester zu Füßen werfen und um die Vergebung meiner Sünden flehen. Ich wollte daran glauben, dass mir das helfen würde, aber eine leise Stimme nagte in meinem Hinterkopf.

Sie lullte mich ein und machte mir klar, dass dies eine Lüge war. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass es die Stimme des Abtrünnigen sein musste, die ich dort hörte. Dennoch blendete ich sie nicht aus. Wer sonst würde mir sagen, dass auch das mir nicht helfen konnte, in Freiheit zu leben? Ich hatte die Wahl zwischen dem Leben als demütiger, kriechender Wurm und das Leben als freier Mensch. Aber gab es das Leben in Freiheit überhaupt?

Menschen wie Nevar waren genauso wenig frei, wie solche, wie ich einer war. Und Menschen wie Domenico? War Domenico frei?

Ich verzog leicht das Gesicht, denn die Haut an meiner Seite schmerzte etwas. Ohne hinzusehen legte ich die Hand auf die Narbe jener Wunde, die mir einst fast das Leben gekostet hätte. Der lange Schnitt war mittlerweile ein hellweißer, hervortretender Strich auf meiner ohnehin hellen Haut. Ich konnte die Narbe spüren, da sie ein wenig hervortrat, ebenso die kleineren Punkte ober- und unterhalb, die Spuren der Fäden. Nevar hatte die Wunde mehrmals nähen müssen. Wie diese Narbe würde ich auch meine Vergangenheit wohl niemals mehr loswerden können. Viel zu lange litt ich unter den Geschehnissen des letzten Jahres.

Nun war es an der Zeit, sich der Zukunft zu widmen.

Besuch bei Familie Caviness

Am nächsten Morgen fühlte ich mich erschöpft und ausgelaugt. Ich zwang mich, zur Arbeit zu gehen und sprach mit niemandem ein Wort. Der Gedanke daran, dass Morgan bald wieder auf freiem Fuß war, quälte mich. Zudem wollte ich die Sache mit Luke Caviness so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ehe ich ging, rüstete ich mich weitestgehend aus - das Chaos in meinem Zimmer ließ ich einfach zurück. Wenn Morgan zurückkehren sollte, würde er vielleicht erneut auf die Idee kommen, alles zu verwüsten, da nutzte Aufräumen nicht viel. Mit diesen Gedanken verließ ich alles so, wie ich es vorgefunden hatte, es war mir völlig egal. Man könnte sagen, ich begann den schlechten Tag mit mieser Laune und würde ihn wohl auch so beenden.

Da ich mich schlecht fühlte und auch so aussah, bat ich Meister Pepe um ein paar Tage frei. Man sah ihm an, dass er nicht begeistert war, denn bereits öfters war ich mit blauem Auge zur Arbeit gekommen, was dem Geschäft nicht gut tat. Dennoch gewährte er es mir. Es war mir unangenehm zu spüren, wie sein Unbehagen wuchs und hätte er die Auswahl gehabt, hätte ich meine Arbeit vielleicht verloren.

Diese Gedanken beschäftigten mich, während ich durch Brehms ging, den Umhang ins Gesicht gezogen und völlig in mich selbst versunken. Ich fühlte mich in meine Klosterzeit zurückversetzt, in der ich die Kapuze trug, um in Stille zu leben um Gottes Stimme besser empfangen zu können. Nun trug ich sie, damit niemand mein Gesicht auf Anhieb sah und gegebenenfalls erkannte. Es hatte sich viel in meinem Leben geändert und das nicht nur, was meine Arbeit oder meine Gewohnheiten anging. Ich hatte alles abgelegt, was ich nicht mehr gebraucht hatte:

Meine Tunika zum Zeichen dessen, dass ich nach Gottes Bild geschaffen worden war.

Mein Zingulum zum Zeichen dessen, dass nun der Herr Gott mich gürten und führen würde.

Und meine Kapuze. Alles hatte ich zurückgelassen und würde ich diese Dinge noch einmal anziehen, wäre dies wohl eine Beleidigung gegenüber dem Herrn.

Der Himmel war über Nacht endlich aufgebrochen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zur Stadt hinunter. Nicht mehr lange und auch der restliche Schnee würde schmelzen. Dann wäre das Eis endlich vollends verschwunden und man konnte wieder laufen, ohne regelmäßig auszurutschen.

Ich steuerte schlendernd das Allerlei-Geschäft in der Nähe des berüchtigten Bunten Platzes an, das ich noch immer nicht besucht hatte. Der Laden hieß Jochua Caviness’ Allerlei, benannt nach dem Vater und lag in einem Teil der riesigen Stadt, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich brauchte gut eine Stunde, bis ich in die Nähe kam und entdeckte unterwegs wieder etliche neue, kleine Schätze. Unter anderem erkannte ich eine kleine Kapelle aus jener Zeit, zu welcher Brehms noch nicht so groß gewesen war. Um sie herum gab es eine niedrige, alte Mauer aus Findlingen, überwuchert mit Moos und zugeschneit und dahinter war wohl eine Art Wiese. Nun sah man nichts als Schnee und ein paar herunter gefallene Blätter von den Eichen und Birken. Es waren gewaltige Kolosse an deren Stämme trotz der Kälte Efeuranken empor ragten und mit den vergabelten Ästen zu verschmelzen schienen. Einzelne Gräber, alle mit der Aufschrift Richtung Sonne und das weite Tor als Pforte zum Ort der Ruhe lag etwas weiter abseits der Straße. Ich sah mir die Kapelle vom weiten an, mit ihrem schiefen Turm und manchen, löchrigen Stellen im Dach. Diese kleine Stelle der Stadt wirkte so verkommen und so vergessen auf mich, dass sie mich irgendwie ansprach. Es erschien mir so, als wenn die Mauer einst höher gewesen wäre und die Wege gepflegter, doch nun war alles still – totenstill sozusagen.

Aber nicht nur solche Orte fand ich, sondern auch weitere Gassen und breitere Wege. Ich bemerkte, dass es Straßen für Händler gab und jene für Bürger. Manche waren so breit, dass sogar zwei Kutschen darauf Platz fänden und andere wiederum so eng, dass man sich gar nicht traute, hindurch zu gehen aus Angst, man würde stecken bleiben.

Der Allerlei-Laden lag in solch einer Gasse und mir wurde klar, wieso der Sohn andere Geschäfte belieferte. Kaum ein Kunde zwängte sich durch die engen Wege, um das Geschäft mit der Treppe und dem großen Schaufenster zu betreten.

Als ich es endlich erblickte, blieb ich davor stehen und musterte es, wie ein Kunde. Es hatte etwas sehr altmodisches und zugleich modernes. Zwar gab es ein riesiges Fenster und eine kleine Treppe zur Ladentür mit geneigten Stufen, von denen der Regen einfach hinunter plätschern konnte, allerdings waren die Wände verputzt und bröckelig, als wäre dieses Gebäude bereits älter als alle anderen zusammen. Die Tür war hölzern und mit geschmiedeten Verzierungen versehen, ebenso wie die Fensterscheibe, mit einem runden Messing-Türklopfer in der Mitte. Ich konnte durch das Glas zwar ins Innere sehen, jedoch war nichts zu erkennen und Licht brannte auch nicht. Laut den Kirchglocken war es um acht Uhr herum und die wenigstens der Straßen waren belebt. Vielleicht gab es besondere Öffnungszeiten und der Laden hatte noch geschlossen?

Ich lief umher und sah mir die anderen Geschäfte an. Töpfer, Seiler, Riemer, Papiermacher, Nagelschmiede, Kartenmacher, alles war vertreten, bis hin zum Bäcker, Weber und Gürtler. Es gab viel zu sehen, doch ich hatte eigentlich kaum Lust jeden der Läden zu besuchen, zudem war es trotz Sonnelicht kalt. Nach gut einer Stunde hatte das Geschäft noch immer nicht geöffnet, nirgendwo brannte Licht und am Himmel zogen sich einige Wolken zusammen. Kalter Wind wehte durch die Straßen und ließ meinen Umhang leicht flattern.

Frierend beschloss ich, mich anders umzusehen. Ich lief um das Geschäft herum und suchte die erwähnten Hinterhäuser. Sie zu finden, war nicht schwer, es handelte sich um einen einzelnen Häuserblock. In der Mitte lag der Hof, an drei Seiten je ein Haus und die vierte, offene Seite hatte man mit einer Backsteinmauer verschlossen. Drei kleine Fenster mit verzierten Gittern würden Blicke auf das verschneite hintere zulassen, wenn man nicht Fensterläden von innen angebracht hätte. Wenn alle drei Häuser den Hinterhof als Platz für gewisse Erleichterungen verwendeten, war es nicht verwunderlich, dass man sich vor Blicken schützen wollte. Dennoch versuchte ich, als niemand mir zusah, einen der Läden zu öffnen, um ins Innere hineinzusehen. Sie waren allem Anschein nach verriegelt und unter mir schmatzten leicht jene Dinge, die sie durch die Öffnung hindurch nach draußen schafften, sobald sie fertig waren. Ich registrierte erst nach gut einer Minute, in was genau ich stand und sah hinunter. Die Kälte betäubte meinen Geruchssinn, doch der Anblick ließ ihn wieder aufleben. Seufzend nahm ich einige Schritte Abstand und versuchte meine Stiefel an etwas Eis zu reinigen, wobei ich große, braune Schlieren über den Schnee verschmierte. Ich könnte versuchen, in eines der anderen zwei Häuser einzudringen, jedoch waren auch dies zwei Geschäfte. Ich könnte behaupten, ich hätte mich verlaufen und wäre von einem der anderen Händler ins Lager geschickt worden. Allerdings wusste ich nicht, in welchem der beiden der Hund lebte und auch nicht, ob sie die Hintertür ihres Ladens abschlossen.

Dann sah ich zur Mauer hinauf. Sie war zwar durchaus gerade und sorgfältig gebaut worden, allerdings hatte die Witterung auch hier einige Spuren hinterlassen. Mit bloßen Füßen könnte es mir vielleicht gelingen, hinüber zu klettern und auf den Hof zu springen. Wenn ich mich leise verhielt, würde vielleicht kein Hund hinaus kommen und wenn die Tür zum Allerleigeschäft geöffnet war oder nur mit einem einfachen Schloss versehen, dürfte ich es problemlos hinein schaffen. Mir blieb alle Zeit der Welt, die Tür aufzuknacken und da der Ladenbesitzer scheinbar nicht da oder im oberen Stockwerk war, hatte ich Gelegenheit mich umzusehen. Die Mauer lag an einer schmalen und unbenutzten Seitengasse, die wohl nicht einmal als Gasse galt, sondern als kleiner Spalt zwischen den Häusern für Unrat und Schmutz. Dies war einer der Gründe, wieso Brehms auf dem ersten Blick sauber galt:

Es gab versteckte Ecken und Winkel, in denen die Menschen ihren Schmutz lagerten und so blieben die Straßen sauber und rein.

Ich zog entschlossen meine Schuhe aus und trat zögernd auf den kalten Schnee. Er biss mir in die Fußsohlen und ich musste mich zwingen, nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten. Auf keinen Fall wollte ich Frostbeulen bekommen, also band ich mir die Schuhe an den Gürtel, dann versuchte ich mich an der Mauer. Ich nahm Abstand von den Fenstern und griff dort, wo der Schnee sauber und weiß war, nach einem hervorstehenden Stück Stein. Erst jetzt merkte ich, wie kalt meine Finger bereits waren und als ich mich hoch zog und nach dem nächsten Vorsprung griff, schmerzten meine Kuppen. Manche Stellen waren vereist und stachen, andere so glatt, dass ich zu rutschen drohte. Ich hatte keine Übung im Klettern und für einige Sekunden hing ich hilflos einen halben Meter über dem Boden, nicht wissend, woran ich mich als nächsten emporziehen sollte. Dann hörte ich Bellen.

Instinktiv ließ ich los und sprang hinunter, als das Tier direkt auf der anderen Seite der Mauer angerannt kam, bellte und wild hin und her lief, um seinen Herrn auf sich aufmerksam zu machen. Irrsinniger Weise raste mein Herz. Dieser Weg, so dachte ich, war also schon mal unmöglich. Ich seufzte schwer und machte mich daran, meine Stiefel anzuziehen, als ich im Winkelblick eine Person registrierte. Durch die Kapuze war sie außerhalb meines Sichtfeldes gewesen, doch nun sah ich auf und erkannte, dass ein Mann an die Wand gelehnt stand, das linke Bein über das andere gelegt hatte und die Arme verschränkt. Er kaute auf etwas herum, was im ersten Moment wie ein Grashalm wirkte und seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er dem unteren Stand angehörte. Er hatte braunes Haar, das zu einem Mittelscheitel gekämmt war, kurze Strähnen hingen ihm rechts und links ins Gesicht. Unsicher starrte ich ihn an, mein Gesicht größtenteils durch die Kapuze verborgen. Er grinste mir frech entgegen, ehe er sich von der Wand abstieß und die Hände in die Hosentaschen steckte. Schlendernd kam der Fremde einige Schritte auf mich zu und murmelte:

„Zum Gruße, Sir.“, der Hund hörte auf anzuschlagen, da man ihn scheinbar ignorierte und weiter im Stadtinnern schlug die Kathedrale zehn Uhr. Mit hoch gezogener Augenbraue blieb er stehen. „Darf man fragen, was Ihr da treibt?“

Ich wich instinktiv einen Schritt zurück, dann sah ich kurz hinter den Mann. Wir waren allein, sollte ich weg rennen? Die Gasse hinter mir war eng und rutschig. Sollte er mich verfolgen, würde ich sicher stürzen, ich kannte mein Glück. Ich beschloss stattdessen herauszufinden, wer er war, dass er an den Goldgruben entlang spazierte. Entweder er hatte mich von einem der Fenster aus gesehen oder aber er war ebenso unerwünscht, wie ich. Bei letzterem könnte er mir keine Gefahr werden, bei ersterem war ich mir noch nicht ganz sicher.

Ich erklärte ruhig: „Der Verkäufer aus dem Allerlei-Geschäft ist nicht da. Ich wollte sehen, ob Licht brennt.“

„Wenn er nicht da ist, wohl kaum.“, bemerkte er grinsend und drehte den Kopf zur Mauer. „Aber na ja, jedem das seine. Und? Brennt Licht?“

„Habe ich nicht sehen können.“, ich folgte seinem Blick, dann sahen wir uns wieder an. Angespanntheit lag in der Luft, keiner wusste mit dem anderen etwas anzufangen, niemand wusste sein Gegenüber einzuschätzen. „Ich bin nicht bis oben hingekommen.“

„Wegen dem Hund?“, ich nickte unbewusst. Der Fremde grinste etwas und seine Haltung schien lockerer zu werden. „Das ist ein scheiß Vieh, stimmt schon.“

„Ist es Euer Hund?“, wollte ich wissen. „Wohnt Ihr hier?“

„Ach, einerlei. Wollt Ihr immer noch wissen, ob das Licht brennt?“

Kurz hallte ein Kinderschrei durch Brehms und er klang noch lange nach. Er war so hoch gewesen, dass es fast wie ein Warnsignal auf mich wirkte. Dennoch nickte ich.

„Ja, ich möchte wissen, ob er da ist. Ich brauche dringend Tinte.“

„Dann geht doch zum Schreibladen.“, ich wusste keine Antwort und er schien das zu merken. Schmunzelt winkt er ab. „Ich stell keine Fragen mehr. Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht. Nun, nehmen wir an, Ihr wollt sehen ob das Licht brennt.“, nachdenklich warf der Fremde wieder einen Blick zu den Mauern hinauf. „Nun, es brennt aber nicht. Dann möchtet Ihr natürlich trotzdem wissen, ist er da? Also, nur mal angenommen, Ihr würdet also nicht nur die Mauer hinauf gehen wollen, sondern auf der anderen Seite wieder hinunter.“, dann wandte er sich wieder an mich. Seine braunen Augen schienen kurz zu blitzen und ich erkannte in seinem Gesicht ein verschlagenes Schmunzeln, fast ein Grinsen, nur schwächer. „Und ich würde auch gern wissen, ob denn da jemand zuhause ist, in einem anderen Haus. Meint Ihr, wir können uns helfen? Beim Gucken, meine ich?“

„Ihr wollt auch über die Mauer?“, ich war etwas erstaunt, als er nickte und mit den Schultern zuckte.

„Sozusagen, ja. Wir könnten ja rüber, beide gucken gehen, uns wieder hier treffen und dann zusammen zurück.“

Zögernd wog ich den Kopf. „Es kommt drauf an.“

„Und worauf?“, wollte er wissen.

„Nun, ob Ihr wirklich gucken wollt. Ich möchte nicht in Dinge verwickelt werden, die mir schaden könnten.“

„Möchtet Ihr denn nur gucken?“, da ich abermals nicht antwortete, zwinkerte er mir verräterisch zu. „Na, dann ist ja gut. Ich kenne Euren Namen nicht, Ihr nicht meinen. Also haben wir auch nichts miteinander zu tun. Also los?“, und bei diesen Worten faltete er die Finger ineinander, formte einen Korb und ging etwas in die Hocke. Ich verstand, dass ich mich nun mit dem Fuß abstützen und hinauf klettern sollte, doch als ich dem nachgehen wollte, hielt er inne und löste die Hände wieder. „Moment.“, er nickte zu den bräunlichen Schlieren im Schnee und sah mich skeptisch ab. „Ohne Schuhe oder gar nicht.“

Mit den Gedanken an den kalten Schnee und die schmerzenden Frostbeulen, sollte ich nicht bald wieder Stiefel an meinen Füßen spüren dürfen, zog ich sie aus und ließ mir hinauf helfen. Ich hatte sie mir wieder an den Gürtel gebunden, denn auf keinen Fall würde ich ohne sie gehen. Oben angekommen setzte ich mich breitbeinig auf die Mauer und half ihm durch Ziehen, auch herauf zu kommen. Zuvor hatte er seinen braunen Lederrucksack auf die andere Seite geworfen.

Der Hof lag vor mir, wie ein kleines, viereckiges und weißes Feld. Es gab Spuren vom Hund und einige von den Bewohnern, wenn sie zum Topf gingen oder mit diesen zum Fenster in unserer Mauer. In der hintersten Ecke stand ein großer Holzbottich für das Baden im Sommer und es gab einen abgetrennten Bereich für das Essen, das man in Erde und Schnee frisch halten wollte. Jedes der Häuser hatte eine eigene Tür und es dauerte, bis ich mich orientieren konnte.

Interessanterweise schlug der Hund nicht an, als er den Mann erkannte. Dieser sprang hinunter und streichelte dem großen, weißen Tier den Kopf. Es hatte ein braun gefärbtes Auge und einen gräulichen Bauch. Als auch ich mich hinunter begab wurde er zutraulicher, da er mich scheinbar als Freund des Mannes empfand. Ich sah zu, wie er in seine Tasche griff und dem Tier, er nannte es Tommy, schwarze, kleine Stücken gab. Er fraß sie so gierig, als hinge von ihnen sein Leben ab und als man ihn aufforderte, sitzen zu bleiben, gehorchte er aufs Wort. Grinsend wandte der Fremde sich dann wieder an mich und ich registrierte einen kleinen, goldenen Ohrring an seinem linken Ohr. Interessanterweise war dieser jedoch nicht im oberen Bereich der Muschel – denn das Ohrläppchen war vernarbt, als hätte man es einst durchtrennt. Ich erinnerte mich an die Gilden, in denen man einen Ohrring trug und ihn herausriss, wenn die Mitglieder nicht regelmäßig zahlten oder die Gilden hintergingen. Man nannte diese Menschen Schlitzohr und nicht selten waren sie verpönt und nicht angesehen.

Ich versuchte meine Gedanken und meine nun wachsende Vorsicht zu ignorieren, als er ankündigte:

„Nun, ich gehe nun nach meinem Licht gucken und Ich nach Eurem. Wir treffen uns dann hier?“ Dann griff er seinen Rucksack.

„In Ordnung.“, unbeholfen schlüpfte ich in meine Stiefel zurück. „Dann auf bald?“

Er grinste leicht. „Ihr aus Annonce seid meist sehr langsam und träge. Seid so gut, beeilt Euch mir zu liebe. Ich warte nicht ewig.“, ungewollt zuckte ich zusammen, da er meinen leichten Akzent scheinbar herausgehört hatte.

Ohne ein weiteres Wort schulterte er seine Tasche, drehte ab und ging. Ich sah ihm nach, wie er zur Hintertür eines anderen Hauses ging, nicht wissen, welches Gebäude dies war, doch es handelte sich wohl um ein weiteres Geschäft. Lange stand ich so da, denn ich konnte nicht wissen, ob jemand aus dem Fenster sah. Stattdessen drehte ich mich zur Tür des Allerlei-Ladens und machte mich daran, sie zu öffnen. Meine Finger waren kalt, jedoch nicht so sehr, wie das Metall. Obwohl dies das erste Mal war, dass ich die von Nevar erlernte Kunst außerhalb seines Hauses anwandte, war ich außergewöhnlich ruhig. Ich ließ mir Zeit und sah mich auch nicht mehr um. Tommy kam zu mir und sah mir erwartungsvoll zu, doch ein Kopfstreicheln stimmte ihn zufrieden genug, sich wieder unter seinen vom Schnee geschützten Bereich zu legen. Ich warf ihm einen Blick zu, wie er dort lag, unter einem alten Karren, dann öffnete ich die Tür.

Es klackte leise, quietschen tat sie jedoch nicht und ohne weiteres war ich im Haus. Nun wurde ich doch etwas nervöser, die Totenstille beunruhigte mich. Ich beschloss, mich so wenig wie möglich im Haus aufzuhalten. Wenn etwas versteckt war, dann wäre dies auf keinen Fall im Verkaufsbereich, ich musste also nach oben. Das gesamte untere Stockwerk konnte ich mir sparen, an Diebstahl war ich nicht interessiert. Bedächtig schloss ich die Tür hinter mir und trat weiter ins Innere. Zuerst jedoch säuberte ich meine Schuhe mit einem Tuch von Schnee und Feuchtigkeit. Sollte ich mich verstecken müssen, wären Fußspuren sicherlich recht amüsant – aber nicht von meiner Seite aus betrachtet.

Ich befand mich im engen Lager, voll gestellt mit Regalen und Kisten, dazwischen versteckt war die Küche. Man konnte nicht sagen, ob dies mehr zum Laden oder mehr zum Wohnbereich zählte. Ich ließ meine Augen umher schweifen, während ich auf die gegenüberliegende Tür zusteuerte und nahm alles in mir auf:

Bier, Brot, Papier, Scheren, Kämme, Nadeln, Flaschen, Holz, Salz, fast alles war vertreten, doch nichts weckte mein Interesse.

Der Übergang zum nächsten Bereich war türlos. Nur ein Vorhang trennte den Verkaufsraum von einem winzigen Bereich mit Treppe, dann kam ein erneuter Vorhang, anschließend das Hinterzimmer. Da, sollte jemand hinein kommen, er dies sicherlich durch den Vordereingang täte, ging ich ohne weiteres nach oben. Die Treppe knarrte leise unter meinem Gewicht und ich trat größtenteils auf den Hacken auf, um so wenig Lärm, wie nur irgend möglich zu machen. Sie führte direkt auf die obere Wand zu, dann konnte man rechts durch einen Türrahmen in den einzigen, letzten Raum treten. Bevor ich dies tat, verharrte ich an der obersten Schwelle, mit dem Rücken an der Wand und lauschte. Ich blieb lange so stehen, sicherlich eine halbe Minute, doch nichts regte sich. Ich war allein, daran gab es keinen Zweifel, also steckte ich vorsichtig den Kopf ins Zimmer, anschließend meinen restlichen Körper.

Das letzte Zimmer war jenes, was ich gesucht hatte: Das Schlafzimmer von Vater und Sohn. Es gab zwei Betten, ein Doppelbett und ein einfaches, zudem stand an jedem Fußende je eine Kiste. In der Ecke befand sich ein Schreibtisch, beladen in ein paar Pergamenten, so wie den üblichen Schreibutensilien, an den Wänden standen Regale.

Mir fielen zwei Schreibtischschubfächer ins Auge, an denen ich mich ohne Frage zu schaffen machen musste, doch zuerst wollte ich mich den Kisten widmen. Ich hockte mich vor sie und machte mich daran, die Schlösser zu öffnen, als mir auffiel, wie alt und zerlumpt der rote Teppich war.

Wenn es sich bei diesem Mann wirklich um einen Händler handelte, dann gehörte er ohne Frage der Handelsgilde an. Aber wieso konnte er sich nicht anständiges Mobiliar leisten? Sein Inventar wirkte auf mich heruntergekommen, die Zusammenstellung der Räume provisorisch. Vielleicht war der Mann auch einfach nur geizig?

Es war ein wohltuendes Gefühl, das leise Knacken zu hören und die Truhendeckel anzuheben, doch je mehr ich suchte, je mehr wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wonach ich Ausschau halten sollte. Ich fand in allen mir vorgenommenen durchsuchten Sachen nichts, außer ein paar Hemden oder Papiere, so wie Verträge. Mir fiel nichts an ihnen auf. Weder stand irgendwo das Wort Samariter, noch ähnliches. Selbstverständlich rechnete ich nicht damit, dass ich genau dieses Wort irgendwo finden würde, aber auf was sollte ich Acht geben?

Für einen Moment hielt ich inne, denn mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört. Doch da sich nichts regte, las ich weiter die Unterlagen aus dem Schreibtisch. Joshua belieferte viele Geschäfte, unter anderem auch die Kathedrale in Brehms mit Kerzen und Haltern. Zudem hatte er vor sechs Jahren einen geringen Kredit bei einem Geldleiher aufgenommen und ihn im letzten Jahr samt Zinsen wieder zurückgezahlt. Er hat eine große Bestellung von Tabakdosen vorgenommen und sie nach zwei Wochen zurückgezogen, da er sich angeblich im gewünschten Material geirrt hatte. In Wahrheit hat er die gleichen Dosen bei einem anderen Händler gekauft – für einen Heller weniger pro Stück. Aber was nutzten mir all diese Informationen? Der Kerl war allem Anschein nach nicht nur geizig, sondern auch noch ein guter Geschäftsmann.

Ich legte alles sorgfältig zurück und widmete mich mehr seinem Sohn, denn schließlich war Luke mein Ziel und nicht Joshua. Ich untersuchte sein Bett in der Hoffnung, auf versteckte Briefe oder andere Hinweise, von allen Seiten. Ich durchforschte noch einmal seine Kiste und überprüfte sie nach einem doppelten Boden. Ich tastete sogar sein Kissen ab, doch bis auf fünf Heller fand ich nichts. Irgendwann gab ich auf und musterte die Holzdielen unter mir. Sie waren alt und morsch, doch nirgends gab es einen Hinweis auf ein Versteck oder ähnliches. Wenn Luke ein Geheimnis hatte, dann versteckte er es zumindest nicht hier. Doch irgendwann wurde ich auf etwas aufmerksam. Nicht im Bett des Sohnes, sondern unter dem Kissen seines Vaters lugte eine kleine, rote Ecke hervor. Es handelte sich allem Anschein nach um sein Tagebuch, das er nach dem Schreiben stets mit ins Bett nahm. Wenn er es immer so schlecht versteckte, dann würde sein Sohn es gewiss das eine oder andere Mal lesen und sicherlich standen darin keine Dinge, die dieser nicht lesen durfte. Aber vielleicht machten die zwei auch gemeinsame Sache?

Ich nahm es an mich. Das Buch war in rötlich schimmerndes Leder gebunden, doch an vielen Stellen war es zerschlissen und kaputt. Der Buchrücken löste sich auf und ich warf fast einige Seiten hinaus, als ich es aufschlug. Vorsichtig hielt es den Rücken mit der linken Hand und begann mit der rechten zu blättern. Man sah an der Schrift, dass die meisten Dinge unter Müdigkeit, Wut, Trauer oder Freude geschrieben worden waren. Anders als die Dokumente war diese Schrift mal groß und mal klein, teils leserlich, manchmal verzerrt und stets voller Emotion. Standart-Berichte aus dem Alltag eines Verkäufers interessierten mich nicht, zudem hatte ich kaum Zeit und so blendete ich alles an Wörtern einfach aus. Ich sortiere anhand der Schriftart und las nur jene Einträge, die schief geschrieben worden waren und kaum lesbar. Der erste Eintrag, der für mich interessant war, handelte von einer großen Sache an der er dran war. Er durfte es keinem verraten und wenn es gelingen würde, dann wäre er die Probleme endlich los. Leider stellte sich heraus, dass es dabei lediglich um eine neue Grundidee für das Handelsprinzip ging, bei welchem er zwei Händler gegeneinander ausgespielt hatte. Sie war misslungen und nun lebten sie in Streit miteinander.

Die zweite Sache war ein Kurzeintrag, der mir förmlich ins Auge sprang. Der Schreiber hatte für nur zwei kleine Zeilen eine gesamte Seite benutzt. Oben das Geschriebene und den Rest einfach frei gelassen. Ich dachte erst, das Buch wäre zu Ende, aber auf der nächsten Seite fuhr er fort, als wäre nichts gewesen. Zwar war die Schrift sehr ordentlich, aber die Aufteilung war auffällig, als würde er diese Zeilen einem besonderen Ereignis widmen, bei dem nichts anderes aufgezählt werden durfte. Ich las:

Ich habe sie heute gesehen, ich kann es nicht beschreiben. Sie sieht großartig, besser, als sie mir beschrieben wurde. Würde ich doch nur genug Geld besitzen, sie wäre mein!

Ich lasse sie nicht aus den Augen. Sie ist zu kostbar…

So etwas finde ich nie wieder! Ich muss sie kriegen, ehe jemand anderes sie kriegt!

Der Eintrag war zu Anfang des Monats gemacht worden und ich durchsuchte die restlichen Seiten nach einer Fortsetzung des Textes. Der zweite Eintrag mit solchem Aufbau kam eine Woche später und lautete:

Er hat sie auch gesehen und weiß bescheid.

Er verbietet es mir, ist das möglich? Er hat kein Recht dazu. Das hat er doch nicht?

Ich habe sie zuerst gesehen, immer nimmt dieser Mistkerl mir das, was ich haben will.

Diesmal nicht, ich war zuerst da. Und ich spüre, dass sie zu mir will. Es ist vorher bestimmt, ich weiß das. Niemand versteht es, aber irgendwann, ganz sicher Wenn ich doch nur mehr Geld hätte…!.

Ich tue alles, um sie zu bekommen. Irgendwie muss ich sie kriegen…!

Drei Tage später folgte der Eintrag:

Ich muss sie wieder sehen.

Das war alles. Lediglich dieser Satz war hin gekritzelt worden, fein säuberlich und mit etlichen Verzierungen in den Buchstaben.

Am darauf folgenden Tag war verzeichnet worden:

Ich halte es nicht mehr aus, wann darf ich sie endlich wieder sehen?

Und am dritten Tag dann:

Ich habe sie gesehen und es war wunderschön.

Ich wusste, dass es bestimmt ist.

Ich kann damit nicht mehr aufhören. Mein ganzer Kopf ist voll damit.

Es reicht mir nicht mehr, sie nur zu sehen, ich brauche sie! Ich will sie haben…

Ich habe kein Recht dazu, das weiß ich. Sie gehört mir nicht, aber wenn ich sie nicht anfassen darf, oder wenigstens kurz sehen, dann gehe ich kaputt!

Er hat kein Recht, es mir zu verbieten!

Wenn er es erfährt, bringt er mich um…

Nein. Ich ihn.

Ich muss sie wieder sehen…Egal was es kostet… Ich muss…

Weitere Einträge folgten nicht, abgesehen von Zusammenfassungen was Monatseinkommen oder einzelne Handelsideen angingen. Er hatte verzeichnet, wie viel Waren er bei wem bestellt, erhandelt oder gesehen hatte, wer woran Interesse zeigte und zwischendrin gab es Notizen zum Tagesablauf. Es wurde eine kleine Streiterei mit dem Bäcker beschrieben – dem verfluchten Bäcker, wohl gemerkt. Die zwei schienen sich öfters zu streiten, denn es gab gut fünf lange Seiten nur darüber, wie dumm, heuchlerisch, einfältig, ungebildet, falsch, unhöflich, unfreundlich, ungelehrt, humorlos, verschlafen, ungenau, verschwitzt, überteuert, egoistisch, unpünktlich, verschmutzt, unkreativ, unzivilisiert, dreckig, träge, grob, hässlich, scheinheilig, habgierig, rücksichtslos, vulgär, fett, unzuverlässig und charakterlos er war, dass man fast den Eindruck gewann, dass er durchaus einen Charakter hatte - auch wenn dieser nur daraus bestand, alles zu sein, was irgendwie schlecht war. Ich hoffte, dass ich diesem schrecklichen Menschen niemals begegnen würde und tat das Buch dorthin zurück, wo ich es gefunden hatte.

Zu meiner Verwirrung stand in vielen der Texte Der Alte. Der Autor sprach davon, dass der Alte ihn wieder geweckt hatte oder dass der Alte wieder verschlafen hatte, was darauf schließen ließ, dass dieses Buch dem Sohn gehörte. Aber wieso lag es unter dem Kissen des Doppelbettes? Schlief etwa der Vater im einzelnen und das Kind im ehemaligen Ehebett?

Da ich nicht sicher sein konnte untersuchte ich auch dieses und fand diesmal nicht mehrere Heller, sondern gleich zwei Silbermünzen, so wie ein Seidentaschentuch. Ohne Frage gehörte es einer Frau und ich legte es mehr angewidert zurück, als wirklich freudig.

Der Sohn hatte also etwas entdeckt, was ihn interessierte und nun wollte er es haben. Worum ging es? Ein Schmuckstück? Etwas anderes? Was auch immer, er schien besessen davon zu sein. In meinem Hinterkopf entstanden wilde Fantasien von Männern auf weißen Pferden mit roten Umhängen, die sich Samariter nannten und junge Männer mit teuren Schätzen aus aller Welt zu sich lockten, um sie in eine düstere Gilde zu ziehen. Vielleicht ging es um einen besonders wertvollen Kelch oder einen Kristall. Aber egal worum es ging, Luke würde über Leichen gehen, wenn es drauf ankäme.

Nun musste ich also einen Händler finden, der versuchte, Luke etwas zu verkaufen. Außerdem musste ich jene Person ausfindig machen, die ihn umbringen wollen würde. Es galt herauszufinden, wer an den gleichen Dingen wie Luke interessiert war und welche Rivalen er hatte. Eine Liste mit verhassten Namen darauf, über der ganz groß Meine Rivalen stand wäre mir aufgefallen, im Zimmer hatte ich also nichts mehr verloren. Nachdenklich schlich ich die Treppe wieder hinunter und beschloss, zurück zur Mauer zu gehen. Gerade betrat ich die letzte Stufe, da hörte ich ein Geräusch und hielt inne.

Jemand schloss die Ladentür auf, dann rasselte laut die Glocke über der Ladentür und eine Person trat ins Innere, direkt auf jenen Vorhang unmittelbar vor mir zu.

Zu spät!

Wenn zwei sich streiten...

Ich hatte damit gerechnet, dass jemand die Ladentür aufschließen würde, ein Geöffnet-Schild an die Scheibe hing, sich gemächlich umsah und dann ein Liedchen pfeifend ins Lager trottete. In dieser Zeit könnte ich seelenruhig zum Hinterausgang und das Weite suchen, ohne dass jemand mich bemerkte.

Stattdessen riss die Tür so stark auf, dass die Glocke darüber förmlich schrie und in einer heftigen Diskussion vertieft stürmten Vater und Sohn hinein. Der Junge voran, der Ältere hinter her. Es krachte, als der Ausgang sich von selbst wieder schloss und etwas wurde auf den Tresen gefeuert.

Erschrocken stolperte ich zurück und schlich rückwärts einige der Stufen wieder hinauf. Da es heller Tag war, gab es keinen Schatten, in dem ich mich verstecken könnte. Das Lager, der Vorraum und das obere Stockwerk waren übersichtlich und erhellt, nur der Bereich zwischen den Räumen und die Treppe lagen noch im Dämmern. Aber sollte man den Vorhang aufziehen, war auch das vorbei. Oben angekommen eilte ich so leise es ging um die Ecke und verharrte mit rasendem Herzen mit der Wand des Treppenaufganges im Rücken. Hilflos starrte ich auf die zwei Betten vor mir, dann zum Fenster. Würde ich zu ihnen gehen, würde ich meinen Schatten direkt in den Treppenbereich werfen. Ich musste ausharren, bis sie wieder weg waren.

„Nein!“, schrie der Sohn währenddessen wutentbrannt und stürmte ins Lager. Ich konnte hören, wie er nach etwas suchte. „Ich werde das so machen, wie ich es gesagt habe! Da redet mir keiner rein, auch du nicht!“

„Aber Junge, so denk doch nach!“, versuchte der Vater ihn zu überzeugen. „Da ist so viel Arbeit, du bist doch kaum noch bei der Sache! Du schaffst das doch gar nicht. In den Ruin treibst du uns!“

„Nein, habe ich gesagt!“

„Du vermaledeites Kind, so sei doch vernünftig!“, etwas schepperte. Der scheinbar recht jähzornige Mann hatte irgendwas umgeworfen, was wie eine Holzkiste klang, doch sein Sohn ließ sich nicht überzeugen. Abermals sprach er:

„Nein, Vater, ich werde nicht auf dich hören. Ich führe diesen Laden jetzt und ich tue es, wie ich es für richtig halte. Hör endlich auf mich zu behindern oder ich werfe dich raus!“

„Das kannst du nicht! Das ist mein Haus!“

„Es war dein Haus.“, der Junge ging an ihm vorbei zur Treppe. Ich hielt den Atem an, obwohl man mich erst sehen konnte, wenn man das obere Zimmer betrat und schloss die Augen. Mein Puls war so stark, dass ich ihn selbst in meinem Kehlkopf spürte. Auf der ersten Stufe hielt er inne, denn sein Vater brüllte:

„Du wirst es nicht wagen mich hinaus zu werfen! Das wagst du nicht!“

„Ach nein?!“, wahrscheinlich drehte Luke sich auf der Stufe herum. Nun war seine Stimme etwas ruhiger, gelassener. Man merkte ihm an, dass er keine Lust hatte, diese Diskussion zu führen. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Worte öfters gefallen waren und er sie leid war. „Ich sag dir was: Es ist mir gleich, wo du landest! Du verfluchter Säufer. Du treibst uns in den Ruin, nicht ich. Ich bügele die Falten gerade, die du fabriziert hast. Wer hat denn den Kredit aufgenommen?! Wer hat eintausend Fässer Salz gekauft, ohne sie zahlen zu können?! Wer hat versucht gefälschte Perlenketten zu verkaufen?! Ich?! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“

„Luke William Caviness, wage es nicht, so mit deinem Vater zu sprechen!“

„Und warum nicht?!“, Luke ging eine Stufe wieder hinunter und erleichtert atmete ich auf. „Du bist doch nur ein alter, versoffener Narr! Du siehst nicht, was du tust, du bist völlig verrückt! Verrückt!“, diesmal antwortete der Vater nicht und Luke blieb einige Sekunde lang stehen. Ich sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass er umdrehte und ganz hinunter ging. Wieder sah ich zum Fenster, das verlockende, kleine Loch in der Wand mit der schmutzigen Scheibe und den Schneeresten davor. Fünf kleine Schritte, mehr nicht. Das und ein großer, gewaltiger Schatten direkt vor den beiden.

Luke wollte hinauf, doch dann polterte es laut, denn der Alte hatte ihn gepackt und hinunter gezerrt. Ihm war der Geduldsfaden nun endgültig gerissen und ich konnte anhand der Tonkulisse erkennen, wie sein Sohn gegen die Wand am Treppenende knallte.

Na wunderbar., dachte ich ironisch. Als Einbrecher Mordzeuge zu sein war schon immer mein Traum.

Der Alte Mann schrie kaum verständlich und total außer sich: „Du wirst das nicht tun! Ich habe so lange gespart, du wirst das Geld nicht für diesen billigen Scheiß ausgeben und wenn ich dich windelweich prügeln muss!“, ich hörte Keuchen, allem Anschein nach hielt der Mann seinen Sohn noch immer fest. „Du wirst diesen Plunder nicht loswerden! Du wirst darauf sitzen bleiben und wir werden alles verlieren!“

„Du bist betrunken, du alter Narr!“, es krachte erneut, diesmal etwas weiter rechts zum Lager hin. Ich riskierte es, ging in die Hocke und spähte vorsichtig um die Ecke.

Die zwei standen im engen Flur und Luke hatte sich gerade los gerissen. Wütend rückte er seine Kleidung wieder zurecht. Er sah genauso aus, wie beschrieben:

Schlank, kurzes, braunes Haar, im Nacken kürzer als auf dem restlichen Kopf, kein Bart, einfache Kleidung. Seine Stiefel waren fleckig von der Nässe des Schnees und überall auf dem Boden waren nun Schlamm und Schmutz. Hätte ich Spuren hinterlassen, wären sie spätestens jetzt nicht mehr sichtbar gewesen.

Luke baute sich kalt vor seinem Vater auf. Man sah ihm an, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Anders als sein Gegenüber war Luke ruhig, wenn er wütend würde. Umso mehr seine Wut stieg, desto kälter wurde er. Sein Vater hingegen wurde laut, aggressiv, handgreiflich und jähzornig. Zwei Seiten die zueinander nicht passten, die nicht zueinander passen konnten. Umso mehr sich Luke aufstellte, desto kleiner wurde die Gestalt seines Vaters, der ohnehin recht klein und dick war. Er ging mir wohl bis zum Kinn, doch ich konnte mir vorstellen, dass er zu Kindeszeiten mächtige Wirkungen auf seinen Sohn hatte ausüben können. Nun jedoch war er nichts weiter, als ein dicker, alter Herr, mit von Äderchen besetzter Nase, schütterem Haar und wässrigen Augen.

Zischend machte Luke ihm klar: „Wenn du mich noch einmal anfasst, dann…“, doch weiter redete er nicht.

„Dann was?!“

Der Sohn zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich bin nicht du, ich habe Respekt vor meiner Familie. Aber solltest du nicht endlich aufhören, dich so aufzuspielen, dann werfe ich dich raus. Ich nehme dir das Geld weg, das ich verdiene…! Und ich zeige dich an wegen Betruges, Diebstahls und Verleumdung!“

„Das wäre dein Ruin!“

„Aber wenn ich dich damit los werde, ist es mir die Sache wert!“, und mit diesen Worten stieß Luke ihn beiseite und stapfte zum Verkaufsraum. Der Vater ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen sofort zufolgen und dabei zu schimpfen:

„Du wirst Bankrott gehen! Dein ganzer Laden wird in Verruf kommen, niemand wird hier kaufen! Niemand!“

„Ja, ja, mach du nur. Dir hört niemand mehr zu.“

„Du wirst schon sehen, Junge, was du davon hast! Dein alter Herr ist nicht irgendjemand! Du bist in Gedanken ganz woanders, das merken auch deine Kunden und dann- ha! – ist es aus!“, sein Sohn hörte ihm nicht mehr zu. Ich versteckte mich wieder hinter der Wand und lauschte, wie er nach hier und nach dort ging, um das eine oder andere zusammen zu packen. Er hatte beschlossen, nicht hinauf zu kommen. Wahrscheinlich fürchtete er, so wie ich, den alten aus Versehen hinunter zu stoßen. Die ganze Zeit über sprach der Vater auf sein Kind ein, in der Hoffnung, auf Antwort zu stoßen. „Du bist missraten und undankbar, Luke, hörst du?! Ich bin dein Vater, ich wollte nur dein Bestes und du?! Du wirfst alles zum Fenster raus! Ich habe jahrelang dafür gekämpft, jahrelang! Hart gearbeitet! Ich habe diesen Laden mit meinen eigenen Händen erbaut! Ich habe die ersten Waren gekauft und hier versteigert, ich habe dafür geblutet du verfluchter Bengel! Wenn deine Mutter das wüsste, dich anschreien würde sie! Sie hatte wenigstens Grips, aber du?! Du bist verrucht, total verkommen, besessen! Hängen sollten sie dich, auf den Marktplatz, damit du lernst aus dem, was du hier tust! Jahrelang habe ich mich um dich gekümmert, viel zu sanft war ich mit dir, da sieht man es ja wieder! Bei den Jungen heute braucht man eine feste Hand, ich habe es immer gesagt. Immer!“ Und irgendwann dann knallte die Ladentür wieder zu. Luke hatte alles genommen, was er gebraucht hatte und nun war er hinausgegangen, ohne seinen keifenden Vater weiter zu beachten. Ich lauschte eine Zeit lang, wie dieser vor Wut schnaubend Selbstgespräche führte und sinnlos im Vorraum auf und ab ging, dann entschloss ich mich, das Weite zu suchen.

Ich musste hinaus, ehe er auf die Idee kam, vielleicht zu mir herauf zu kommen, außerdem wollte ich Luke verfolgen. Langsam und leise schlich ich mich Stufe für Stufe hinunter, bis ich das Ende der Treppe erreichte und dort hielt ich inne, um zu gucken. Der Vorhang war wieder zugezogen, jedoch sah man die Beine des Vaters unten durch. Er stand am Tresen und den Geräuschen nach, trank er murmelnd etwas. Seine Beine warfen lange, dunkle Schatten zu mir.

Ich schlich in das Lager zurück, dem Matsch so gut ausweichend, wie es ging, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. Wie erleichtert ich war, die Kälte um mich zu spüren, nun hatte ich es geschafft. Mit einigen, schnellen Schritten eilte ich zur Mauer, auf keinen Fall wollte ich dem Mann auf dem Weg zur Erleichterung begegnen. Kaum hatte ich die Hälfte hinter mir gelassen, kam mir Tommy freudig entgegen.

Ich wusste mit Hunden nichts anzufangen, als Kind hatte ich sogar große Angst vor ihnen gehabt. Er sprang und hüpfte zu mir herauf und warf mich fast um. Unbeholfen fuhr ich über das Fell seines Kopfes, doch ich hatte nicht das Gefühl, als würde er es mögen. Dann sah ich den Fremden.

Er hatte auf mich gewartet und kam mir nun entgegen, wieder einen Halm im Mund und auf dem Rücken ein deutlich vollerer Ledersack.

„Da seid Ihr ja.“, war seine Begrüßung. Ich antwortete nicht, sondern ging mit ihm zur Mauer. Bereits unterwegs schlüpfte ich aus meinen Stiefel und band sie fest. Schmunzelnd fragte er: „Ganz schöner Krach gewesen da drin. War das Licht also an?“

„Nicht richtig.“, dann ließ ich mir hinauf helfen. Wieder warf er den Sack über die Mauer, diesmal klimperte er leise, als läge Metall darin. Neugierig betrachtete ich das Lederstück, ehe ich ihm hinauf half und gemeinsam mit ihm die Mauer wieder hinunter sprang.

Als ich auf der anderen Seite stand, kam es mir vor, als wäre ich nie drüben gewesen. Die kalten Steine waren vor mir, der hechelnde Hund dahinter und irgendwo Joshua und seine Flasche Alkohol. Es wirkte irreal und absurd, dass ich dort gewesen war, zudem hatte ich kaum etwas in Erfahrung bringen können. Ich wusste nun lediglich, dass der Sohn den Laden führte und nicht der Vater und dass die zwei in einem recht zerstrittenen Verhältnis lebten – was meiner Meinung nach untertrieben ausgedrückt war. Zudem war Luke von irgendetwas unheimlich angetan, was selbst dem Vater aufgefallen war. Nur was?

Der Fremde reichte mir die Hand, nachdem ich meine Schuhe wieder angezogen hatte und grinste: „Viel Erfolg noch und danke für die Hilfe. Lief recht gut für einen Annoncer.“ Zögernd nahm ich an und schüttelte sie. Er hatte einen sehr festen Händedruck, ein Zeichen für starkes Selbstbewusstsein. Als wir losließen, schmerzten meine Fingerknochen etwas.

„Wir sind gar nicht so faul, wie man behauptet.“, verteidigte ich mich.

„Es gibt drei Dinge, an denen man einen Annoncer erkennt.“, erklärte er mir und warf sich den Sack über die Schulter. „Als erstes der Akzent. Ihr redet so gedehnt und gelangweilt.“, nun warf er den Sack ein Stückchen hoch, da er verrutscht war und versuchte, eine bequeme Haltung zu finden. „Als zweites Eure Langsamkeit. Ihr seid total gelassen, wie Schnecken.“

„Und als drittes?“, hakte ich nach.

Er grinste besonders breit und deutete mit einem Kopfnicken zu den braunen Schlieren. „Euer Gestank. So was da ziehen Annoncer magisch an.. Also dann, auf Nimmer.“

„Auf Nimmer.“, wiederholte ich verwirrt über die seltsamen Abschiedsworte und etwas beleidigt aufgrund seiner Behauptungen. Er hörte gar nicht mehr zu, sondern hatte sich abgewandt und war losgegangen. Seufzend sah ich ihm nach.

Also gab es auch in Brehms seltsame Gestalten, so wie in meiner Heimatstadt. Allem Anschein nach waren wohl doch alle nur Menschen, egal, wo sie wohnten. Ich beschloss später über ihn nachzudenken, wenn überhaupt. Auf keinen Fall wollte ich mir bewusst machen, was er dort weg schleppte. Lieber wollte ich zu Luke, der sicher gerade seinen Karren beladen hatte, um die Händler abzuklappern. Vielleicht hatte ich Glück und er würde sich mit der mysteriösen Person treffen. Dann könnte ich die ersten Informationen bezüglich der Samariter sammeln und Nevar beim nächsten Treffen sogar Fortschritte vorzeigen.

Schweigend stapfte ich durch den Schnee die Gasse entlang, in die Entgegengesetzte Richtung zum Ladenausgang hin. Ich konnte mir Zeit lassen, denn bei diesem Schnee kam man mit Karren nur schwer voran, zudem würde er tiefe Spuren hinterlassen. Es würde nicht lange dauern und ich hätte Luke eingeholt.

Am Ende der Gasse jedoch, ich war gerade auf die Straße getreten, hielt man mich an. Ich wusste erst gar nicht, wie mir geschah. Zwei Hände packten mich an der Schulter und ich fuhr herum, mit dem schlimmsten rechnend. Keuchend und hechelnd standen mir die zwei Statuenbewacher gegenüber.

„Ihr?!“, fragten sie verwirrt.

„Ihr?“, fragte ich zeitgleich.

Dann fasste sich der Dickere von ihnen und fragte ernst:

„Ein Einbruch wurde gemeldet. Habt Ihr etwas gesehen?!“

„Ähm...“, ich stockte, denn ich war mehr als nur überrumpelt und natürlich fühlte ich mich angesprochen. Unsicher murmelte ich: „Nun ja, wo wurde denn eingebrochen?“

Der Ältere kam dem Dicken zuvor. Er rückte seine Mütze zurecht, die durch das Rennen an Halt verloren hatte und stammelte aufgebracht: „Im Kupfer-Fach-Geschäft, gleich hier um die Ecke. Ihr kommt doch aus der Richtung?“

Kupferfachgeschäft. In meinem Hinterkopf hörte ich den Stoffsack des Fremden klimpern. „Ähm...“, abermals stockte ich, denn tatsächlich kam ich von dort. Der Fremde war in dieses Geschäft eingebrochen und es war offensichtlich, dass sie ihn suchten. Ehe ich etwas sagen konnte, ergänzte der Dickere:

„Der Verkäufer kam gerade in das Geschäft und siehe da, man war in seinem Lager!“

„Das ist wirklich schrecklich! Ich habe tatsächlich etwas gesehen!“, übertrieben nickend sah ich von einem zum anderen. „Einen Mann, etwa so groß wie ich. Er hatte einen Ohrring und kam mir entgegen, als ich-…“

„Einen Ohrring?!“, unterbrach mich der Ältere nun. „Hier etwa?!“, und dabei zeigte er an seine Ohrmuschel. Als ich abermals nickte, schnaubte sein Partner verächtlich.

„Wieder dieser Slade…! Wo ist er hin gegangen?“

„Da entlang. Ich glaube aber-…“, doch kaum hatte ich meinen Finger auch nur ansatzweise in die völlig falsche Richtung bewegt, rannten die beiden unbeholfen weg. Sie rutschten und watschelten, mehr als dass sie wirklich liefen und es war ein recht amüsanter Anblick, als sie sich nicht entscheiden konnten, wer denn als erstes in die enge Gasse sollte. Kopfschüttelnd ging ich weiter meinen Weg, sie würden diesen Slade nicht finden und selbst wenn, wären sie wohl so mit Streiten darüber beschäftigt, wer ihn nun festnehmen sollte, dass er in aller Ruhe das Weite suchen konnte. Ich wiederholte den Namen leise um ihn mir einzuprägen:

„Slade.“ Grinsend stellte ich fest, dass sie mich gar nicht gefragt hatten, weswegen ich eigentlich von dort kam.

Ich folgte den Straßen und lief um den Häuserblock herum zur Vorderseite. Luke war allem Anschein nach verschwunden, tiefe Reifenspuren im Schnee zeigten mir jedoch, wohin er mit seinem Karren gegangen war. Sie führten aus der Gasse neben dem Eingang hinaus tiefer in die Stadt hinein. Kurz überlegte ich, ob ich ins Ladeninnere gehen sollte, um mir alles etwas näher anzusehen, doch der düstere Blick des Händlers an der Fensterscheibe ließ mich weiter gehen.

Ich wunderte mich nicht, dass sie gezwungen gewesen waren, Schulden zu machen. Wenn jemand sich so in den Verkaufsraum stellte, flohen die Kunden eher, als dass sie angelockt wurden.

Die Stadt wirkte in manchen Teilen fast wie tot auf mich, während ich schweigend durch die Gassen schlenderte und den Spuren folgte. Manchmal passierten Luke und ich – nur etwas entfernter voneinander – belebte Marktstraßen, meistens jedoch folgten wir Abkürzungen durch schmale Pfade, durch welche er gerade so hindurch passte. Nicht lange und ich holte ihn ein. Luke lief mehrere Meter vor mir und ich beschloss, so viel Abstand wie möglich zu nehmen, um nicht aufzufallen. Drei Stunden lang lief ich ihm hinter her oder Umwege voraus, wenn ich wusste, wo er die Gasse verlassen würde. Irgendwann begannen meine Hände zu frieren und ich bekam unheimlich schlechte Laune. Bis dorthin hatte ich mich als geduldigen Menschen bezeichnet, aber als dann sogar die vierte Stunde anbrach, war ich nicht mehr zu besänftigen. Er klapperte einen Laden nach dem anderen ab und sprach mit fast jedem Verkäufer gut eine viertel Stunde lang, über Gott und die Welt! Wie konnte ein einfacher Mann so viel mit anderen reden, meist über die unsinnigsten Themen?!

Meine Zehen wurden taub, vom Rest meines Körpers ganz zu schweigen. Ich war der festen Überzeugung, dass meine Ohren und Finger irgendwo am Wegesrand liegen mussten.

Aufgrund des Winters wurde es früh dunkel und die Gestalt von Luke wurde immer mehr zu einer schwarzen Silhouette, dann trat er den Heimweg an. In naiver Hoffnung, es würde doch noch irgendetwas passieren, folgte ich ihm zurück bis zum Laden, nur um zu beobachten, wie er den Karren verstaute, mit einer Plane vor der Witterung schützte und zurück ins Haus ging.

Das war mein erster Spionage-Tag und er sollte nicht der letzte sein, der so ablief.

Ich kehrte auf die andere Stadtseite zurück zur Rum-Marie, erschöpft, hungrig und vor allem müde. Meine Muskeln schmerzten durch die Kälte, meine Waden vom langen Laufen und mein Kopf noch immer von den harten Schlägen durch Morgans Wut. Zu meiner Erleichterung war dieser noch nicht zurückgekehrt und ich konnte beruhigt ins Bett gehen. Es verwunderte mich, dass man Morgan so lange festhielt, vielleicht bahnte sich aber auch etwas weitaus schlimmeres an. Ich stellt mir vor, wie er etliche Männer um sich scharte, aus Rache und Mordlust heraus und was passieren würde, würde ich aufwachen und die gesamte Meute würde plötzlich vor mir stehen. Dennoch war ich so dreist, dass ich es einfach heraus forderte.

Es war mir gleich, ob er plötzlich vor mir stand und es war mir gleich, ob ich dann sterben würde. Ich wollte einfach nur schlafen.

Am Morgen raffte ich mich auf und zwang mich, zurück zum Allerlei-Fachhandel zu gehen. Amy machte mir eine warme Suppe und auf dem Weg kaufte ich mir ein weiteres Hemd, um die Kälte zu ertragen. Ich konnte kaum laufen, jeder Muskel schmerzte und ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich mir mit dem Handrücken unter die Nase rieb. Ich war erkältet, ich wurde krank.

Mittlerweile war die Sonne dabei, den vereisten Schnee zu schmelzen und von den Dächern tropfte das Wasser, als würde es regnen. Ich hoffte, dass es so warm blieb, denn würde alles erneut gefrieren, wären die Straßen von Brehms die Hölle. Erneut folgte ich Luke den gesamten Tag lang und sah ihm zu, wie er mit den vielen Menschen redete, diesmal in ganz anderen Teilen der Stadt. Zwar bekam ich dadurch viel von Brehms zu sehen, was ich selbst wahrscheinlich niemals erkundet hätte, dennoch war es nicht annähernd tröstend.

Ich registrierte, dass Luke seine Fahrten immer erst gegen Mittag startete, zuvor ging er mit seinem Vater in einem nahe liegenden Gasthaus frühstücken. Da in dieser Zeit nicht viel Spielraum für heimliche Aktivitäten blieb, sondern nur für unwichtige Vater-Sohn-Streitereien die mich nicht interessierten, beschloss ich, mich in dieser Zeit etwas anderem zu widmen: Mir.

Ich gönnte mir ein ausgiebiges Frühstück und zwar nicht irgendetwas, sondern frisches Brot. Dieses kaufte ich bei einem gewissen verfluchten Bäcker, rein zufällig natürlich.

Diesen Bäcker zu finden war nicht schwer, denn er lag dem Handelsladen genau gegenüber und hieß Frankys Backstube. Es musste einen Grund haben, wieso Franky und Luke sich immer stritten und vielleicht würde für mich die eine oder andere Information abfallen, würde ich die richtigen Themen aufgreifen.

Ich zog die Kapuze vom Gesicht, trat ein und hörte mir die Rassel an, die über der Tür mein Kommen ankündigte. Der Laden war leicht zu beschreiben: Ein Tresen und endlos viele Regale im Hintergrund mit den interessantesten Gebäcken. Eine Tür führte in ein Hinterzimmer, dort stand wahrscheinlich der Ofen und dort war wahrscheinlich auch Franky. Ich wartete einige Zeit, doch da niemand meine Ankündigung vernommen zu haben schien, öffnete ich die Tür erneut und schloss sie wieder. Wieder rasselten die kleinen, silberfarbenen Glöckchen, diesmal eindringlicher.

Als erstes hörte ich ein lautes und gedehntes: „Ich komme!“ und war unsicher, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Als zweites hörte ich stampfende Schritte näher rücken.

Eine sehr große und vor allem dickliche Gestalt trat in das Vorderzimmer, mit schwarzen Haaren, dunklen Schweinsäuglein, aber unheimlich freundlichem Gesicht. Es wirkte, als stünde vor mir eine Mischung aus Frau und Mann, denn der Kerl hatte recht weibliche Züge und sein dicker Bauch war so geformt, als würde er ein Kind unter seiner Schürze tragen. Lächelnd wurde ich gefragt: „Was darf es bitte sein?“

Ich stockte, denn er hatte wahrlich eine recht feminine Stimme, dann räusperte ich mich und sah mich etwas um. „Nun… Ich hätte gern ein einfaches Brot, recht klein, wenn es geht.“

„Aber natürlich, was denn für ein Brot?“, er deutete lächelnd auf die Regale um sich und fragte: „Domherrenbrot?“

„Oh nein.“, abwehrend hob ich die Hände. „Das kann ich mir wahrlich nicht leisten.“

„Ihr seht aus, als könntet Ihr es, mein Herr.“, spottete der Bäcker. „Nun gut, also kein Feinschmeckerbrot, meinethalben. Was dann? Vollkorn, Stadtbrot? Oder etwa Gersten- und Haferbrot für Euer Vieh?“, er sah an mir vorbei zur Tür, doch da ich kein Vieh zu haben schien, sagte er: „Wohl nein.“

„Nein, nein. Ein einfaches Bürgerbrot bitte. Aber ein frisches.“

„Ein frisches Stadtbrot, so, so. Aber es ist doppelt so teuer, dass wisst Ihr? Fünf Heller mehr, also einen halben Silberling.“, ich nickte nur. Der Bäcker drehte sich herum und griff in eines der Regale, um eine kleine, runde Teigkugel hinaus zu holen. „Wo kommt Ihr her, dass Ihr es Bürgerbrot nennt? Etwa aus dem Süden? Eine hässliche Gegend, ich hoffe doch nein?“, und mit diesen Worten hielt er es mir entgegen. Lächelnd schob ich ihm zehn Heller zu.

„Ach, nein. Bloß nicht.“

„Aber Euer Dialekt lässt doch sehr darauf schließen.“, fuhr der Bäcker überzeugt fort. „Ihr wirkt wie einer aus dem Süden. Meine Güte, Bürgerbrot, was für ein Wort. Das klingt ja richtig vornehm!“

Lachend nickte ich. „Ja, für wahr. Man macht alles etwas besser, nicht wahr?“, dann musterte ich die Teigkugel in meinen Händen. Sie war fest, aber im Innern weich und es roch ungemein frisch. Im Kloster war es Pflicht gewesen, jedes Brot erst nach einem Tag zu essen, denn frisches stand einem einfachen Mönch nicht zu. Ich glaubte, das erste Mal ein völlig frisches Brot in den Händen zu halten. An der flachen Unterseite befand sich eine Art Siegel, FB, die Initialen für Frankys Backstube. Es gab nicht viele Bäckereien, die eigene Öfen hatten, die meisten ließen sich die Brote von größeren Bäckereien liefern und verkauften sie nur. In manchen jedoch war es anders. Manche, so wie Franky’s Backstube, hatten eigene Öfen, in denen man selbst gemachten Teig backen lassen konnte, so wie Mischungen anfertigen oder Gernsten- und Hirsebrei kochen. Diese Bäcker waren eigenständige Bäcker, mit eigenen Siegeln, durch die man all ihre Waren zu ihnen zurückverfolgen konnte. Als ich Franky wieder ansah, war er nicht wenig stolz und ich glaubte, er war noch nicht lange ein eigenständiger Bäcker. Seine dunklen Augen leuchteten etwas und seine ohnehin rötlichen Wangen glühten nun richtig.

„Ihr seid eigener Bäcker?“, fragte ich und sofort erhob sein Kopf sich etwas.

„Oh ja, das bin ich. Los- und Weißbäcker! Wenn der Herr also einen Teig zum backen hat, nur her damit, für nur fünf Heller backe ich ihn ihm.“

„Leider nein, aber wenn ich mal einen Teig haben sollte, dann weiß ich, wohin ich gehe.“, ich schmunzelte, denn mit Sicherheit würde ich niemals einfach so irgendwo einen Teig finden. Der Bäcker merkte nicht, dass ich mich ein wenig über ihn lustig machte. Er verschränkte seine Arme auf den Tisch und lehnte sich zu mir nach vorne, wie ein riesiger Hahn, der mir seinen Hühnerstall präsentieren wollte.

„Ja, tut das nur, ich backe es am besten. Besser, wie jeder andere hier in der Gegend, Ihr werdet sehen.“

„Gibt es denn viele eigenständige Bäcker hier?“, hakte ich nach.

Er winkte ab. „Ach, nein, nicht in diesem Viertel. Wegen der Brandgefahr, wisst Ihr? Ich bin der erste mit eigenem Ofen.“

„Dann ist es wohl nicht schwer, besser zu backen, als jeder andere.“, scherzte ich und biss eine Ecke von meinem Brot. Sie war knusprig und schmeckte stark nach Gerste, zudem befanden sich einige nicht richtig gemahlene Stücken im Innern. Das war das negative daran ein Bürger zu sein: Das Brot war weder gesalzen, noch richtig gemahlen. Dennoch genoss ich den Geschmack ungemein.

Franky schmunzelte, diesmal merkte er meinen Spott und er nahm es als Herausforderung an. Er musste sich mit seinem neuen Können erst behaupten und wahrscheinlich war ich der erste, der seinem Protzen nicht beipflichtete.

„Lacht Ihr nur. Wenn Ihr einen Teig habt oder einen Brei, dann werdet Ihr an mich denken.“

„Gewiss, das werde ich. Ganz bestimmt sogar.“, antwortete ich kauend.

„Schmeckt es?“

„Ausgezeichnet, das gebe ich zu.“, ich schluckte den Bissen hinunter und sah kurz zur Tür. Die Sonne war dabei aufzugehen und ich überlegte mir, das restliche Brot aufzuheben, bis ich ein passendes Getränk dazu hatte. Lächelnd wandte ich mich wieder dem Bäcker zu. „Etwas trocken vielleicht.“

„Nun, ich braue auch, wenn Ihr also wollt? Fünf Heller der Krug.“

„So viel wie ein halbes Brot!“, stellte ich leicht erschrocken fest, nickte jedoch. Franky schien zufrieden und verschwand wieder, dann kam er mit einem vollen Krug zurück und stellte ihn mir vor die Nase. Ich zahlte erneut, diesmal nur fünf Heller und nahm einen kräftigen Schluck. Es schmeckte wunderbar, im Vergleich zu jenem Bier, das ich in der Rum-Marie bekommen hatte. Grinsend musterte Franky mein Gesicht.

„Gut, was? Familienrezept.“

Ich nickte abermals, um ihn zu loben und etwas Sympathie zu gewinnen, dann begann ich ein Gespräch: „Wisst Ihr, ich bin Buchbinder nicht weit von hier und binde unter anderem die Bücher des Skriptoriums vom alten Pepe, einige Straßen weiter. Doch die Arbeit langweilt mich, ich will etwas Ernsthaftes machen. Etwas, das einen Sinn hat, versteht Ihr?“

Franky nickte eindringlich. „Natürlich.“

„Seht Ihr, deswegen suche ich eine neue Arbeit. Ist die Arbeit eines Bäckers schwer?“, ich biss erneut in mein Brot. Franky schenkte mir ein verschmitztes Grinsen.

„Der feine Herr sollte bei seinen Büchern bleiben, die Arbeit bei einem Bäcker ist eine ganz schön harte Sache.“

„So?“, hakte ich scheinbar interessiert nach. Frankys Stolz wuchs ins Unermessliche.

„Selbstverständlich. Habt Ihr Interesse bei mir in die Lehre zu gehen?“

„Nun, das kommt drauf an.“, ich wog den Kopf. „Ich möchte schon verdienen können und nicht nur schuften.“

Das brachte Franky zum Lachen. Er verließ mich kurz wieder und ich konnte hören, wie er an seinem Ofen herum hantierte. Als er zurückkam, war mein halbes Brot bereits verschwunden und mein Krug fast leer. „Ihr würdet als Lehrling anfangen, für drei Jahre.“

„Drei Jahre als Knecht?! Das ist Ausbeute!“, fluchte ich. Franky lachte und stemmte die Arme in die Hüften.

„Ich weiß nicht, wo Ihr herkommt, dass Ihr das sagt, aber hier ist das eben so. Ihr seid drei Jahre Knecht, und dann dürft Ihr Teig machen oder mir aushelfen und wenn Ihr das zwei Jahre lang gut macht und die Prüfung ablegt, dann dürft Ihr Euch Meister nennen.“

„Also…“, fasste ich kauend zusammen. „…muss ich drei Jahre lang Mehl schleppen und Korn mahlen, dann zwei Jahre lang Teig kneten und Feuer im Ofen schüren und nach fünf Jahren erst bin ich Bäcker?“, als er nickte, schüttelte ich entschieden den Kopf. „Nein, danke. Da werde ich ganz krank vom ganzen Mehl und wofür? Ich bleibe bei meiner Buchbinderei.“

„Tut das nur.“, grinste Franky und machte es sich wieder bequem. „Ich sage ja: Das ist nur was für echte Männer.“

Ich schwieg und steckte mir den letzten Brotkanten in den Mund, während ich einen erneuten Blick zum Allerleiladen gegenüber warf, fast ein wenig nachdenklich. Dann drehte ich mich kauend und schmatzend zurück und sinnierte: „Oder ich werde Händler, wie die gegenüber. Das wäre doch was: Mit meinem Karren durch die Stadt ziehen und verdienen ohne Hör-Auf.“

„So ein Unsinn!“, Frankys Gesicht wurde etwas düster und auch er sah durch seine Scheibe hinaus zum Geschäft. „Das sind doch alles Betrüger und Halunken!“

„So?“, ich folgte seinem Blick, als wüsste ich nicht, wen er meinen würde. Der Bäcker beugte sich zu mir herunter und zischte leise:

„Ja, das sage ich Euch…! Die da drüben zum Beispiel, beschissen haben die mich!“

„Womit denn das?“, fragte ich schockiert.

Franky richtete sich wieder auf und verschränkte düster die Arme. Sein Gesicht verfinsterte sich ungemein und zwischen seinen schwarzen Augenbrauen bildeten sich tiefe Falten. Ich nippte an meinem Krug und hörte zu, als er knurrte:

„Diese Mistkerle! Haben mir das Mehl weg gekauft, das ich mit holen wollte und dann haben sie zwanzig Brote in Auftrag gegeben damit. Und was dann?! Dann haben sie es abgeholt und für den dreifachen Preis verkauft! Mein Siegel, das haben sie abgekratzt! Behauptet, das wäre ihr Teig gewesen, dabei war ich es, der den Teig gemacht hat! Sie hatten nur das Mehl besorgt! Sogar mir haben sie eines verkauft, ist das nicht unheimlich dreist?!“

„Das ist doch Betrug!“, sagte ich aufgebracht, um ihn noch etwas anzuheizen.

Franky schnaubte. „Mehr als das!“

„Habt Ihr das denn nicht gemeldet?“

„Natürlich habe ich das! Aber kann ich es denn beweisen? Diese Halunken, immer und immer wieder bescheißen sie mich!“, er sah mich aggressiv an und zischte: „Und nicht nur mich, die ganze Stadt legen sie rein! Früher, vor fünf Jahren, als Elisabeth - die gute Liz! - noch lebte, da war das anders gewesen. Da war Joshua noch ehrlich gewesen. Aber heute?“

„Joshua? Elisabeth?“, fragte ich verwirrt. Der Bäcker stieß wütend die Luft aus und etwas Mehl flog vom Tresentisch.

„Der Besitzer des Ladens ist Joshua, Elisabeth war seine Frau. Gott sei Ihrer armen Seele gnädig.“, er bekreuzigte sich und sah wehleidig hinüber zum Geschäft, als wäre jene Tragödie, die bereits fünf Jahre her war, noch immer aktuell. „Sie starb an Fieber, ein gutes Weib. Ein Engel, das sage ich Euch. Aber seitdem sie fort ist, hat Joshua sämtliche Ehrlichkeit verloren.“

„Aber führt nicht der Sohn das Geschäft?“, wollte ich verwirrt wissen. Mit einem Mal begann der Bäcker zu lachen, als hätte ich einen unheimlichen Witz gemacht.

„Der Sohn? Luke, der Lausebengel? Ein Einfaltspinsel ist das, dumm wie Stroh. Der schiebt den Karren und jeder weiß, wieso: Weil er dümmer ist, als mein Brot, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Den lässt der Vater nie an den Verkauf, versteht Ihr? Weil er sie bankrott machen würde. Kommt immer hier her und kauft etwas bei mir, daher weiß ich das. Ein mieser Charakter, ohne Frage.! Oh, wenn Liz nur wüsste, was sie mit ihrem Geschäft anstellen, die gute, alte Liz, sie tät das gerade biegen!“, seufzend schlurfte er zurück ins Hinterzimmer.

Ich schwieg und blieb am Tresen stehen, aufmerksam hinaus sehend. Noch immer brannte kein Licht im Laden, also ließ ich mir mit meinem Krug noch etwas mehr Zeit und meine Gedanken kreisen.

Der Bäcker kannte scheinbar die Familie Caviness sehr genau, aber wie genau wirklich? Gab der Junge sich dumm oder wirkte er so auf den Bäcker, aufgrund der Feindseligkeit? Angeblich hatte das Chaos mit dem Betrug erst vor fünf Jahren begonnen, seitdem die Mutter verstorben war. Ich rechnete. Luke war damals um die sechzehn Jahre alt gewesen, konnte also unmöglich begonnen haben, ein Geschäft zu führen. Der Vater hätte ihm wahrscheinlich nichts anvertraut, er war noch ein Kind. Oder aber der Vater war in tiefer Trauer gewesen und der Sohn hatte das Geschäft übernommen, damit sie es nicht verlieren würden.

Das Geschäft hatte Elisabeth – Liz – gehört, etwas sehr ungewöhnliches, denn schließlich war sie eine Frau gewesen. Doch wem hatte sie es hinterlassen? Joshua oder Luke? Wer hatte sich darum gekümmert, wer war dazu eher im Stande gewesen? Oder hatte das Geschäft bereits zuvor Probleme gehabt, vor ihrem Tod?

Laut den Unterlagen im Schreibtisch der Familie Caviness hatten sie vor sechs Jahren, also zwei Jahre vor Elisabeths Ableben, einen Kredit aufgenommen, den sie vor einem Jahr zurückgezahlt hatten. Das bedeutete, bereits unter Elisabeth hatten sie starke, finanzielle Probleme gehabt. So stark, dass sie sie erst nach fünf Jahren hatten bezahlen können. Entweder, sie waren an einen Betrüger als Geldleiher geraten, bei dem die Zinsen viel zu hoch gewesen waren oder aber sie hatten einen unglaublich hohen Kredit aufgenommen.

Nirgends war der Name des Leihers verzeichnet worden und auch nicht der genaue Betrag, es gab lediglich ein Beweis-Dokument, dass sämtliche Schulden bezahlt worden waren. Wollte man den Betrag verheimlichen? Und wieso hatte Luke gesagt, dass der Vater den Kredit aufgenommen hatte, wenn doch Liz als Besitzerin des Ladens galt?

Mir kam die Idee, dass Elisabeth bereits zwei Jahre vor ihrem Tod krank gewesen sein könnte und deswegen der Mann das Ruder in die Hand genommen hatte und mit einem Mal tat die Frau mir leid. Sie hatte mit ansehen müssen, wie das Geschäft, das sie mit ihren Händen erbaut hatte, durch die falsche Pflege ihres Mannes verkommen war. Vielleicht hatte er sogar angefangen zu trinken und sie hatte gemerkt, dass ihre Familie Banktrott gehen würde. Es war kein Wunder, dass sie keine Kraft mehr gehabt hatte, sich gegen das Fieber zu wehren.

Aber wo stand der Sohn während dieser Zeit? War er hinter ihr und versuchte sie und den Laden am Leben zu erhalten? Das würde den Hass auf seinen Vater erklären, der ungeachtet das Lebenswerk seiner Frau zerstört hatte. Oder stand Luke abseits und hatte bereits als Junge seine eigenen, düsteren Pläne? Gab es vielleicht einen Komplizen? Einen Rivalen, einen zweiten Händler oder einen Onkel, der sich die Naivität des Kindes zu Eigen machen wollte? Jemand, der Elisabeth gehasst hatte und froh war, sie endlich los zu sein? Und wieso gab es im Haus nirgends die geringste Spur von Elisabeth, bis auf das Ehebett, in dem nun sogar Luke schlief, statt der Vater? Ich hatte weder alte Kleider gefunden, noch Schmuck, noch anderes. Nach fünf Jahren vielleicht nicht verwunderlich, aber wieso kümmerte es niemanden, dass das Kind in jenem Bett schlief, in welchem die Mutter verendet war?

Als Franky zurückkam, war ich nicht annähernd schlauer als vorher, stattdessen spürte ich nur umso stärker meine Kopfschmerzen und genehmigte mir ein weites, kleineres Stück Brot zweiter Klasse. Es war hart und ich musste länger kauen, ehe ich die Bissen hinunter schlucken konnte. Der Bäcker genoss meine Anwesenheit, denn mein Hunger zeigte ihm, dass seine Brote gut waren. Er lehnte sich über den Tresen und fragte im Plauderton, wie, um seine düsteren Gedanken zum Schweigen zu bringen:

„Sagt, kennt Ihr eigentlich die Geschichte vom alten Henry und Abigail?“

Ich sah ihn an und versuchte ernsthaftes Interesse zu zeigen, aber in Wahrheit wollte ich ganz andere Dinge von ihm wissen. Ich wollte wissen, woher er Liz kannte, wie genau sie verstorben war und wie die Familie damit klar gekommen war, doch nun hatte ich scheinbar keine Wahl. Unwissend schüttelte ich den Kopf und biss erneut in den harten Kanten. Da dies wohl eine lange Geschichte werden würde, lehnte auch ich mich an den Tresen.

„Nun gut…“, begann Franky lächelnd und im Laufe der nächsten zehn Minuten sollte ich merken, dass ich mit meiner Vermutung nicht ganz falsch gelegen hatte…

Die Geschichte des alten Henrys (...)

Die Geschichte des alten Henrys und der verdammt unwichtigen, gar nicht dicken Abigail
 

Der Bäcker begann eine so umfangreiche Erzählung, dass ich heute kaum noch weiß, was alles andere passiert war. Ich war so damit beschäftigt, seinen verwirrenden Worten zu folgen und aus den vielen unnützen Zeug Informationen heraus zu fischen, die vielleicht irgendwie, irgendwann wichtig waren, dass man mich hätte niederschlagen können und ich hätte es sicherlich nicht einmal gemerkt. Franky begann seine Erzählung erst langsam und stockend, aber kaum waren seine ersten Sätze über die Lippen gesprudelt, kam der Rest hinterher:

„Es war vor etwa vor zweihundertfünfundsiebzigeinhalb Jahren, vielleicht auch zweihundertachtundsiebzig. Ich weiß es nicht mehr so genau, aber so wichtig ist es auch gar nicht, nicht wahr?“, er winkte ab und grinste etwas. „Zumindest ist es passiert, zur Zeit, als der alte Henry, Gott sei seiner armen Seele gnädig…“, an dieser Stelle bekreuzigte Franky sich. Man hatte fast den Eindruck, er würde ein Theaterstück aufführen. „…noch verbannt worden war, ins Exil, wie Ihr sicherlich wisst. Ihr wisst es doch?“, ein Nicken meinerseits, schon fuhr er fort: „Sehr gut, wenigstens scheint Ihr aus dem Süden einiges an Wissen zu haben, das ist wichtig, denn ist der alte Henry keine Legende? Wohl wahr, er wäre eine weitaus größere Legende geworden, wäre er gehört worden, aber na ja. Man kann nicht alles haben.

Jedenfalls, zu dieser Zeit lernte Henry ein Weib kennen, Abigail. Was für ein Weib und wäre sie nicht so verdammt unwichtig gewesen, vielleicht gäbe es für sie auch ein Denkmal!

Abigail war noch sehr jung gewesen und jeder weiß, der alte Henry liebte stets nur seine teure Prinzessin, aber bei Abigail war das dann ja doch etwas anderes, denn wie wir wissen: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss und das betrifft auch ab und an seine Lenden. Und so lernte er Abigail eben kennen.“

„Er lernte sie kennen, indem er sie…beglückte?“, hakte ich nach.

Franky überging meine Frage einfach. „Die zwei kamen sich näher, wie sich Freunde eben so näher kamen, denn auch wenn Abigail ein Weib war, oh ja, sie war trotzdem so etwas wie sein Gefährte und sie begleitete ihn, wohin auch immer sie wollte oder er es wollte.“

„Wer denn jetzt?“, fragte ich verwirrt. „Wenn er es wollte oder sie?“

„Wer auch immer, das weiß ich nicht mehr.“, grummelte der Bäcker beleidigt. Er wollte nicht unterbrochen werden und das machten mir seine Augen deutlich klar. Dementsprechend fuhr er fort: „Das ist ja auch ganz egal, sie begleiteten sich, basta! Und dann gingen und ritten sie zusammen umher und guckten sich die Welt an und so weiter. Dieses Ganze was man eben so macht, wenn man in einem Exil ist, eine Frau bei sich hat und ein Pferd obendrein.

Sie ritten umher und sahen alles und fanden schöne Dinge wie schlechte, gute wie böse, schlechte wie böse, und schöne wie gute und sehr schöne und sehr schlechte und sehr böse und...hatte ich schon Gute? Und so weiter.“, er atmete kurz durch, da er den Faden verloren zu haben schien. Nach einigen Sekunden und einem skeptischen Blick meinerseits, fuhr der Bäcker plappernd fort: „Habe ich schon erwähnt, dass sie eine Hütte hatten? Dann erwähne ich es jetzt: Sie hatten eine Hütte und in der lebten sie. Eigentlich lebte dort nur der alte Henry, der damals ja gar nicht alt war, aber dann lebte auch Abigail da und sie wirkten fast wie eine Familie, denn jeder weiß ja, wie eine Familie aussehen muss, damit es eine Familie ist. Und da sie ja kein Kind hatten, tja, so wirkten sie eben nur fast so wie eine Familie. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden und das dachten sich auch Abigail und der alte Henry. Und so kam es, wie es eben kam, denn der Henry, der kam und wie der kam und tja, wie es dann so kommt, wenn es kommt: Abigail war schwanger.“, Franky endete und sah mich geduldig an, als erwartete er irgendeine Reaktion.

Ich muss zugeben, ich war weder erstaunt, noch sonderlich fasziniert von seiner Erzählung und ich wusste nicht im Geringsten, was er nun genau von mir wollte. Ruhig nippte ich an meinem Bier, das schon fast leer war und sagte unsicher und gedehnt: „Tja.“, während ich mich fragte, wieso genau der Mann mir diese Geschichte gerade erzählte.

Allein dieses Wort reichte ihm völlig aus, fort zu fahren:

„Und Abigail, weil sie ja nun einmal schwanger war, wurde so, wie schwangere Frauen eben so sind: Zickig, laut und vor allem: Dick. Und das allerschlimmste war ja: Sie waren nicht einmal verheiratet! Einen Bastard trug sie in sich, jawohl, so war das und jeder wusste das, der das sah. Und alle zeigten mit dem Finger auf sie und sagten: ‚Abigail, wie dick du bist! Trägst du etwa ein Kind in dir?’“, ich musste aufpassen, nicht zu lachen, da der Mann seine Stimme verstellte. Sie klang unglaublich hoch.

„Und Abigail verneinte: ‚Ich bin nicht dick, gar nicht dick.’ Und ging weiter ihres Weges.

Anfangs waren es nur Bauern die sie ansprachen, später aber auch Händler und am Ende sogar ein Priester!“, Franky riss die Augen auf, was mich vermuten ließ, dass der Priester wohl so etwas wie ein Höhepunkt der Geschichte sein sollte. Ich zog die Augenbrauen hoch, ein recht schwacher Versuch seine geschockte Mimik zu imitieren. „Und der Priester sprach: ‚Abigail, wie dick du bist, trägst du etwa ein Kind in dir? Aber du bist in keiner Ehe, Weib, dies wäre ein Bastard, lass mich dir helfen.’ Doch Abigail verneinte immer wieder, wie dutzende, hunderte, tausende Male zuvor und sagte: ‚Nein, ich bin gar nicht dick. Wollt Ihr mich beleidigen?’ Und auch der Priester nahm alles zurück, denn das Weib fühlte sich durchaus gekränkt durch die vielen Bemerkungen zu ihrem Aussehen, denn schließlich tat sie so, als wäre sie nicht schwanger und als wäre sie nur ganz normal fetter geworden – und das sollte man einem Weib unmöglich direkt sagen. Glaubt mir, ich kannte einst eine Frau, der sagte ich, wie dick sie war und sie hat mir doch prompt mitten ins Gesicht-…

Aber das ist eine andere Geschichte, hier geht es um die gar nicht dicke und verdammt unwichtige Abigail.“, Franky sah mich ernst an, doch ich erkannte an seinem Blick, dass er erneut den Faden verloren hatte.

Ich lächelte etwas aufmunternd und beschloss, die kurze Pause für eine Frage zu nutzen: „Aber sagtet Ihr nicht, Abigail sei unwichtig? Wieso redet Ihr denn die ganze Zeit über nur von ihr?“

„Unterbrecht mich nicht andauernd!“, plusterte sich der Bäcker auf, dann räusperte er sich. „Nun, wie auch immer. Jedenfalls war sie dick und sagte, sie wäre es nicht und dann war es so weit – sie bekam ihr Kind.“

Erneut endete er. Ich sah zu, wie der Bäcker kurz hinaus ging, um sich um sein Brot zu kümmern, das er aus dem Ofen holte und stolz vor sich auf die Theke legte, in ein Tuch eingewickelt und dampfend warm. Es roch gut und die braune Kruste bewirkte ein Magenknurren meinerseits, obwohl ich längst satt war. Schon plapperte er munter weiter, als hätte es nie eine Pause gegeben:

„Sie bekam ein kleines Mädchen, die Anneliese, ein gutes Kind und wahrlich hübsch und das zog sie mit dem alten Henry ganz allein im Exil groß. Die Anneliese war jedoch sehr krank und dann kam es, dass sie eines Tages fiebrig wurde und nur ein Arzt konnte ihr noch helfen. Aber Medizin war so teuer! Also ging Abigail in die Stadt um Krüge zu verkaufen, die sie getöpfert hatte und um von diesem Geld den Arzt zu bezahlen für die arme, arme Anneliese. Doch es reichte nicht und so verkaufte sie am nächsten Tag ihren Stuhl und am übernächsten dann ihren Tisch, dann ihr Bett, ihre Teller, ihr Besteckt, ja sogar ihre Fensterläden, die Bettpfanne, alles verkaufte sie und endlich reichte es und dann kam der Arzt, jawohl, aber der meinte dann: 'Oh arme Anneliese, du bist so krank, du brauchst Medizin und nicht nur das: In einer Woche muss ich erneut nach dir sehen.' Aber mittlerweile hatten sie kein Geld mehr und auch nichts zu verkaufen und Abigail weinte so schrecklich, dass der alte Henry nicht mehr ein oder aus wusste. Und er ging in die Stadt und arbeitete hier und dort, aber er konnte doch nichts, außer reiten – war er doch der Reitlehrer der Prinzessin gewesen!

Und dann, dann kam ihm eine Idee.“, der Bäcker grinste, wie als würde er mir sagen wollen: War doch klar, der alte Henry ist eben ein Held!

Aber wenn ich ehrlich sein soll, begann die Geschichte mich zu langweilen und ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Ich wusste weder, wieso er mir diese Sachen erzählte, noch, wieso man solche uninteressanten Dinge überlieferte. Viel mehr starrte ich hinüber zum Allerleiladen, um nicht zu verpassen, wenn Luke und sein Vater vom Essen zurückkehrten. Franky wartete geduldig, bis ich Anteilnahme zeigte und er redete erst weiter, nachdem ich ihn fragend ansah, völlig aus meinen eigenen Gedanken gerissen. Ich war nicht einmal sicher, ob die Geschichte bereits zu Ende war, da ich die letzten Sätze einfach ausgeblendet hatte, doch sein folgender Redeschwall war wohl Antwort genug:

„Der alte Henry hatte schließlich Freunde bei Hofe und so ging er heimlich zum Schloss, obwohl es ihm verboten war und sprach mit jenen, die dort arbeiteten und die er von früher kannte und sie alle trugen allerhand Geld zusammen um ihm zu helfen. Ihm und der armen, armen Anneliese. Und als sie alle erfuhren, wie arm er nun lebte, bekam er sogar Tische und Stühle und neues Geschirr, sogar alte Kleider und das beste Essen aus der Küche der Majestät! Tja und das war die Geschichte.“

Ich zog abermals beide Augenbrauen hoch und starrte ihm entgegen, doch Franky meinte es tatsächlich ernst. Nach einigen Sekunden frage ich, bemüht ihn nicht zu frustrieren:

„Das war's?“

„Ja, das war's!“, der dicke Bäcker nickte entschlossen und verschränkte die Arme.

„Seid Ihr sicher?“

„Ja, wieso denn nicht?“

Ich zögerte, ehe ich Antwort gab. „Nun ja, das Ende kam etwas...aprubt.“

„Kam es nicht. Henry hat Anneliese gerettet, das liegt doch glasklar auf der Hand. Er ist nun mal schon ein Held gewesen, ehe er versuch hat, uns allen die Friedensbotschaft zu überbringen. Wie sagte mein Herr Vater immer? Man wird als Held geboren, jawohl!“

Eine Kutsche passierte die Bäckerei und für eine kurze Zeit schwiegen wir und sahen hinaus. Sie fuhr einfach an uns vorbei, ein großes, altes Gestell mit einer Plane über den Waren, dann verschwand sie wieder. Einen Moment wirkte es, als wäre ich wieder in Annonce: ein herunter gekommener Händler, ein alter, zerzauster Esel und morsche Räder und Balken.

„Aber wenn es nur darum geht, wie Henry sie rettet...“, ich wandte mich wieder dem Bäcker zu, der mir nun meinen leeren Krug abnahm. „...wieso habt Ihr dann erst so viel von Abigail erzählt?“

„Als Einleitung natürlich, das macht man so. Damit der alte Henry in einem besseren Licht steht. Ihr seid doch Buchbinder, Ihr müsst doch wissen, wie das geht. Es gibt immer eine Einleitung, die die Spannung aufbaut!“

Schmunzelnd sah ich ihn an. „Ja, vielleicht habt Ihr recht. Aber Ihr habt mit Eurer Einleitung eigentlich nur erzählt, dass Henry ein gottloser Ketzer ist., der außerhalb einer Ehe Kinder zeugt, heimlich das Exil verlässt und ein Weib hatte, dass sogar Priester anlog.“, nun wurde Franky rot, denn scheinbar hatte er das nicht bedacht. Etwas beschämt machte er sich daran, das Brot in Stücken zu schneiden. Ich sah ihm zu und fuhr amüsiert fort: „Davon abgesehen, bestand der Großteil der Geschichte aus Abigail und nicht aus dem alten Henry. Ehrlich gesagt wirkt es auf mich sogar so, als hättet Ihr das Ende vergessen und Euch selbst eines ausgedacht. Und als wäre Abigail eigentlich sehr wichtig gewesen.“

„War sie aber nicht.“, grummelte er beleidigt.

„Es scheint aber so.“

Nun sah er mich leicht frustriert an. „Wenn Ihr mir zugehört hättet, von Anfangan, hättet Ihr gemerkt, dass die Geschichte heißt: Die Geschichte des alten Henrys und der verdammt unwichtigen, gar nicht dicken Abigail. Und das zeigt ja wohl, dass Abigail verdammt unwichtig ist. Wenn Ihr das mitbekommen hättet, hättet Ihr Euch nicht auf sie konzentriert und dann hättet Ihr auch nicht solch dermaßen falsche Eindrücke, so sieht das nämlich aus! Und nun habe ich zu tun, wenn der Herr also nichts mehr will?!“, und mit diesen Worten beförderte er mies gelaunt das Brot in das Regal hinter sich und stolzierte mit großen Schritten zurück ins Hinterzimmer.

Mir blieb keine andere Wahl, als ihm grinsend nachzusehen, ehe ich mir die Kapuze über den Kopf zog und den Laden verließ. Franky war ein lustiger Mensch, das stand für mich fest und ich würde am nächsten Morgen wieder kommen, um erneut bei ihm zu frühstücken. Vielleicht könnte ich mir Gedanken über die Geschichte machen, ihm ein paar Interesse heuchelnde Dinge fragen und ihm anschließend ein paar Informationen bezüglich der Familie Caviness entlocken. Während ich zurück in die Kälte trat, überkam mich leichte Sorge, denn ich hatte vieles vor mir, was es zu überwältigen galt. Ich musste nicht nur die Samariter finden, sondern auch noch arbeiten und meine Probleme mit Morgan klären. Zudem beschäftigte mich manchmal noch immer unterschwellig die Frage, was O'Hagan eigentlich von mir wollte.

Seit Nevars Bindung zu mir stärker geworden war, hatte ich aufgehört, mich das zu fragen, aber manchmal kam noch immer der Drang in mir hoch, endlich zu wissen, was passiert ist. Immer und immer wieder spielte ich die Ereignisse des vergangenen Jahres in meinem Kopf ab. Nur selten bis zum Ende, da schlechtes Gewissen und Reue mich übermannten, aber oft genug, um zu wissen, dass ich nichts wusste.

Ich hatte in den letzten Monaten Fehler gemacht, die nicht mehr gerade zu biegen sind, zumindest nicht binnen kurzer Zeit. Morde lasteten auf meinen Schultern und das Wort Sünde hatte sich tief in meinen Körper gebrannt. Mein vernarbter Rücken, meine kaputten Hände und vor allem die Narbe in meiner Taille erinnerten mich immer und immer wieder daran und sollten mich das wohl niemals mehr vergessen lassen.

Trotzdem hatte ich nicht das Bedürfnis, das wohl die meisten an meiner Stelle hätten, alles rückgängig zu machen. Statt mir zu sagen: Verdammt, hätte ich Kai doch bloß nicht umgebracht...! dachte ich mir oft: Verdammt, wäre doch auch Robert Iven McGohonnay durch meine Hand gestorben.

Viel zu oft wünschte ich mir, alle wären tot, mit denen ich irgendwann aneinander geraten war. Dann könnte ich nach Annonce gehen und kaum einer würde sich noch an mein Gesicht erinnern. Ich wäre frei, wenn auch belastet und verschuldet, aber das Gefühl der Reue würde irgendwann nachlassen und in den Hintergrund rücken. Ich würde ignorieren, ich würde verdrängen und irgendwann dann würde ich vergessen.

Stattdessen jedoch hatte ich Black frei gekauft, aus einer naiven Idee heraus, wie ein gehöriger Hund. Hatte ich ihm wirklich so viel zu verdanken, wie ich damals dachte? Hatte er mich nicht nur ausgenutzt? Er hatte die Männer auf dem Schiff provoziert, damit ich keinen Halt mehr hatte. Damit ich alleine war und auf ihn angewiesen. Vielleicht hatte Black sich vor mich gestellt, um mich vor schlimmeren Angriffen zu schützen, ja, aber wäre es zu diesen Angriffen ohne ihn überhaupt gekommen?

Ich stellte mich abseits des Ladens an eine Wand und lehnte mich an. Die Straße war fast leer, nur wenige gingen vorüber und keiner nahm Notiz von mir. Schweigend dachte ich weiter nach und starrte die Tür des Gasthauses am anderen Ende der Straße an. Hier sollten Luke und sein Vater bald hinaustreten und den Laden ansteuern, ich durfte das auf keinen Fall verpassen. Ich war nun ein Befehlsempfänger der Inquisition und von dieser Aufgabe hing viel ab, besonders mein eigenes Leben. Die Geschichte des Bäckers von einem Mann, der seiner Vergangenheit halber ins Exil geschickt worden war, hatte meine Melancholie zurückgeholt. Ging es dem alten Henry ähnlich wie mir? Hatte er Fehler gemacht und sie bereut, als man ihn dafür strafte? Bereute er die Fehler oder empfand er sie als richtig?

War es vielleicht sogar gut gewesen, all diese Fehler zu machen? Ohne das Verlassen des Klosters hätte ich niemals die Chance gehabt, ein neues Leben überhaupt angeboten zu bekommen. In einem Buch des Skriptoriums stand:

„Die Vergangenheit ist stets hinter einem – oder sie holt einen ein.“

Holt sie mich auch irgendwann ein? Renne ich vor ihr weg? War es vielleicht ein Fehler gewesen, mich von Black zu trennen? Vielleicht hätte ich Nevar nicht folgen dürfen. Diese Samariter waren nicht ungefährlich und ich sollte geblendet werden von einer Zukunftsvision, die ich vielleicht niemals wahr machen konnte. Wäre ich Black gefolgt, nachdem ich ihn freigekauft hatte, wäre ich dann von der Inquisition verschont geblieben?

Nein, sicher nicht. Oft, wenn ich abends im Bett lag und die Decke stundenlang anstarrte, Gefangener meiner eigenen Gedanken, dann erinnerte ich mich an besondere Ereignisse des letzten Jahres. An Sätze, die gefallen waren oder an Blicke, die gewechselt wurden. Besonders dachte ich an Robert, Black oder auch an Kai. Damals, als Kai zu mir in den Lagerraum gekommen war, hatte er mich bedroht und bis zur Wand zurückgetrieben. Und dort hatte er mir etwas ins Ohr gezischt, das ich niemals vergessen werde. Seine Stimme, der Hass darin:

„Ich werde dich jetzt windelweich prügeln, bis du den Auftrag nicht mehr machen kannst. Black wird uns nicht an der Nase herum führen. Er macht gemeinsame Sache mit der Inquisition, du bist der Beweis dafür!“

Diese Worte hätten ein Warnsignal sein sollen, eine Alarmglocke in meinem Hinterkopf. Die Meuterer hatten stets behauptet, dass Black mit einem Bein pro Partei stand und ich hatte naiv gedacht, es ginge bei diesen Parteien um Meuterer und ehrliche Matrosen. Aber das war falsch gewesen. Sie hatten nicht Meuterer und Matrosen gemeint, sondern Meuterer und Männer der Kirche. Leider hatte ich das viel zu spät verstanden. War die Inquisition deswegen auf mich aufmerksam geworden? Hatte etwa sogar der alte Seebär mit der Inquisition zu tun?

Black war fünf Jahre lang unter Wilkinson gesegelt, um an eine Kiste zu kommen. Diese Kiste ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten einen Schüssel gebraucht, aber man hätte sie auch genauso gut aufbrechen können. Also wieso durfte das nicht passieren? Wieso war es wichtig gewesen, dass das Schloss der Kiste nicht beschädigt war? Wieso sagte Black bei ihrer heimlichen Besprechung im Lagerraum:

„Wenn wir die Kiste haben, wird O'Hagan nicht auf sich waren lassen, mein Wort darauf und was ist besser, als ein Pfaffe in unserer Runde?!“

O'Hagan würde nicht lange auf sich warten lassen...

Immer, wenn ich diese Szene in meinem Kopf abspielte, spürte ich tief im Innern eine Art Vorahnung. Ein Kribbeln, was mir sagen wollte: Du bist verraten worden, Sullivan. Black hat dich nicht nur in die Sache mit hineingezogen, er hat alles auf dich abgewälzt. Du wirst verfolgt, Son und er ist schuld. Black hat dich reingelegt und du bist darauf rein gefallen.

Ich versuchte diese Gedanken zu ignorieren, denn ich wollte es nicht glauben. Ich hatte Black nicht einfach nur frei gekauft, ich hatte einen Priester für ihn erpresst. Kaum war ich frei gewesen, hatte ich eine neue Straftat begangen, für ihn! Sollte Black mich wirklich als Dank an den Pranger gestellt haben? Denkt O'Hagan, ich würde wissen, wo diese dämliche Kiste war, die ich kurzerhand in einem Fass versteckt hatte?

Wenn Wilkinsons Schiff versenkt worden war, dann war die geheimnisvolle Kiste verloren. Aber war es versenkt worden?

Erneut passierte ein Karren die Bäckerei und ich musste mich in einen Häusereingang stellen, um ihm Platz zu machen. Da war noch die Sache mit O'Hagan und Wilkinson selbst. Es war alles sehr schnell gegangen und ich stand damals unheimlich unter Schock, aber wenn ich mich richtig erinnerte, kannten O'Hagan und Wilkinson sich von früher. Der Kapitän hatte behauptet, O'Hagan hätte alles ihm zu verdanken gehabt und trotzdem fiel binnen weniger Sekunden bereits der Schuss. Das war mir zu schnell passiert, weitaus zu schnell.

Wieso wollte O'Hagan ihn zum Schweigen bringen?

Man könnte behauptet, das lange Alleinsein des letzten Jahres in der Hütte von Nevar hatte mich nicht nur ruhiger und melancholisch gemacht, es hatte mich sogar voran gebracht. Ich war nachdenklicher geworden, als ohnehin schon. Wie sehr verfluchte ich mich, dass ich nicht bereits vor einem Jahr solche Gedankengänge gehabt hatte. Ein Gefühl der Dummheit schwebte über mir und warf dunkle, verachtungswürdige Schatten auf die vergangenen Tage. Nie wieder wollte ich so dumm sein. Was geschehen war, war geschehen und nun war es an der Zeit, alles zu korrigieren. Ohne Kai, ohne Black und vor allem:

Ohne O'Hagan.

Mich ging die Kiste nichts an und mich ging Black nichts mehr an. Alles, was nun wichtig für mich sein durfte, war der Neuanfang. Und wenn ich dafür erneut morden musste, dann war dem so. Ich durfte jetzt weder zögern, noch Unsicherheit zeigen. Ich musste handeln!

Und das sagte ich mir auch, als endlich die zwei Gestalten in meine Richtung kamen, auf die ich so lange gewartet hatte. Der Vater rechts und Luke links, beide recht mies gelaunt und schweigend, hatten das Gasthaus verlassen und steuerten nun ihren Laden an, um ihre Arbeit zu beginnen. Entschlossen stieß ich mich von der Wand ab und ging auf die zwei zu.

Ich musste handeln!

Missverständnisse

Luke und Joshua trennten sich bereits auf dem Weg zu mir, denn der Vater wollte in den Laden, der Sohn zum Karren in eine der Gassen und so kam nur ersterer bei mir an. Ich wartete geduldig vor dem Geschäft, als wäre ich ein Kunde. Für den Sohn hatte ich später noch genug Zeit, er sollte ruhig in Ruhe die Waren auf sein Gefährt laden. Als erstes wollte ich ein Gespräch mit dem Vater. „Guten Morgen, wollt Ihr zu mir?“, erkundigte sich dieser, als er mich bemerkte. Vom Nahen sah er noch älter aus, wenngleich sein leichtes Übergewicht die meisten Falten strafften. Mir fiel sofort der goldene Ohrring an seinem linken Ohr auf – das Zeichen der Händlersgilde – und seine buschigen Augenbrauen, deren einzelne Haare ihm ins Gesicht hingen.

Nickend erwiderte ich den Gruß. „Guten Morgen.“

„Na dann, herein mit Euch.“, und dabei machte er eine einladende Geste und öffnete mir die Tür. Ich folgte der freundlichen Aufforderung und trat ebenfalls ins Ladeninnere. Es war weitaus wärmer, als auf der Straße und der leichte Geruch von Kräutern und Gewürzen hing in der Luft. Schweigend blieb ich stehen und ließ meine Blicke kreisen, während der Verkäufer die Tür schloss und zum Kassenbereich ging. Er konnte nicht ahnen, dass ich bereits hier gewesen war, wenn auch nur hinter dem roten Vorhang, den ich neugierig musterte. Es erfüllte mich erneut mich Stolz, wenn ich auch versuchte, es möglichst geheim zu halten.

Der alte Mann folgte wohl seinem täglichen Ablauf: Er nahm ein Pergament und begann, ein paar Dinge zu notieren, sowie andere Auflistungen durch zu streichen oder zu überprüfen. Dabei murmelte er abwesend mit einer leichten Geste: „Seht Euch nur um, ich bin gleich für Euch da.“

Schweigend tat ich, wie mir geheißen. Der Raum war klein und die Regale alt und wackelig. Ich achtete mehr auf ihre Bauart, als auf ihre Inhalte, denn sie verrieten mir erneut, dass ihr Besitzer geizig war und sparte, wo immer er konnte. Statt neue anzufordern, wurden sie einfach repariert, mehr nicht. In manchen waren Risse, Löcher oder Brüche und man legte schlichtweg ein größeres Brett oder einen Blechteller darüber, um das Loch zu schließen. Außerdem gab es noch zwei Tische mitten im Raum, voller Körbe und Spielereien, so wie kleine Kisten, Kerzenständer... Alles, was man sich ausmalen konnte, konnte man auch kaufen. Ich suchte lange, wenngleich ich nicht die geringste Ahnung hatte, was genau. Mal griff ich einen geflochtenen Korb, mal eine alte Mütze oder auch eine kleine Tonvase, um sie genauer zu betrachten. Währenddessen versuchte ich immer wieder einen Blick auf die Liste des Mannes zu erhaschen. Allem Anschein nach war es die Fahrliste für Luke mit den Kunden, die er abfahren sollte. Aber wieso schrieb Luke sie nicht selbst? War der Vater etwa für Organisation zuständig? Ich konnte einige der Läden entziffern, aber die meisten kannte ich nicht einmal. Ohne Kenntnisse bezüglich Brehms brachten mir die Namen der Läden nicht viel.

Irgendwann dann begann Luke Kisten und Körbe hinaus zu schleppen, um sie auf seinen Karren zu laden. Er beachtete mich nicht im Geringsten dabei. Der Vater musterte ihn nur düster und händigte ihm irgendwann das Schreiben aus mit der Bemerkung: „Eile dich, du hast gestern drei ausgelassen.“ Doch auch dieser Satz wurde ignoriert. Nachdem Luke dann draußen war, griff sein Vater eine große, schwarz gefärbte Flasche unter seinem Tisch hervor und nahm einen tiefen Schluck. Schmunzelnd gesellte ich mich zu ihm. „Ein fleißiger Bursche. Euer Lehrling?“

Joshua schnaubte leicht, was ich als bitteres Lachen identifizierte. „Schön wäre es! Dann könnte ich den Bengel wenigstens hinaus werfen.“

„Ah, Euer Sohn?“

Wir sahen durch die Scheibe hindurch zu, wie der junge Mann den Karren zu schieben begann und mühsam durch den Matsch hindurch seine Route begann.

Erneut schnaubte der Mann neben mir. „Wenn er mein Sohn wäre, wäre er wohl nicht so missraten.“, dann sah er mich an. Seine Augen zeigten Misstrauen und Unfreundlichkeit. Er war ein Händler und gewiss freundlich zu seinen Kunden, aber als Mensch war er nicht an Kontakten interessiert. Ich erkannte ihn als einen Menschen, der stets fragte und stets nach Fehlern und finsteren Ideen suchte. Mürrisch nahm er mir den Kerzenständer aus der Hand, den ich mir lieblos ausgesucht hatte, in der Hoffnung, er wäre nicht teuer. Er war aus Holz und nicht besonders schwer, zudem rau und splitterig. Er glich eher einem Stück sprödem Holz, in das man eine Kerze stecken konnte, als an ein liebevoll geschnitztes Handwerksstück. Ich war froh, das Ding los zu sein. „Wieso fragt Ihr?“

„Ach, ich suche eine Stelle und dachte, da Ihr ja einen Lehrling habt, brauche ich nicht mehr zu fragen.“

Joshua rümpfte die Nase und nahm erneuten einen Schluck. Als er sprach, roch ich den Alkohol. „Nein, kein Bedarf. Lehrlinge brauche ich nicht, ich habe genug Idioten um mich herum.“

„Sagt, habt Ihr noch so einen?“, kurz war Joshua verwirrt, bis er registrierte, das ich auf das Holzding in seiner Hand deutete. Er brummte und ging zu den Tischen. Ich sah geduldig zu, wie er alles nach einem weiteren Ständer absuchte, aber ich hatte mir mit Absicht jenen ausgesucht, den es nur noch einmal gab. Nach kurzem Suchen knurrte er: „Moment.“, dann ging er hinaus durch den Vorhang.

Allem Anschein nach wollte man mich betrügen. Wenn dieser Kerl sich sogar die Mühe machte, sich nach nebenan zu bewegen, dann würde ich ohne Frage zu viel für das hässliche Stück zahlen. Ich lauschte, bis ich Lukes Vater im Lager hörte und warf einen kurzen Blick zum Eingang. Nichts und niemand war zu sehen, also ging ich ruhig hinter den Tresen und sah mich um. Von Vorne sah er aus, wie ein normaler, etwas höherer und sehr schmaler Tisch, aber nun sah ich Schubladen und kleinere Fächer an der Hinterseite. Keine von ihnen hatte ein Schloss, bis auf eine, jene ganz oben in der Mitte. Ich lugte in jede hinein, so leise und schnell es möglich war. Joshua konnte jeden Moment zurückkommen und ich bezweifelte, dass er mir glauben würde, wenn ich ihm sagte, ich wollte ihn nur vertreten, so lange er meinen hässlichen Kerzenständer suchte. In keiner der Schubladen war etwas, was mir weiter half. Garn, Nadeln, Besteck, eine Brosche und allerlei Krimskrams kamen zum Vorschein, nur nichts Brauchbares. Wenn es etwas zu finden gab, dann mit Sicherheit im verschlossenen Fach. In einer der Schubfächer war ein Schlüssel und diesen nutzte ich, um auch diese zu öffnen, dann sah ich erneut zum Lager. Joshuas Schritte kamen näher.

Freundlich rief ich: „Ach, Herr, da fällt mir ein, ich brauche vier davon!“ Die Schritte des Mannes hielten inne, dann drehten sie um. Ich hörte ihn leise fluchen:

„Hätte er das nicht gleich sagen können?! Wer zum Teufel braucht bitte vier solcher Dinger?!“

Erleichtert zog ich die Schublade auf. Sie war eine Art Kasse für die Tagesverdienste und wurde wahrscheinlich jeden Abend geleert, denn momentan befand sich nichts darin, bis auf Kleingeld und alte Rechnungen. Ich nahm sie heraus und las die Überschriften, doch nichts davon war interessant. Manche Kunden hatten Waren abgeholt und mussten noch zahlen, manche hatten Waren abgegeben für den Weiterverkauf und bekamen noch Geld, wenn man diese loswurde. Doch keiner der Beträge ging über eine Goldmünze hinaus und zog sonderlich Aufmerksamkeit auf sich. Darunter befand sich eine Bestellliste, auf der stand, was noch gekauft werden musste oder wie die Kurse momentan standen. Alles im Allem sehr enttäuschende Funde, bis auf ein Blatt Papier, das sorgsam gefaltet und mit einem roten Siegel versehen war.

Ein erneuter Blick zum Vorhang. Vielleicht hatte Joshua einen ganzen Karton mit diesen abscheulichen Schnitzereien entdeckt und kam bereits nach zwei Minuten zurück? Doch das Glück war mir hold und die Unordnung der Familie Caviness kam mir zugute.

Vorsichtig faltete ich das Schreiben auseinander, in der Hoffnung, eine Spur zum mysteriösen Gegenstand zu finden, den Luke so heiß begehrte.

Es handelte sich um ein Schreiben der Handelsgesellschaft Brehms, der Gilde für Händler, deren Sitz ich auf dem Hauptplatz gegenüber der Deo Volente gesehen hatte. Sie erinnerten freundlich und in einem großen Schwall unnützer Sätze und Worte daran, dass Joshua endlich den fälligen Betrag zahlen musste, ansonsten würde man ihn aus der Gilde ausschließen müssen. Ich habe noch nie zuvor eine so kurze und knappe Aussage in einem so langen Text gesehen. Drei Seiten Schmeichelei für etwas, was man in einem Satz sagen könnte:

„Zahl oder flieg.“

Ich verstaute alles wieder so, wie ich es vorgefunden hatte, rückwärts und Stück für Stück, wie von Nevar gelernt, dann stellte ich mich geduldig zurück an meinen Platz.

Joshua ließ nicht lange auf sich warten. Er trug tatsächlich vier dieser grässlichen Schnitzereien und stellte sie vor mir auf den Tisch, mich aufmerksam ansehend. Freundlich bedankte ich mich und musterte sie. Die anderen drei waren noch abscheulicher, als mein erstes Fundstück.

„Macht zwei Goldmünzen.“

„Bitte was?!“, ungläubig starrte ich Joshua an.

„Zwei Goldmünzen, alle vier. Ihr wolltet sie, ich habe sie gesucht.“

„Das ist ein Vermögen, für solch hässliche Dinger?!“, ich schüttelte entschieden den Kopf und stellte sie zurück. „Nein, da mache ich mir lieber selbst welche. Sogar die wären doppelt so schön, und das, wo ich ja nicht einmal schnitzen kann!“

„Na hört mal!“, Joshua war nun gereizter als ohnehin und mir wurde allmählich klar, wieso Luke ihn nicht als geeigneten Händler empfand. Statt mir ein besseres Angebot zu machen oder mich zu überzeugen, griff er einen der Ständer und protestierte: „Ich habe sie extra für Euch geholt! Ihr wolltet sie doch haben!“

„Da wusste ich ja auch noch nicht, wie teuer sie sind.“

„Dann hättet Ihr eben vorher fragen müssen!“

Entrüstet wich ich einen Schritt zurück. „Das ist ungeheuerlich. Ich zahle doch keine fünfzig Silberlinge pro Holzstück. Seht Euch nur den Spießer an für die Kerze. Völlig verrostet! Nein, danke, behaltet das mal schön selbst.“, dann drehte ich um und ging hinaus.

Joshua rief mir irgendetwas hinterher, was ich aber nicht mehr verstand aufgrund der lauten Türglocke. Schweigend und es ignorierend nahm ich Lukes Verfolgung auf.

Der Wagen hatte tiefe Furchen im gefrorenen Schnee hinterlassen, ebenso wie die Schuhe des jungen Mannes. Ich erkannte, dass er es nicht leicht hatte, mit dem Gefährt vorwärts zu kommen, denn öfters schien er auszurutschen und seine Stiefel gruben sich so stark in den Schnee, dass sie tiefe Löcher hinterließen. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn eingeholt hatte.

Seine ächzende Gestalt manövrierte den Wagen gekonnt durch alle möglichen Gassen und Straßen hindurch, wie auch bei meiner Beobachtung zuvor. Es langweilte mich bereits nach dreißig Minuten. Dass ich neue Orte von Brehms kennen lernte, war kaum noch ein Trost für mich und gegen Nachmittag kaufte ich mir etwas Fleisch, um wieder zu Kräften zu kommen und meinen Körper wieder aufzuwärmen. Ich begann leicht vorwurfsvoll gegenüber Nevar zu werden, denn mich beschlich das Gefühl, dass Luke sich niemals mit jemandem treffen würde. Zwar hatte das auf Nevars Zettel gestanden, aber was, wenn diese Treffen nicht mehr aktuell waren? Was, wenn Nevar die letzten Treffen beobachtet hatte und nun würde Luke nie mehr Kontakt zu der mysteriösen Person aufnehmen? Ich beschloss ihn noch zwei weitere Tage zu observieren, dann aufzugeben und auf Nevars Besuch zu warten. Er musste einsehen, dass es keinen Sinn machte, jemanden so lange zu beobachten, bis man sich in der Kälte den Tod hole.

Da Luke am Vortag mehrere Kunden ausgelassen hatte, kehrte er später als sonst zu seinem Laden zurück und mir blieb keine andere Wahl, als ebenfalls nach Hause zu gehen. Vielleicht wollte die Inquisition auch einfach nur mein Können testen? Es war durchaus riskant einen Anfänger wie mich als Spion zu benutzen. Wenn ich erwischt werde, würde ich sicherlich mehr preisgeben, als wirkliche Könner und zwar auch weitaus schneller. Vielleicht wollte man nur sehen, wie weit ich kam, beziehungsweise ging? Könnte es nicht sein, dass es diese Samariter gar nicht gab?

Luke sah nicht so aus, als wäre er ein gerissener Verbrecher, Mitglied einer geheimen Organisation oder gar ein Mörder oder Entführer. Er lief vor mir, so weit weg, dass er kaum noch erkennbar war und rutschte auf den fast flüssigen Schneemassen umher. Wie erschöpft er sein musste, wie wehrlos. Würde so jemand wirklich etwas illegales machen? Er hätte keine Chance, würde man ihn angreifen.

Meine Ungeduld machte mich fast wahnsinnig und ich überlegte mehrmals, wenn ich hinter der nächsten Häuserecke gut zehn Minuten wartete, ob ich ihn nicht einfach zusammen schlagen sollte. Ich könnte ihn verprügeln, so wie Morgan mich verprügelt hatte und ihn dann einfach ausfragen. Es würde einiges leichter machen und keiner hatte mir verboten, so aufzufallen. Im Gegenteil:

Ich stand sogar unter dem Schutz der Kirche, war es nicht so?

Ich musste mich zusammen reißen, dieser Fantasie nicht nachzugehen und wenn ich im Häusereingang stand und zusah, wie der Wagen sich näherte und dann wieder entfernte, hasste ich mich für meine Feigheit. Eilig ging ich dann eine Nebenstraße entlang, nur um dann eine viertel Stunde später erneut auf ihn zu treffen.

Wie kam es überhaupt dazu, dass die Inquisition einfache Männer wie mich für sie arbeiten ließ? Früher hatte ich gedacht, dass die Kirche keine solcher Menschen beherbergte, sondern stets in Frieden und ohne Blut handelte. Im Laufe der Jahre lernte ich, dass es anders war. In meinem Kopf entstanden Ideen und Phantastereien von Gruppen aus Elite-Kämpfer, die einen Ehrenkodex hatten und jahrelange Ausbildungen. Stattdessen griff man sich scheinbar einfache Menschen beiseite, die in der Klemme saßen, um sie mit angeblicher Hilfe zu blenden.

War Nevar auch so an die Kirche geraten? Er war ein Ketzer, vielleicht deswegen. Vielleicht hätte er auf den Scheiterhaufen gemusst, war dem aber ausgewichen, indem er sein Leben der Deo Volente verkaufte?

Seufzend sah ich zu, wie Luke sich mehrere Straßen weiter daran zu schaffen machte, den Karren um die Ecke zu fahren. Er hatte mich noch immer nicht bemerkt, am liebsten würde ich das ändern. Nur um Spannung in die Sache zu bekommen, würde ich sogar auf seinen dämlichen Wagen springen und einen absurden Tanz aufführen. Aber eine innere Stimme sagte mir, dass es noch genug Spannung für mich geben würde, also ging ich schweigend in eine Seitengasse, um an deren Ende seufzend erneut auf den Händlersohn zu warten.

Das Rätsel um Nevar beschäftigte mich intensiver. Was hielt ihn an dieser Gilde? - Denn für mich war klar, dass es sich bei der Deo Volente um eine christliche Gilde handelte. Aber mir war nicht klar, worin ihre Aufgabe bestand. Wer durfte ihr beitreten und was war ihr Ziel? Was machte eine Mitgliedschaft aus und was für Ideale hatte ein solches Mitglied?

Diesmal ließ Luke lange auf sich warten und ich setzte mich schweigend auf den Podest einer Engelsstatue. Ich konnte nicht mehr stehen, so müde war ich und erschöpft. Wie gern würde ich in mein Bett fallen und nicht mehr aufstehen, ehe es nicht bereits Mittag war.

Ob es auffällig wäre, mich über die Deo Volente zu erkundigen? Immerhin hatte sie ein normales Gebäude mit normalem Zugang, alles andere als heimlich oder versteckt. Die Angst, etwas Falsches zu tun, hinderte mich daran, Menschen nach ihr oder nach den Samaritern zu fragen. Wieso hatte Nevar mich nicht über sie aufgeklärt? War es vielleicht egal? War die Deo Volente vielleicht einfach zu unwichtig, um erwähnt zu werden? Eine Art Tarnung vielleicht?

Nach gut zehn Minuten stand ich auf und trat fröstelnd auf der Stelle, mich selbst umarmend und den Umhang fest um mich gezogen. Noch immer war nirgends eine Spur von Luke, dabei hätte er längst am anderen Ende der Straße erscheinen müssen. Die Lampe flackerte zwar leicht, aber hell genug, um seine Silhouette nicht zu übersehen. War er stehen geblieben?

Ich schlenderte einige Schritte vor in seine Richtung, langsam genug um notfalls zu verschwinden. Auf keinen Fall wollte ich direkt in ihn hinein laufen, sollte Luke nur eine kurze Pause gemacht haben, aber auch nach der Hälfte des Weges war noch immer nichts von ihm zu sehen. Zögernd ging ich weiter. Ich passierte mehrere Wohnhäuser und blieb an der Straße stehen, der Luke von links nach rechts weiter folgen sollte. Neugierig lugte ich um die Ecke. Rechts war er noch nicht und links war er nicht mehr. Das einzige, was ich sah, war sein Karren. Unsicher schaute ich hinüber. Noch gut hundert Meter entfernt erkannte ich das klapprige Holzgestell mit der Plane. Wahrscheinlich war er mittlerweile leer und keiner interessierte sich für das Stück, also konnte man ihn ruhig einige Minuten zurücklassen. Doch wo war Luke? Ich ging zögernd näher.

Weder hinter dem Karren, noch daneben konnte ich etwas menschenähnliches ausmachen. Der Schnee war matschig, dennoch hell und die Lampen an den Häuserwänden warfen gelbes Licht über alles und jeden. Nur nicht über den Händlersohn.

Als ich den Wagen endlich erreichte, stand ich vor einem Gasthaus der besonderen Art:

Bei Annabelle

Mir war dieses Gebäude bereits öfters aufgefallen, denn tagsüber reihten sich hier die Huren und versuchten die Soldaten und Arbeiter von ihren Pflichten abzulenken. Hatte Luke etwa wirklich seinen Karren hier stehen lassen, um dem Vergnügen nachzugehen?

Im Innern brannte Licht, um diese Zeit blühte das Geschäft wahrscheinlich, aber es war ein angesehenes Haus. Bei diesem Winter schickten sie keine Mädchen hinaus und so war es fast vollkommen still. Sollte ich hinein gehen?

Unsicher nahm ich einige Schritte Abstand und fuhr mir über den Nacken, ehe ich die Kapuze wieder über meinen Kopf zog. Das konnte doch nicht wahr sein...! Ich verstand nicht wieso, aber ich wagte es nicht, einen Schritt in das Gebäude hinein zu tun. Ich dachte an Melina, auch sie war eine Prostituierte gewesen und ich hatte mich des Öfteren ihres Angebots bedient. Also was hielt mich nun zurück?

Nach gut fünf Minuten starrte ich noch immer an der riesigen Wand empor und gab seufzend auf. Ich konnte dort unmöglich hinein, ich trug nicht einmal genug Geld bei mir. Sie würden mich hinaus werfen, ehe ich auch nur einen Schritt über die Schwelle getan hatte. Luke war mir entwischt, da gab es keine Ausflüchte. Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass er wieder hinaus kam. Ich konnte nur hoffen, dass sein Geschäftspartner, Auftraggeber oder was auch immer sich nicht dort drinnen befand, denn dann war dies meine Gelegenheit gewesen, ihn zu sehen. Ich ging ein wenig auf und ab, aber nirgends fand ich eine Stelle, an der ich vielleicht hinauf klettern konnte. Und selbst wenn, was hätte mir das gebracht? Ich hätte etlichen beim Vergnügen zusehen können und wahrscheinlich wäre Luke nicht einmal dabei gewesen. Hätte eine Frau mich gesehen, hätte sie geschrien und ich wäre schneller aufgefallen, als wenn ich meinen Tanz auf Lukes Karren aufgeführt hätte. Es war aussichtslos. Hätte ich doch nur gewusst, dass er in solche Gebäude ging. In meinem Beutel wäre mehr Geld gewesen und ich wäre ihm sogar dorthin gefolgt. Stattdessen wartete ich nur weiter in der Kälte.

Dann vernahm ich Schritte unmittelbar hinter mir.

Wie vom Schlag getroffen fuhr ich herum und starrte Luke entgegen, der aus einer der engeren Nebengassen trottete und sein Hemd über die Hose zog. Als er mich sah, nickte er müde und brummte: „N'Abend.“

Stockend erwiderte ich den Gruß. „Ebenfalls.“

Luke sah mich neugierig an, scheinbar hatte er sich lediglich in der Gasse erleichtert, dann gähnte er und machte sich daran, den Karren wieder in Bewegung zu setzen. Er schob ihn voran und auf halbem Wege rief er mir über die Schulter zu: „Ich würde da nicht rein gehen. Sucht-Krankheit, allesamt!“, dann schob er weiter.

Es dauerte, bis ich verstand, was er meinte und mit roten Ohren starrte ich erneut zum Haus empor. Mit glühendem Gesicht folgte ich Luke weiter, wieder Abstand wahrend, so gut es ging. Von nun an würde ich Luke nicht mehr aus den Augen lassen, so viel stand fest.

Es war nicht mehr weit, bis er das Geschäft erreichen würde und ich wollte Heim. Unmöglich würde Luke sich jetzt noch mit jemandem treffen, das wäre zu auffällig. Doch zu meiner Verwunderung blieb er erneut stehen. Entnervt seufzend lehnte ich mich gegen eine Häuserwand und sah zu, wie er den Karren abstellte und kontrollierte, ob er noch rollen konnte. Es war unsinnig, denn kein Wagen dieser Welt würde bei Schnee und ebener Straße von ganz allein das Weite suchen, aber vielleicht war es eine alte Angewohnheit von ihm. Anschließend sah er sich um und schlenderte etwas übertrieben gelassen auf ein Gasthaus zu. Sofort stellte ich mich aufrecht. Seine vorsichtige Art und sein dauerhaftes Kontrollsehen, ob ihn auch ja niemand beobachtete, ließen mein Herz schneller schlagen.

Es war so weit...!

Das Treffen

Ich folgte Luke in das Trunkenheit, einem der wenigen Gasthäuser ohne hohes Ansehen. Im ersten Moment erinnerte es stark an Annonce: Der Lärm, die Gerüche, der Staub und das wenige Licht. Doch wenn man lang genug stehen blieb und alles auf sich wirken ließ, dann sprach doch aus einzelnen Dingen die Kultur Brehms'. Sauber gezogene Mauerwände mit einzelnen, quaderförmigen Steinen, in deren Mitte blumenartige Muster waren oder hölzerne Stützbalken voller Dekorationen wie alte Vasen, Krüge oder Teller mit teuer aussehenden Bemalungen.

Wenn man ins Innere trat, befand man sich mitten im Geschehen. Die Tische standen überall im Raum und zwei Treppen rechts und links führten ins Obergeschoss. Dort ging ein schmaler Weg einmal im Kreis und man konnte hinter dem Geländer, das vor dem Sturz hinunter schützte, etliche Türen sehen. Von jeder Seite gingen fünf Stück ab in Gäste- und Schlafzimmer. Ich sah zu, wie Luke den oberen Weg entlang lief. Ab und an verschwand er hinter einem Stützbalken, dann sah ich ihn weiter gehen, bis er letzten Endes in eines der Zimmer einbog. Er hatte die Tür aufschließen müssen, ehe er eingetreten war, demnach war er wohl allein. Nun hieß es, zu warten, bis jener zu ihm ging, mit dem er sich treffen wollte. Ich ging schweigend und aufmerksam zum Tresen hinüber, der gegenüber der Tür war, unter dem balkonartigen Flur. Der Händlersohn war zuvor ebenfalls hier gewesen, von hier aus hatte ich ihn weg gehen sehen. Ich ließ mich auf einen der Hocker sinken und sah mich weiter um.

Es gab nicht viele Gäste, zusammen vielleicht höchstens zwanzig Stück, aber fast alle waren sie angetrunken und laut. Man verstand kaum sein eigenes Wort und ich musste meine Stimme etwas erheben, damit der auffällig junge Wirt mich verstand:

„Sagt, der Mann der gerade hier war, kennt Ihr ihn?“

Der Bursche musterte mich offen neugierig, doch nachdem er meine Frage verstanden hatte, verfinsterte sich sein Blick zusehends. Mürrisch beugte er sich vor und knurrte:

„Dies ist ein Gasthaus. Bestellt Bier, Zimmer oder Essen. Wenn nicht, dann schert Euch weg.“, und mit einem abfälligen Schnauben fügte er hinzu: „Ich bin Wirt und kein Waschweib.“

Nickend zog ich meine Kapuze vom Gesicht und sah hinauf zur Tür, durch die Luke verschwunden war. Noch immer schien sie völlig leblos, wie jede andere Tür auch. Eine Prostituierte hatte im Zimmer nebenan ihre Arbeit beendet und sah nun lüstern zu den Gästen hinunter, sich übertrieben über das Geländer lehnend. Etwas mehr und sie würde hinunter stürzen – oder ihre Brüste aus dem Dekolleté. Nachdenklich drehte ich mich zurück.

„Dann ein Bier, aber kalt.“

„Wie der Herr wünscht.“, der Junge musterte mich noch einmal, wie, um sich zu versichern, dass ich auch zahlen konnte, dann drehte er um und machte sich an meine Bestellung. Ich wartete geduldig und sah zum Eingang hinüber. Es gab keine Türglocke, die einen Gast verraten würde, also musste ich aufmerksam sein, wollte ich nichts verpassen. Nachdem ich mein Getränk erhalten hatte, stützte ich mich etwas auf den Tisch und drehte mich ein wenig Richtung Obergeschoss. Mir war bewusst, dass der Bengel mich ganz genau beobachtete, er hatte keine Lust auf Ärger. Nach einiger Zeit grinste ich ihn übertrieben an und deutete nach oben.

„Gehört die zum Laden?“

Es dauerte, bis er begriff, dass ich die Dirne mit den goldenen Locken meinte. „Ja, das ist Ivonne.“

„Und ist Ivonne sehr teuer?“

Nun schmunzelte er, etwas erleichtert, dass mir die Tür scheinbar egal war. „Kommt wohl drauf an, klärt es besser selbst mit ihr.“

„Das werde ich.“, ich starrte wieder hinauf und murmelte, ehe ich einen Schluck nahm: „Aber erst einmal komme ich zur Ruhe und gucken kostet ja nichts, was Ivonne?“

Das stimmte den Mann hinter mir zufrieden und er machte sich wieder daran, ein paar der Tische leer zu räumen, bei denen die Krüge sich bereits stapelten. Allem Anschein nach war er Kellner und Wirt zugleich. Vielleicht hatte sein Vater den Tod gefunden und er hatte statt seiner kurzerhand das Geschäft übernommen. Das kam mir zugute, denn er konnte unmöglich seine Augen überall haben und im Notfall stand er alleine da.

Tatsächlich begann Ivonne etwas mich abzulenken, als sie mitbekam, dass ich in ihre Richtung starrte. Es war erstaunlich, was für interessante Formen ihre Brüste annehmen konnten, während sie sich räkelte und posierte, sich über die Lippen leckte oder eine ihrer Locken um ihren Finger kräuselte. Es tat mir schon fast Leid, dass ich darauf nicht eingehen würde, dennoch schenkte ich ihr eine Weile meine Aufmerksamkeit. Nach zehn Minuten regte sich noch immer nichts, stattdessen kam sie zu mir herunter.

Ivonnes Hüften führten fast einen wellenartigen Tanz auf, während sie Stufe für Stufe näher kam, ehe sie sich neben mich setzte und mit den Ellenbogen auf den Tresen stützte. Ihre Stimme war rau und verrucht, doch ich glaubte zu wissen, dass sie sich nur verstellte. Dennoch sprach es mich an, als sie flüsterte:

„Guten Abend der Herr, kann ich helfen?“

„Helfen?“, ich schmunzelte und sah in meinen Krug, bemüht ihren weiblichen Charme zu ignorieren. „Wobei denn?“

„Ihr starrt mich so an.“

„Tue ich das?“, nun wandte ich mich wieder vollkommen ihr zu. Ich bemerkte, wie, ganz zufällig natürlich, sie und der Wirt Blicke austauschten. Wahrscheinlich ermunterte er sie dazu, mich zu verführen, um etwas Geld in die Kasse zu bringen. Gegen weibliche Gesellschaft hatte ich nichts einzuwenden, nur das Geld würde wohl etwas mangeln. Schmunzelnd schmeichelte ich: „Ihr seid halt kein schlechter Anblick.“

Da musste Ivonne etwas kichern und nutzte die Gelegenheit, ihre Hand auf meine eigene zu legen. Sie fühlte sich ganz anders an, als jene von Mary-Ann oder Melina. Nicht rau und trocken, sondern weich und sanft. Ich mochte Ivonnes Hände und empfand die Berührung als angenehm, trotzdem löste ich mich nach einigen Sekunden wieder. Sie weckte in mir wie beabsichtigt das Bedürfnis nach mehr und dafür hatte ich weder Zeit noch Geld. Ich musste aufmerksam bleiben und das fiel zwischen den Brüsten einer Frau sicher sogar Nevar sehr schwer. Die Prostituierte leistete mir noch lange Gesellschaft, denn gut eine halbe Stunde lang kam kein weiterer Gast mehr. Wir saßen beieinander und ich ließ mir stückweise alles Mögliche über mich entlocken. Ivonne hatte meinen leichten Akzent registriert und so gab ich Preis, dass ich aus Annonce kam und seit einem Monat erst in Brehms war. Dennoch behielt ich meine Persönlichkeit als Falcon O'Connor, der einsame Buchbinder auf der Suche nach neuen Herausforderungen, aufrecht. Natürlich erfuhr sie nichts über meine wahre Arbeit als Kopist, noch weniger über Domenico und erst recht nichts bezüglich meiner wahren Vergangenheit. Und während ich plauderte und mir willig nachschenken ließ, rückte das Weib stückweise näher an mich, bis ich letzten Endes sogar den Arm um sie legte. Sie hoffte, ich würde meine Besinnung verlieren. Einfach los lassen, in ihre Arme sinken, betrunken und benommen, doch ich hatte aus meinem ersten Wirtshaus-Besuch gelernt. Nie wieder würde ich mich um den Verstand trinken und wenn, dann gewiss keine Hure nehmen, ohne es zu wollen.

Der erste Gast, der eintrat, war ein älterer Herr. Er bestellte ein Bier und setzte sich fröhlich zu seinen Freunden an einen der Tische. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang, doch es war offensichtlich, dass er gewiss nicht Lukes Verabredung war. Vielleicht kam diese auch zu spät oder gar nicht mehr und der Händlersohn würde erfolglos heimkehren.

Die zweite Gestalt war eine blonde Frau in weißem Rock und mit engem Mieder. Sie beachtete ich nicht sonderlich, allein schon, weil Ivonne mich förmlich an sich riss, kaum betrat sie den Schenkbereich. Allem Anschein nach eine weitere Prostituierte. Zu meiner Verwunderung war aber gerade sie es, die die Treppe hinauf ging.

Ivonne setzte sich kurzerhand auf meinen Schoß. Sie meinte zu wissen, dass ich gleich von ihr ablassen und dem anderen Weib hinterher laufen würde, denn ich drehte den Kopf, um ihr zu folgen. Sie ging die obere Etage lang, mit der Hand am Geländer, bis zu Lukes Tür. Dort klopfte sie und trat ein. Sofort stand ich auf.

Ivonne hielt mich fest. „Aber wo wollt Ihr denn hin?“, ihr Blick glich jenem eines jahrelang treuen Hundes und ihre weichen Finger umfassten meine Hand. Unsicher sah ich zum Wirt, dieser schwatzte gerade mit einem der Gäste. Dies war meine Chance, ohne seine Blicke im Rücken hinauf zu gehen. Dann sah ich wieder sie an.

„Ich möchte hinauf, lasst mich los.“

Die Dirne erhob sich und schmiegte sich eng an mich. Ihre Haare rochen nach Blüten und Puder. Erst jetzt erkannte ich den Ansatz ihrer schwarzen Haare unter der Perücke. Lächelnd griff sie an mein Hinterteil und flüsterte: „Soll ich mit hinauf kommen?“

„Nein, danke.“, ich löste mich und schüttelte den Kopf, bemüht höflich zu bleiben.

„Ist es wegen Phine?“, betrübt sank sie auf den Hocker zurück.

„Phine?“

„Das Flittchen, dem Ihr nachgesehen habt!“

Ich wurde hellhörig. „Wen meint Ihr? Das Mädchen, das hinauf gegangen ist?“

„Natürlich!“, Ivonnes Augen begannen düster zu funkeln, voller Hass und Eifersucht. Mit einem Mal war sämtliche Sanftheit aus ihr gewichen und vor mir saß eine neidische, boshafte Frau. „Sie schnappt mir nicht nur jeden weg, schlimmer noch, sie hat das hübscheste Gesicht überhaupt! Wisst Ihr, wie ich leide, seit sie hier ist?! Josephine hier, Josephine da! Und nun verfallt sogar Ihr diesem Biest!“, weinerlich ließ sie die Schultern sinken. „Bin ich denn wirklich so hässlich?“

Ich warf erneut einen Blick zum Wirt hinüber und murmelte abwesend: „Nein, natürlich nicht.“, etwas lieblos legte ich meine Hand auf ihre bloße Schulter und lächelte sie an. „Ihr seid wirklich sehr, sehr hübsch. Ihr habt mich missverstanden, ich möchte gar nicht zu Josephine.“

Ivonne erhob den Blick wieder und sah mich hoffnungsvoll an. „Nicht?“

„Ich wollte mich nur an das Geländer stellen und etwas hinunter schauen.“

Das stimmte das Weib zufrieden und sie stand auf. Langsam kehrte ihre Anmut zu ihr zurück und kaum stand sie neben mir, hatte sie wieder etwas Anziehendes und Verruchtes in der Stimme. „Nun, dann lasst uns hinauf gehen.“

Ich schauderte etwas, als mir bewusst wurde, wie sehr sie sich verstellen konnte. Black hatte einst gesagt, nur Frauen seien gefährlicher als das Meer selbst und nun verstand ich genau, was er meinte. Man bezeichnete Frauen stets als böse und hintertrieben und das erste Mal kam mir der Gedanke, dass dies sogar stimmen konnte. Ich schlang den Arm um Ivonne und so folgten wir der Treppe ins obere Geschoss. Keiner beachtete uns. Wahrscheinlich war es normal, dass sich die Frauen mit ihren Freiern irgendwann zurückzogen und selbst der Wirt sah uns nur kurz nach und dann wieder weg.

Oben angekommen stellte ich mich vor Lukes Tür und lehnte die Unterarme auf das Holzgeländer. Wenn die zwei sich unterhielten, dann so leise, dass ich kein Wort verstand. Zudem hauchte mir Ivonne lustvoll ins Ohr: „Soll ich ein Zimmer vorbereiten?“

Ich verneinte dankend und sah weiter hinunter. Vom Geländer aus hatte man einen kompletten Überblick über das gesamte Erdgeschoss, bis auf jene Bereiche unter dem balkonähnlichen, oberen Stockwerk. Die Gäste tranken, lachten und unterhielten sich, uns nicht ansatzweise bemerkend und ich bewunderte die Metallkronleuchter, die an den Decken hingen. Es waren zwei Stück, mit Eisenketten fest in der Decke verankert und es musste eine Menge Arbeit gewesen sein, die Kerzen zu entzünden. Um sie herum gab es Metallkreise, die das Wachs auffingen, damit dieses nicht auf die Erde tropfte und einige Flammen waren bereits erloschen.

Ich wollte mitbekommen, was Luke und Josephine sprachen, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Entweder ich wartete, bis die Dirne an mir vorbei nach draußen ging, folgte ihr und sprach sie persönlich an oder aber ich fand einen Weg, ihrer Unterhaltung beizuwohnen. War sie wirklich nur eine einfache Prostituierte? Wohl kaum. Dafür fehlten Luke die Zeit und das Geld. Vor allem: Wie soll er sie zu sich bestellt haben? Das Weib war in das Gasthaus gekommen und zielgenau zu ihm hinauf gegangen. Er jedoch hatte niemanden zu ihr geschickt, um ihr Bescheid zu geben, wo er sich befand. Luke und Josephine mussten sich bereits vorher verabredet haben und das gewiss nicht grundlos. Nach einigem Überlegen seufzte ich und drehte mich herum. Rücklinks angelegt musterte ich Ivonne und merkte, dass der Alkohol mich etwas benommen gemacht hatte, wenn auch nicht sonderlich stark. Leise fragte ich: „Wieso genau mögt Ihr diese Josephine eigentlich nicht? Sie kann doch unmöglich jemandem wie Euch Konkurrenz machen.“

Die Frau vor mir grinste und fasste mich an den Schultern. „Findet Ihr?“

„Ja, selbstverständlich.“, ich legte meine Hände um ihre Hüften und lächelte sie an. Das Bier ließ meine Bedürfnisse steigern und ich machte mir ihr tatsächliches Aussehen bewusst: die überschminkten Pickel und Narben, die schiefen, gelblichen Zähne, die dunklen Ränder unter ihren Augen und die schwarzen Reste unter ihren Nägeln. Ich konzentrierte mich auf Ivonnes Schweißgeruch, statt auf jenen von Blüten und Seife, denn auf keinen Fall durfte ich jetzt nachlassen. Ein wenig erschreckte es mich schon, wie leicht mir der Umgang mit solcherlei Dingen fiel. Die Zeit mit Melina hatte mich gelockert und die Angst vor Sündtaten in dieser Hinsicht war größtenteils von mir gewichen. Ihre Lehrstunden in den dunkleren Gassen vor der Rum-Marie zeigten Wirkung, ich empfand mich selbst als Mann. Doch es gab wichtigeres zu tun, als der inneren Stimme meiner Lenden zu folgen. Sie konnte eine gute Informantin sein, nicht nur eine Bettgefährtin und das war jetzt wichtiger. „Also wieso macht Ihr Euch solche Sorgen?“

Ivonne schmiegte sich an mich und zuckte mit den Schultern, mein Herz schlug etwas schneller und ihre Finger fuhren über meinen Rücken. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Früher, bevor sie immer hier her kam, war alles besser.“

„Aber wieso? Sie ist doch nur in dem Zimmer, statt bei Kunden.“

„Ja, wegen diesem Händlerbalg!“, sie sah mich verhasst an, doch ihr Hass galt nicht mir. „Diese dumme Gans. Als würde er sie jemals mitnehmen!“

„Mitnehmen?“, verwirrt löste ich mich aus ihrer Umarmung. „Wie meint Ihr das?“

„Jeder weiß, dass das Weibsbild in diesen Luke verliebt ist. Sie hofft, er kauft sie frei, aber darauf kann sie lange warten. Dieser arme Schlucker!“

Diese Information konnte durchaus hilfreich sein. Ich sah zur Tür und stellte mir vor, wie Luke diese Liebe vielleicht sogar erwiderte. Könnte es nicht sein, dass er deswegen so auf Geld aus war? Wollte er möglicherweise Josephine kaufen?

Ich wiederholte die gelesenen Zeilen aus Lukes Tagebuch in meinem Kopf:

Ich habe sie heute gesehen, ich kann es nicht beschreiben. Sie sieht großartig aus, besser, als sie mir beschrieben wurde. Könnte ich doch nur genug Geld besitzen, sie wäre mein!

War es möglich, dass mit diesen Worten die Prostituierte gemeint war? Wenn ja, dann hatte man sich geirrt und es gab nicht den geringsten Hinweis auf die mysteriösen Samariter. Eine kurze Weile schwieg ich und streichelte abwesend Ivonnes Rücken, dann sah ich sie an und bat sie, mir einen Krug Bier zu holen. Ivonne war wenig begeistert, doch im Tausch einiger Silberlinge durchaus gehörig. Während des gesamten Weges zum Tresen drehte sie sich immer wieder um, damit sie es auch ja nicht verpasste, sollte ich doch zu Josephine hinein gehen, was jedoch völlig absurd war. Wieso sollte ich eine Hure aufsuchen, die bereits einen Freier hatte?

Das fiel wohl auch ihr auf. Am Tresen stehend gab sie meine Bestellung in Auftrag und warf mir nur noch einen kurzen Blick zu, dann drehte sie sich wieder weg. Das war meine Chance. Kaum ruhten keine Augen auf mir, griff ich die Klinke zu Lukes Zimmer, drückte sie hinunter und sagte laut, während ich hinein ging:

„Marlene, sei so gut-... Oh, Verzeihung!“ Und schon stolperte ich rückwärts wieder hinaus.

Ich hatte nicht viel erblicken können, aber das war auch nicht meine Absicht gewesen. Luke und Josephine hatten nebeneinander auf dem Bett gesessen und mir verwirrt entgegen gestarrt, doch da ich sofort kehrt machte, war ich nicht weiter von Bedeutung. Scheinbar war ich betrunken und nicht ernst zu nehmen. Schweigend schloss ich die Tür allem Anschein nach wieder und lehnte mich rücklings an die Wand unmittelbar daneben. In Wahrheit hatte ich lediglich die Klinke hinunter gedrückt und nun gab es einen geringen Spalt, durch den die Stimmen zu mir drangen.

„Was war denn das?“, hörte ich Josephine fragen.

„Ach, ein Betrunkener, kümmere dich nicht drum.“

„Hast du denn nicht abgeschlossen?“

„Nein, wie hättest du denn sonst hinein kommen sollen? Uns stört schon niemand.“

Dann kehrte bereits Ivonne zurück. Sie lächelte und übergab mir den Krug, bis zum Rand gefüllt mit lauwarmem, würzigem Bier. Ich nickte nur und sah wieder hinunter zu den Gästen, dann forderte ich sie kühl auf, sich an das Geländer zu lehnen. Sie meinte wohl, es würde mich ansprechen, ihr Hinterteil zu betrachten und ging dem amüsiert nach, doch auch wenn dem vielleicht so war, wollte ich lediglich, dass sie von der Tür fern blieb. Drei Männer im Erdgeschoss waren bereits stark benebelt und diskutierten laut darüber, dass ein vierter Schulden hätte. Nicht mehr lange und ein Streit würde ausbrechen. Keiner von ihnen war zu wirklichen Schlussfolgerungen in der Lage, geschweige denn zu einer ernsthaften Problemlösung. Auch die Frau vor mir beobachtete die Gruppe und zuckte ein wenig zusammen, als die ersten Fausthiebe ausgetauscht wurden. Es war amüsant zu sehen, wie der Wirt versuchte, den Streit zu schlichten, aber selbstverständlich war ein Mann allein ziemlich machtlos. Mich kümmerte es nicht, meinetwegen konnten sie sich auch allesamt tot prügeln. Was für mich interessant war, spielte sich hinter mir ab.

Josephine schien aufgelöst zu sein, denn sie sprach ein wenig lauter und vor allem weinerlich.

„Aber Luke, ich kann nicht mehr...! ich warte nun schon drei Jahre lang, wie lange soll ich denn noch hoffen und beten? Du musst doch einsehen, dass das nichts bringt!“

„Muss ich nicht.“, die Stimme des Händlersohnes hingegen war ruhig und bestimmend, wie zuvor im Allerlei-Geschäft. „Du wirst sehen, wenn ich erst einmal-...“

„Nein, was für ein Radau.“, ich sah Ivonne gereizt an, denn sie sprach so laut, dass ich Luke nicht weiter verstand.

Luke sprach währenddessen weiter „...-können wir das. Du wirst sehen, ich kaufe dich frei und wir werden fliehen. Du wirst mein sein, Josephine.“

„Dein, dein, dein!“, Josphine klang gar nicht begeistert von Lukes Idee. „Immer sprichst du, als wäre ich irgendein Ding. Du bist nicht besser, als Edgar, Luke. Du willst mich genauso nur als Besitz!“

„Aber das ist doch Unsinn. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Hätte ich sonst-...?“

Es krachte laut, als einer der Kerle mitten in eine Stuhlreihe stürzte, aber nicht dieses Geräusch hatte mein Lauschen unterbrochen. Für einen kurzen Moment wich Ivonne erschrocken zurück, ehe sie sich wieder gegen das Geländer lehnte. „Was für ein Chaos, wieso greift denn niemand ein?!“, rief sie dabei erzürnt.

Ich verdrehte die Augen, denn erneut hatte sie Luke einfach das Wort abgeschnitten. Alle Gäste, die nichts mit dem Streit zu tun hatten, warfen sich entweder dennoch mitten ins Getümmel oder aber sie drängten sich auf die zwei Treppen. Unmöglich konnte ich sie auffordern, hinunter zu gehen. Bald würden wohl Wachmänner auftauchen, denn der Wirt war hinaus gerannt.

Gereizt zischte ich: „Seid leise!“

Ivonne sah mich über die Schulter hinweg beleidigt an, gehorchte aber. Ich drehte den Kopf etwas zur Tür, um besser zu verstehen.

„Luke, ich meine es ernst.“, Josephine schluchzte leise. „Ich habe so große Angst. Du wirkst wie ein besessener, dauernd diese Treffen. Dabei sagtest du selbst, es wäre besser, wir sehen uns erst, wenn du das Geld hast!“

„Aber Phine, ich muss dich sehen, ich sterbe sonst!“, vor meinem inneren Auge sah ich den Jungen vor dem Bett knien, ihre Hände haltend und sie flehend ansehen. Aber in Wahrheit ging er wohl nur auf und ab. „Ich schaffe das, das habe ich dir versprochen, vertrau mir. Bitte vertrau mir, Phine!“, seine geliebte Phine schwieg. Mittlerweile waren zwei Wachmänner in das Gasthaus gestürmt und standen hilflos hinter der Menschentraube, die sich um die Prügelnden gebildet hatte. Gut sechs Männer schlugen aufeinander ein, beleidigten sich, fluchten auf Gott und Teufel und warfen sich durch die Gegend. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es die zwei Patrouillen waren, die ich bereits so oft getroffen hatte. Besaß Brehms denn keine anderen Soldaten?

Endlich begann Phine wieder zu sprechen: „Luke, bitte, ich vertraue dir ja, aber höre mich an!“, ein kurzes Zögern, dann fuhr sie bittend fort: „Ich vertraue dir wirklich, das weißt du. Aber wenn Edgar erfährt, dass wir fliehen wollen, dann bringt er uns um. Dich und mich. Wir-...“

„Er wird es nicht erfahren!“, unterbrach der junge Mann sie schroff.

Josephine wirkte verzweifelt. „Luke, sein kein Narr! Jede Hure dieses Viertels ahnt es doch schon. Durch unsere dauernden Verabredungen ist es ein offenes Geheimnis. Das ist viel zu gefährlich!“

„Ist es wegen diesem... diesem Gilian?!“, nun wurde seine Stimme mehr als nur aufgebracht und ich bekam mit, wie die Dirne stärker zu weinen begann. Der Kerl hörte ihr einfach nicht zu. „Dieser reiche Idiot?! Gib es doch zu, Phine. Dir wäre es lieber, wenn er dich mitnehmen würde!“

„Das ist nicht wahr und das weißt du!“

„Er wird es auch nicht tun, niemals. Und wenn, dann würde er dich niemals so lieben, wie ich es tue! Josephine, sei vernünftig, ich bin der Richtige für dich.“

„Aber das weiß ich doch.“

Verstärkung rückte an. Drei weitere Blauröcke inklusive Wirt stürzten sich ins Getümmel und zogen die Männer auseinander, um sie abzuführen. Ivonne war gelangweilt. Sie mochte Prügeleien mehr, als Verhaftungen. Mies gelaunt spuckte sie hinunter, einem der Männer direkt auf den Kopf. Ich beachtete es nicht ansatzweise, viel mehr interessierte mich der Händlersohn. Er war nun wütend und ich konnte hören, wie er mal nach rechts, dann nach links ging, voller Zorn und Eifersucht, vielleicht auch Neid und Verachtung. Dabei fauchte er: „Dieser Bastard wird dich niemals bekommen, Phine, niemals. Und wenn, dann werde ich ihn eigenhändig umbringen!“

„Aber Luke! Rede doch nicht so einen Unsinn, ich bitte dich! Ich-...“

„Nein!“, schrie er sie an. „Ich habe schon so oft gegen ihn verloren, diesmal nicht! Ich werde dich frei kaufen, Phine und mit dir ein neues Leben anfangen. Gegen diesen Gilian werde ich nicht mehr verlieren, nie mehr!“

Luke, ich flehe dich an, beruhige dich doch!“, es fiel mir schwer, sie noch zu verstehen, so stark weinte Josephine mittlerweile. „Er und Edgar sind befreundet, sie werden dich töten! Komm zur Vernunft, ich bitte dich! Luke! Luke!“

Doch Luke wollte nicht zur Vernunft kommen. Er riss die Tür auf und stürmte hinaus, vor lauter Wut nicht einmal bemerkend, dass sie nicht einmal geschlossen war und so stampfte er hinunter, einfach an mir vorbei. Josephine folgte weinend und ich folgte Josphine. Und mir wiederum...Ivonne.

Sie packte mich am Arm und jammerte: „Aber wieso will denn der Herr schon gehen?“, wohl wissend, dass ich an ihr keinerlei Interesse mehr hegte. Mein Krug schwappte über und warmes Bier ergoss sich über die Treppe, so sehr war ich in meine Arbeit vertieft gewesen. Fluchend wollte ich mich lösen, doch der Griff der Hure war fest und ihr Blick flehend und wie besessen. Hilflos und aggressiv sah ich zu, wie Luke sich durch die Menge kämpfte und den dickeren der Wachmänner desinteressiert beiseite stieß. Dann verschwand auch Josephine. Meine Augen mussten förmlich hasserfüllt gewesen sein, als ich Ivonne wieder ansah, denn sie ließ sofort los und wich erschrocken zurück. Eine Sekunde mehr und ich hätte sie geschlagen, doch stattdessen schnaubte ich nur und drückte ihr den Krug in die Hand. Ich durfte Luke nicht aus den Augen verlieren, auf keinen Fall!

Der Händlersohn war besessen von Josephine, das ging bereits aus den Tagebucheinträgen deutlich hervor und wenn ich ihn nicht fand, dann würde ein Unglück passieren. Luke wollte zu Edgar oder Gilian, wahrscheinlich ein Hurenbock und ein zweiter, reicherer Verehrer. Wenn er einen Hurenbock umbrachte, dann war es vorbei mit meiner Spionage. Er würde irgendeine Gilde gegen sich aufbringen und binnen weniger Stunden aufgeknüpft an irgendeinem Baum außerhalb der Stadt hängen. Sollte er den mysteriösen Gilian töten, allem Anschein nach ein Händler, würde er das sicherlich so unüberlegt tun, dass sämtliche Wachen ihn einfach abführen konnten. Auf keinen Fall durfte das passieren, vielleicht gab es noch Chancen auf die Samariter, vielleicht gab es noch Chancen auf Erfolg.

Ich drängte mich grob an den Menschen vorbei hinaus und plötzlich ekelte mich alles unheimlich an. Der Biergeruch, der Schweiß, die Lautstärke. Mein Misserfolg saß mir im Nacken, bevor er überhaupt geschehen war und ich hasste Ivonne dafür, dass ich die zwei verloren hatte. Mehrere Männer landeten unsanft auf ihren Hinterteilen, unter anderem erneut der dicke Wachmann und dann endlich trat ich aus der Tür.

Noch immer war es tiefschwarze Nacht und der Karren stand unbeachtet weiter hinten auf der Straße. Doch wo war Luke? Wohin waren die zwei verschwunden? Nach rechts oder nach links? Oder in eine Seitengasse?

Es gab keine Passanten, die ich hätte fragen können, also musste ich Spuren suchen, möglichst schnell. Der Schnee war vor dem Gasthaus besonders zertreten und selbst wenn es Abdrücke von Luke und Josephine gab, so waren sie nicht mehr erkennbar. Mit über den Kopf gezogener Kapuze begann ich durch die Straßen zu laufen, als erstes links. Ich folgte ihr so lange, bis ich ans andere Ende sehen konnte, dann sprintete ich wie ein Besessener zurück, doch der Wagen war noch immer dort. Ich musste sie finden, irgendwie. Ich musste einfach!

Bis auf mein Keuchen war nichts zu hören: Weder Josephines Weinen, noch Lukes Toben. Hatte der Streit aufgehört? Standen sie vielleicht irgendwo und umarmten sich? Ich lief in die andere Richtung, doch auch hier fand ich nichts. Wo lebte dieser Gilian, wo lebte dieser Edgar? Wohin konnte Luke gegangen sein?

Ich hoffte auf Schreie, auf Fluchen, auf einen Kampf, doch selbst im Wirtshaus kehrte langsam Ruhe ein. Ich bekam mit, wie man die Männer abführte und ab dort war es wieder fast vollkommen still. Ich hatte verloren, Luke war weg und mit ihm auch jeder Hinweis auf Gilian oder Edgar.

Ich seufzte schwer und nahm in einem Häusereingang Platz, darauf wartend, dass Luke seinen Karren abholte. Seine häufigen Treffen waren also jene mit der Hure Josephine gewesen. Er liebte sie und wollte sie frei kaufen, bevor Gilian es tat und so, dass Edgar nichts von ihren Plänen merkte. Keine Samariter, keine Geheimnisse mehr und keine Hoffnung auf Erfolg.

Ich gebe zu, ich war ein wenig enttäuscht, mehr als das. Seit über einem Monat war ich in Brehms und noch immer hatte ich keinen einzigen Hinweis. Ob Nevar mir einen anderen Auftrag geben würde, wenn er das erfuhr?

Luke kam scheinbar nicht wieder. Ich saß gut dreißig Minuten da, bis ich dachte, ich würde erfrieren. Der Alkohol hatte mich müde gemacht und ununterbrochen sah ich Schatten, wo keine waren. Lukes Wagen stand vor mir, als wäre er eine Skulptur, nicht dazu gedacht, bewegt zu werden und niemand holte ihn nach Hause. Aus Frust wurde ich so dreist, dass ich ihn näher betrachtete und untersuchte, doch natürlich war er vollkommen leer. Keine Waren, kein Luke. Zurück zu Ivonne wollte ich nicht, denn meine Wut auf sie war noch immer nicht vollends verraucht und Josephine war nicht zum Gasthaus zurückgekehrt. Gereizt wartete ich leise summend eine weitere halbe Stunde. Die Zeit schien sich in unermessliche Länge zu ziehen.

Vielleicht hatte Luke seine Tat bereits begannen und jemanden umgebracht. Vielleicht war er festgenommen worden und saß im Gefängnis. Mir blieb nichts anderes übrig, als entweder am Morgen erneut zu seinem Laden zu gehen oder zu hoffen, er würde bald seinen Karren holen. Es war tiefe Nacht in der Stadt, dennoch wirkte es durch den hellen Schnee, als würde es dämmern. Die Ruhe und Kälte legten sich über meinen Geist, wie ein Schleier. Ich hatte das Gefühl ich würde schlafwandeln oder hätte Fieber, so sehr lullte mich die Verlockung, mich einfach hin zu legen, ein. Es kostete alle Mühe, mich nicht erneut zu setzen und einfach zu schlafen, meinem eigenen Kältetod entgegen. Ich ging die Straße immer wieder auf und ab und lauschte dem Knacken des Schnees unter meinen Füßen. Durch die niedrige Temperatur hatten sich Eisschichten über die Spuren des Vortages gebildet und hielten sie aufrecht, wie kleine Fallen: Tiefe Löcher durch Pferde, Rillen von Kutschen und endlos viele, bunt durcheinander gestreute Schuhabdrücke. Es war schwer, aufrecht zu gehen. Immer wieder gab der Schnee unter mir nach und ich rutschte in den Schlamm, der sich in den tieferen Stellen angesammelt hatte. Dunkle, graue Pfützen erfüllten die Flächen zwischen Schnee und Bordstein. Eine dieser Spuren war jene von Luke, aber ich wusste nicht welche und das war mir zum Verhängnis geworden. Umso länger ich wartete, desto mieser gelaunt wurde ich. Hätte ich Ivonne doch nur einfach weg gestoßen, wäre ich Luke doch nur gefolgt. Ein Betrunkener taumelte an mir vorbei und stolperte etwas, als er mich bemerkte. Ich hatte mich im Schatten befunden, fast unsichtbar für ihn, doch als ich erkannt hatte, dass dies nicht Luke war, hatte ich mein Versteck aufgegeben. Für ihn war ich nur ein schwarzer Schatten, ein Teil der Nacht. Er murmelte irgendetwas und torkelte weiter und seufzend sah ich ihm nach. Mit jeder Minute wurde es mir bewusster: Luke würde nicht kommen.

Meine Füße begannen, mir zu schaffen zu machen, da meine Sohlen schmerzten, wenn ich auftrat und meine Zehen waren so kalt, dass ich sie dauerhaft bewegen musste. Das gleiche galt für meine Finger. Die Haut meiner Hände war trocken von der Kälte und an manchen Stellen eine Mischung aus rosa und blau. Ich zog das obere Hemd über meinen Mund und versuchte, mich etwas aufzuheizen. Die Hände vergrub ich fluchend im Stoff. Hätte ich doch bloß Handschuhe oder noch längere Ärmel, die ich mir um die Hände wickeln könnte!

Mit den Füßen leise stampfend, um meine Zehen in den weichen Lederstiefeln wieder zu spüren, sah ich mich weiter um. Ich musste aufgeben, es half alles nichts, aber ich wollte nicht. Ich war zu stolz und auch zu stur. Weitere zehn Minuten nahm ich mir heraus, zu stehen und zu warten, doch dann war es kaum noch auszuhalten. Leichte Windzüge brachten mich zum frösteln und schüttelten meinen Körper. Gegen meinen Willen, begannen meine Zähne zu klappern und meine Lippen zu zittern. Ich hatte verloren. Er war weg.

Vielleicht hatte ich auch übertrieben und er würde am nächsten Morgen zum Laden zurückkehren. Es könnte sein, dass die zwei sich beruhigt hatten und jeder zu sich nach Hause gekehrt war. Dann würde Luke den Karren am Morgen holen und mit seiner Arbeit einfach fort fahren, in der Hoffnung, sein Vater würde nichts bemerken. Mit düsteren Gedanken und Verwünschungen ging ich durch die Nebengassen, denn auch wenn diese schmutzig waren und kaum beleuchtet, so waren sie dennoch der schnellste und direkteste Weg. Ich konnte nur hoffen, dass die Rum-Marie noch geöffnet war und zu allem Überfluss nicht auch noch Morgan vor der Tür stand. Ich hatte auf alles Lust, aber nicht auf ihn. Er war bereits sehr lange weg gewesen, ein wenig zu lange vielleicht und das bereitete mir sorgen.

Dann stolperte ich.

Ich war durch eine besonderes enge Abzweigung gelaufen, bestehend aus zwei Häuserblocks, die gen Himmel so schief wurden, dass ihre Dächer fast ganz nah beieinander waren. Mein Umhang schliff am Gestein, während ich mich herum drehte um nachzusehen, worüber ich gestolpert war. Ein kurzer Schritt zur Seite, damit etwas Licht zu Boden fiel, statt nur mein Schatten, dann stolperte ich zurück. Viel erkannte hatte ich nicht, aber genug, um zu erkennen, was dort lag oder besser: Wer dort lag.

Ein menschlicher Körper, mit dem Gesicht nach oben und leeren, dunklen Augen, die zum Himmel starrten. Die Arme hatte er von sich gestreckt, als wäre er rücklings nach hinten gefallen und sein linkes Bein lag seitlich und leicht angewinkelt. Eine rote, heiße Flüssigkeit tränkte den Boden, aus einer Wunde in seinem Rücken kommend. Ich ging in die Hocke, um die Szenerie etwas genauer zu betrachten. Ich duckte mich etwas, denn die Lichtverhältnisse waren mehr als schlecht, um das Gesicht zu erkennen, dann verstand ich:

Es war Luke.
 

Und er war tot.

Demut ist der erste Schritt zum Gehorsam

Ich zögerte nicht ansatzweise, sondern sah Luke nur ein weiteres Mal an und ging, bemüht darum, über oft besuchte Flächen zu laufen, damit sich meine Fußspuren in denen der tausend anderen verloren.

Luke war tot. Mein einziger Anhaltspunkt zu den Samaritern und er lebte nicht mehr. Nun blieben mir nur noch Edgar, Gilian und Josephine, einer von ihnen war vielleicht sogar Lukes Mörder. Oder aber er hatte zu viele Schulden gehabt und nun hatte man diese Rechnung endlich beglichen. So oder so, auf keinen Fall durfte man mich damit in Verbindung bringen.

Bei der Rum-Marie endlich angekommen schloss ich mich in meinem Zimmer ein, entzündete eine Kerze und holte meine Sachen aus dem Versteck. Es war ein gutes Gefühl, die Papiere zu sehen und ihre Worte immer und immer wieder durchzulesen. Ich saß lange auf dem Boden, hielt sie in der Hand und starrte auf die einzelnen Lettern, wie aus einer Angst heraus mit Lukes Leben würde nun auch meine Chance verschwinden. Aber das tat sie nicht.

Fast die ganze restliche Nacht über war ich wach und gegen Mitternacht schlich ich mich in den Schankraum, um mir etwas Bier zu nehmen. Ein paar Silbertaler und ein mehrmals geleerter Krug sollten Zeuge von meiner schlaflosen Nacht sein.

Gegen Morgen dann meldete ich, dass ich krank wäre und ließ mir den Tag über Suppe, Brot und etwas Fleisch ans Bett bringen. Ich wollte mein Zimmer nicht verlassen, auf keinen Fall. Zum Skriptorium konnte ich nicht, da mir Kopf und Kraft fehlten, zu Josephine oder Ivonne zu gehen könnte zu auffällig sein. Ich beschloss den Tag als Ruhetag zu nutzen, mich zu stärken und nachzudenken. Als erstes galt es Edgar zu finden, den Hurenbock der Ivonne und Josephine unterhielt. Wenn er schuldig war, so wusste Josephine mit Sicherheit von dem Mord. Vielleicht war sie sogar dabei gewesen und Lukes Tod sollte ein Exempel sein, um ihr Verlangen nach Freiheit zu ersticken.

Als zweites dann wollte ich Gilian finden, den scheinbaren Rivalen des toten Händlersohnes. Sollte er Lukes Mörder sein, dann war er nun sicherlich bei Josephine und führte seinen Plan aus, mit ihr zu fliehen. Wäre dieser zu hundert Prozent ausgefeilt, dann wären die zwei längst verschwunden, also hatte ich Zeit. Ich musste meine Arbeit im Skriptorium fortsetzen und meinen Alltag wiederfinden, denn auch das war wichtig. Zudem wollte ich erst einmal mit Nevar sprechen, ehe ich mich dem nächsten Mann näherte. Informationen konnte ich auch abends nach der Arbeit beschaffen, bei einem Gang in das Gasthaus.

Man ließ mich weitestgehend in Ruhe, nur Amy sah ab und an nach mir und sie konnte ich einfach weg schicken. Die Ruhe war so ungewohnt, dass ich sie gar nicht mehr als Ruhe empfand. Ich konnte meine Gedankengänge kaum bremsen und zwang mich damit selbst zur Unruhe. Immer und immer wieder spielte ich eventuelle Szenen in meinem Kopf ab und wenn es nur darum ging, wie ich Nevar alles erklärte oder wie ich Meister Pepe gegenüber treten würde. Es schien fast, als wäre mein Hirn nicht mehr in der Lage zu ruhen und ich fragte mich, ob ich die Bedeutung des Wortes Ruhe überhaupt jemals wieder spüren könnte.

Seit ich das Kloster verlassen hatte, gab es dieses Wort nämlich kaum noch für mich. Immer dachte ich nach, immer beschäftigten mich Dinge. Jederzeit rief ich mir ins Bewusstsein zurück, dass ich in Gefahr war, gesucht wurde und nur aus einer Laune von Domenico heraus noch frei herum laufen konnte. Würde das jemals enden?

Am nächsten Tag dann brach ich auf und begann meine Arbeit, als hätte es meine Erlebnisse gar nicht gegeben. Ich kopierte einige Seiten im Skriptorium, erklärte Meister Pepe, dass es mir nun wieder besser ging und aß mein Brot allein bei einem Spaziergang auf dem Marktplatz. Zwar hatte ich vorgehabt zu Franky zu gehen und nach der Arbeit zum Gasthaus, um Josephine zu suchen, aber eine gewisse Unlust trieb mich dazu, es zu lassen. Ein Schneesturm tobte durch Brehms und trieb mich Heim, zudem hatte mich die Arbeit bei Meister Pepe etwas erschöpft, das gleiche galt für die Kälte. Die wenigen Tage hatten mich bereits wieder aus dem Rhythmus geworfen und ich musste mich zwingen, um den darauf folgenden Tag nicht einfach zu schwänzen.

Von Nevar war nirgends eine Spur zu sehen, auch wenn er gesagt hatte, er würde mich mehrmals die Woche aufsuchen. Ich erwartete, dass er irgendwann einfach auf meinem Bett sitzen würde, so wie es seine Art war. Stattdessen stand er nach zwei weiteren Tagen einfach vor dem Schreibladen.

Ich war verunsichert und als ich meine Arbeit beenden durfte, befiel mich die Gänsehaut, während ich hinaus trat und ihn leicht scheu begrüßte. Meister Pepe stand an der Fensterscheibe und musterte misstrauisch das Geschehen, das war uns beiden bewusst.

Der Mann und ich gaben uns die Hand, dann ging er schweigend los und ich fast mechanisch hinterher. Lange Zeit sprachen wir kein einziges Wort, dann verkündete er mit sehr ruhiger und leicht kühler Stimme:

„Domenico will Euch sehen. Es gibt schlechte Neuigkeiten.“

Es fröstelte mich leicht. Ich war Nevar gewohnt, er sprach immer distanziert und gelassen, aber heute war irgendetwas anderes. Etwas war passiert und es war gewiss nichts Gutes.

„Ich muss ohnehin mit Euch reden. Es ist wegen-...“, doch er erhob die Hand, um mir zu deuten, still zu sein.

„Eure Worte gehen nicht an mich, sie gehen an Domenico.“, das war alles was er sagte.

Ich hielt den Mund und so gingen wir weiter bis wir das Gebäude der Deo Volente erreichten. Mich machten die vielen Menschen auf dem Platz nervös und umso näher wir der Deo Volente kamen, desto unsicherer wurde ich. Diesmal stand kein Korb mit Obst auf dem Tisch im Käfig ähnlichen Raum und selbst das deutete ich als schlechtes Omen. Ich wagte es nicht, Nevar anzusprechen und zu fragen, was genau los war. Ich wollte weg.

Wir durchschritten die Räume, wieder kam uns niemand entgegen. Als wir dann die Treppe hinauf gingen und die Tür zu Domenico erreichten, hielten wir an. Es war kalt und totenstill und ich frage mich, ob denn nie jemand dieses Gebäude betrat.

Ehe Nevar klopfen konnte, fasste ich seine Schulter und flüsterte: „Ich verstehe nicht, was los ist. Was ist denn passiert? Habe ich etwas falsch gemacht?“

Doch er gab mir keine Antwort. Er wartete einige Sekunden, als würde er überlegen, erhob die Hand und klopfte dreimal gegen die Tür. Ich seufzte leise, denn es nervte mich, dass mir nie eine Frage beantwortet wurde. Als er dann die Tür öffnete, erfüllte wie bei meinem ersten Besuch der Geruch von gelöschten Kerzen den Raum. Es war weitaus wärmer als in den kahlen Fluren und das Licht im Innern war sanft und hell.

Ich betrat als erster den Raum und hörte, wie Nevar die Tür hinter mir schloss. Das altbekannte Gefühl der Unwissenheit legte sich über mich und ich kämpfte gegen den Drang an, mich umzudrehen und nachzusehen, ob er ebenfalls eingetreten war. Stattdessen musterte ich den Raum und bemerkte, dass sich nichts geändert hatte. Das Bett stand noch immer rechts unter dem diesmal geschlossenen Fenster und das Kreuz hing hinter Domenicos Schreibtisch, als würde Jesus mich strafend beobachten. Bemüht es zu ignorieren trat ich vor zum Schreibtisch und machte eine leichte Verbeugung. Mir schien Demut und Respekt angebracht, denn diesem Mann verdankte ich es, dass ich den letzten Monat über nicht das Leben eines Gesuchten gelebt hatte. Ich verdankte ihm meinen Wohlstand, meine Arbeit und meine Gesundheit. In einem Kerker oder im Keller von Nevars Bauernhaus wäre es mir nicht so gut ergangen, das war mir bewusst. Dennoch wollte ich auf keinen Fall wieder in die alte Rolle eines Mönchs rutschen, weswegen ich mich sofort wieder aufrichtete und mich zu meiner ganzen Größe aufbaute. Ich hatte es gelernt stolz zu sein und das wollte ich auch zeigen.

Der alte Mann erhob sich lächelnd und ging um den Schreibtisch herum. „Falcon, wie schön Euch zu sehen!“, voller Freundschaft griff er meine Hand mit seinen eigenen und drückte sie herzlich, so blieben wir stehen. Es ekelte mich an, den kalten Ring der Inquisition auf meiner Haut zu spüren und es erschien mir, als hätte er ihn nur für mich angelegt. Sein Lächeln strahlte mir entgegen und seine gütigen Augen stachen wieder in die meinen, als wäre ich der einzige Punkt, an dem er sich wirklich halten konnte. „Sagt, wie ist es Euch den letzten Monat ergangen, Falcon? Ich bin froh, Euch wohlauf zu sehen.“

„Sehr gut, ich danke Euch.“

„Das freut mich!“, er drückte abermals meine Hand, dann lies er los und deutete mit einer umfangreichen Geste auf den Stuhl. „Setzt Euch doch. Erzählt mir von Euren Erfolgen, was treibt Ihr nun? Habt Ihr ein eigenes Dach über dem Kopf, mein Sohn?“

Fast zeitgleich ließen wir uns sinken. Diesmal verneinte ich mit einem Kopfschütteln, noch ehe er mir den Wein überhaupt anbieten konnte und zwang mich zu einem Lächeln.

„Ich wohne in einem Gasthaus, aber es lebt sich dort sehr gut.“

„In einem Gasthaus? Sehr gut, Brehms hat ausgezeichnete Gasthäuser, auch sehr viele katholische. Seid Ihr in einem katholischen untergebracht?“

„Es heißt Zur Rum-Marie. Ich-...“

„Dann wohl nein.“, unterbrach der Mann mich. Wenig begeistert fuhr er dann fort: „Na ja, es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass Ihr nicht auf der Straße schlaft. Immerhin.“, nachdem Domenico einen Schluck getrunken hatte, stellte er den verzierten Kelch zurück und legte die Hände auf dem Tisch ineinander. „Und wie steht es mit einer anständigen Arbeit? Habt Ihr bereits etwas gefunden?“

„Ja, allerdings. Ich arbeite in einem Skriptorium, als angehender Kopist.“

„In einem Skriptorium?“, ich sah, wie sein Lächeln wieder etwas breiter wurde und seine Augen zu leuchten begannen. „In einem Kloster etwa?“

Doch mit meinem Kopfschütteln schwand dies wieder.

„Nein. Im Schreibladen von Meister Pepe, mehrere Straßen weiter. Es ist ein sehr schönes Geschäft.“, ich hielt inne, als Domenico die Hand hob, um mir zu deuten, still zu sein. Er wollte von diesem Geschwätz nichts hören, denn scheinbar teilte er nicht meine Meinung, was das Geschäft anging.

„Vielleicht ist es schön, aber auf keinen Fall gut. Nirgendwo werden mehr Ketzerwerke produziert, als in diesem Schreibladen, Falcon. Ihr habt eine sehr schlechte Wahl getroffen, was Euren Arbeitsplatz angeht.“

„Das ist gut möglich.“, gab ich zu. Ich begann mich immer kleiner zu fühlen, denn egal, was ich von mir gab, es schien nicht zu reichen. „Allerdings wollte mich niemand anderes als Arbeitskraft einstellen, da ich aus Annonce stamme.“

„Geduld ist eine Tugend, Falcon und wird vom Herrn stets entlohnt.“, seine herzliche Ermahnung endete in einem gelangweilten Gesichtsausdruck. Ich sah zu, wie er den Kelch in beide Hände nahm und mit leichten Bewegungen begann, die rötliche Flüssigkeit tanzen zu lassen. Er murmelte eher zu sich selbst: „Aber das macht nichts, solche Dinge lernt Ihr noch. Pepe ist bereits ein alter Mann und mit seinem Ableben wird auch dieser blasphemische Ort endlich zur Ruhe kommen...“

„Wenn es ein so gottloser Ort ist, wieso schließt man den Schreibladen dann nicht einfach und gebietet dem Einhalt?“

Der Geistliche sah mich an, als hätte ich seine Gedanken belauscht. Nach einigen Sekunden trat seine Güte in sein Gesicht zurück. „So ein Unsinn. Wie sollen wir denn dann all jene Menschen finden, die solche Ketzerwerke erst einmal in Auftrag geben? Wir warten, bis das Geschäft geschlossen wird und konfiszieren die Auftragslisten der letzten vierzig Jahre. Denkt nur, Falcon, wie vielen Gottlosen wir dadurch unter die Arme greifen können.“

„Ihr meint, wie viele Ihr dadurch zu Tode verurteilen könnt?“

Domenico antwortete nicht, sondern sah mich nur düster an. Ich hörte Schritte auf dem Gang draußen, unterhalb der Treppe und einen jungen Mann ein Lied summen. Es war ein katholisches Stück, das ich aus den Gottesdiensten kannte. In meinem Kopf setzten die zwei, mir am bekanntesten Strophen ein:

„Oh, dass du könntest glauben,

du würdest Wunder sehen.

Es würde dir dein Jesus

alle Zeit zur Seite stehen.

Du ringst mit deinen Sünden

und weißt nicht aus noch ein,

du kannst nicht Ruhe finden

in deiner Angst und Pein.“

Es wirkte fast wie eine Ermahnung auf mich und als ich einen Blick hinauf zum Jesuskreuz warf, schien Gottes Sohn seine Augenbrauen tief und drohend zusammengezogen zu haben. Schweigend und mit einem Gefühl des Unwohlseins sah ich wieder zu Domenico. Dieser lächelte, als hätte es nie ein Problem zwischen uns beiden gegeben und erklärte gütig:

„Ich weiß, Falcon, dass der letzte Monat sehr anstrengend für Euch gewesen sein muss. Ich stehe hinter Euch, dem könnt Ihr Euch sicher sein und ich kann nachvollziehen, dass Ihr etwas... nun ja, zerstreut seid, besonders was Euren Glauben betrifft. Ich bin mir sicher, Eure gottlose und lästernde Arbeit im Skriptorium dient lediglich nur dazu, Euren Glauben zu festigen, nicht wahr? All diese Schriftstücke, die Ihr lesen müsst. Für Euren Verstand muss es förmlich Qual bedeuten, Ihr seid immerhin ein gebildeter Mann. Und Ihr wisst, dass Ihr meist nichts als Lügen in den Händen haltet. Ist dem nicht so?“

Ich schwieg, denn ich wusste keine Antwort. Am liebsten wollte ich widersprechen und sagen, dass ich die Bücher sehr mochte und dass ich bereits bei Nevar etliche Ketzerwerke gelesen hatte, aber das wäre mein sicheres Todesurteil. Domenico lächelte weiterhin. „Und sollte der Tag kommen und Ihr arbeitet noch immer in diesem schrecklichen Geschäft, werdet ihr der heiligen Inquisition selbstverständlich dienen und uns helfen, sämtliche Listen an uns zu nehmen, nicht wahr? Falcon?“, seine Stimme wurde leiser und eindringlicher. „Ihr werdet Euch Eurem Dienst unterwerfen und keine dieser Listen abhanden kommen lassen. Wir wissen, wie lange diese Schreibstube existiert und sollte auch nur ein Jahrgang fehlen, wir würden doch glatt vermuten, Ihr könntet uns damit einen Streich spielen wollen. Aber das wollt Ihr nicht oder? Euer zukünftiges Leben für einen dummen Jungenstreich riskieren.“

„Natürlich nicht.“, antwortete ich trocken und musste mich räuspern, da meine Stimme versagte.

Domenico reichte das nicht. „Ich kenne Euch gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so ist, Falcon. Ihr wart Mönch, Ihr seid gebildet, ihr kennt den wahren Glauben, die wahren Botschaften des Herrn, nicht wahr? Euer Austritt aus dem Kloster war ein Fehler und Eure Streitigkeit mit O'Hagan nichts weiter, als ein riesiges, großes Missverständnis. Ich bin mir sogar sicher, Ihr folgt weiterhin jeden Tag den Gebeten, wie man es Euch beigebracht hat. Und Ihr tut es aus Glauben heraus, nicht aus Angst, nicht wahr? Habt Ihr Angst, Falcon?“, er nippte an seinem Wein. Kopfschüttelnd wünschte ich mir, er würde den Mund halten und warf abermals einen winzigen, kaum merklichen Blick zum Kreuz. „Aber natürlich habt Ihr keine Angst. Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern Kraft der Liebe und der Besonnenheit, ist es nicht so?“

„So ist es.“, bestätigte ich.

„Und selbst wenn Ihr Furcht habt: Furcht ist der erste Schritt zur Gottesfurcht, mein Sohn.“, Domenico drehte sich etwas herum und folgte meinem Blick hinauf zum hölzernen Jesus. „Dieses Kreuz, Falcon, es ist ein Symbol der Liebe und Hoffnung. Die Balken sind gleich ausgestreckter Arme um uns zu empfangen, um und zu stützen. Zumindest für mich.“, dann sah er mich wieder an, ernst und drohend, die Hand immer noch auf der Stuhllehne. „Wofür steht das Kreuz in Euren Augen, Falcon?“

„Für den heiligen Vater.“

Der Priester drehte sich ganz zu mir. „Und weiter?“

„Vielleicht für seinen heiligen Geist?“, Unsicherheit stieg in mir hoch und ich wollte weg. Ich erinnerte mich an die Gotteslehre aus dem Waisenhaus und die verhassten Frage- und Antwortspiele von unserem Lehrer. Es war niemals möglich gewesen, die richtige Antwort zu finden und nun erschien es mir genauso.

Domenicos Blick wurde noch düsterer. „Seid Ihr etwa doch ein Ketzer?“, fragte er fast ironisch.

Ein wenig übereilt kam meine Antwort: „Selbstverständlich nicht.“

„Falcon, mir scheint, ich könnte mich geirrt haben. Bei unserer letzten Begegnung sagte ich, ihr seid zwar sündhaft, so wie jeder andere Mensch auch, aber nun überlege ich, ob Ihr nicht doch weitaus mehr Lasten mit Euch herumtragt. Lasten, die nicht zu vergeben sind, nicht zu beichten. Ich sagte, ich wüsste, dass Ihr kein Mörder seid, doch nun habe ich das Gefühl, Ihr seid weitaus mehr. Ihr arbeitet in einem Skriptorium, gebt Euch der Fleischeslust hin. Was soll ich davon halten, Falcon? Sagt es mir.“

„Ich bin mir sicher, dass wir uns missverstehen.“, versicherte ich und starrte ihn an. Domenico regte sich nicht, aber ich sah, dass es in seinem Kopf arbeitete. Er murmelte nachdenklich:

„Ich habe sogar das Gefühl, dass dies alles ein Missverständnis ist. Ich denke, ich empfinde es nicht als weiterhin tragbar, dass ich Euch dermaßen viel Unterstützung schenke. Im Gegenteil. Vielleicht wäre es doch meine Pflicht, Euren Aufenthalt unverzüglich O'Hagan zu melden.“

Ich zwang mich zur Ruhe und sah zum Kreuz hoch, fieberhaft überlegend, was ich sagen sollte. Dann erklärte ich unsicher: „In meinen Augen ist das Kreuz ein Zeichen für das Sein durch Gottes Hand. Der vertikale Balken ist die Verbindung zwischen unserer Erde und dem heiligen Vater, der waagerechte zeigt jene Verbindung zwischen den Kindern Gottes.“

„Sehr gut.“, Domenico nickte. „Ihr habt während Eures Unterrichtes sehr gut aufgepasst, Falcon.“, er begann wieder mit seinem Wein herum zu spielen und beachtete mich nicht weiter. Mein Herz beruhigte sich jedoch nicht ansatzweise und ich fügte nach einigem Schweigen hinzu: „Ich glaube auch, dass das Kreuz an sich ein Symbol für die Last ist, die uns Menschen aufgebürgt wird. Ein Zeichen unserer Buße.“

Ich konnte beobachten, wie sein Lächeln in sein Gesicht zurück trat. „Ihr seid ein aufrichtiger und intelligenter Mann, Falcon. Es ist wichtig, dass Ihr diese Dinge stets im Auge behaltet. In dieser gottlosen Welt verliert man schnell den Überblick, besonders, wenn man ein solches Leben führt, wie Ihr. Wenn man erst einmal in die Versuchung kommt die Sünde zu schmecken, dann tut man es immer wieder. Denkt an das, was ich Euch bei unserem letzten Treffen sagte:

Ihr seid hier, um Euch von Euren Sünden rein zu waschen und in einem Jahr ist Euch alles vergeben. Das wisst ihr doch noch?“

„Selbstverständlich.“, ich nickte knapp.

„Sehr gut. Sagt, bereut Ihr, dass Ihr das Kloster verlassen habt?“

Ich nickte abermals und log: „Jeden Tag.“

„Das ist gut, sehr gut. Und auch sehr wichtig. Ihr könnt nur lernen und Demut zeigen, wenn ihr Reue zeigt. Ich sehe, in Eurem Herzen ist noch ein Rest des heiligen Geistes. Könnt Ihr ihn spüren, Falcon?“

Seine Augen durchbohrten die meinen und abermals wusste ich keine Antwort. Mein Hals schnürte sich etwas zu, was sollte ich antworten? Domenicos Fragen verunsicherten mich, denn sollte ich nun lügen und ja sagen, beleidigte ich Gott auf höchste Art und Weise. Dennoch nickte ich und mir wurde heiß. „Ja, ich denke schon. Ich habe oft das Gefühl, ich könnte meine Seele noch retten.“

„Das ist gut, nicht wahr? Ein gutes Gefühl.“, Domenico nickte eindringlich. „Das ist es doch?“

Meine Stimme war lediglich ein leises Flüstern: „Natürlich ist es das.“

„Der Herr ist bei uns, das dürft Ihr niemals vergessen, Falcon. Nutzt dieses Jahr, um Eure Seele rein zu waschen und ein neues und weitaus besseres Leben zu verbringen. Denkt nach:

Ihr habt das Kloster verlassen und seitdem erteilte der Herr Euch Strafen, ist dem nicht so? Ihr wart blasphemisch, gottlos, sündhaft und wohin hat es Euch gebracht? Wo steht Ihr nun dadurch, frage ich Euch. Im Nichts, in Undank und Dunkelheit, in Kälte, Armut. Ihr seid hoffnungslos, Ihr braucht Hilfe und Unterstützung. Dort steht Ihr! Ihr seid nicht mehr, als eine dieser gottlosen Ratten aus dieser abscheulichen Stadt Annonce, Falcon. Aber das wollt Ihr ändern, nicht wahr?“

„Selbstverständlich.“

„Wollt Ihr ein gottloses Nichts sein, Falcon? So niederträchtig, dass selbst der Herr Eure Gebete ignoriert?“

Unsicher sah ich ihn an. „Natürlich nicht.“

„Was, natürlich nicht, Falcon? Sagt es mir.“

„Ich...möchte natürlich kein gottloses Nichts sein, Herr.“

Domenico beugte sich etwas vor und zischte: „Aber Ihr seid ein Nichts, Falcon! Ihr seid nicht einmal mehr ein Wurm. Ihr seid ein verlorenes Schaf, so voller Schmutz, dass Ihr nicht einmal mehr zum scheren gut seid. Niemand will Euch haben, Falcon, niemand liebt Euch, niemand braucht Euch. Ihr seid ein Nichts! Aber ich, ich nehme mich eurer dennoch an. Ich kümmere mich dennoch um Euch, ich gebe Euch dennoch meine Hand, um Euch daran fest zu halten, um Euch aufzuhelfen. Ich bin gütig, ich bin gerecht, ich bin die Gerechtigkeit des Herrn Falcon! Bin ich gerecht? Gütig?“

„Ihr seid gerecht und gütig, Herr.“, wiederholte ich leise und sah zum Tisch. Ich wollte das nicht hören, aber hatte ich eine Wahl? Es machte mich aggressiv, von ihm als Nichts bezeichnet zu werden. Dennoch überwog die Tatsache, dass ich mein momentanes Leben liebte und nicht wieder verlieren wollte.

Domenico wollte wissen: „Und ich hoffe, ihr seid dankbar dafür?“

„Ich bin sehr dankbar, Herr.“

„Sehr gut.“, der Geistliche lehnte sich wieder etwas zurück und legte die Hände auf seinem Schoß zusammen. Wieder ganz normal, freundlich und mit einem Lächeln bat er mich:

„Nun, Ihr hattet einen Auftrag. Erzählt mir davon.“, wieder hallte das leichte Summen durch das Gebäude, als würde Gott dem Beitrag des Mannes Beifall klatschen wollen. Ich schluckte schwer, ehe ich erklärte:

„Ich habe einen Mann mit dem Namen Luke Caviness ausspioniert. Er ist der Sohn eines Allerleihändlers genannt Joshua Caviness.“

„Und was habt Ihr heraus gefunden?“

„Nicht viel. Er hielt des Öfteren Treffen mit einer unbekannten Person ab. Meine Aufgabe war es, herauszufinden, ob es sich bei dieser Person um einen Samariter handelt. Allerdings war dies nicht der Fall, denke ich. Er traf sich regelmäßig mit einer Prostituierten, ihr Name ist Josephine. Laut einem Gespräch der beiden, das ich belauscht habe und der Befragung einer weiteren Dirne sind die beiden ineinander verliebt und planen zusammen zu fliehen. Aus diesem Grund spart Luke sei längerer Zeit Geld. Er hatte eine lange Zeit starke Schulden bei vielen Geldleihern.“

„Was habt Ihr noch herausgefunden?“, hakte der Geistliche interessiert nach.

„Luke hat einen Rivalen, sein Name ist Gilian. Er hat behauptet, Gilian hätte ebensolches Interesse an Josephine, wie er selbst. Außerdem heißt jener Mann, für den Josephine Freier nimmt, allem Anschein nach Edgar. Luke und Josephine haben große Angst davor, dass der Hurenbock von ihren Plänen erfährt.“

„Und weiter?“, hakte er abermals nach.

Ich schüttelte den Kopf. „Nichts, nur unwichtige Details. Luke und der Bäcker aus dem Haus gegenüber verbindet eine lange Feindschaft aufgrund von Antipathie und der Sohn hat den Laden übernommen, nachdem seine Mutter, Elisabeth, umkam. Auch hat er ein sehr schlechtes Verhältnis zu seinem Vater Joshua, der starker Trinker ist.“

Und damit endete ich. Ich ließ den Todesfall bewusst aus, denn ich empfand ihn als persönliches Versagen und wollte ihn lieber mit Nevar, als mit Domenico besprechen. Schweigend sah ich den alten Mann an und hoffte, dass mir diese Entscheidung keine Probleme bereiten würde.

Doch Domenico lobte mich nur. „Sehr gut.“, anschließend stellte er den Kelch erneut weg, aus dem er während meines Vortrages getrunken hatte. „Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet, dafür, dass dies Euer erster Auftrag war.“

„War?“, wollte ich verwirrt wissen.

„Luke ist tot.“

Ich zog die Augenbrauen hoch, als würde es mich erstaunen und verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Was? Seit wann?“

„Seit zwei Tagen. Wusstet Ihr nichts davon?“

Abermals schüttelte ich den Kopf. „Vor zwei Tagen habe ich ihn beobachtet, wie er sich mit Josephine gestritten hat. Es war so voll, ich habe ihn aus den Augen verloren.“

Domenico erklärte mir sanft: „Das macht nichts, Ihr könnt ja auch nicht jede Minute bei ihm verbringen. Luke war etwas herum gelaufen und auf einer gefrorenen Pfütze ausgerutscht, wie es scheint. Eine dumme Sache, das könnt Ihr mir glauben. Er hat sich mit dem Kopf an einer Mauer gestoßen und sich obendrein den Hals gebrochen.“, Domenico bekreuzigte sich mitfühlend. „Gott stehe seiner armen Seele bei. Nun, zumindest ist er schnell tot gewesen, ein Trost für seinen Vater.“ Ich antwortete nicht. Domenico log, das war offensichtlich. Luke war verblutet aufgrund eines Messerstichs in den Rücken, das hatte ich überprüft. Weder hatte er eine Wunde am Kopf gehabt, noch einen gebrochenen Hals. Ich musste Acht geben, dass mein Blick nicht misstrauisch wurde und sah auf die Hände des Mannes vor mir. Sie waren alt und runzlig, die Adern traten blau hervor als wären sie aufgemalt und der Achatring schimmerte sanft im Licht. Domenico log, aber warum? Als er fort fuhr, erhob ich den Blick wieder. „Nun, jedenfalls ist Eure Aufgabe damit erst einmal beendet. Ihr müsst ihn nicht weiter beobachten.“

„Und es war sicher kein Mord?“, fragte ich nach. „Er hatte viele Feinde.“

„Nein, ausgeschlossen.“

„Was ist meine neue Aufgabe?“

„Ihr seid voller Tatendrang, Falcon, das gefällt mir.“, bemerkte Domenico lächelnd. „Ihr habt die Aufgabe, zwei weitere Personen zu überprüfen. Als erstes Gilian Daly. Er ist der Rivale von Luke, den Ihr erwähntet. Als zweites Edgar Lynch, der Hurenbock. Bruder Nevar wird Euch die entsprechenden Informationen zu diesen Männern geben, damit Ihr sie schnellst möglichst findet.“

Bruder Nevar.“, wiederholte ich ungewollt und hörbar ungläubig. Ohne es zu merken, zog sich meine linke Augenbraue nach oben, ehe ich nickte. „Gut, was genau soll ich herausfinden?“

„Ob sie Kontakt zu Samaritern haben oder womöglich selbst welche sind.“

„Mit allem Respekt. Wieso soll ich nun diese zwei Personen ausfindig machen? Ich denke, es war kein Mord. Wieso sind sie dann weiterhin wichtig?“

„Ganz einfach.“, Domenico lehnte sich vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch ineinander. „Das Weibsbild, das Ihr erwähntet, Josephine. Sie ist bekannt dafür, dass sie mit den Samaritern in Kontakt steht.“

Ungläubig starrte ich ihn an. „Ist das Euer Ernst?“, er nickte nur. Wut stieg in mir hoch und ich schnaubte leicht. „Wenn ihr das wusstet, wieso habt Ihr mich nicht gleich auf sie angesetzt?! Ich hätte mich an Josephine wenden können, das hätte alles leichter gemacht!“

„Eure Aufgabe war es aber, Euch um Luke zu kümmern, nicht um Josephine.“

„Und was ist mit ihr?! Wenn ihr von ihr wusstet, dann müsst Ihr auch gewusst haben, dass sie mit Luke verkehrt! Wieso sollte ich ihn beobachten, wenn klar war, dass er sich mit ihr traf?!“

„Beruhigt Euch, Falcon!“, flüsterte eine Stimme hinter mir, durchaus fordernd. Ich schnaubte abermals, bemüht Nevar zu gehorchen, doch es fiel mir schwer. Domenico erhob sich langsam. In aller Ruhe drehte er sich weg und betrachtete das Jesuskreuz, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Nach einigen Sekunden erklärte er:

„Wir wussten nicht, dass Luke mit Josephine verkehrt, das haben wir erst vor zwei Tagen bemerkt, als unser Spion Euch im Gasthaus sah. Wir beobachten sie nur außerhalb ihrer Arbeit, da wir unmöglich jeden Freier befragen und beobachten können. Das wäre zu auffällig, zu viel Aufwand und könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Unseres Wissens nach ist sie eine wichtige Kontaktperson der Samariter, aber nicht wichtig genug. Sie spielt einen Mittelsmann, wahrscheinlich weiß sie aber nicht einmal davon. Irgendjemand muss hinter ihr stehen und sie lenken. Die Frage ist: Wer? Luke war es nicht.“, er drehte sich herum und sah mich ernst an. „Und das ist Eure Aufgabe, Falcon. Findet heraus, wer dahinter steckt.“

„Ich weiß noch immer weder wer die Samariter sind, noch, woran ich sie erkenne.“, knurrte ich gereizt.

„Das ist richtig und das werde ich Euch jetzt erklären. Nun, wo Ihr Euch bewiesen habt, ist es nur richtig, Euch einzuweihen.

Die Samariter sind eine gefährliche Gruppe, die Arme und Gepeinigte um sich sammeln, um sie zu ihren Gefolgsmännern zu machen.“

„Zu welchem Zweck?“, er deutete mir still zu sein und wütend gehorchte ich.

„Die Samariter sammeln Kranke und Schwache um sich, denn diese sind durchaus willig und für jede Hilfe dankbar. Sie sind eine große Gefahr für das Land, für die ganze Welt, Falcon.“, Domenico schwieg einige Sekunden, um die Wichtigkeit seiner Aussage deutlich zu machen, dann kam er um den Tisch herum zu mir. Der alte Mann setzte sich mit einem Oberschenkel auf die Tischkante und legte die Hände in den Schoß, mich ernst ansehend. „Diese Welt steht kurz davor, sich zu verlieren und auseinander zu brechen. Das Böse, das Verkommene, es breitet sich immer schneller aus. Die heilige Inquisition hat die Aufgabe dem Einhalt zu gebieten und das hat sie getan, so gut sie konnte. Seht die Stadt doch an – sie ist ein Ort des Lichtes, der Göttlichkeit geworden. Und das gleiche wird mit allen anderen Städten dieses Landes geschehen. Allerdings ist das Böse noch immer unter uns und nun ist es an der Zeit, auch die letzten abtrünnigen Mächte auszurotten.“

„Ich kann Euch nicht folgen.“, sagte ich kühl und etwas verhasst.

Domenico nickte. „Natürlich nicht. Ihr kommt aus Annonce, ihr kommt aus dem Nest allen Übels. Ihr kommt aus der Stadt, in der sich der Teufel zurückgezogen hat. Eure Stadt ist eine eiternde Beule, die nur darauf wartet zu platzen und uns alle zu verderben.

Aber Brehms war einst genauso, Falcon. Brehms war unkultiviert und verkommen, gottlos, hoffnungslos. Und wenn wir nicht etwas unternehmen, wird Brehms eines Tages wieder so sein.

Die Samariter haben das als ihr Ziel genommen: Sie wollen jede Stadt zu einem Ort des Bösen machen, damit ihre düsteren Herzen und gottlosen Seelen hier Einzug halten und wüten können. Wir, Falcon, ihr und ich, wir wurden von Gott auserwählt, das zu verhindern.“, Domenico sah vor sich und sein Blick ging etwas in die Ferne. „Oh ja, Falcon. Wir haben die Aufgabe dieses Land zu erretten und zurück in Gottes Hand zu führen, versteht Ihr? Die Samariter lästern die Heilige Schrift. Sie sprechen mit ihren eigenen Worten und behaupten, es wären die Worte Gottes. Sie denken nicht nur häretisch, sie sprechen auch so und ihre Worte infizieren jeden, der zuhört.“

„Wovon sprechen sie?“, fragte ich ruhig.

Domenico schüttelte traurig den Kopf. „Wenn ihr das nur wüsstet, Falcon. Sie sprechen gegen die Buße, gegen die Beichte, ja, sogar gegen das heilige Feuer. Sie behaupten, dass der Allmächtige allein aus Gnade heraus vergeben würde, ohne das Zutun durch den Menschen.“, ernst sah er mich an und wieder erkannte ich das fanatische in seinen Augen. „Falcon. Sie lästern Gott nicht nur, sie verdrehen all seine Lehren und rufen die Menschen auf, dem Folge zu leisten. Sie protestieren gegen die katholische Kirche! Wir müssen sie aufhalten, ehe es zu viele werden und diese Welle des Bösen uns alle überrennen. Falcon, sie halten predigten und Vorträge. Es gibt etliche Propheten, die wir festgenommen haben und wisst ihr, wieso?“

„Sagt es mir.“, forderte ich.

Domenicos Augen füllten sich mit Hass. „Sie wagen es die Worte der heiligen Bibel, das heilige Latain, so zu interpretieren, wie es Ihnen passt! Sie zitieren die heilige Schrift in der Sprache des gottlosen Pöbels, Falcon. Sie deuten sie so, wie sie es für richtig halten und wagen es auch noch, ihre Gedanken im Namen des Allmächtigen auszusprechen! Sie sammeln die Menschen um sich herum und tischen ihnen Lügenmärchen auf. Wir müssen das verhindern, mein Sohn. Unter allen Umständen.“, nun stand der Priester wieder auf und ging um den Tisch herum, um sich zu setzen. Er erklärte dabei völlig ruhig: „Ihr werdet überprüfen, ob Edgar oder Gilian einer der Samariter ist. Fangt mit dem an, bei dem es Euch beliebt und gebt mir oder Bruder Nevar Bescheid, sobald Ihr Näheres erfahren habt. Ich wünsche, dass Ihr nichts auslasst und gewissenhaft handelt, Falcon. Ihr dürft jetzt gehen.“, unsicher stand ich auf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er unterbrach mich bereits beim ersten Laut erneut: „Ihr dürft jetzt gehen.“ Sein Blick war drohend und viel sagend und mir blieb keine andere Wahl, als mich zu verbeugen und das Zimmer zu verlassen.

Nevar folgte mir und nachdem die Tür ins Schloss fiel, begann ich zu zittern und mir wurde kalt. Domenico spielte ein falsches Spiel, das war jetzt deutlich spürbar...

Und ich war mittendrin.

Nevar antwortet

Ich schwieg geduldig, in der Hoffnung, Nevar würde von sich aus sprechen, aber natürlich geschah dies nicht. Er sagte kein Wort, bis wir die Deo Volente schon fast verlassen hatten. Dann, als wir das riesige Tor ansteuerten, hielt ich ihn am Arm

Etwas sarkastisch und bitter fragte ich ihn: „Bruder Nevar?“, er verharrte fast sofort. Erst nach einigen Sekunden drehte er sich langsam herum, etwas seufzend, als hätte er darauf bereits die ganze Zeit über gewartet. Bemüht ruhig zu bleiben ließ ich ihn los, allerdings hielt ich finster seinem Blick stand. „Was wird hier gespielt? Bruder?“, das letzte Wort betonte ich fast schon zynisch.

„Falcon, Ihr missversteht etwas.“

„Nein, ich denke nicht. Bruder Nevar? Bruder? Ihr seid ein Mann Gottes, ein Mann der Inquisition, aber spieltet mir die letzten Monate das Leben eines Ketzers vor. Eure Worte, Eure angeblichen Sichtweisen, die Werke in eurem Haus-... Nein. Es war sicher nicht einmal Euer Haus!“, es gelang mir nicht ganz, meine Wut zu unterdrücken und das erste Mal seit über einem Monat geschah es, dass ich ihm meine Gefühle zeigte. Ich wollte damit aufhören, ich wollte ihm meine Schwächen nicht mehr präsentieren und die Tatsache, dass es mir nicht gelang, überwältigte mich nur umso mehr. Die Wut stieg stärker an und ich ging wortlos an ihm vorbei hinaus.

Nevar folgte mir ruhig und wir setzten unseren Weg fort, quer über den Platz, vorbei an der Statue des alten Henrys. Sie stand unverändert da und mittlerweile konnte man Teile des Sockelfußes sehen, auf dem sein Pferd stand. Nach dem letzten Schneesturm hatte es immer mehr Sonne gegeben und die Schneemassen begannen sich wie von Geisterhand aufzulösen. Nicht mehr lange und man konnte die grauen und verzierten Pflastersteine der Stadt erkennen.

Irgendwann dann gingen wir nebeneinander die alten, verwinkelten Gassen entlang. Ich fragte mich im Hinterkopf, ob ich ihn auf etwas zu essen oder zu trinken einladen sollte. So könnte er mir Frage und Antwort stehen, ohne einfach zu gehen. Aber es schien mir unangemessen, unpassend. Nevar würde dennoch schweigen, wie er es auch bei privaten Gesprächen in seinem Haus getan hatte. Er würde ausweichen und Fragen, die er nicht hören wollte, gekonnt umgehen und vielleicht würde ich es nicht einmal merken. Wenn ich eines gelernt hatte, dann das:

Wenn man fragt, erhält man keine Antwort.

Irgendwann wandte er das erste Wort an mich, leise und bewusst, das hörte man an seiner Stimme. „Falcon, wir missverstehen uns stark oder eher: Ihr missversteht mich. In den Augen Domenicos bin ich ein Bruder, das ist gut möglich und auch in Augen vieler anderer, aber in Wahrheit bin ich nichts, als ein Mensch, wie Ihr einer seid.“

„Ich verstehe nicht, mal wieder.“, meine Antwort klang patziger, als ich es vorgehabt hatte. Gereizt musterte ich die Wolken am Himmel. Sie hingen schwer und dunkel, als wären sie mit grauem Regenwasser gefüllt. Trübsinnig und dunkel, wie meine Laune.

„Ich will es Euch erklären.“, Nevar ging einige Schritte schneller und leitete mich in eine der Nebengassen, dann hielt er und sah mir ernst entgegen. Er schlug die Kapuze hoch, um sein Gesicht zu verdecken und unbewusst tat ich es ihm gleich. „Domenico ist ein Mann der Inquisition, das ist richtig, aber ich bin es nicht. Nicht im ersten Moment zumindest. Ich für meinen Teil gehöre der Deo Volente an und somit zu ihm. Dass er mich Bruder nannte, liegt nicht daran, dass ich ein Geistlicher bin oder gar aus dem Kloster komme. Es liegt daran, dass ich der heiligen Bruderschaft angehöre.“, er schwieg einige Sekunden, aber diesmal wies ich ihn nicht darauf hin, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Düster stellte ich in Gedanken fest, dass ich diesen Satz mittlerweile wohl einfach zu sehr hasste. Scheinbar sah Nevar mir diese Gedanken an, denn er fuhr ruhig fort: „Die Deo Volente ist eine Gilde, die man auch die heilige Bruderschaft nennt. Es gibt viele Bruderschaften auf dem großen Kontinent und alle sind Gilden, die durch die Inquisition unterstützt werden und andersherum.“

„Fahrt fort.“, forderte ich kühl und verschränkte die Arme.

Nevar nickte. „Nun, die Bruderschaft steht im Dienste der Inquisition. Sie ist eine Gilde, wie die Handelsgilde auch, der man regelmäßig Beträge zahlen muss und für welche eine Mitgliedschaft nötig ist. In dieser Gilde sind beispielsweise Priester, Gottesdiener, Lehrer. Wichtige Persönlichkeiten, die ein hohes und meist katholisches Ansehen genießen. Aber auch Wirte aus katholischen Gasthäusern oder beispielsweise die sogenannten Kreuzer.“, ich wurde hellhörig und erinnerte mich an das, was die zwei Wachmänner zu mir sagten. Sie hatten mir erklärt, dass, ‚seit die Kreuzer für Ordnung sorgten’, sie kaum noch Arbeit hatten. Nevar sah mich ernst an. „Die Kreuzer sind Soldaten der Inquisition. Anders als Mönche oder Priester verfügen sie über das Waffenrecht und sorgen für Ordnung in der Stadt. Ihr kennt dies nicht, in Annonce wird alles durch die Krone oder Stellvertreter der Inquisition wie O'Hagan geregelt. Aber hier in Brehms agiert die Inquisition persönlich in Form ihrer eigenen Garde.“

Ich wog nachdenklich den Kopf. „Und Ihr seid ein Mitglied der Deo Volente, aber kein Teil der Inquisition?“

„Richtig.“

„Und warum?“, ich sah ihn misstrauisch an. „Wieso habt ihr einen Posten bei der Bruderschaft?“

„Weil ich eine Art Attentäter der Inquisition bin.“, schweigend sah Nevar mir entgegen und wartete auf eine Reaktion, aber ich rührte mich nicht. Es hätte mich schockieren müssen, aber seltsamerweise war ich nicht einmal erstaunt. Nach einigen Sekunden erklärte er: „Ich nehme Aufträge der Inquisition an und erhalte dafür Geld, so wie das Recht auf ein eigenes Leben. Wie Ihr wisst, stamme ich nicht von diesem Kontinent. Es hat seine Gründe, dass ich dennoch hier bin und ist nicht weiter von Belang. Genauer gesagt: Mein Leben und meine Vergangenheit geht niemanden etwas an, Euch am wenigsten. Was ich sagen will, ist:

Menschen wie Ihr und ich, Verbrecher, die niemals Verbrecher sein wollten, Gesuchte, Abtrünnige. Auch sie gehören der Deo Volente an, denn sie erhalten die Chance auf ein neues Leben. Und glaubt mir, es ist nicht nur ein böses Spiel von Domenico. Wenn er Euch in einem Jahr die Freiheit versprochen hat, hält er sich daran. Ich habe vor Euch bereits viele gesehen, die ein neues Leben beginnen konnten, also setzt diese Gelegenheit nicht für eine Dummheit aufs Spiel, Falcon!“, seine Stimme wurde zu einem Zischen und seine Augen wechselten von meinem rechten zum linken und wieder zurück. „Domenico ist ein Fanatiker, Ihr seht es selbst, aber er ist kein Lügner, also verdammt noch mal, reißt Euch zusammen und tut, was man von euch will. Ich kenne Euch gut genug, ihr denkt zu viel nach, das hat schon viel in Eurem Leben ruiniert. Macht diesen Fehler nicht erneut.“, und mit diesen Worten ließ Nevar mich einfach stehen. Ich starrte ihn verständnislos an, dann ging ich ihm nach.

„Also sind in der Deo Volente sämtliche Katholiken, die über Geld verfügen?“, wollte ich wissen.

„Richtig.“

„Und wieso ich?“, erneut packte ich seinen Arm. Nevar drehte sich sofort herum und löste sich. Ich zuckte zurück, daran denkend, wie er mir bei einer unserer ersten Begegnungen das Messer entgegen gehalten hatte, kaum hatte ich ihn berührt, aber diesmal geschah dies nicht. Ruhig wollte ich wissen: „Wieso ich, Nevar? Bitte klärt mich auf.“

Mein Gegenüber schwieg einige Zeit und sah mich geduldig an. Es dauerte, bis er antwortete und für einen Augenblick war es dunkel in Brehms, denn eine düstere Wolke verdeckte die Sonne. Als die Wände wieder etwas heller wurden, fragte er leise und ruhig: „Was wisst Ihr bisher?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich bin ein Gesuchter, da ich nach Verlassen des Klosters mit O'Hagan aneinander geraten bin. Warum genau, weiß ich noch immer nicht. Ich denke, es hat mit einem Mann zu tun, den ich auf See kennen gelernt habe: Black.“

„Das ist gut möglich.“, Nevar zog seine Kapuze etwas tiefer ins Gesicht, als ein alter Mann mit Stock uns passierte. Als dieser vorbei war, fuhr er fort: „Nun, gewiss ist die Deo Volente nicht dadurch auf Euch aufmerksam geworden. Ich traf durch Zufall auf Euch, damals, im schwarzen Kater. Da Ihr geblieben seid, fragte ich mich natürlich, warum. Ihr hättet ein Spion sein können oder anderes. Wie Ihr wisst, wurde ich verfolgt. Ich hatte derzeit in Annonce einen Auftrag, der gut zwei Jahre lang gedauert hat und ich musste Acht geben, auf den letzten Metern nicht alles zu vermasseln.“

„Was für einen Auftrag?“, hakte ich nach. Nevar ignorierte mich.

„Also forschte ich nach, wer Ihr seid. Da Ihr Jack kanntet, ging ich davon aus, dass Ihr etwas mit dem Gefängnis zu tun hattet. Ich fand heraus, dass Ihr entlassen worden wart und erinnerte mich an die Feuerprobe und Euer Gesicht. Da wurde mir klar, wer Ihr seid. Wie Ihr wisst, bin ich nicht gläubig. Ich bin mir im Klaren darüber, dass es keinen Gott gibt, der über Euch gerichtet hat – was immer Euer Verbrechen war, ihr seid ungestraft davon gekommen. Ich wollte Euch benutzen, erpressen, irgendwie Profit daraus schlagen. Kurze Zeit später ließ O'Hagan Euch suchen.

Ich verhalf Euch zur Flucht und versteckte Euch, da ich der Meinung war, Ihr könntet wichtig für mich werden. Zu dieser Zeit wart Ihr bewusstlos. O'Hagan ließ ausrufen, dass Ihr ein mehrfacher Mörder seid. Nun und dann nahmen die Dinge ihren Lauf.“, Nevar sah an mir vorbei. Einige Kinder spielten etwas weiter mit einem kleinen Stofftier. Nachdem er sicher war, dass sie uns nicht gefährlich werden konnten, sah er mich wieder an. „Während der Zeit, die Ihr bei mir verbracht habt, hat Euer Name an Berühmtheit gewonnen, Falcon.“

„Wie meint Ihr das?“

Er wog den Kopf. „Laut O'Hagan habt Ihr bereits vierundzwanzig Frauen das Leben genommen, Falcon. Im vergangenen Jahr ist eine Hetzjagd auf Euch ausgerufen worden und die Tatsache, dass man Euch noch immer nicht gefunden hat, lässt O'Hagan noch mehr wüten. Die Deo Volente wurde dadurch auf Euch aufmerksam, zudem sprach ich Domenico auf Euch an und so kamt Ihr hier her. Das ist alles.“

Ich starrte Nevar an, als hätte er den Verstand verloren. Leise flüsterte ich: „Aber... vierundzwanzig Frauen...?! Wieso...?! Wie...?!“

„Man behauptet, ihr wärt ein Wahnsinniger. Vergesst es einfach. Falcon, denkt dran:

Euer Name ist tot. Ihr seid tot. Macht Euch das endlich bewusst.“, erneut ging Nevar einfach weiter, ich folgte schweigend. Er hatte Recht, mein Name war gestorben, Sullivan O'Neil war gestorben. Was kümmerte es mich, was man von meiner alten Identität dachte? Doch dann wurde mir bewusst, dass ich für eben diese kämpfte. Ich kämpfte für Sullivan O'Neil. Ich wollte einen Ablassbrief, nicht für irgendjemanden, sondern für mich. Was brachte es mir, wieder ich sein zu dürfen, wenn ich solch eine Vergangenheit, solch eine erlogene Vergangenheit mit mir herum trug? Würde Domenico wirklich für solch jemanden eine Sündenvergebung aussprechen? Es erschien mir unglaubwürdig und falsch, auch wenn ich Nevar vertraute. Ich wollte ihm trauen, ich wollte ihm folgen. Doch Gespräch für Gespräch stieg in mir die Unsicherheit hoch. War ich mit Black an den falschen Mann geraten und tat es mit Nevar erneut? Hatte ich im letzten Jahr wirklich nichts dazu gelernt? Hätte ich mich niemals auf ihn einlassen sollen?

Nach einigen Minuten Nachdenkens brach ich es einfach ab, indem ich mich zwang, ihn zu fragen: „Ihr sagtet, Ihr seid Attentäter. Aber wieso kümmert Ihr Euch dann so um mich?“

Das brachte ihn zum Schmunzeln. Nevar hatte viel früher mit dieser Frage gerechnet und mir erschien vieles so, als hätte es bereits viel früher gesagt werden können. Ich hatte das Gefühl, die letzten Monate waren sinnlos an mir vorbei gezogen. Als wäre ich blind durch die Welt getaumelt und hatte viel, viel zu viel, verpasst.

„Weil ich für Euch gebürgt habe.“

„Ihr habt was?“, erstaunt sah ich ihn an. „Bei Domenico?“

„Richtig. Ich habe gesagt, dass Ihr intelligent seid und gewiss keine falsche Wahl. Als Zeichen, dass ich es ernst meinte, musste ich für Euch bürgen und Domenico versichern, dass es kein Fehler wäre, Euch in all diese Dinge einzuweihen.“

„Also habt Ihr Angst um Euren Kopf und kümmert Euch deswegen um mich.“, stellte ich leicht enttäuscht fest. Nevar schwieg und grinste nur. Seufzend sah ich ihn an. „Was kann denn großartig passieren, was Euch in Schwierigkeiten brächte?“

„Ihr könntet ein Samariter sein – oder werden.“

Schweigend sah ich an ihm vorbei in die Gasse, dann sah ich ihn wieder an. Ein leichtes Grinsen spielte sich um meine Lippen. „Wenn er Euch dafür bürgen lässt, dass ich ihm treu bleibe, hat er also Angst, dass ich mich den Samaritern anschließe. Das bedeutet, sie haben vielleicht Angebote die durchaus verlockend für mich sein könnten, richtig?“

Auch Nevar grinste, aber eher spöttisch. „Treibt keine Scherze mit mir, Falcon. Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch einlasst.“

„Dann klärt mich bitte auf. Ich habe noch immer nicht ganz verstanden, wer oder was die berüchtigten Samariter sind.“

Nevar sah mich einige Sekunden an, ehe er nickte und mir mit einem Kopfnicken deutete, ihm zu folgen. Gehorsam ging ich neben ihm und wir passierten einige Gasthäuser und unbelebte Straßen. Seine Stimme war leise und flüsternd, dennoch verstand ich sie einwandfrei. Es wirkte fast, als wären wir in einer zweiten Welt, in der die gesagten Worte nur so dahin schwebten und kein anderer sie hören konnte.

„Die Samariter sind die momentan größten Feinde der katholischen Kirche. Auf sie wird eine größere Jagd gemacht, als auf Abtrünnige und Hexen. Sie gelten als die schlimmsten Ketzer der jetzigen Zeit, auch wenn niemand es laut ausspricht. Die meisten wissen nicht einmal, dass es die Samariter gibt. Man kennt sie nur als Propheten, Gottesflüsterer.

Sie lehnen zum Beispiel fünf Eurer Sakramente ab und behaupten, nicht nur geweihte Priester könnten Brot und Wein konsekrieren. Sie behaupten, jeder Getaufte wäre in der Lage, Brot und Wein zu segnen. Sie setzen sämtliche, katholische Mächte einfach herab, das gleiche gilt für den Papst persönlich. Und das für Domenico wahrscheinlich schlimmste:

Sie lehnen es ab, Maria und die Heiligen zu verehren. Sie behaupten, man würde damit Gott schmälern und ihm weniger Verehrung zuteil werden lassen. Sie bezeichnen es als unchristlich und sprechen sich auch öffentlich gegen das Zölibat der Geistlichen aus, eine der schlimmsten Äußerungen überhaupt.

Am Anfang nahm niemand sie ernst, aber sie werden immer mehr. Die Inquisition lässt sie auf Scheiterhaufen verbrennen und öffentlich hinrichten, in der Hoffnung, es würde die Menschen abschrecken, aber das passiert nicht. Das Volk fürchtet sich vor der Kirche und das Volk fürchtet sich vor dem Herrn, das ist wahr, allerdings gibt es immer wieder welche, die anders denken, anders sind. Menschen, wie wir, Falcon.“, Nevar warf mir einen kurzen Blick zu, dann verschwand sein Gesicht wieder in der Kapuze. „Gebildete Menschen, die sich mit den Lehren Eures Gottes befassen und vieles anzweifeln von dem, was die Inquisition tut. Sie hat seit Jahren hart damit zu kämpfen.“

Aber war es wirklich so dramatisch, das man Spione einsetzen musste? Wir hielten an, um eine Kutsche passieren zu lassen und ich sah zu, wie die vom Schnee feuchten Reifen Striche auf dem Boden hinterließen. Würde es nicht immer anders denkende, Rebellen geben? Der Kampf der Inquisition war endlos, solange Menschen denken konnten, so viel war klar.

Als wir den Tunnel zur Rum-Marie erreichten blieben wir stehen und aufmerksam sah ich dem Mann vor mir entgegen. Etwas beschäftigte mich, noch stärker, als zuvor.

„Nevar? Ihr sagtet, die Welt würde ihre Gottesfurcht verlieren. Ihr sagtet, ich solle mich von ihr lösen, um kein Sklave meiner Angst zu sein. Ist es nicht das, was Domenico verhindern will? Solche Lehren?“

Mein Gegenüber grinste leicht. Ich sah, wie er den linken Mundwinkeln etwas hoch hob und seinen oberen, auffällig weißen Schneidezahn freigab. Mehr von seinem Gesicht konnte ich aufgrund des Schattens nicht erkennen und für einen Moment wünschte ich mir, ihn doch zum Essen eingeladen zu haben.

„Ihr denkt zu viel, Falcon.“

„Das ist gut möglich.“, gab ich zu und nickte nachdenklich, dann sah ich ihn wieder an. „Aber es ist mir ernst. Ich möchte wissen, wo ich stehe. Ich habe nicht das Gefühl, dass Ihr wirklich unter Domenico steht und möchte nicht in einen Verrat geraten, der mit mir nichts zu tun hat. Ihr sagt, ich solle mich von meiner Gottesfurcht lösen, er sagt, ich solle dafür kämpfen, sie wieder zu verbreiten. Ihr versteht sicherlich meine Lage und gewiss würde ich Euch nicht verraten, solltet Ihr zu den Samaritern-...“

Sein Zischen unterbrach mich. Er hatte wieder seinen Zeigefinger erhoben, den kleinen Finger etwas ausgestreckt und die Hand leicht geöffnet. „Shht. Sprecht nicht weiter, ich weiß was Ihr meint, aber selbst dieser Gedanke könnte, laut, tödlich sein.“, dann ließ er seine Hand wieder im Umhang verschwinden. „Ihr solltet eines wissen, Falcon und Ihr wisst es sicherlich längst:

Ich teile nicht die Gedankengänge der Inquisition, nicht ihren Glauben und am wenigstens Ihre Sichtweisen. Ich bin gegen das Verbrennen von Hexen und Ketzern, so wie gegen die Reden der Priester, aber das ist richtig so und Domenico weiß davon. Ich habe ein Recht dazu, so zu denken und so lange ich es nicht laut tue, so wie die Samariter, lässt man mich gewähren.“

„Aber wieso?“, wollte ich wissen. „Ihr arbeitet für die Inquisition, gerade Ihr solltet doch christlich sein!“

Nevars Grinsen wurde zu einem Schmunzeln. „Ich arbeite nicht für die Inquisition, ich arbeite für die Deo Volente. Und so lange meine Dienste diese zufrieden stellen, wird niemand mir einen Strick um den Hals binden. Falcon, tut euer Bestes, dann könnt auch Ihr solch einen Stand erreichen. Das wollt Ihr doch oder nicht? Freiheit? Frei denken zu können und frei zu handeln? Das war Euer Wunsch, wenn ich mich recht entsinne. Ein freies Leben, aufgebaut auf religiösen Säulen.“, er klopfte mir auf die Schulter und sah mich an. Sein Blick zeigte mir, dass er es durchaus ernst meine und dass seine Worte in Ratschlag an mich sein sollten: „Ihr denkt sehr viel, das ist nun einmal so. Also denkt immer zweimal nach, ehe Ihr etwas tut. Auf bald.“, dann drehte er ab und ging.

Ich blieb zurück und sah ihm nach, nicht ganz wissend, was ich von seinem Ratschlag halten sollte. Wollte er mich nun zu Domenicos Seite ziehen, auf die der Samariter oder auf eine ganz andere, vielleicht mir unbekannte? Die Samariter versprachen das, was man Freiheit nannte, aber gewiss hatte auch die Inquisition viele gute Seiten. Ohne sie wäre Brehms wie Annonce, heruntergekommen und gottlos. War ich etwa Teil eines Machtkampfes geworden? War ich Teil einer Macht geworden, die Rebellen nieder strecken wollten und war ich selbst an diesem Vorhaben beteiligt? Wollte ich überhaupt helfen, das Volk zu unterdrücken, so, wie man mich jahrelang unterdrückt hatte? Nevar hatte Recht: Ich hatte mir ein christlichen Leben gewünscht, in Freiheit. Aber war ich wirklich zufrieden?

Oder wollte ich sämtliche Regeln brechen und damit eine neue Ordnung schaffen, gleichbedeutend mit Machtkämpfen und Chaos?

Ich wusste nicht, welche Seite mir nun am meisten entsprach und für welche ich mich am Ende entscheiden würde, aber eines wusste ich ganz genau:

Egal auf welcher Seite ich am Ende stand, es würde viel Kraft brauchen, dazu zu stehen und dabei zu bleiben.

Viele Warnungen und Ratschläge

Ich wandte mich irgendwann ab und ging in den Tunnel zur Rum-Marie. Umso näher ich kam, desto wärmer wurde es und das Gefühl der Heimkehr überkam mich. Ich fühlte mich wohl und ich mochte es, die Tür zu öffnen, den Blechkrug klimpern zu hören und den Geruch von warmen Speck zu riechen. Ich mochte die Rum-Marie, mein Zuhause und Brehms.

Sollte ich das wirklich alles aufs Spiel setzen?

Es erschien mir absurd, für etwas zu kämpfen, vor was ich fliehen musste. Tat ich das nicht? Kämpfte ich nicht dafür, dass Menschen wie O'Hagan nicht an Macht verloren?

Ich konnte mir damit eine eigene Zukunft aufbauen, ein Leben in Freiheit, aber würde ich mich damit wirklich frei fühlen? Würde ich mich wohl fühlen, mit einem Leben als Verräter?

Denn es war nichts anderes als Verrat. Allerdings, wenn es stimmte, was Domenico sagte, dann hatte Annonce die Chance, zu einer Stadt wie Brehms heran zu wachsen. Die Inquisition konnte nicht schlecht sein, wenn durch ihr Handwerk ein Ort wie diese Stadt entstand, sauber, voller Kunst und fast gewaltfrei.

Als ich mein Zimmer betrat, fand ich zwei Briefe auf meinem Kopfkissen vor. Mir war klar, dass sie von Nevar stammten und es verwunderte mich, dass sie bereit lagen, obwohl niemand hatte wissen können, dass ich weiterhin für Domenico arbeiten wollte. Wie ich es mir gedacht hatte, handelte es sich um Aufzeichnungen über Edgar und Gilian. Seufzend ließ ich mich auf die Strohmatratze sinken und öffnete sie nacheinander.

Im ersten Brief ging es um den dreiundvierzigjährigen Mann namens Edgar Lynch. Er war kinderlos, so wie unverheiratet und galt als Hurenbock. Wohnen tat er im oberen Stockwerk des Gasthauses Zum Genickbruchbalken. Ich stutzte etwas über den Namen, dann las ich weiter. Er unterhielt geschätzt zehn Frauen, jedoch war diese Hurerei nicht gemeldet. Als Anmerkung wurde erwähnt, dass Edgar regelmäßig Informationen über manche seiner Kunden preisgäbe, weswegen ich es vermeiden solle, einen Wachmann in irgendeiner Weise auf ihn aufmerksam zu machen. Er galt als wichtiger Informant und durfte unter keinen Umständen Schaden nehmen. Sollte er sich als Samariter herausstellen, galt es, umgehend mit Domenico Rücksprache zu halten. Er galt als brutal, schnell reizbar, jähzornig, unberechenbar und falsch.

Mir blieb demnach nichts anderes übrig, als ihn auszuspionieren oder in seinen Zimmern herum zu schnüffeln. Eine Befragung dürfte sich bei einem Mann seines Kalibers sicherlich als schwierig herausstellen. Ich stellte mir einen großen, muskulösen Kerl vor, der Frauen in Wirtshäuser prügelte und sich mit jedem schlug, der es drauf anlegte. Morgan war laut meiner Vorstellung nichts gegen ihn und selbst mit dem bin ich kaum allein fertig geworden. Ich wollte jeden direkten Kontakt mit ihm vermeiden, so weit es ging.

Im zweiten Schreiben ging es um Gilian Daly. Über Gilian gab es viel zu sagen, so hatte es zumindest den Anschein, denn vor mir lag die gesamte Biografie des siebenundzwanzigjährigen Mannes. Sie begann in einem Dorf namens Caysale, nicht weit entfernt von Annonce, wo er als Junge eines Bauern zur Welt kam. Dieser war der gute Freund eines Händlers namens George Fynn, der den jungen im Alter von neun Jahren mit auf eine Händlerreise nahm, um aus ihm einen anerkannten Kaufmann zu machen. Das Kind erwies sich jedoch als äußerst untalentiert.

Durch einen Überfall verlor der Händler letzten Endes sämtliche Waren und kam ums Leben, der junge Gilian überlebte als einziger und irrte ziellos in St. Katherine umher von Stadt zu Stadt. Aus Angst vor der Strafe seines Vaters, da er nach drei Jahren noch immer nichts erreicht hatte, arbeitete er in verschiedenen Gasthäusern und Schenken, sparte sich ein kleines Vermögen zusammen und versuchte sein eigenes Glück als Händler. Natürlich schaffte er es nicht, Profit zu machen. Im gleichen Jahr starb sein Vater, sein letztes Familienmitglied und er verkaufte sämtlichen Besitz der Familie, inklusive Haus, Tiere und Land. So bekam er eine zweite Chance und arbeitete sich stückweise mit den Waren hoch. Mittlerweile galt er als zweitklassiger Verkäufer und wurde von den meisten anderen gemieden, da seine Waren oft gefälscht waren. Er hatte ein eigenes Geschäft mit dem Namen Goldenes Glück.

Gilian Daly war der größte Rivale von Luke gewesen, denn Luke und er wandten meist die gleichen Methoden an, um an Geld zu kommen. Sein Charakter wurde in etwa – wenn auch nicht wortwörtlich - wie folgt beschrieben:

Ein absoluter, durchtriebener Pechvogel. Als letztes gab es noch genauere Beschreibungen zu seinem Aussehen.

Seufzend schloss ich die Briefe wieder und legte sie unter mein Kopfkissen. Verbrennen würde ich sie erst am Morgen, jetzt brauchte ich Ruhe. Keiner der beiden Männer lockte mich wirklich an und weckte in mir das Gefühl, aufzustehen zu wollen und sich auf ihr Privatleben zu stürzen. Mir erschien es verquer, schon wieder Menschen zu belauschen, die mich nicht interessierten und Dinge herauszufinden, die mich nichts angingen. Ich wollte das nicht. Umso länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass ich diese Arbeit zu hassen begann. Ob es Nevar wohl Spaß machte?

Ich legte mich ins Bett, ohne mit jemanden zu reden und spürte noch vor dem Einschlafen einen unglaublichen Schmerz im Kopf. Er hielt bis zum Morgen an und das pochende Gefühl in meinen Schläfen begleitete mich durch den gesamten, darauf folgenden Tag. Es fiel mir schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und meine Augen schienen unter den Schreibaufgaben mehr zu leiden, als mein müdes Handgelenk. Meister Pepe bemerkte meinen Zustand, aber selbst er verlor langsam seine Geduld mit mir. Meine häufige Müdigkeit und meine Gedankengänge begannen, meine Arbeit zu beeinflussen. Ich vertauschte Buchstaben oder verrutschte in Zeilen, manchmal nahm ich die falsche Tinte oder stellte mich schon beim Zusammenmischen dieser völlig unfähig an. Ich sah in seinen Blicken, dass er meine Arbeiten nicht mehr gut hieß und dass ich mich anstrengen musste, wollte ich meine Arbeit bei ihm behalten, auch wenn er es nicht direkt sagte. Dieser zusätzliche Druck bereitete mir noch mehr Kopfschmerzen, als ohnehin schon. Was sollte ich tun, wenn ich meine Stelle bei ihm verlor und wie sollte ich es schaffen, nebenbei Informationen über Edgar oder Gilian herauszufinden?

Gegen Abend hin dann ging ich auf einem langen Spaziergang nach Hause, da ich die Hoffnung hatte, die frische Luft würde meine Schmerzen etwas mildern. Mich beschäftigte die Frage, was geschehen würde, würde Domenico sterben. Er war ein alter Mann, sogar sehr alt. Was, wenn er einfach weg war? Wem diente ich dann? Der Deo Volente, so wie Nevar?

Bis auf ihn und Domenico kannte ich niemanden von dort. Was sollte ich tun, wenn der Rest gar nicht einverstanden mit dem Handeln des Alten war und nach fast einem Jahr würde er unsere Welt verlassen und ich stand alleine da? Ich hatte dann noch immer keinen Freispruch von meinen Sünden.

Allerdings, und dieser Gedanke gefiel mir, hatte ich dann noch immer die Geburtsurkunde als Falcon O'Connor. Nevar würde mich sicherlich nicht verraten und ich könnte, wenn die Deo Volente vielleicht nicht einmal etwas von mir wusste, einfach als Falcon weiter leben. Ich ging gedankenverloren den Marktplatz entlang und musterte jeden einzelnen Stand. Wenngleich ich mich an die Stadt Brehms gewöhnt hatte und ihre Architektur und Bauwerke immer mehr an Zauber verloren, so waren die vielen Stände mit ihren fremden Menschen und Waren noch immer etwas Besonderes für mich. Ich liebte es, Neuartiges zu entdecken, das ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Seien es Früchte, Schmuckstücke oder Tonwaren, es gab so vieles. Mit der Zeit glichen die Stände immer mehr den anderen und der Reiz, an jedem anzuhalten um zu gucken schwand, aber umso mehr machte es Spaß, nach neuen Dingen Ausschau zu halten.

Ohne es zu merken ließ ich eine längere Strecke hinter mir, als jemals zuvor. Ich sah mir sogar die hintersten Stände an und bog in mir unbekannte Gassen ein, nicht wissend, wohin genau ich eigentlich wollte. Ich passierte die Stadtmauer, lief sie einige Zeit entlang und schlenderte durch die ärmlicheren Viertel. Der schwindende Winter ließ die Sonne länger scheinen und lange Zeit genoss ich es, wieder einige ihrer Strahlen auf meinem Gesicht zu spüren. Ich kam vorbei an einigen Bettlern, die mich anflehten, ihnen etwas Geld oder Essen zu geben, meist Frauen und Kinder mit verstümmelten Armen oder Beinen; ich sah einen Maler, der sein Glück versuchte, indem er die verschiedensten Dinge aufzeichnete, von Katzen bis hin zu jungen Waschweibern; eine tanzende Zigeunerin mit ihrem kleinen Bruder, der auf einer Holzflöte spielte ließ mich kurze Zeit innehalten und irgendwann erhob sich gigantisch hoch ein steinerner Turm vor mir. Ich hatte das Ende der Stadt erreicht, das wurde mir nun umso bewusster. Ich legte den Kopf in den Nacken und musterte das zylinderförmige Gebäude, mich fragend, was genau es wohl war. Dass es eine Art Gefängnis darstellen sollte, war mir bewusst, mehr aber auch nicht. Die wenigen Fenster waren vergittert und das Dach lief spitz zu, so hoch, dass ich sie von meiner Position aus nicht erkennen konnte. Der Turm verlief weiter in den Stadtwall hinein und verschmolz mit ihm, als hätte man die Mauer und das Gebäude gleichzeitig gebaut. Schweigend ging ich daran vorbei, grüßte höflich die zwei positionierten Soldaten am Eingang und warf einen Blick zu den sich am Boden befindenden Fenstern. Ich erkannte zwei Arme, die sich zwischen die Gitterstäbe drängten, die Hände aufhielten und eine krächzende Stimme verlangte kaum hörbar:

„Eine Spende. Man hat mich reingelegt, eine Spende. Ich bin zu unrecht hier, bitte, eine Spende.“

Nun verstand ich: Es war der Schuldturm. Jene, die ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, wurden hier eingesperrt, bis die Beträge beglichen waren.

Ein kurzer Blick zu den Wachen, der mir zeigte, dass diese die Frau nicht einmal beachteten. Wahrscheinlich war sie nicht fähig, das Geld abzuarbeiten, also durfte sie betteln, bis sie den Betrag beisammen hatte. Ich hockte mich zu ihr und sofort packte sie mein Hosenbein. Ich sah schrammen auf ihrer rauen Haut, blaue Flecken und ihre Knochen traten leicht hervor. Zwischen den Gittern sahen mich helle, blaue Augen an aus einem verdreckten, schwarz gefleckten Gesicht mit wirrem, hell weißem Haar an. „Eine Spende, ich bitte Euch!“

„Sagt mir, was geschehen ist.“, bat ich sie ruhig, ihre dreckige Hand ignorierend. Ihr Alter musste um die fünfzig sein, ihre Haut war unter dem Schmutz faltig und mit Altersflecken übersäht.

Die Frau krächzte wie im Wahn: „Mein Mann und ich wurden herein gelegt, mein Herr, bitte glaubt mir! Wir sind ehrenhafte Leute, wir haben nichts Böses gewollt, bei der Jungfrau Maria! Betrunken gemacht hat er meinen Mann und dann seinen Namen unter den Vertrag gesetzt. Niemals haben wir ihn gesehen, ich gebe Euch mein Wort, beim heiligen Jesu'!“, ihr Griff wurde etwas fester. „Nun müssen wir dreihundert Goldstücke zahlen, der Herr, dreihundert! Dabei besitzen wir nicht einmal zwanzig Silberlinge, von denen man leben könnte. Eine Spende, ich bitte Euch!“

„Wo ist Euer Mann jetzt?“, hakte ich nach und löste mich nun doch etwas, da ihre langen Nägel schmerzten. Ich bekam Mitleid mit der Frau und es wurde mir unangenehm, ihr so nahe zu sein.

„Im Tretrad der Mühle, Herr, er arbeitet für unsere Freiheit, wie ein frommer Mann es tut.“

„Wenn das so ist, will ich Euch helfen. Wer sich nicht selbst aufgibt, ist sich meist keiner Schuld bewusst.“ Ich richtete mich wieder auf, griff in meine Tasche und zog einige Silberlinge hervor. Einer der Soldaten warf mir einen kurzen Seitenblick zu und nachdem er gesehen hatte, dass es nur Geld war, nickte er zum Zeichen seiner Erlaubnis. Kaum hatte die alte Frau das Geld in ihrer Hand, packte sie meine Hose erneut und riss mich zu sich. Es wirkte, als hätte sie Angst, ich würde gehen, ohne ihren Dank zu hören. Gefügig ließ ich mich wieder sinken, nun griff sie meine Hand.

„Eure Güte ist unendlich, mein Herr. Größer, als die des Allmächtigen, der mich so hart bestraft!“

Ich schwieg einige Sekunden lang, nicht wissend, was ich sagen sollte. Es schien mir falsch, mich als gütiger hinzustellen, als der Herr persönlich es war. Dann flüsterte ich: „Die Güte des Herrn reicht so weit, wie der Himmel, Weib. Meine jedoch nur bis zu diesem Gitterfenster. Hättet Ihr verwildert vor mir gestanden, ich hätte Euch nichts gegeben. Was mir leid tut, sind Eure Arme, mehr nicht.“

Sie ließ nicht los und ihre blauen Augen wurden wissend. „Ihr seid einer aus Annonce, das hört man.“

„Vielleicht.“, gab ich zu.

„Ein Gelehrter? Mönch vielleicht.“, in die Stimme der Gefangenen mischte sich

Spott. „Gewiss gebt Ihr mir Geld, dass Eure Sünde Euch vergeben wird. Richtig?“

„Ihr werdet höhnisch.“, stellte ich fest, griff ihre Hand und versuchte sie zu zwingen, los zu lassen. „Ich habe Euch gerade ein Stück Eurer Freiheit gegeben, Ihr solltet dankbar sein, statt voller Hohn.“

„Ich bin nicht höhnisch.“, zischte sie mir zu, ihr Griff wurde fester. „Hört mich an. Wenn ihr wirklich ein Mönch seid, so folgt Ihr dem falschen Glauben.“

„Ach ja?“, ich gab nach.

Nun hörte ich ein Grinsen. „Oh ja. Gott hat uns verlassen, seht mich an. Ich habe nichts getan und werde gestraft für mein Sein, ist das Rechtens? Das ist niemals rechtens, da sind wir uns einig. Ich bin nur ein Weibsbild, das gebe ich zu, aber eines weiß ich: Recht ist das nicht.“

„Wenn Euer Mann trinkt und Euch in Schuldschaft bringt, dann ist es richtig, dass Ihr dafür zahlt.“, sagte ich ernst. „Ich sehe keinen Zusammenhang zum Allmächtigen. Lasst mich los.“

„Hört mich an.“, forderte sie erneut. Der Wachmann warf uns einen mürrischen Blick zu, das Gespräch dauerte ihm zu lange, mir ebenso. Es wurde mir unangenehm und ich bereute es, mich zum Fenster gehockt zu haben. „Der Herr im Himmel ist gütig, Ihr sagtet es selbst. Sieht dies hier wie Güte für Euch aus?“

Ich schwieg abermals und umfasste ihre eiskalte Hand etwas fester, damit sie los ließ. Nachdem ich frei war, knurrte ich gereizt: „Was soll das, wollt Ihr mich zur Ketzerei verführen und mich mit in Euren gottlosen Abgrund ziehen?“

„Sieht so Güte für Euch aus?“, wiederholte sie nur.

Ein leiser Seufzer meinerseits. „Ihr habt Böses getan, nun müsst Ihr Euch davon befreien, so ist es eben.“

„Ich sage, der Herr bestraft uns nicht, er belohnt uns.“, zischte sie mir zu. „Ich glaube, die Güte des Herrn geht über Seelenheil hinaus. Ich glaube, ich muss nicht Buße tun, um rein zu werden. Ich glaube, ich muss nur lieben und ehren.“, sie hielt inne, doch da ich nichts sagte, erklärte sie mir: „Hör mir zu, Mönch, du hast ein offenes Ohr dafür. Sonst wärst du gegangen und hättest mir keine Beachtung geschenkt. Hör mir zu und verstehe.“

„Ich bin kein Mönch und Ihr habt kein Recht, mich so anzureden.“, sagte ich genervt und wollte aufstehen, doch etwas in mir hielt mich auf. Ich wollte weiter lauschen, was sie mir zu sagen hatte.

Die Hexe erklärte leise: „Es ist gelogen, was man uns sagt, dass wir fromm sein müssen durch und durch und sonst in die Hölle kommen. Gott ist Gott, wir sind nur Menschen. Er ist unfehlbar, wir aber nicht. Ich sage, es ist richtig so, dass wir Fehler tun, da wir Menschen sind. Und nun geh. Und dann komm wieder zu mir, gib mir etwas Essen und Geld. Vergiss nicht, wir sind Bruder und Schwester, du und ich. Geh und denke darüber nach, mein Junge, du wirst sehen, wie ich Recht habe.“

„Vielleicht habt Ihr das, vielleicht nicht.“, zischte ich ernst und beugte mich ein Stück näher. „Aber gewiss kommen diese Gedanken nicht von einem dummen Weibsbild wie dir. Wer hat dir diese Sachen gesagt?“

Sie grinste und hielt mein Hosenbein. Nun, wo ich etwas näher war, erkannte ich ihren fast zahnlosen Mund. Über ihre linke Wange kroch eine Fliege, die sie nicht einmal zu bemerken schien und ihre Augen waren glasig und feucht, aufgrund von Krankheit. „Er wird uns befreien, das ist wahr, aber eines ist doch sicher: Alle Menschen sind gleich, egal ob Priester oder Bauer.“

„Wer dir das beigebracht hat, will ich wissen!“, wiederholte ich abermals. Das Weib ließ mich los und ihre Arme verschwanden im Turminneren. Ich blieb lange hocken und wartete, doch sie kehrte nicht zurück. Es war offensichtlich, dass ich es mit einer Vertreterin des Irrglaubens zu tun hatte, den die Samariter verbreiteten, doch diese Tatsache brachte mir nichts, wenn zwischen ihr und mir eine dicke Steinwand war. Nach einigem Warten verabschiedete ich mich höflich von den Wachen und ging weiter. Die Worte der Frau konnte ich nicht vergessen, auch wenn ich unschlüssig war, ob ich es mit einer Verrückten zu tun hatte. Ich beschloss den Heimweg anzutreten, denn das Dämmerlicht verriet die baldige Nacht und es dauerte nicht lange, da sah ich bereits den Lampenanzünder. Ich beobachtete, wie er von Laterne zu Laterne ging oder zumindest zu denen, die nicht zu den Geschäften oder Wohnhäusern gehörten, denn um diese kümmerten die Bewohner sich selbst. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass hier alles seine Ordnung hatte. Schuldner wurden nicht zu Tode geprügelt und ihr Hab und Gut einfach konfisziert, nein. Sie wurden eingesperrt und bekamen das Recht, sich frei zu kaufen, mit dem Bezahlen ihrer Schulden. Ketzer wurden nicht hingerichtet und öffentlich zur Abschreckung ausgehängt oder eingesperrt, sondern wurden verurteilt, getötet und beseitigt. Es war durch und durch eine angenehmere Atmosphäre, als in Annonce. Die alte Frau ging mir nicht mehr aus dem Kopf und meine Gedanken schwirrten zwischen der Deo Volente und den Samaritern hin und her. Vielleicht irrte ich mich auch und sie hatte mit der blasphemischen Gruppierung nicht das Geringste zu tun. Vielleicht war sie eine Hexe, wie all die anderen auch und sonst nichts weiter. Aber auf jeden Fall hatte sie Unrecht. Es erschien mir falsch, über ihre Worte nachzudenken, also zwang ich mich, sie aus meinem Hinterkopf zu vertreiben. Ich hätte nicht zuhören sollen und nun sollte ich auf keinen Fall darüber nachdenken, was ich gehört hatte. Wenn sie Schuld trug, so verdiente sie Strafe.

Ich brauchte länger, den Heimweg zu finden, als geplant, da ich mich verlief und kurzzeitig in einem Nebenviertel umher irrte, für das es nur einen Ein- und Ausgang gab. Es war irritierend hinter jeder Ecke nur eine Sackgasse zu finden und erst nach einer halben Stunde zu merken, dass ich mich in einem Hufeisenförmigen Häuserbezirk befand. So lange ich auch bereits in Brehms lebte, vieles erschien mir noch genauso fremd wie am ersten Tag.

Doch durch meine dauerndes Abschweifen vom Weg traf ich auf jemanden, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich war gerade dabei, den kompletten Weg zurück zu gehen, um endlich dem Wirrwarr aus alten Gebäuden zu entkommen, da erblickte ich eine Gestalt etwas weiter hinten am Straßenende. Ein junger Mann mit bräunlichem Haar und Ohrring in der Ohrmuschel – Slade.

Der Mann, dem ich bei meinem Einbruch in den Allerlei-laden begegnet bin. Die Wachmänner hatten ihn gesucht, da er im Kupferfachhandel nebenan gestohlen hatte und nun lief er gemächlich vor mir die Straße entlang und bog in die nächste Ecke ab.

Ich fackelte nicht lang, sondern setzte mich in Bewegung und vergaß die Rum-Marie und auch die alte Frau. Neugierde beherrschte mich und so begann ich eine Verfolgung.

Slade ging quer durch alle möglichen Gassen und seine Wege schienen auf mich kaum Sinn zu machen. Es wirkte, als wüsste er selbst nicht, wohin er eigentlich wollte, aber das machte es umso interessanter. Vielleicht wollte er sich heimlich mit jemandem treffen und mich abhängen, vielleicht plante er wieder einen Einbruch?

Es wurde immer dunkler und kurz glühte der Himmel zwischen den Häusern sanft orange, ehe die Sonne vollkommen verschwand. Slades Gestalt wurde schwerer zu erkennen und ich musste den Abstand zwischen uns verringern. In meiner Fantasie führte er mich in das illegale Viertel, dass es in fast jeder Stadt gab. Dorthin, wo ich Edgar fand und dorthin, wo die Samariter lebten. Slade war ein Dieb, ein Verbrecher und es konnte hilfreich sein, durch ihn Hehler oder andere dieser Klasse zu finden. Wo fand man bessere Informationen, als im Nest der Gesetzlosen?

Doch dann verschwand er.

Verwirrt stand ich mitten in einer Sackgasse, umgeben von drei Häuserrücken, so hoch, dass ich nicht einmal den Himmel mehr sehen konnte. Ich sah mich unsicher um, doch es gab weder Türen, noch niedrige Fenster. Slade hatte sich in Luft aufgelöst. Weder gab es große Schatten, in denen er sich verstecken könnte, noch Tonnen, Kisten oder Dreckhaufen. Ich seufzte schwer, hatte ich mich verguckt? War er woanders abgebogen und ich hatte einen imaginären Schatten verfolgt? Hatte ich geträumt und nicht aufgepasst, wo er lang gegangen war?

Jemand riss mich herum und versetzte mir einen Fausthieb, der mich von den Füßen warf, mehr aus Schreck, als aus Schmerz heraus. Ich landete unsanft auf meinem Hinterteil und verwirrt guckte ich mitten auf Slades Messerspitze. Dieser ließ den Stoffsack neben sich fallen, mir die Waffe demonstrativ entgegen haltend und fragte zischend: „Wieso verfolgt Ihr mich?!“

Sofort hob ich die Hände. „Ich verfolge Euch nicht.“

„Ihr seid ein Meuchler.“, zischte er mir entgegen und drehte kurz das Messer in seiner Hand. „Also? Wer hat Euch dafür bezahlt, mich zu töten?!“

„Ich bin... was? Meuchler, töten?“, vorsichtig wollte ich mich aufrichten, doch die Messerspitze rückte unmittelbar zwischen meine Augen. Mit abermals erhobenen Händen ließ ich mich wieder in den Schnee sinken. Slade wirkte aggressiv, aber keineswegs nervös.

„Ich kenne Euch: Ihr seid der Mann aus Annonce, der in Scheiße getreten ist.“

„Wie schön, dass ich Euch sympathisch genug erschien, um Euch mein Gesicht zu merken.“, murmelte ich sarkastisch.

Der Dieb ignorierte meine Bemerkung. „Ihr habt Luke Caviness getötet und nun bin ich dran. Was ich nicht verstehe ist: Wieso? Ihr seid ein Mörder, ich weiß es, also redet. Wieso wollt Ihr mich töten, hä?!“

Jetzt ging mir ein Licht auf. Slade wusste, dass ich über die Mauer geklettert und in Lukes Laden eingebrochen war. Dass er eine Woche darauf tot aufgefunden wurde und ich somit der Mörder bin, war eine logische Schlussfolgerung. Kopfschüttelnd versicherte ich ihm:

„Ich habe Luke nicht umgebracht. Er hat mich rein gelegt und ich bin eingebrochen, um mir mein Geld zurückzuholen, mehr nicht. Das ist alles.“

„Ihr habt sein Schloss geknackt.“, knurrte Slade bissig. „Das kann kein normaler Bürger.“

„Bürger aus Annonce schon.“, knurrte ich zurück und sah ihn düster an. Slade schien nachzudenken. „Ich komme aus Annonce, schon vergessen? Genau genommen aus einem Waisenhaus. Schlösser knacken und Stehlen, das wurde mir förmlich in die Wiege gelegt.“

Mein Gegenüber zögerte weiterhin. Slade war sich nicht sicher, ob ich ihn rein legen wollte, aber ich glaubte zu merken, dass er sich an die tollpatschige Gestalt erinnerte, die unbeholfen an der Wand hing und nicht hinüber kam. Das konnte unmöglich ein ausgebildeter Meuchler gewesen sein. Dann ließ er das Messer endlich sinken. „Nun gut. Mehr als Euch bedrohen kann ich ohnehin nicht.“, dann hielt er mir die Hand entgegen. Ich nahm an und ließ mir aufhelfen. Während ich den Schnee von meiner Kleidung klopfte, das Messer in seiner anderen Hand aufmerksam im Winkelblick beobachtend, erklärte ich: „Aber es wäre auch wirklich unnötig, ich habe kein Interesse daran, irgendjemanden umzubringen. Ich bin ein einfacher Kopist, der sich bei Euch für Eure Hilfe bedanken wollte, mehr nicht.“, der Mann schwieg nur und betrachtete mich aufmerksam. Es machte mich nervös, dass er das Messer noch immer in der rechten Hand hielt. Mir wäre es lieber, würde er es endlich weg stecken und sein Gesicht wieder zu dem eines hilfsbereiten Weggefährten werden. Freundlich streckte ich ihm meine Hand entgegen, um etwas Besseres aus unserer Situation zu machen. „Also... Danke. Mein Name ist Falcon, Falcon O'Connor.“

Er zögerte abermals einige Sekunden, dann steckte er das Messer endlich in seinen Gürtel und ergriff meine Hand. „Keine Ursache. Mein Name ist Will.“

„Slade.“; korrigierte ich höflich, ohne ihn los zu lassen.

Sein Mund formte ein amüsiertes Grinsen. „Dann wohl Slade. Ihr kennt mich, also?“

„Nur vom Hören.“

„Ich hoffe, man hört nur Gutes?“, scherzte er und wollte sich lösen. Ich ließ ihn und grinste.

„Eher gar nichts, bis auf den Namen. Nun und dass Ihr gern Kupfer klaut.“

„Und Ihr mordet gern.“, stellte er fest. Slade bückte sich und griff nach seinem braunen Stoffsack.

Unsicher sah ich ihn an. „Nein, tue ich nicht. Ich bin Kopist, wie gesagt.“

„Eben, wie gesagt.“, nachdem er sein Gepäck wieder über dem Rücken hatte, grinste er mir unverhohlen entgegen. Ich registrierte einen goldenen Zahn, oben links in seinem Gebiss. „Ihr sagtet ‚Ich habe Luke nicht umgebracht.’ Ihr hättet aber auch sagen können ‚Ich habe niemanden umgebracht’ oder ‚Ich bin kein Mörder’. Habt Ihr aber nicht. Ihr sagtet lediglich, dass Ihr Luke nicht getötet hättet. Mir ist es gleich, aber haltet Euch fern von mir.“, mit diesen Worten drehte er ab und wollte gehen.

Ich stand da, als hätte er mir gerade gesagt, der Papst hätte geheiratet und Zwillinge mit seiner Frau gezeugt, so sehr war ich vor den Kopf gestoßen. Erst nach einigen Sekunden konnte ich ihm nachgehen und war nicht sicher, ob ich tun sollte, als hätte ich kein Wort verstanden oder es zugeben und auf Freundschaft hoffen. Stattdessen ging ich schweigend hinter ihm her und ließ mein Hirn rattern, in der Hoffnung auf eine rettende Idee. Nach einigen Schritten blieb Slade stehen und drehte sich wieder zu mir, seine linke Augenbraue hatte er spöttisch hoch gezogen. „Ihr lauft mir schon wieder nach, was soll das? Seid Ihr ein Irrer oder so etwas?“

Auch ich hielt wieder. „Ähm, nein, ich hoffe nicht.“

„Warum verfolgt Ihr mich dann?“

Ein verlegenes Lächeln trat mir ins Gesicht. „Ich fürchte, ich habe mich verlaufen.“

„Verlaufen?“, Slade lachte. „Ihr habt Euch verlaufen?“, dann grinste er wieder. „Aber ich bezweifle, dass Ihr Euer Haus findet, indem Ihr mir hinterher lauft.“

Ein leichter Windstoß trug die Laute eines weinenden Kindes zu uns herüber und mit einem Mal gruselte es mich. Wir standen noch immer zwischen Häuserrücken und es war unheimlich, in einer leeren Sackgasse Kinderlaute zu hören. Ohne es zu wollen, sah ich mich um und flüsterte:

„Ich habe kein eigenes Haus.“

Mein Gegenüber glaubte mir kein Wort. „Ihr seid Kopist. Kopisten verdienen verdammt gut, selbstverständlich habt Ihr ein Haus.“

„Habe ich nicht.“, versicherte ich ihm.

„Dann eine Wohnung.“

„Ich habe ein Zimmer gemietet, in der Rum-Marie.“

Slades Augenbrauen hoben sich nun beide in die Höhe. „In der Rum-Marie? Also seid Ihr kein Kopist.“

„Ich bin Kopist.“

Der Dieb seufzte und kratzte sich den Kopf, als hätte er es mit einem geistig verwirrten zu tun. „Wenn Ihr ein reicher Kopist seid, wieso um alles in der Welt mietet Ihr ein Zimmer in solch einem Loch?“, dann sah er meinen hilflosen Blick. Ich wusste keine Antwort mehr und hatte keine Idee, wie ich ihn davon überzeugen sollte, dass dies die Wahrheit war. „Also gut.“, murmelte er dann etwas aufmunternd. „Ich werde Euch ein Stück bringen, bis Ihr wieder wisst, wo Ihr seid. Aber ab dort lasst mich bitte in Ruhe. Es ist nicht gut für mich, mit Euch gesehen zu werden, kapiert?“

„Verstanden.“, er ging weiter und ich folgte, darum bemüht, neben ihm zu laufen. Slade hatte ein ausgesprochen langsames Tempo. Er ging gemächlich und schlendernd, als würden wir einen Spaziergang machen. Ich verstand nicht wieso, aber ich fühlte mich wohl bei ihm. Er war mir sympathisch, er hatte scheinbar Humor und freundlich war er auch. Dennoch wagte ich es kaum, ihn auszufragen. Eigentlich war ich Slade aus Neugierde heraus gefolgt. Ich hatte viele Fragen an ihn: Wieso er stahl, woher er kam und wieso er nachts herum lief, aber keines meiner gedachten Worte trat über meine Lippen.

Wir gingen fast den kompletten Weg zurück, bis wir das hufeisenförmige Viertel endlich hinter uns ließen und auf die größeren Straßen zurücktraten. Ich hatte damit gerechnet, dass Slade etliche Geheimpfade nutzen würde, versteckte Wege und verwinkelte Gassen, schließlich war er ein Straßendieb. Stattdessen gingen wir über die Haupt- und Marktstraßen, als wären wir ganz normale Bürger dieser Stadt. Mehrmals warf ich ihm einen Blick zu und musterte sein geschlitztes Ohr und den goldenen Ohrring darüber. Er war in einer Gilde gewesen, aber verstoßen worden. Welche Gilde würde denn so jemanden wieder aufnehmen? Keine mir bekannte – außer vielleicht die Deo Volente. Allerdings gab es dort keine Ohrringe, die zur Kennzeichnung dienten. Vielleicht war Slade auch verstoßen worden, fälschlicher Weise und anschließend wieder aufgenommen?

Auf dem Platz des alten Henrys hielten wir und Slade streckte mir die Hand entgegen. „Ab hier werdet ihr wissen, wo lang Ihr müsst.“

Lächelnd schüttelte ich seine warme Hand. „Ich danke Euch.“

„Keine Ursache. Ihr seid ja noch nicht so lange in Brehms, schätze ich. Grüßt die Deo Volente von mir, dort gehört Ihr doch hin?“

Instinktiv zog ich fast sofort meine Hand zurück. „Was?“

„Ihr wirkt so, nur ein Gedanke.“, Slade warf seinen Rucksack auf seine andere Schulter und grinste. „Euer Blick, Eure Art. Ihr wirkt so. Wie ein Pfaffe.“

Unsicherheit machte sich in mir breit und ich musste mich zusammenreißen, um nicht misstrauisch zu wirken. Mit krauser Stirn und verständnislosem Blick schüttelte ich den Kopf, um möglichst ein glaubwürdiges Bild entstehen zu entlassen, gelingen wollte es mir jedoch nicht. „Das ist Unsinn. Ich habe mit der Deo Volente nichts am Hut.“, dann begann ich zu grinsen. „Ich verstehe. Ihr denkt, weil ich Kopist bin, aber recht arm lebe, dass ich sicherlich im Kloster-Skriptorium arbeite. Und da ich nicht dort lebe, muss ich wenigstens in der Deo Volente sein – Geld habe ich ja genug.“, in Slades Augen erkannte ich, dass ich Recht hatte und mein Grinsen wurde etwas breiter. Selbstbewusst hob ich die Hand und zeigte in eine der Gassen. „Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, aber ich arbeite im Schreibladen von Meister Pepe, dort die Straße hinunter.“, dann sah ich ihn wieder an. „Nichts Deo Volente und auch nichts Pfaffe.“

Slade zuckte mit den Schultern, ein wenig verlegen vielleicht und folgte meinem Zeig. „Nun, man kann sich irren. Meine Hellseher-Fähigkeiten sind nicht immer die Besten.“, dann grinste auch er. „Aber gut zu wissen, dass ihr nicht von dort kommt. Mit der Deo Volente habe ich nämlich so meine Schwierigkeiten.“

Das machte mich neugierig. „Wieso?“

„Na ja. Ihr seid nicht von hier, wenn ich es richtig verstanden habe, also will ich es Euch erklären. Die Kreuzer, die von der Deo Volente, die gehen neuerdings um und sammeln alles zusammen, was nicht mit Gottes großen Plan übereinstimmt.“, er beugte sich etwas vor und begann zu flüstern. Auch ich musste mich nach vorn beugen, um etwas zu verstehen, trotz dem Lachen einiger Männer aus einem Gasthaus, wenige Häuser weiter. Es schien, als würde der riesige Platz jedes leise Wort einfach verschlucken. „Neuerdings sind scheinbar alle in Aufruhr, keine Ahnung wieso. Aber wenn Ihr wirklich nichts mit ihr zu tun habt und in diesem Loch dort arbeitet, dann passt gut auf Euch auf. Sie suchen gerade sämtliche Leute zusammen, die auch nur verdächtig aussehen. Was mit ihnen passiert, weiß ich nicht, aber gut kann es nicht sein.“, kurz warf Slade einen Blick zum gemeinten Gebäude, dann sah er mich wieder warnend an. „Ein Bekannter, Bairre Clarke, er gehörte zu mir, klar? Nun nicht mehr. Er ist verschwunden, von heute auf morgen. Ich sage Euch, die Deo Volente hat irgendwas mit ihm angestellt. Nun redet er kein Wort mehr mit mir, ist total verrückt der Kerl.“

„Verrückt?“, nun, wo er mir so nahe stand, registrierte ich den starken und recht unangenehmen Geruch von Rauch auf seiner Kleidung. Ich versuchte, es zu ignorieren und sah unsicher in seine braunen Augen. „Wie meint Ihr das, verrückt?“

Slade zuckte nur mit den Schultern. „Er ist durchgedreht. Wenn ich zu ihm will, rennt er weg, als hätte ich ihn gebissen. Und er ist nicht der einzige, der so geworden ist, seid die Kreuzer ihn mitgenommen haben. Gebt bloß Acht.“, die letzten Worte hatte mir der Dieb förmlich zu gezischt, nun richtete er sich wieder auf. Ich sah, dass Slade es ernst meinte und nickte nur schweigend, da mir keine Antwort einfiel. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Warum sollten die Kreuzer Menschen verschleppen und warum sollten diese anschließend Angst vor anderen haben? Es war mir ein Rätsel.

Mein Gegenüber streckte mir abermals die Hand entgegen und nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, wünschten wir uns eine gute Nacht. Ich bedankte mich abermals, für die Hilfe, den Platz zu finden, doch er winkte nur ab.

Slade war ein komischer Kerl, das war mir nun umso klarer und ich sah eine Zeit lang zu, wie er quer über den Platz schlenderte. Dennoch war er mir sympathisch, er störte sich nicht daran, dass er mich nicht annähernd kannte. Er nahm die Dinge, wie sie kamen. Etwas, worum ich ihn beneidete.

Anschließend betrachtete ich wieder den alten Henry. Er stand unverändert da, mit erhobenem Schwert und Schriftrolle. Das wenige Mondlicht erhellte ihn gerade stark genug, um von unten seine tiefen Augenhöhlen zu erkennen. Ein Held der vergangenen Zeit, wenn ich es richtig verstanden hatte und nun war er als Statue auf diesem Platz und bewachte das Geschehen der Straßen. Ob Henry für solch ein Brehms gekämpft hatte? Ob Henry gewollt hatte, dass diese Stadt zu so einer Handelsmetropole heran wächst? Früher, zu seiner Zeit, war diese Stadt hier sicher weitaus kleiner gewesen. Es hatte vielleicht ein Dutzend Straßen gegeben, etliche Wohnhäuser und natürlich das Schloss, das er angesteuert hatte. Viele der Statuen in den Straßen stammten aus dem Jahr, in dem der alte Henry gestorben war und ihre Standorte zeigten, dass selbst das Königliche Gebäude sehr klein gewesen sein musste. Ja, früher war wohl alles sehr klein gewesen. Klein und überschaubar – keine Gilden, keine Deo Volente und keine Kreuzer, die Menschen verschleppten und niemand bekam es mit.

Mir kam der Gedanke, dass auch Nevar ein Kreuzer sein könnte. Vielleicht waren die Kreuzer ja keine Wachmänner, so wie die Patrouillen, die ich kennen gelernt hatte. Vielleicht waren sie Männer wie Nevar, die im Schatten lebten und alles beobachteten. Man könnte behaupten, ich wäre verschleppt worden, von Nevar, vor gut einem halben Jahr. Natürlich war ich freiwillig mitgegangen, aber hatte ich wirklich eine andere Wahl gehabt?

Ich sah mich um, aber nirgendwo war jemand zu sehen. Der gesamte Platz lag leer und dunkel vor mir, nur von wenigen Laternen erhellt. Keine Passanten, keine Patrouillen und auch keine Händler. Das war meine Chance.

Ich sah erneut zum alten Henry hinauf und zum muskulösen Pferd, dann begann ich, mich an dessen Zügel empor zu ziehen. Es war schwer und die Statue war kalt, doch ich schaffte es, auf den Sockel zu steigen. Ich hatte mich bereits bei meiner ersten Begegnung mit dem alten Henry gefragt, ob er wirklich so detailgetreu war, wie es den Anschein hatte – nun wollte ich es kontrollieren. Und so kletterte ich mühsam das Pferd hinauf, um einen Blick auf Henrys Schriftrolle zu werfen. Als ich oben war, sah ich mich abermals um.

Slade stand in einer der Laternenlichter, sah zu mir rüber und starrte mich an. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand in der Dunkelheit. Ich zögerte, ehe ich mich der Schriftrolle zuwandte. Es dauerte, bis ich die eingravierten Zeichen entziffern konnte und ich musste an manchen der Buchstaben reiben, um den Schmutz zu entfernen, doch dann konnte ich es lesen. Dort stand:

„Deo iuvante. Deo volente.

Oderint dum metuant; cum tacent clamant.“

Ich warf der Deo Volente einen unsicheren Blick zu, als würde mir das katholische Gebäude Antworten geben können, dann rutschte ich langsam hinunter. Nachdem ich wieder auf dem Boden stand, starrte ich den alten Henry an.

Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten; indem sie schweigen, stimmen sie zu. Für mich klang das nicht wirklich nach einer Friedensbotschaft, die einen Krieg beenden sollte und das Königreich retten. Vielleicht hatte auf der Schriftrolle zuvor auch nichts gestanden und die katholische Kirche hat die Worte eingravieren lassen, um dem alten Henry wenigstens den Hauch eines katholischen Helden zu geben?

Ich begann den Heimweg anzutreten und warf kurz vor dem Einbiegen in eine der Seitengassen einen erneuten Blick zur Statue. Sie warf einen riesigen Schatten über den Platz und ich hatte das Gefühl, sie wäre unheimlich groß geworden.

Mit Gottes Hilfe, mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten; Indem sie schweigen, stimmen sie zu.

Leise flüsterte ich: „Luther Henry Mattheus, wenn du doch nur sprechen könntest.“, dann ging ich weiter. Wer sollte wen hassen und wer wem zustimmen?

Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir durchs Haar. So viele Fragen, so wenig Antworten. Vielleicht hatte Nevar Recht:

Ich dachte zu viel.

Anders, als geplant

Die nachfolgenden Tage verliefen fast alle gleich. Ich stand auf, ging zur Arbeit und trat den Heimweg an. Drei Tage lang befolgte ich diesen Plan, um mich bei Meister Pepe zu entschuldigen und meine Stelle bei ihm zu sichern. Ich wollte meine Arbeit nicht verlieren, auch wenn sie noch so ketzerisch war und Domenico nicht gefiel. Was brachte mir ein neues Leben, wenn ich es auf der Straße leben musste? Ich wollte Kopist im Schreibwarenladen bleiben und daran konnte weder Domenico, noch sonst wer etwas ändern.

An Edgar und Gilian verschwendete ich kaum einen Gedanken oder zumindest, versuchte ich es. Immer wieder spukten sie mir im Kopf herum, genauso wie Slade und neuerdings auch wieder Mary-Ann. Vielleicht hatte ich zu viel über mein Leben nachgedacht? Vieles kam wieder in mir hoch: Meine Zeit im Tollhaus, die Todesfälle auf der Caroline und auch meine Feuerprobe. Ich begann, mich von Kerzen und Kaminfeuern fern zu halten, was völlig absurd war. So viele Monate nach dem Passierten eine Angst vor Feuer zu entwickeln war gänzliche Dummheit, doch was sollte ich dagegen tun?

Meine Arbeiten bei Meister Pepe besserten sich, stellten aber weder ihn, noch mich zufrieden und jeden Abend, wenn ich im Bett lag, verfluchte ich mich. Wenn ich zurückkehrte und die Tür öffnete, fürchtete ich, Nevar würde vor mir stehen und ich würde nicht wissen, was ich ihm sagen sollte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich mich momentan nicht dazu in der Lage fühlte, mich mit all diesen Dingen zu befassen?

Dann, am vierten Tag, kam Morgan zurück.

Er war ein schrecklicher Anblick, wie er dort plötzlich in der Schenke saß, Johnny und Knollnase neben ihm. Sein Bart war ungepflegt, sein krauses Haar wirr und seine Augen glasig vom Alkohol. Ich ging schweigend auf mein Zimmer, ohne ihn zu grüßen und er ignorierte mich ebenso, aber das beunruhigte mich umso mehr. Meine Tür schloss ich doppelt ab und ich stellte einen Stuhl davor, ehe ich zu Bett ging, unter meinem Kopfkissen lagerte ich ein Messer. Was war mit ihm passiert?

Ich erinnerte mich daran, dass die Blauröcke ihn mitgenommen hatten, mehr wusste ich allerdings nicht. Bei seiner Rückkehr hatte ich erwartet, er würde sich auf mich und Amy stürzen, um uns zu Tode zu prügeln, stattdessen saß er da wie ein Häufchen Elend. Wenn ich mich nicht geirrt hatte, trug er noch immer die Kleidung, die er am Tag seiner Festnahme getragen hatte. Hatte er etwa bis jetzt in einem Gefängnis gesessen?

Dann folgten weitere Tage voller Eintönigkeit. Meister Pepe hat einen besonders großen Auftrag angenommen, weswegen ich teilweise bis in die späte Nacht im Skriptorium sitzen musste. Selbst wenn ich spionieren wollte, so kam ich nun nicht mehr dazu. Es stellte sich als so viel Arbeit heraus, dass er eine Verstärkung einstellte:

Brad Addison. Brad war ein recht ruhiger, ungemein großer und unbeschreiblich dünner Kerl. Er hatte etwas von einem riesigen, weißen Strohhalm mit Sommersprossen und rötlich schimmerndem Haar, langen Armen und Beinen. Wenn er eintrat, stieß er sich jeden Tag den Kopf am Türrahmen und wenn er ging, ebenso. Wir sprachen nicht viel, da der Meister es nicht guthieß, während der Arbeit zu reden, aber wir gewöhnten uns an, bis zum Platz des alten Henrys gemeinsam zu gehen. Dann erzählte er mir meist schüchtern davon, dass er Mönch werden wollte und eigentlich dort Kopist, aber dass seine Mutter verlangt hätte, dass er Geld verdienen ginge. Er hing sehr an seiner Mutter und liebte sie von ganzem Herzen, doch von seinen Erzählungen her wirkte sie eher wie ein blutrünstiger Drachen auf mich. Allem Anschein nach kratzten ihre Äußerungen sein Selbstbewusstsein an und das Schlimmste war:

Keiner von den beiden merkte es.

Deswegen versteckte er sich gern in Büchern und Geschichten oder klammerte sich an das Christentum. Ich war fasziniert davon, wie viel er wusste und wie sehr er sich damit beschäftigt hatte, aber zugleich mied ich es, mit ihm über die Heilige Schrift zu sprechen. Meine Unsicherheiten kamen mir strafbar vor und meine Überzeugungen blasphemisch. Alles, was ich gelernt hatte, ergab kaum noch Sinn für mich und ich musste mich zurückhalten, keine Diskussionen mit ihm zu beginnen, sondern ihn in seinem Glauben zu bestätigen. Dennoch war Brad kein Fanatiker.

Nach gut einer Woche riss ich mich zusammen und beschloss, nachdem ich in der Rum-Marie zu Abend gegessen hatte, ab und an das Gatshaus von Edgar aufzusuchen.

Der Genickbruchbalken war alles andere, als ein einladendes Gasthaus. Das erkannte ich schon an dem Namen, doch der Anblick bestätigte es nur umso mehr. Ich konnte nachvollziehen, wieso ein Mann wie Edgar in solch einem Haus wohnte und auch, wieso es Der Genickbruchbalken hieß. Wenn man das Gebäude betrat, führte eine dreistufige Treppe nach unten in das eigentliche Wirtshaus und über diesen Stufen hing ein großer, schwerer und viereckiger Stützbalken. An ihm wiederum hatte man drei Kränze befestigt, die, wie ich vom Wirt erfuhr, Andenken an drei Gäste waren. Jeder der Männer war betrunken die Treppe hinauf getorkelt, ausgerutscht und hatte sich beim Sturz an dem Balken das Genick gebrochen. Da jedoch dieses Holzstück angeblich sehr wichtig wäre und ohne ihn das Haus zusammenbrechen würde, konnte man es halt nicht mehr ändern. Also benannte man das Gasthaus um vom früheren Namen Zum klapprigen Tänzer in das heutige Der Genickbruchbalken, in der Hoffnung, die Trinker würden dadurch gewarnt werden. Leider ging der Plan nicht auf und so kam es, dass sich weitere Kränze sammelten, rechts und links am Türrahmen. Manchmal saß ich am Tresen und betrachtete die insgesamt acht vertrockneten Blumengestecke und dann bekam ich kaum noch etwas von meinem Getränk hinunter, aus Angst, ich wäre das nächste Opfer dieses teuflischen Gebildes.

Man könnte meinen, die Gäste blieben aus bei so vielen Todesfällen und gewiss war es teilweise auch so, aber es gab einige Stammgäste, die sich einen Spaß daraus machten. Es entstanden Trinksprüche wie: „Auf dass der Balken zu krumm wird, zum treffen!“ oder „Bis dass wir so stark torkeln, dass wir ausweichen können!“ und man verabschiedete sich an so manchem Abend mit: „Grüß den Alten Brecher von mir, wenn du vorbei kommst.“, denn so hatte man den Balken mittlerweile getauft:

Brecher.

Ich wollte auf den Namen so wenig geben wie möglich, aber wenn ich ehrlich war, hauchte mir das Holzstück großen Respekt ein. Die Gefahr, das gleiche Schicksal zu finden, wie all die Männer, war einfach zu groß.

Das gleiche galt für Edgar. Ich erkannte ihn bereits bei unserer ersten Begegnung. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als mir bewusst wurde, dass ich nicht drum herum kam, ihn zu beschatten. Edgar war ein Mann, mit dem nicht zu spaßen war und in der wenigen Zeit, in ser er sein Bier in der Schenke genoss, lernte ich ihn als Rauhbein und gefährliche Gesellen kennen. Er hatte gute Freunde, feste Freunde - Stammgäste des Lokals und Kunden seiner Angebote. Diesen gab er mitunter das eine oder andere Getränk aus, doch manchmal kam es vor, dass selbst diese ihn zu stören schienen. Dann gab es Streitigkeiten, bei denen eigentlich immer er der Sieger war und das wusste man vorne herein. Aus diesem Grund stellte sich jeder hinter ihn und egal, wer in Ungnade gefallen war, er bekam von jedem einzelnen seiner Freunde einen gebrochenen Knochen.

Ich besuchte das Gasthaus gut zehn Mal und ungefähr acht von diesen zehn Malen wurde ich Zeuge einer Schlägerei. Wie sehr ich es hasste, dort zu sitzen und auch, ihm instinktiv auszuweichen. Ich hasste meine Feigheit und übertriebene Vorsicht. Ich wollte Gespräche zwischen ihm und den Gästen belauschen, aber auf keinen Fall durch seine Tritte den Tod finden. Zu groß erschien mir dieser Hüne, zu gewaltig seine Kraft.

Leider nützte mir keiner der Gesprächsfetzen etwas, egal wie sehr ich lauschte und egal, wie nah ich mich an seinen Tisch heran setzte. Die meiste Zeit sprach Edgar über seine Frauen, wer gerade nichts einbrachte und wer umso mehr. Wenn er betrunken war, begann er jede einzelne zu verfluchen und ließ sich darüber aus, wie er welche zuerst zur Hölle fahren lassen wollte. Über Luke verlor er kein Wort, über Josephine nur solche, wie über jede andere Frau auch. Ich konnte davon ausgehen, dass er nichts von den Fluchtplänen der beiden wusste oder aber, er wusste, wann er schweigen sollte.

Irgendwann baute ich meine Spionage aus. Am liebsten hätte ich mich auf der Tatsache ausgeruht, dass es keinerlei Zusammenhang zu den Samaritern gab, um mich möglichst weiter von Edgar fern zu halten, aber auf lange Zeit war mir das natürlich nicht möglich. Ich begann, ihn während meiner Pausen und auch außerhalb des Genickbruchbalkens zu suchen, um eine Gelegenheit abzupassen, in sein Zimmer zu schleichen. Leider war er stets dort oder aber in der Schenke genau davor. Es gab keine festen Zeiten, wann er kam und ging und ein Einbruch ohne Sicherheit auf Erfolg erschien mir unter diesen Voraussetzungen zu gefährlich.

Als letzte Idee blieb mir nur noch, ihn direkt anzusprechen und vielleicht eine Freundschaft zu knüpfen, doch das war für mich fast schlimmer, als bei einem Einbruch erwischt zu werden. Ihn als Freund zu haben bedeutete, neben ihm sitzen zu müssen, Schulter-klopfen zu akzeptieren und über seine schmierigen, meist geschmacklosen Witze lachen zu müssen. Ich würde nicht behaupten, dass Edgar Humor hatte oder zumindest teilte ich diesen in keinster Weise. Eigentlich regten mich seine feindlichen Äußerungen über Gott und die Welt lediglich auf und die Vorstellung, ich müsste ihm zustimmen, lachen und ihn anfeuern zur Ermunterung, weiter zu sprechen, ließ Ekel in mir aufsteigen.

So blieb vorerst nur Gilian Daly. Es dauerte nicht lange, das Geschäft von Gilian Daly zu finden und das erste Mal hatte ich direkten Kontakt mit einem Händler der Gilde. Das Goldene Glück lag auf der direkten Handelsstraße und war ein recht großes und ansehnliches Geschäft mit reicher Kundschaft und verziertem Ladenschild. Dennoch war es verrufen und man konnte beobachten, dass nur Bürger der unteren Klasse bei ihm kauften - für jene der höheren Klasse gab es extravagante Geschäfte in anderen Vierteln.

Ich warf einen Blick hinein und war sofort fasziniert von den etlichen Kräutern, die er anbot. Die meisten hatte ich nie zuvor in meinem Leben gesehen und es glich einem Rausch, wenn man an jedem einzelnen von ihnen roch. Doch sobald ich mich näher mit den kleinen Dosen und Beuteln befasste, fiel mir auf, dass zwischen den Kräutern große Teile aus gemahlenem Unkraut bestanden. Gilian war ein Betrüger und die Menschen tolerierten es, denn seine Waren bekam man billiger, als woanders.

Wohnen tat Gilian in einem Haus einige Straßen weiter. Es war ein recht kleines Gebäude in hellem Weiß mit rötlichem Dach und schwarz lackierten Fensterläden. Von außen hatte es eine unheimlich vornehme Wirkung, doch die Blicke, die ich gegen Abend ins Innere warf, überzeugten mich vom Gegenteil:

Kahle Wände, kein Teppich, fast leere Räume. Zwar war er in der Händlers-Gilde und zahlte die regelmäßigen Beiträge, jedoch reichte das restliche Geld gerade noch, um davon zu leben. Vielleicht galt für ihn aber auch dasselbe, was für Luke gegolten hatte:

Er sammelte das Geld, um Josephine davon frei zu kaufen und mit ihr zu fliehen. Mir kam der Gedanke, dass Edgar vielleicht an diesen Plänen beteiligt sein könnte. Es wäre möglich, dass seine Huren diese Spiele mit all ihren Kunden spielten, damit sie Geld sammelten. Edgar brauchte sie nur töten lassen und schon hatte er etliche Einnahmen.

Gilian selbst sah man kaum an, dass er arm lebte und sicherlich Geldsorgen hatte. Er begrüßte jeden Käufer mit einem Lächeln und vor allem den Kundinnen schenkte er besonders viel Aufmerksamkeit. Auch mit mir kam er des Öfteren ins Gespräch, aus natürlicher Freundlichkeit heraus und anders, als Lukes Vater, verstand er etwas von seinem Handwerk. Er schwatzte mir die verschiedensten Dinge auf und erzählte mir Geschichten von ihren Entstehungen, dass ich dachte, mir würde schwindelig werden. Seine Vasen waren keine gewöhnlichen Vasen, nein, sie waren Vasen aus Esas! Seine Löffel waren keine gewöhnlichen Löffel, nein, sie kamen aus Otori!

Ich versuchte mit ihm ins Gespräch zu kommen, um heraus zu finden, wie sein Charakter außerhalb seines Händlerlebens war, doch egal was ich ansprach, er leitete über zu einer seiner Waren. Manchmal, wenn mir die Zeit trotz der Arbeit blieb, beschattete ich ihn und versuchte, mir einen Zeitplan zu erstellen. Ich wollte wie bei Luke und seinem Vater wissen, wann er wohin ging, damit ich mir sicher sein konnte, niemand würde mich in seinem Haus überraschen. Zu meiner Erleichterung arbeitete er meistens von früh morgens bis spät in die Nacht und so hatte ich auch nach meiner Arbeit im Skriptorium viel Zeit, ihn zu besuchen.

Ich suchte mir einen sehr ruhigen Tag aus und ging bereits voll ausgerüstet in den Schreibladen, um jede Minuten zu sparen. Von dort aus begab ich mich dann auf direktem Wege zu Gilians Haus. Ich passierte sein Geschäft, um sicher zu gehen, dass er wirklich dort war und während ich mich an seiner Tür zu schaffen machte, hüllte vollkommene Dunkelheit die Stadt ein. Die Laterne, die der Lampenanzünder entflammt hatte, löschte ich einfach wieder und so hatte ich keine Blicke im Rücken, bis das Schloss des Einganges leise knackte. Anschließend trat ich ein.

Ich hatte kaum einen Fuß über die Türschwelle gesetzt, als ich spürte, wie die altbekannte Ruhe sich über mich legte wie ein Tuch. Mein Puls schlug langsamer und meine Ohren wurden aufmerksam. Es herrschte Totenstille im gesamten Haus und nicht einmal von den Straßen drangen Laute zu mir herein.

Gilians Haus bestand zuallererst aus einem einfachen Flur, von dort führte dann eine Tür in die Küche und eine Treppe in das obere Stockwerk. Oben wollte ich mich als erstes umsehen, für den Fall, dass er früher zurückkehrte, als erwartet. Leise schlich ich nach oben und sah mich dort um.

Das obere Stockwerk bestand aus einem weiteren, ebenfalls sehr kleinen Flur und dem darauf folgenden Schlafzimmer. Es war mehr als nur spärlich eingerichtet, denn bis auf ein Bett und einen Nachttisch gab es nichts. Der Raum erinnerte mich an die Mönchskammern des Klosters, besonders durch den heiligen Jesus über der Tür und das kreuzförmige Gitter, das das Fenster in vier Teile unterteilte. Es fiel mir nicht schwer, alles zu durchsuchen und binnen weniger Minuten war ich bereits fertig. In Bettzeug und Matratze fand ich nichts, als Staub und Spuren dessen, was geschah, wenn man weibliche Gesellschaft hatte und im Nachttisch lag lediglich die heilige Schrift, ein Rosenkranz und etwas Kautabak. Es war ein enttäuschendes Ergebnis, mehr als das und ich machte mir sogar die Mühe, den Boden genaustens abzusuchen. Anschließend schlich ich wieder hinunter und nahm mir die Küche vor. Um sie zu betreten, musste man durch eine alte Holztür, die man mit einem Metallhaken öffnen und schließen konnte. Ich vermutete, dass dies früher einmal ein abschließbares Lager war. Auch hier gab es nicht wirklich etwas, was zu untersuchen lohnend gewesen wäre. Weder hatte der Raum einen Ofen, noch große Schränke, die Platz für Verstecke ließen. Es gab nur ein Regal mit einigem Holzbesteck, einen klapprigen Tisch und zwei Stühle. Für ein Gildenmitglied war die Wohnung eine äußerst peinliche Angelegenheit, doch dann kam mir eine Idee.

Vielleicht besaß Gilian dieses Haus nur, um es der Gilde vorweisen zu können, denn für eine Mitgliedschaft war ein Haus nötig. In Wahrheit jedoch hatte er alles, was er zum Leben brauchte in den Hinterzimmern seines Lagers. Und während mir diese Erkenntnis kam, sprang mir etwas ins Auge. Eine kleine, grünliche Kiste stand an der der Tür gegenüber liegenden Wand. Ich ging darauf zu, hockte mich vor sie und nahm sie in die Hand. Das Kästchen war nicht sonderlich schwer, aber so groß, dass es meinen ganzen Schoß ausfüllte. Was auch immer in ihm war, es war wertvoll genug, damit man es einschloss. Ich begann, mich vor zu arbeiten, um die Truhe zu öffnen und im gleichen Moment, wie der Deckel aufsprang, fiel die Tür hinter mir zu. Ich fuhr sofort hoch und herum, doch das letzte was ich hörte war, wie jemand ein Vorhängeschloss an den äußeren Metallhaken klemmte. Dann drang Gilians Stimme zu mir herein:

„Ha, ich habe dich! Dieb!“

Das Kästchen fiel achtlos zu Boden und ich rannte zur Tür, um sie aufzustoßen, doch natürlich gelang es mir nicht. Ich drückte gegen das Holz, klopfte und im letzten Moment hielt ich mich zurück, zu rufen: „Lasst mich raus!“

Gilian hatte mich nur von hinten gesehen, mit Kapuze und Umhang, ihm nun meine Stimme zu zeigen wäre Dummheit. Ich hörte, wie der Händler lachte.

„Oh nein, du bleibst schön da drin! Ich werde dir zeigen, was es heißt, mich, Gilian Daly zu bestehlen!“

Seine Stimme war gedämpft durch das dicke Holz, trotzdem übte sie ungemeinen Druck auf mich aus. Ich begann mich hektisch im Raum umzusehen und stürzte vor zum kleinen, quadratischen Fenster. Mit einem Ruck war es offen und ich konnte auf die Straße sehen, aber auch hier gab es ein kreuzförmiges Gitter, um Einbrechern wie mir den Zugang zu versperren – oder eben den Fluchtweg. Fluchend schloss ich es und die kalte Frühlingsluft versetzte mir eine unheimliche Gänsehaut.

Gilian sprach währenddessen die ganze Zeit weiter auf mich ein: „Du wirst da bis morgen früh drin bleiben, du dreckiger Dieb, verlass dich drauf und dann hole ich die Wachen! Aufknüpfen werden sie dich, mit einem Strick, an den Baum! Das hast du verdient, räudiger Hund! Niemand bestiehlt mich!“

Fast voller Hass sah ich zur Kiste, in der nichts anderes lag, als eine Pfeife, ein Beutelchen Tabak und dazu ein paar Zündholzer. Zwar sah alles sehr wertvoll aus, aber nicht wertvoll genug, mein Leben zu geben.

Ich begann im Zimmer auf und ab und zu laufen und Angst stieg in mir hoch. Was, wenn die Wachen mich wirklich hier herausholten und fest nahmen? Was würde Domenico sagen? Was würde Nevar denken? Und was sollte ich tun, würde ich dadurch alles verlieren?

Ich hasste mich für meinen dummen Fehler. Mit Sicherheit war Gilian ins Haus gekommen, während ich oben gewesen war und hatte sich kurzerhand hinter der Holztreppe versteckt. Ich hätte aufmerksamer nachsehen müssen, stattdessen war ich einfach in die Küche gegangen, von mir selbst überzeugt. Und nun saß ich in einem kahlen und sehr kalten Raum! Am liebsten wollte ich mit ihm sprechen, ihn davon überzeugen, dass ich nichts Böses getan hatte. Aber erstens fiel mir keine Ausrede ein, wieso ein fremder Mann sein Schloss knackte und alles durchsuchte und zweitens könnte ich mich damit verraten. Ich war als Käufer in seinem Laden gewesen, vielleicht erinnerte er sich an mich.

Die Steinplatten am Boden waren fest und ließen sich weder verschieben, noch anheben und somit erlosch auch jede meiner Hoffnungen auf eine Falltür zum Keller, wie es sie in den meisten alten Küchen gab. Ich suchte die Wände ab, die Decke, und irgendwann stand ich wieder an der Tür. Verzweifelt legte ich das Ohr an das Holz und hörte, wie Gilian die Treppe hinauf ging, leise mit sich selbst redend, dann war er verschwunden. Ich rüttelte am hölzernen Griff, um das Schloss zu lösen oder den Metallriegel aus der Wand zu bekommen, aber beides war zu fest, zudem schien irgendetwas davor zu stehen. Ein erneuter Fluch, anschließend legte ich die Stirn an das Holz. Es war vorbei.

Nachdem Gilian auf seinem Zimmer verschwunden war, sank ich zu Boden, lehnte den Rücken an die Tür und starrte die Küche an, als wäre sie bereits meine Gefängniszelle. Vielleicht wurde ich ja nach Annonce gebracht und dort angeklagt, überlegte ich etwas sarkastisch. Dann erkannte der Richter mich vielleicht sogar wieder und ich bekam einen gnädigen und schnellen Tod.

Die Bodenfliesen waren kalt und sandig und ich spürte den kühlen Stein durch meine Hose hindurch in den Beinen, gleich einem leicht beißenden Schmerz. Ich musste mich beherrschen, nicht wieder aufzustehen und nach einigen Minuten bereute ich es, denn meine Blase begann aufgrund der Kälte zu drücken. Wütend und gereizt ließ ich meine Blicke kreisen:

Ein Regal mit Tellern und Krügen, ein alter Tisch, zwei Stühle und die verfluchte Kiste. Mehr gab es nicht, das war doch nicht möglich! Wenn es wenigstens eine Metallkelle geben würde, mit der ich das Fenstergitter aufstemmen könnte, aber wozu? Gilian hatte keinen Ofen, in dem er kochen könnte und essen tat er sicherlich in einem Gasthaus.

Ich hatte verloren. Ich hatte verloren und nun war es vorbei. Man würde mich abführen und mein Zimmer durchsuchen und somit auf meine Unterlagen stoßen. Mit Sicherheit würde man Domenico ansprechen, schließlich hatte er für mich gebürgt und wieso sollte ein Mann wie er einen Nichtsnutz wie mich schützen? Er würde ihnen sagen, dass ich Sullivan O'Neil war, der Frauenmörder aus Annonce und sicherlich würde es für mich nicht einmal mehr eine Verhandlung geben. Sie würden mich zu Tode prügeln oder aufknüpfen, so, wie es Gilian gesagt hatte.

Nach gut einer viertel Stunde fuhr ich hoch. Ich hielt die Gedankengänge nicht mehr aus, die Vorstellungen so zu enden wie all die anderen Verbrecher. Ich wollte nicht sterben und ich wollte auch nicht in einen Turm eingesperrt werden und dort betteln. Ich rüttelte wieder an der Tür, drückte mich gegen sie und versuchte dann mit dem Messer den Metallhaken, der das Schloss hielt, aus der Wand zu kratzen. Es war mühsam, denn meine Hand passte nicht durch den Spalt und ich musste sie flach zwischen Tür und Wand legen, in der Hoffnung, meine Waffe nicht fallen zu lassen. Stück für Stück gelang es mir, etwas von dem Mauerwerk ab zu kratzen und feiner Sand rieselte zu Boden. Dann schrie ich auf.

Gilian war die Treppe herunter geschlichen und hatte mit voller Wucht gegen die Tür geschlagen. Mein Messer fiel zu Boden und schmerzerfüllt umklammerte ich meine drei mittleren Finger.

„Nichts da! Du bleibst da drin, habe ich gesagt!“, fuhr er mich durch die Tür an und mit einem weiteren Tritt gegen die Tür untermalte er seine Aussage noch einmal. Ich unterdrückte ein Wimmern und starrte auf meine linke Hand. Die Knickstellen meines Zeige-, Mittel- und Ringfingers begannen leicht blau zu werden und mir schossen Tränen in die Augen, als ich sie zu biegen versuchte. Zumindest kein Bruch, tröstete ich mich, hielt den Schmerz aber kaum aus. Ich legte den Kopf in den Nacken und biss die Zähne zusammen, um es irgendwie zu ertragen, dann hockte ich mich hin und legte sie auf den eiskalten Steinboden.

Gilian knurrte dicht an der Tür: „Ich habe jetzt keine Zeit dafür, verdammt noch mal! Vielleicht sollte ich dich für immer da drin lassen! Verhungern wirst du!“, dann hörte ich, wie er wieder hoch ging, wesentlich schneller als zuvor.

Mit jeder Sekunde, in der meine Fingergelenke an Schmerz zunahmen, wuchs mein Hass auf Gilian und ich verfluchte ihn. Der Händler kam wieder hinunter geeilt, dann hörte ich mit an, wie er hinaus ging und die Haustür ins Schloss fiel. Ohne nachzudenken eilte ich zum Fenster, um zu lauschen. Gilian ging, wohin wusste ich nicht, aber ich konnte es mir denken. Er bekam es nun doch mit der Angst zu tun und er wollte die Wachen bereits jetzt holen, statt am nächsten Morgen. Wütend ging ich zurück zur Tür, um meinen Fluchtversuch weiterzuführen, doch meine Hand schmerzte zu sehr und mit der rechten schaffte ich es nicht, den Riegel zu erreichen. Wie ich diesen Mann hasste!

Auch ich trat gegen die Tür, immer und immer wieder, nahm Anlauf und warf mich gegen sie. Vielleicht würde ein starker Ruck helfen, das Metall aus der Mauer zu schleudern und ich stürzte in den Flur?

Egal wie sehr ich es versuchte, mehr, als eine schmerzende Schulter, brachte es mir nicht. Irgendwann keuchte ich und ließ mich wieder gegen das Holz sinken.

Ich musste hier raus, dringend, so schnell es ging. Was würde Nevar an meiner Stelle tun?

Nevar wäre sicherlich nicht in diese missliche Lage geraten, also war diese Frage unsinnig. Erschöpfung machte sich in mir breit und unheimliche Müdigkeit trat an die Stelle meiner Wut und meines Zornes. Ich spielte mit dem Gedanken, mich hin zu legen und zu schlafen, entkommen konnte ich ja doch nicht mehr. Wieder sank ich auf den Boden und spürte den Stein durch meine Hose hindurch und meine Waden zogen etwas unter der Kälte. Was sollte ich tun?

Dann kam mir eine Idee. Im Kloster hatte ich einst einen Kuhfuß gesehen, den die Handwerker benutzten, um Nägel aus Holzbalken heraus zu ziehen. Dabei handelte es sich nicht um den Fuß eines Tieres, sondern um ein langes Metallwerkzeug, an dessen Ende zwei Kuhfußähnliche Zacken waren, zwischen welche man den Nagel klemmen konnte. Anschließend drückte man das lange Ende einfach hinunter und ohne großen Kraftaufwand war der Nagel befreit. Ich verstand nicht ganz wieso, aber mir war bereits öfters aufgefallen, dass bei Werkzeugen mit langen Stielen meist viel weniger Kraft von Nöten war. Wenn ein Schmied ein Stück Metall zerschneiden wollte, benutzte er Zangen, die so lange Arme hatten, dass er sie mit beiden Händen greifen musste. Wenn man schwere Lasten tragen wollte, benutzte man Schubkarren, mit langen Armen und einem Rad fast am anderen Ende der Konstruktion. Schlug man Nägel in einen Holzbalken oder eine Wand, griff man zu einem Hammer mit langem Stiel.

Für mich war es zu schwer, die Tür mit der Wucht meines Körpers aufzustoßen, aber vielleicht könnte es mir gelingen, wenn ich etwas fand, was nach dem gleichen Prinzip arbeitete, wie all diese Geräte. Ich wünschte mir für einen Augenblick, einen Handwerksberuf gelernt zu haben, der mir ermöglichte, all diese Dinge zu verstehen. Hätte ich weniger Zeit schlafend in der Bibliothek verbracht und stattdessen in einem Handwerkshaus des Klosters, dann hätte ich sicherlich mehr gewusst und wäre nicht auf die dumme Idee gekommen, mir die Pfeife zu nehmen und sie zwischen Tür und Wand zu stecken.

Aber ich hatte nun einmal so viel Zeit damit verbracht.

Und so zwang ich das lange Mundstück in den Spalt, grinste, da es mir logisch erschien dieser kleine Hebel würde meine Kraft nun magisch irgendwie bündeln und mit einem Ruck hielt ich den abgebrochenen Pfeifenkopf in der Hand. Es klapperte, als der Stiel zu Boden fiel und irgendwo im Flur landete. Fluchend warf ich den Kopf auf den Küchenboden, so hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Ich ging im Raum umher, als würde eine Metallstange irgendwo auftauchen, wenn ich sie nur gut genug suchte, dann erstarrte ich. Schritte hallten durch die Straße.

Ich ging ans Fenster, öffnete es einen Spalt und hielt den Atem an, um alles zu hören, was es zu hören gab. Ungefähr drei Personen liefen dem Haus entgegen, passierten es dann aber und gingen lachend weiter. Drei Angetrunkene, die sich leise darüber unterhielten, dass ein Hafen Brehms viel berühmter machen würde, man müsste nur einen künstlichen Fluss legen.

Ich fand den Gedanken sehr interessant, denn man konnte schließlich ein Feld mit Gräben bewässern, wieso also keinen künstlichen Fluss bauen? Doch ich zwang mich, später meine Zeit damit zu verschwenden. Als erstes musste ich hier raus.

Mein Blick fiel auf die Stühle, dann auf den Tisch und als letztes auf die dünnen Tischbeine. Ohne zu Zögern und wie ein Verrückter griff ich einen der Stühle und schlug mit voller Kraft auf die Tischplatte. Es donnerte, dann krachte es und Holz fiel zu Boden. Als erstes flogen die Stuhlbeine ab, als zweites brach der Tisch einfach in sich zusammen. Das Donnern klang noch immer in meinen Ohren, als ich die Holzstücken achtlos beiseite warf und versuchte, eines der Beine zu lösen. Wie ein Besessener rüttelte ich, trat gegen die Plattenreste und stellte mich letzten Endes drauf, um mit Biegen und Drehen das Bein zu lösen. Das Gestell war alles andere, als gut verarbeitet, aber die Nägel lagen lang und tief im Holz. Meine blau-lila-farbenen Finger schmerzten dabei und ich wagte es weder, sie zu knicken, noch zu strecken.

Als ich das Bein dann in der Hand hielt, rammte ich mich gegen die Tür. Ich warf mich dagegen, so oft ich konnte, wechselte die Seiten und fuhr fort. Ich musste hier raus, dringend, viel Zeit blieb mir nicht mehr. Umso heftiger mein Körper gegen die Tür knallte, desto mehr löste sich der Riegel aus der Wand. Ich würde es nicht schaffen, ihn ganz hinaus zu stoßen, aber ich schaffte es zumindest nach gut fünf Minuten, einen größeren Abstand zu schaffen. Mit einem harten Ruck beförderte ich das Bein zwischen Tür und Wand, wie zuvor die Pfeife, dann zog ich es vorsichtig nach rechts. Ich traf auf Widerstand und das Holzbein knackte bedrohlich. Unsicher schob ich es etwas tiefer durch den Spalt und versuchte es erneut.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Holz ansetzen musste, damit es funktionierte, doch nach einigem Hin und Her gelang es mir etwas besser. Ich hörte Sand rieseln und begann zu grinsen. Der Riegel ließ sich Stück für Stück immer mehr aus der Wand ziehen.

Irgendwann dann hatte ich es fast geschafft, doch das Holz reichte nicht mehr, um die Tür weiter zu öffnen. Ich warf es beiseite und begann wieder, mich gegen die Tür zu stemmen. Ein leises Krachen, dann stürzte ich einen erschrockenen Schrei unterdrückend in den Flur.

Ich fing mich kurz vor dem Boden, taumelte und bliebt stehen, um zu lauschen. Die Küchentür knallte währenddessen gegen die Wand, der Riegel quietschte leise, seiner Halterung beraubt und der Nachttisch, den Gilian vor die Tür gestellt hatte, war umgefallen. Das liegende Messer hob ich auf und steckte es zurück in meinen Gürtel, die Pfeifenreste ignorierte ich. Ohne weitere Zeit zu verlieren wollte ich den Rückzug antreten, doch natürlich war die Haustür nicht offen. Gilian hatte sie zugeschlossen, für den Fall, dass ich doch irgendwie hinaus kam. Fluchend rüttelte ich an ihr, in der Hoffnung, sie würde doch irgendwie aufgehen, danach zwang ich mich zur Ruhe. Ich musste mich zusammenreißen.

Ein Mann, der panisch und schweißgebadet durch die Stadt rennt war auffällig, besonders, wenn man ihn suchte. Schweigend machte ich mich daran, das Schloss irgendwie zu öffnen und wünschte mir, Gilian würde den Tod finden, ähnlich wie Luke. Meine Hand pulsierte leicht und er allein war schuld daran. Alles hatte einwandfrei funktioniert, hätte dieser Idiot nicht kurz nach meinem Passieren den Laden verlassen.

Es fiel mir schwer, die Tür zu öffnen aufgrund meiner Finger und meine Nervosität ließ meine Hände leicht zittern. Mehrmals fiel mein Werkzeug zu Boden, rutschte ich ab oder ich bewegte meine kaputten Finger, was mir einen unbeschreiblichen Schmerz bescherte und ehe ich mich versah, hörte ich erneut Schritte.

Ich redete mir ein, es wären wieder die jungen Männer, doch sie kamen bedrohlich näher und binnen weniger Sekunden waren sie unmittelbar vor der Tür. Es dauerte, bis ich verstand, was genau eigentlich los war. Ich stand auf, starrte die Tür an und schluckte schwer.

Durch das Holz drang Gilians Stimme, wie er sagte: „Ich habe ihn in die Küche gesperrt.“, dann fummelte er an seinem Schlüsselbund herum.

Ein weiterer Mann knurrte: „Gute Arbeit, Mister Daly. Wir werden ihn gleich mitnehmen.“

„Das hoffe ich. Ich dulde keine Diebe in meinem Haus.“, und mit diesen Worten steckte er den Schlüssel ins Schloss.

Erwischt

Ich wich zurück und sah hektisch zur Küchentür, gleichzeitig hasste ich mich für meine Panik. Das Holz verriet, dass ich die Küche verlassen hatte. Überall lagen Holz, Sand und Pfeifenteile. Dann warf ich einen Blick zur Treppe und mir fiel ein, dass es oben zwar ein Fenster gab, aber dieses war genauso verriegelt, wie das untere. Wo hatte sich Gilian versteckt, als ich hinunter gekommen war? Ich entdeckte den Spalt zwischen Treppenunterseite und Wand, doch zu spät:

Das Schloss vor mir knackte, ich wich abermals einen Schritt zurück, dann warf ich mich hinter die Tür. Diese wurde geöffnet und die zwei Wachmänner, begleitet von Gilian, betraten das Zimmer. Zu meiner Verzweiflung blieben sie unmittelbar in der Tür stehen, nur wenige Zentimeter vor mir. Der Händler war der erste, der reagierte und aufgebracht feststellte: „Er ist entkommen!“ Er stürmte vor in die Küche, das war meine Chance. Mit einem heftigen Schlag stieß ich die Tür gegen den ersten der Wachmänner, sprang vor und ergriff die Flucht.

Ich bekam mit, wie er taumelte und Gilian zu schreien begann: „Nein! Lasst ihn nicht entkommen!“ und dann setzten sie mir nach.

Die erste Wache ließ bereits nach einigen Schritten von mir ab und wandte sich dem Weg zur Wachstation zu, um Verstärkung zu holen, die zweite jedoch jagte mir nach, wie ein Besessener. Ich versuchte dem Mann zu entkommen, indem ich in die kleineren und engeren Gassen schlitterte, doch ich schaffte es einfach nicht, mehr an Tempo zuzulegen, als er. Der Soldat hatte wesentlich mehr Ausdauer, zudem schien er sich bestens in der Stadt auszukennen. Ich bog in eine Seitenstraße ein und registrierte gerade noch rechtzeitig, dass er mir plötzlich entgegen kam. Dann riss er mich am Umhang zu sich. Unbeholfen schlug ich ihn weg und so bekam er nur meine Kapuze zu fassen, woraufhin er sie mir vom Kopf riss. Gilian, der uns nach gehechtet war, schrie laut: „Ihr?!“

Schockiert starrte ich ihn an, dann riss ich mich los und flüchtete weiter. Nun war es vorbei, sie hatten mich gesehen. Ich rannte, so schnell ich konnte, ohne wirklich darauf zu achten, wohin eigentlich und nach einigen Minuten registrierte ich, dass die Blauröcke sich vermehrt hatten. Der Mann war mit Verstärkung zurückgekehrt.

Lautes Rufen hallte durch die Gassen, überall entzündete sich Licht und etliche Schritte kamen näher und näher. „Bleib stehen!“, brüllte mir einer immer und immer wieder hinterher. „Bleib endlich stehen!“

Doch ich dachte gar nicht daran. Ich rammte gegen einen Heuwagen, als ich um eine Ecke eilte, stolperte über Fässer oder rannte eine Leiter um, Stoßgebete zum Himmel sendend und um Luft ringend. Schon packte man mich erneut.

Diesmal versuchte ich nicht, mich versteckt zu halten, sondern trat meinem Häscher in die Magengrube und keifte: „Lasst mich los!“

Für einen Moment, einen winzigen Augenblick, sahen wir uns direkt an. Der Soldat mit den buschigen, schwarzen Augenbrauen schaute mir direkt ins Gesicht und unsere Blicke trafen sich in dieser nicht einmal Sekunde. Nun wissen sie, wie ich aussehe!, schoss es mir durch den Kopf, dann ging die Hetzjagd weiter.

Als ich Brehms betreten hatte und das erste Mal die vielen Winkel und Ecken gesehen, hatte ich gedacht, nirgendwo konnte man so gut entkommen, wie hier. Nun merkte ich, dass ich damit falsch lag. Wenn man sich so wenig auskannte, wie es bei mir der Fall war, dann hatte man bei einer Flucht lediglich Probleme. Immer wieder rannte ich in Sackgassen hinein, musste umdrehen und wieder hinaus rennen, dabei Zeit und Freiraum verlierend. Nur durch einen Straßenabschnitt, der kaum beleuchtet war, gelang es mir, zu entkommen. Ich taumelte durch Brehms, schweißgebadet und mit so starkem Herzschlag, dass es mich in Seiten und Brustkorb zog. Die Blauröcke suchten noch immer nach mir, das hörte man und in manchen der Gassen liefen Männer mit Fackeln umher.

Ich war in einem Haus eingebrochen und die ganze Stadt wusste davon.

Marie wusste es jedoch noch nicht. Sie begrüßte mich knapp und ließ mich aufs Zimmer gehen, besorgt mein erschöpftes Gesicht musternd, aber kein Wort sagend. Ich war dankbar dafür, denn in meinem Kopf machten sich Paranoia und Verfolgungsangst breit. Ich sah mich in meinem Zimmer um, als könnte überall ein Uniformter stehen und obwohl der Hinterhof nicht zugängig war, starrte ich immer wieder hinunter. Wie sollte ich Nevar dieses Missgeschick erklären, wie Domenico und wie sollte ich sie davon überzeugen, mir eine neue Chance zu geben? Ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht und ununterbrochen musste ich aufstehen, um an der Tür zu lauschen, aus Angst, sie würden die Gäste nach mir befragen. Was sollte ich nur tun?

Allem Anschein nach hatte Gilian nicht annähernd etwas mit Samaritern zu tun, im Gegenteil, er wirkte wie ein gottesfürchtiger Mann. Das bedeutete, dieser ganze Aufwand war völlig umsonst gewesen. Ich hatte nichts vorzubringen, mit dem ich meinen Fehler entschuldigen konnte. Ich begann auf und ab zu gehen und vergaß vollkommen, meine Kleider auszuziehen, so sehr war ich in Unruhe. Sie würden mich hängen, schlimmer noch, foltern, wenn sie heraus bekämen, wer ich wirklich war. Ich war ein Ketzer, ein Mörder, ein Verräter des Christentums, das mussten sogar Brehmser Soldaten einsehen. Es brauchte nur einer von ihnen zu mir kommen und mich ansehen, sicher kannte nun jeder von ihnen mein Gesicht. Hätte ich doch nur hinter die Treppe geschaut, hätte ich Gilian doch nur bemerkt und hätte ich doch nur einen Fluchtweg bereit gelegt! Ich war vorgegangen, wie ein Anfänger, nein, ich war ein Anfänger! Das musste sogar Domenico einsehen, ich war nutzlos und nicht weiter verwendbar.

Als die Sonne aufzugehen begann, wurde ich etwas ruhiger, denn nach so vielen Stunden hatte scheinbar noch immer niemand herausgefunden, wo ich eigentlich war. Ich durfte kein Aufsehen erregen, ich musste zu Meister Pepe und arbeiten, wie an jedem Tag.

Das war leichter gesagt, als getan. Die Schwierigkeiten begannen schon darin, dass ich unter starken Schwindelgefühlen litt und allein schon auf dem Weg zum Skriptorioum eine Pause machen musste. Meine kaputte Hand versteckte ich unter meinem Hemdärmel, aber auch meinem restlichen Körper sah man meine Probleme an. Brad bemerkte meine Blässe als erstes und versuchte, mir so viel ab zu nehmen, wie möglich und auch dem Meister fiel meine Übelkeit früher oder später auf. Öfters saß ich einfach nur am Pult und starrte aus dem Fenster, aus Angst, ein Blaurock würde hineinsehen und mich erkennen und die Pause verbrachte ich das erste Mal im Schreibladen, denn auf keinen Fall wollte ich über den Marktplatz. Ich zuckte zusammen, sobald man mich nur ansprach und wenn Meister Pepe mir längere Blicke zuwarf, fiel mir das Schlucken unheimlich schwer.

Wie erleichtert ich war, als der Abend sich näherte, denn ein ganzer Tag ohne entdeckt zu werden hieß, dass sie von mir abließen. Vielleicht war ich in ihren Augen nur ein einfacher Straßendieb und eine Verfolgung gar nicht wert? Doch ich sah beim Vorbeigehen, wie ein Soldat mit düsterer Miene umher lief und scheinbar nach mir suchte. Es war nicht vorbei, auf keinen Fall. Sie suchten mich, das bildete ich mir auf keinen Fall ein. Während meines gemeinsamen Laufens mit Brad zum Platz des alten Henrys sprach ich kein einziges Wort und ich sah mich so oft um, dass es sogar ihn nervös machte und er immer wieder fragte, was denn bloß mit mir los sei. Er erkundigte sich, ob Morgan wieder in der Rum-Marie wäre – scheinbar hatte Meister Pepe ihm davon erzählt und nun machte er sich Sorgen, ich hätte Angst vor ihm. Ich konnte Brad kaum dankbar dafür sein, viel mehr fürchtete ich, im Gasthaus würden sie bereits auf mich warten. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, draußen zu übernachten, doch einen halberfrorenen zu finden und dann als Dieb zu enttarnen würde alles nur erleichtern.

Der nächste Tag verlief ähnlich ab und der darauffolgende ebenfalls, doch ich wurde immer ruhiger. Die Soldaten wurden wieder weniger, bis auf wenige Patrouillen die die Skulpturen bewachen sollten und am dritten Tag war ich langsam wieder ich selbst.

Ich wagte es, in meiner Pause über den Markt zu spazieren und auch, wieder normal mit Brad zu sprechen, dennoch ließ es mir keine Ruhe. Statt nur Angst vor den Blauröcken zu haben, bekam ich nun auch Angst, Nevar würde auftauchen. Ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte mein neues Leben nicht aufgeben müssen.

Gegen Abend, als ich allein zurückkehrte, wurde mir dieses Gefühl nur umso bewusster. Ich ging durch die dämmrigen Tunnel auf dem Weg zur Rum-Marie und ein unbewusstes Zittern erfüllte meinen Körper. Ich hatte Angst vor Domenico und auch vor seiner Reaktion. Ich hatte Angst vor der Deo Volente, mehr als davor, an einem Strick am Baum zu hängen aufgrund eines Einbruches. Diesmal war nirgends eine Prostituierte und die Gänge waren nur matt beleuchtet. Wäre kein Gewölbe über mir, würde ich wahrscheinlich den abnehmenden Mond sehen, einen bewölkten Himmel und einige, hell leuchtende Sterne. Es wirkte auf mich, als würde ich den Gängen zur Hölle folgen, denn jede Heimkehr könnte bedeuten, dass Nevar auf meinem Bett saß, die Arme unter dem Umhang verschränkt und mit ruhigem Blick auf mich wartend.

Plötzlich hörte ich eine Stimme unmittelbar hinter mir. Ein Mann sprach leise und gedehnt: „Falcon O’Connor.“, und fast wie ein lauerndes Tier, das endlich seine Beute gefunden hatte, flüsterte er: „Was für ein Zufall, dass wir uns gerade hier begegnen, nicht wahr?“

Ich verlangsame meine letzten Schritte, dann blieb ich stehen, wie ein ertapptes Kind. Vor mir traten fünf Blauröcke aus dem Gasthaus und ich erkannte anhand der Schatten, dass hinter mir ebenso viele waren. Bemüht ruhig drehte ich mich herum und zwang mich zu einem Lächeln, doch meine Knie wurden mir weich und sofort konnte ich kaum noch stehen. Den Mann vor mir hatte ich noch nie zuvor gesehen. Er war groß, muskulös und wirkte durch das wenige Licht bedrohlich.

„Ja, richtig, wie kann ich helfen?“, krächzte ich etwas. Nun war es aus.

Meine Gedanken schlugen Purzelbäume und unbewusst griff ich an das Messer unter meinem Umhang. Die Kapuze hatte ich noch immer tief ins Gesicht gezogen, doch das störte den Soldaten nicht. Er lächelte ebenfalls und bat mich freundlich:

„Wenn Ihr mir bitte Euer Gesicht zeigen würdet?“

„Aber natürlich.“, stotterte ich und gehorchte. Ich kam mir schrecklich nackt und enttarnt vor. Unsinniger Weise dachte ich sofort, sie wüssten alles über mich, jede noch so kleine Minute meines Lebens. Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen, doch die etlichen Blicke auf mir ließen es nicht zu. War der Wachmann dabei, der mich festgehalten hatte? War jemand anwesend, der wusste, wie ich aussah? Ich wagte es nicht, mich umzusehen, stattdessen sah ich dem scheinbaren Kommandanten entgegen. Mir fiel ein kleines goldenes Kreuz auf, das an seiner Halskette sichtbar über seinem Hemd hing, dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf:

Die Kreuzer!

„Ihr seid also Falcon O'Connor. Mein Name ist Stewart, Norman Stewart.“

„Freut mich, Euch kennen zu lernen.“, sagte ich unsicher und warf einen Blick über die Schulter zum Eingang des Wirtshauses. Keiner war zu sehen, bis auf die Soldaten, die Tür war wieder geschlossen worden.

„Leider ist die Freude nicht ganz meinerseits.“, gab mein Gegenüber zu und baute sich etwas näher vor mir auf. Er war ein imposanter Anblick im dämmrigen Licht, mit seinem gigantischen Schatten und den hellen, blauen Farben der Uniformen. „Aber das lässt sich ja ändern.“

„Ich verstehe nicht ganz.“, gab ich zu und wich einen Schritt zurück. „Was genau ist denn los?“

„Ihr werdet des Einbruches verdächtigt, Falcon und des Mordes.“

„Mordes?“, entfuhr es mir. „Einbruch? Aber das ist Unsinn, ich war im Skriptorium, ich arbeite dort!“

„Ich muss Euch bitten, mit uns zu kommen.“, erklärte mir Stewart ungerührt. „Für eine...Befragung. Das stört Euch doch nicht?“

„Selbstverständlich nicht. Ich bin nur sehr erschöpft und-...“, doch weiter kam ich nicht. Zwei Blauröcke traten vor, packten meine Arme und verdrehten sie mir schmerzhaft in den Rücken, während einer meine Haare hielt. Ich stieß einen gequälten Laut aus, als sie an meine blauen Finger kamen, dann wurde ich gezwungen, gebeugt mit ihnen zu laufen. Schweigend ging ich mit, zu protestierten brachte ohnehin nichts. Die Blauröcke hatten mich gefesselt und abgeführt, ohne eine weitere Reaktion abzuwarten.

Wir steuerten ein kleines, steinernes Gebäude an, bewacht von einigen Soldaten. Es glich einer kleinen, einräumigen Steinhütte, mehr nicht, allerdings ging es von dort aus eine Steintreppe hinunter in die Tiefe.

Bereits auf dem Weg hinein vorbei an den zwei finsteren Posten wurde mir immer klarer, dass meine Chancen mehr schlecht als recht aussahen, aber bei den Gängen im Inneren erschien mir die Lage aussichtslos. Hinter jeder Tür stand scheinbar eine neue Wache und man brachte mich weit hinunter in eine Zelle, also an verdammt vielen Türen vorbei. Dort stieß man mich gefesselt in ein Zimmer und wies mich an, stehen zu bleiben. Ich gehorchte unsicher, den drohenden Blick eines Blaurockes direkt vor mir, der andere untersuchte mich, keine Rücksicht darauf nehmend, ob ich Schmerzen hatte. Er befahl mir unfreundlich, aus meinen Stiefeln zu schlüpfen und durchsuchte jedes meiner Kleidungsstücke ganz genau. Dabei fand er mein Messer und etwas Geld, mehr nicht, doch das schien ihn zufrieden zu stimmen. Anschließend ging er hinaus. Es dauerte, bis er mit einem Holzstuhl zurückkam und Anweisung gab, mich darauf zu setzen und so sah ich mich um, während man mich fesselte. Wie tief unter der Erde waren wir? Es war kalt und muffig.

Das Zimmer war lediglich ein normaler, viereckiger Raum durch und durch aus kaltem, grauem Stein. In der Mitte stand mein Stuhl, an der Wand gegenüber der Tür war ein Holztisch. Ich fragte mich, wofür er war, denn die dunklen Flecken auf der Tischplatte und auf dem Boden ließen nicht vermuten, dass man hier fröhlich Äpfel schälte, um sie zu Essen. Neben der Tür erkannte ich eine Art Rad. Es erinnerte mich an das Steuerrad eines Schiffes, aber wofür es war, wusste ich nicht. Da es nur eine Kerze je Wand gab waren Decke und Ecken für mich fast vollkommen schwarz. Ob Nevar wusste, wo ich mich befand? Vielleicht war es ihm auch einfach egal. Vielleicht war ich nun in die Ungnade der Deo Volente gefallen und es gab niemanden mehr, der Interesse daran hegte, mich hier hinaus zu holen.

Die Tatsache, dass ich nicht zu einem Richter gebracht wurde, zeigte, dass ich vielleicht doch noch Chancen hatte. Man befragte mich, man klagte mich nicht an. Vielleicht wusste man nicht, wer ich wirklich war.

Doch wieso Mord? Wieso wurde ich schon wieder des Mordes beschuldigt?

Lange Zeit saß ich mit dem Rücken zur Tür, die Arme schmerzhaft fest einzeln an die hinteren Stuhlbeine gefesselt, meine Beine an die vorderen und meinen Oberkörper mit einem Seil um die Lehne herum gebunden. Es fiel mir schwer zu atmen, da die Schnürung zu fest für meinen Brustkorb war und mehrmals versuchte ich wie aus einem Zwang heraus tief Luft zu holen. Es wirkte fast, als müsste ich regelmäßig testen, ob es denn noch möglich wäre. Dann öffnete sich die Tür und ich zuckte ungewollt zusammen.

Weder hatte ich vorher Schritte gehört, noch jemanden die Klinke herunter drücken und da der Eingang sich hinter mir befand, konnte ich nicht sehen, was geschah. Die Tür musste unheimlich dick sein. Ohne zu wissen, wieso, schoss mir der Gedanke durch den Kopf:

Wenn du schreist, hört dich niemand, Sullivan.

Ich hörte kurze Schritte, dann knallte die Tür erneut zu. Unsicherheit legte sich über mich und ich verstand, dass das Absicht war. Wie viele standen hinter mir? Oder waren sie hinausgegangen? Würde jemand plötzlich seine Hand auf meine Schulter legen? Mir ins Ohr schreien, wenn ich nicht mit rechne? Wie lange wollten sie dieses Spiel nun spielen? Bis ich von mir aus gestand?

Doch nichts davon geschah. Ich versuchte Atem zu hören, Schlucken, sogar Herzschlag, aber umso mehr ich es wollte, desto mehr meinte ich es von überall zu hören. Ich schloss die Augen und zwang mich zur Ruhe. Ich würde mich nicht erschrecken. Diese Spielchen würden mich nicht verunsichern, niemals. Niemals würde ich auch nur zucken, wegen solchen Kindereien! Das sagte ich mir immer und immer wieder, eine halbe Stunde lang, während ich fieberhaft überlegte, was genau hier vor sich ging. Slades Worte über die Kreuzer spukten in meinem Kopf umher und versuchten, mich verrückt zu machen. Das schlimmste war, es funktionierte.

Ich sprang fast hoch, so sehr riss mich die aufdonnernde Tür aus den Gedanken. Mein Herz machte einen Satz und ich schloss die Augen um mich zu beruhigen. Vor Schreck hatte ich Luft geholt und nun stach mein Brustkorb schmerzhaft.

Ein Blaurock marschierte vor mich und stellte unsanft einen weiteren Holzstuhl vor meine Füße, ein anderer platzierte fast liebevoll ein rotes Samtkissen mit goldenen Verzierungen und Bommeln an Rändern und Ecken und dann hörte ich die Schritte eines dritten, ruhigeren Mannes. Die zwei Soldaten platzierten sich rechts und links hinter dem Stuhl und Norman Stewart stolzierte wie ein stolzer Hahn in den Raum. Es widerte mich an sein breites Kreuz in dem blauen Mantel zu sehen, die schwarzen Haare – er hatte seine Perücke abgenommen - und das Schwert an seinem Gürtel. Aber noch mehr widerte es mich an, als ich seine Visage von vorne sah. Es sah fast menschlich aus, ohne Puder und mit schwarzbraunem Haar. Mir war der Mann unsympathisch, ehe ich ihn eigentlich kannte. Wahrscheinlich sah er mir mein Missfallen an, denn er schmunzelte amüsiert und begrüßte mich freundlich: „Willkommen in Eurem Zuhause für die nächsten vierundzwanzig Stunden – wenn alles zu unserer Zufriedenheit läuft. Nächste Woche werdet Ihr dem Gericht überbracht, aber bis dahin bleibt Ihr hier.“

Ich sah ihm unsicher entgegen, aber aufgrund meines Hasses etwas gefestigter. Während der letzten fast Stunde hatte ich versucht, mich zu beruhigen und nun schien es Früchte zu tragen. „Ich verstehe nicht, was ich getan haben soll.“

Stewart schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Ihr seid bei Gilian Daly eingebrochen und habt vor gut zwei Wochen Luke Caviness getötet.“

„Wen?“, fragte ich etwas bissig.

„Es ist in Ordnung, dass Ihr es nicht mehr wisst. Ich weiß es ja.“, war seine Antwort. Er lehnte sich zurück, legte den rechten Knöchel auf sein linkes Knie und verschränkte die Arme. Nachdenklich, aber durchaus überlegen, starrte Stewart mich an. Ich versuchte seinem Blick stand zu halten und drehte meine Hände etwas, um den Druck des Seils zu reduzieren – vergeblich.

„Ihr seid also ein Dieb“, überlegte er laut. Ich schwieg und sah ihn nur weiter an. Der Soldat wog den Kopf. „Aber Ihr seid Kopist. Wieso sollte ein Kopist stehlen? Aber Ihr wolltet stehlen. Zumindest hat es den Anschein.“, einige Sekunden sagte er nichts mehr, dann flüsterte der Blaurock: „Man könnte glatt meinen, Ihr wärt bei Gilian gewesen, um etwas ganz anderes, als Reichtum zu suchen. Ist es nicht so?“

„Wenn Ihr das sagt?“, wich ich der Frage ungekonnt aus und gab auf. Nun schmerzten meine Handgelenke nur umso mehr.

Mein Gegenüber bewegte sich nicht annähernd, sondern grinste nur. „Und? Was habt Ihr bei ihm gesucht?“

„Vielleicht hatte ich Langeweile.“, scherzte ich. „Kopist zu sein ist eintönig.“

„Ihr wärt dumm, wenn Ihr ein solches Leben für Langeweile riskiert.“, und nach einigem Schweigen flüsterte er: „Aber das seid Ihr nicht, O'Connor. Ganz und gar nicht. Ich muss sagen, die Art und Weise, wie Ihr aus der Küche entkommen seid, war eine wirklich Meisterleistung.“

„Ich danke für das Kompliment, Herr, aber was genau meint Ihr?“, lächelte ich hilflos, Stewart schwieg abermals. Ich meinte das Rattern in seinem Kopf richtig hören zu können, während er mich anglotzte, als würde allein mein Anblick ihm tausend Antworten liefern. Insgeheim hoffte ich, dass dem so war. Lieber war mir, er würde auf alles selbst kommen, als dass er mich ernsthaft befragte. Ich hob kurz meine Zehen an, um sicher zu gehen, dass sie noch durchblutet waren, dann atmete ich tief ein, so weit es ging. Die Seile engten mich ein und machten mich nervös, ich hatte das Gefühl zu ersticken. Zudem wollte ich weg. Ich wusste nicht, ob ich über die Deo Volente sprechen durfte, das hatte man mir niemals gesagt. Nur Domenico durfte ich nicht erwähnen. Oder war es bei den Kreuzern in Ordnung? Schließlich unterstanden sie Domenico oder nicht?

Stewart setzte die Stiefel zurück auf dem Boden, lehnte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und beugte sich zu mir vor. Leise flüsterte er, jedoch völlig ruhig: „Falcon O'Connor, ich frage ein weiteres Mal: Was habt Ihr bei Gilian gesucht?“

„Nichts?“, gab ich zögernd zurück. „Eigentlich war ich sogar nur durch Zufall dort in der Nähe.“

„Durch Zufall?“

„Ja. Reiner Zufall sogar. Sozusagen.“

Er lehnte sich wieder zurück, bevor er den Wachen deutete, sie sollen verschwinden. Die zwei tauschten unsichere Blicke aus, ehe sie dem höflichen Befehl nachgingen und die Tür ein letztes Mal zufallen ließen. Dann wurde abgeschlossen, ungewollt schluckte ich schwer.

Nun war sein Blick nicht mehr so freundlich, sondern eher düster. „O’Connor? Wisst Ihr, wofür der Tisch hinter mir ist?“

Ich warf einen Blick zum gemeinten Möbelstück, als hätte ich es bis jetzt noch gar nicht registriert, dann sah ich ihn wieder unsicher an. „Ich…nehme an, nicht um daran Mittag zu essen, nicht wahr?“

„Nicht wirklich.“, brummte er nur, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Ich breite darauf gerne meine Werkzeuge aus. Ich habe diesen Tisch extra dafür anfertigen lassen. Er hat die ideale Größe und Breite, so dass ich all meine Geräte fein säuberlich darauf anordnen kann und zwar so, dass es dennoch symmetrisch und ordentlich wirkt, fast schon elegant.“, nun drehte der Blaurock sich herum und betrachtete sein Werk, ehe er verliebt fortfuhr: „Oben rechts stelle ich eine Kerze hin, dann glitzern die Klingen und die Griffe schimmern leicht orange. Zuerst meine Messer, sieben Stück, in sieben Größen. Dann folgen meine zwei Scheren, meine drei Zangen, meine fünf Klemmbänder, meine sechs Riemen, meine Katze, mein Hammer, meine Nägel, meine zwei Pfähle, Schraubzwingen...“, er ließ die genannten Dinge kurz auf mich wirken und sah mich wieder an. Ich erwischte mich, wie ein Schweißtropfen sich aus meinen Haaren löste und meinen Nacken hinunter lief. Leise fuhr er fort: „Oben links stehen ein paar kleine Fässer und Gläser mit den interessantesten Dingen wie Betäubungsmittel, Alkohol, Pfeffer, Salz, Essig. Wusstet Ihr, dass es in Napaj ein Gewürz gibt, dass so schmerzhaft scharf ist, dass selbst mir die Tränen kommen?“, ungewollt schüttelte ich mit dem Kopf. Stewart grinste etwas breiter. „Ganz links, dort wo kein Blut hinkommt, platziere ich mein Pergament, die Feder und die Tinte für das Protokoll. Das Tintenfass hat übrigens dieselbe Form, wie jene mit den Gewürzen, ein ganz entzückender Anblick. Und rechts daneben, wieder zur Kerze hin, liegen säuberlich zusammengerollt meine schimmernden Ketten, ein paar Gewichte, ein Nadel-Etui, eine kleine Säge… Die Säge ist mein absolutes Lieblingsstück. Wenn man sie richtig hinlegt ist der Lichtpunkt immer direkt am oberen Rand. Schade, dass Ihr es wohl nicht sehen werdet, es ist wirklich ein wunderschöner Anblick. Ich habe bereits überlegt, ob ich es malen lassen soll. Aber ich denke, einige meiner Gäste fänden ein solches Bild im Esszimmer recht…makaber.“, ich sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren, wagte es aber nicht, ihn mit einer Antwort womöglich zu provozieren. Der Blaurock warf wieder einen Blick nach hinten und plauderte munter weiter: „Wenn Ihr genau hinseht, erkennt Ihr rechts am Tischrand fünf kleine Haken. Man kann sie lösen und verwenden oder aber ich hänge dort ein paar meiner Sachen auf. Seile zum Beispiel, einen Wassereimer, heiße Kohlen in einem Blechtopf…“, dann brach er ab und stand auf. „Ich möchte Euch nicht langweilen.“

„Tut Ihr nicht.“, flüsterte ich etwas heiser, doch der Blaurock ignorierte meine Antwort. Er ging zu den Kerzen und pustete sie eine nach der anderen aus, bis auf die letzte vor mir, diese ließ er an. Und dabei murmelte er, fast zu sich selbst, aber bewusst hörbar für mich:

„Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu diesem, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Also wollen wir es Euch doch etwas gemütlicher machen, nicht wahr?“

Sein Schatten wurde nach hinten geworfen und so konnte ich nicht sehen, wo er war. Ich hörte nur, dass Stewart etwas aufhob und damit zum Tisch lief. Während der Mann mit dem Rücken zu mir stand erkannte ich, dass er die aufgezählten Geräte aufzubauen begann. Panik stieg in mir hoch und meine Gedanken überschlugen sich. Jedes leise Geräusch, wenn er etwas aufs Holz legte, ließ in meinem Hinterkopf das Bild eines Messers, einer Säge oder schlimmerer Dinge aufblitzen. Durfte er von der Deo Volente wissen? Den Samaritern? Meinem Auftrag?

Was sollte ich tun?!

Die gleiche Sprache

Ich saß schweigend da und sah zu, wie der Mann namens Stewart Stück für Stück seine Ausrüstung auf dem Tisch verteilte, wobei er kleinlichst darauf achtete, dass alles an seinem dafür vorgesehenen Platz lag. In meinem Kopf drehte sich alles und ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Sollte ich darauf hoffen, ich käme heil heraus und Domenico gab mir eine zweite Chance? Oder sollte ich denken, Domenico hatte kein Interesse mehr an mir und nun war es an der Zeit zu reden, um meine Haut zu retten?

Die Kreuzer gehörten zur Deo Volente, das hatten Slade und Nevar gesagt, doch wieso wussten sie dann nichts von mir? Natürlich könnte es sein, dass es zu viele Spione gab oder dass man die Kreuzer aus solch internen Angelegenheiten der Gilde raus halten wollte, aber hätte man mich nicht darüber aufklären sollen?

Nachdem Stewart fertig war und wieder zu mir kam, hatte ich vor Nervosität so sehr an meinen Fesseln gezogen, dass meine Handgelenke aufgescheuert waren. Ich spürte, dass ich wieder leichten Ausschlag bekam, dort, wo meine Fesseln meine Haut berührten, genauso wie damals, als ich ins Tollhaus kam. Wie sehr ich mich verfluchte für meine Ungeschicklichkeit, meine Dummheit, mein andauerndes Pech und auch für diese kleine, körperliche Schwäche. Stewart brauchte mich nicht zu foltern, Aufregung reichte schon völlig, um meinem Körper zu schaden. Und das sagte ich ihm auch.

Kaum konnte ich den Mann wieder erkennen, wenngleich sein Gesicht auch dunkel war, da sich die letzte Kerze hinter ihm befand, erklärte ich bemüht ruhig:

„Ich weiß nicht, was das hier soll. Ich habe wirklich nichts getan!“

Stewart sah mich geduldig an. „Was habt Ihr nicht getan?“

„Ich habe niemanden umgebracht und ich-...“, ich brach ab, ehe ich den Satz Ich brach nicht bei Gilian ein. Beendete, denn mit einem Mal war ich unsicher, ob Stewart das bereits erwähnt hatte. Stattdessen fügte ich hinzu: „Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt. Bitte klärt mich endlich auf!“

Der Kreuzer lächelte nun und klopfte mir auf die Schulter. In seinen Augen lag Verständnis und das verwirrte mich nur umso mehr. „Meistens beginnen die Menschen, derer ich mich annehme, genau an diesem Punkt zu reden. Dann, wenn ich mein Werkzeug ausbreite, beginnen sie zu plappern wie ein Wasserfall. Aber – und das ist der Punkt – wenn ich fortfahre, sagen sie später etwas ganz anderes. Seltsam, nicht wahr?“, ich konnte hören, wie er außerhalb meines Sichtfeldes an das seltsame Rad in der Wand trat und es zu drehen begann. Fast zeitgleich vernahm ich leises Klirren und legte unsicher den Kopf in den Nacken. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich eine lange Kette hinunter kommen, die an der Decke befestigt war, an ihrem Ende zwei Handschellen. Mein Herz machte einen Satz, als mir bewusst wurde, für wen sie wahrscheinlich waren. Sollte das ein schlechter Scherz sein?!

Stewarts Stimme zog an mir vorbei, als wäre sie gar nicht mehr da: „Aber das ist normal. Sünder lügen meistens. Außer man hilft ihnen, sich zu öffnen. Wenn sie Schmerzen erleiden beispielsweise, dann tun sie Buße und durch diese Buße ist ein Stück für den heiligen Geist geöffnet. Dadurch kann der Herr dem Sünder helfen, zur Wahrheit zurückzufinden und zu beichten.“, er hielt an und drehte sich zurück zu mir, während er das wiederholte, was ich bereits im Kloster immer wieder gelernt hatte. „Schmerz, Falcon, ist der Weg zur Wahrheit und Buße, Falcon, ist der Weg zu Gott. Ihr, Falcon O'Connor, seid Mitglied einer ketzerischen Organisation, die sich zum Ziel gemacht hat die katholische Kirche zu schwächen, um Chancen auf eine eigene, stärkere Machtposition zu haben und mithilfe dessen politischen Einfluss auf die Städte von St. Katherine zu gewinnen. Um nicht entdeckt zu werden, arbeitet Ihr in einem Skriptorium, in Wahrheit jedoch unterstützt Ihr den Besitzer mit Namen Pepe dabei, gotteslästernde Werke zu verbreiten, um das einfache Volk zu blenden und benutzt den Mann Brad als Schutzschild, da dieser als sehr christlich erzogen gilt. Ihr habt Luke Caviness ermordet und anschließend versucht, Gilian Daly umzubringen, da diese zwei hinter Euer Geheimnis gekommen sind. Doch Daly hat Euch rechtzeitig bemerkt und es gelang ihm eine Wache zu verständigen, weswegen Euer Plan scheiterte. Die Beweise liegen klar auf der Hand:

Ihr besitzt ein Buch mit dem Namen Das Gleichnis der Samariter, so wie eine Arbeitsstelle in einem blasphemischen Skriptorium, außerdem behauptet ihr Zugang zur Deo Volente zu haben und spioniertet den Tatopfern nach, indem Ihr in Bäckereien und Geschäften Nachforschungen über diese anstelltet.“, ich starrte vor mich, als müssten all die Worte erst einmal auf mich wirken, fassungslos und ohne eine Idee, was ich entgegnen sollte. Stewart kam auf mich zu, stützte sich auf meine Rückenlehne und zischte mir ins Ohr, so nah, dass ich seinen heißen Atem spüren konnte: „Und wenn wir zwei hier fertig sind, werdet ihr das alles zugeben, verlasst Euch darauf, Ketzer!“, der letzte Satz brannte sich in mein Gehirn und verfolgte mich später noch so manche Nächte lang. Stewart griff mich an den Haaren, zog meinen Kopf nach hinten in den Nacken und fragte leise und bedrohlich: „Also? Wem gehört Ihr an, Falcon? Wie nennt sich diese Gruppe aus Häretikern, der Ihr angehört? Samariter?“

Ich verzog mein Gesicht vor Schmerz und wollte mich lösen, doch ein fester Ruck machte mir klar, dass das nicht so einfach werden würde. Gequält starrte ich zur Decke und die Kette entlang, bis sie im Dunkeln verschwand, leise flüsternd: „Es ist nicht gelogen, dass ich der Deo Volente angehöre. Ich bin Christ, wie Ihr und diene der Deo Volente, mehr kann ich nicht sagen. Bitte lasst von mir ab!“

Verächtlich ließ er mich los. „Wenn ich eines hasse, dann sind es Lügner. Wir haben in Eurem Zimmer Eure Aufenthaltsgenehmigung gefunden und auch einen Geburtsnachweis, außerdem Einbruchswerkzeug, so wie jede Menge Geld. Ihr seid ein mieser Verbrecher, mehr nicht. Die Papiere sind gefälscht und das Geld gestohlen.“, Stewart griff ein Messer und ich zuckte ungemein zusammen. Er schnitt meinen rechten Arm los, packte mich am Handgelenk und zog meinen Arm mit enormer Kraft nach oben. Er wurde so weit gestreckt, dass es schmerzte und ich Angst hatte, gleich reißt er ihn mir ab. Anschließend umfasste mich eng einer der kalten Eisenringe an der Kette. „Was ich nicht weiß, ist, wer Euch unterstützt, aber das bekomme ich noch raus.“, anschließend befestigte er auch meinen zweiten Arm.

Ich schüttelte ernst den Kopf und ließ alles mit mir machen, denn wehren konnte ich mich nicht. Und während Stewart meine Beine los schnitt, den Stuhl an die Wand stellte und das dortige Rad betätigte, erklärte ich hektisch: „Es ist nicht wahr, so, wie Ihr es sagt! Ich arbeite für die Deo Volente, ich bin ein Spion und hatte den Auftrag, Luke Caviness und Gilian Lynch auszuspionieren! Ich arbeite in einem christlichen Auftrag und Ihr behindert mich dabei!“, langsam wurde die Kette in die Höhe gezogen und ehe ich mich versah, stand ich nur noch auf den bloßen Zehenspitzen. Ich wusste nicht, wohin mit dem Kopf, denn meine Arme hingen fest aneinander und drohten ihn zu zerdrücken, also ließ ich ihn leicht auf meine Brust sinken. Ächzend aufgrund der unbequemen Haltung bat ich, obwohl mir Nevar mehrmals verboten hatte, seinen Namen jemals laut zu nennen: „Bitte schickt doch jemanden zu Domenico, er hat für mich gebürgt, er wird wissen, dass ich Recht habe!“, die Panik war stärker, als mein Verstand.

Statt aber Achtung zu bekommen und mich los zu machen, lachte der Kreuzer nur laut auf. „Also gesteht Ihr, dort gewesen zu sein? Sehr gut. Glaubt mir, Domenico ist ein viel beschäftigter Mann. Ihr würdet ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen, wenn ihr der Anführer der königlichen Garde wärt! Er gibt sich mit Menschen wie euch und mir nicht ab.“

Verzweifelt drehte ich mich zu ihm herum. „Aber ich habe ihn gesehen, mehrmals bereits! Er hat mich zu sich bestellt und ich arbeite für ihn, ob es Euch passt oder nicht!“

Mein Gegenüber kam gelassen auf mich zu, das Messer noch immer in der Hand und verschränkte die Arme. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen und ich bekam es mit der Angst zu tun. Wenn er mir nicht glaubte, was dann? Mehr, als die Wahrheit zu sagen, konnte ich doch nicht! Ich musste ihn überzeugen, aber wie?! Er lachte mir entgegen: „Das würde bedeuten, Ihr arbeitet für die Inquisition. Seltsam, so weit ich weiß, müsstet Ihr dann ein Schreiben haben, damit Ihr Situationen wie diesen hier ausweichen könnt. Habt Ihr solch ein Schreiben?“

„Nein.“, knurrte ich gereizt.

Sein Grinsen wurde breiter. „Könnt Ihr Euch sonst irgendwie ausweisen?“

„Nein, verdammt noch mal!“

„Dann seid Ihr nichts weiter, als ein Verbrecher, der in einem Haus eingebrochen ist, dort randaliert und einen Wachmann bei seiner Flucht verletzt hat, so einfach ist das. Selbst wenn ihr Domenico kennt, was ich nicht glaube wohlgemerkt, dann seid Ihr ohne Beweise nichts anderes, als ein normaler Bürger. Ihr habt keine Beweise? Dann liegt die Sache klar auf der Hand.“, Stewart begann, um mich herum zu laufen und hasserfüllt starrte ich zu Boden. Seine Stimme drang tief in meinem Kopf ein, leise, zischend und verheißungsvoll. „Ihr seid ein Mann, der einen anderen Mann ermorden wollte und einem zweiten bereits aufgelauert hat, um dort das Selbe zu tun. Laut Papieren und Akzent kommt Ihr aus Annonce, wer weiß, was Ihr dort schon angestellt habt? Ich sollte einen meiner Männer nach Annonce schicken und mich nach einem Falcon O'Connor erkundigen, meint Ihr nicht?“, er blieb hinter mir stehen, wieder spürte ich seinen Atem. „Aber ich denke, ich werde nichts finden, was auf einen Falcon O'Connor zutrifft. Ihr wart Mönch, steht in Euren Papieren, aber ich bezweifle, dass es je einen Falcon O'Connor in einem Kloster gab. Wofür sonst hättet Ihr neue Unterlagen anfertigen lassen müssen? Oder habt Ihr sie womöglich selbst gefälscht, Falcon?“, Stewarts Stimme wechselte vom rechten, zum linken Ohr. Angewidert schloss ich die Augen. „Ihr seid Kopist, wieso also jemand anderen beauftragen? Unterlagen zu kopieren dürfte Euch doch sicherlich leicht fallen, nicht wahr?“

„Ich diene der Deo Volente.“, zischte ich gereizt zur Antwort.

„Aber natürlich tut Ihr das.“, erneut packte er mich an den Haaren und er zwang meinen Kopf so weit in den Nacken, dass ich ein schmerzhaftes Hohlkreuz machen musste. Es fiel mir schwerer zu atmen und ich kniff die Augen zu, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Wie ich diesen Mann hasste, wie ich Gilian hasste und wie sehr ich Domenico verfluchte! Was spielte er für ein Spiel mit mir?! Stimmte es, dass Angehörige der Inquisition eine Art Beweis dafür hatten?! Einen Beleg dafür, dass sie keine Verbrecher waren?! Domenico hatte so ein Papier nicht einmal erwähnt, Nevar genauso wenig. Ich stöhnte leicht, als er mich noch weiter zurück zog und kämpfte darum, nicht den Halt unter meinen Füßen zu verlieren. Nicht mehr viel, schoss es mir durch den Kopf und meine Arme reißen. Es knackte kurz in meinem Rücken durch die ungewohnte Haltung und ich zuckte ungemein zusammen. Wenn er mir den Rücken brach, war es aus, ganz gleich, ob ich nun Domenico diente oder mir selbst. Deutlich und drohend fragte Stewart mich erneut: „Welcher Sache dient Ihr, Falcon? Wozu brecht Ihr bei unschuldigen Menschen ein und kopiert ketzerische Unterlagen?“

„Ich diene der Deo Volente und ich bin ein einfacher Kopist!“, fuhr ich ihn an, nun nicht mehr so ruhig. Er zog weiter an und ich kam nicht drumherum, einen leisen Schmerzenslaut auszustoßen. Das Blut schoss mir in den Kopf und drückte in meinen Schläfen, als würde ich einen Handstand machen.

„Falcon, Ihr versteht glaube ich nicht, in was für einer Lage Ihr Euch gerade befindet.“, murmelte er. Dann schrie ich erneut auf, etwas lauter und Tränen schossen mir in die Augen. Mit einem harten und schnellen Ruck hatte er die Klinge seines Messer quer über meinen Rücken gezogen. Nicht tief, aber durchaus schmerzhaft. Mein Körper begann zu zittern aufgrund der Anstrengungen und die Schnittwunde brannte und füllte sich beißend mit Blut. „Spürt Ihr das?“, fragte er wieder leise und erlöste mich mit einigen Schnitten von meinem Hemd. „Wenn ich mit Euch fertig bin, wird dieser Schnitt nicht mehr zu sehen sein.“

„Ich diene der Deo Volente.“, flüsterte ich erneut, die Zähne zusammen beißend. „Lasst von mir ab. Ihr bekommt Probleme, wenn Domenico erfährt, was Ihr mir antut.“

Doch Stewart lachte nur, meine leere Drohung für einen Witz haltend und ging zum Tisch. Ich richtete mich keuchend und schmerzerfüllt wieder auf, um ihm nachzusehen. Etwas Heißes lief meinen Rücken hinunter in meinen Hosenbund. Der Schnitt war nicht lang, aber tief genug, um ausreichend zu bluten. Die Wut in mir stieg und die Verzweiflung ließ es noch schlimmer werden. Zornig fuhr ich ihn an: „Ihr werdet sehen, was Ihr davon habt, mich, Domenicos Spion, zu verletzen! Ihr wisst ja nicht, was Ihr tut!“

Stewart griff nach einem Eisenstück, dann kam er zu mir zurück. Sein Grinsen wich Kälte und seine Augen musterten mich ungemein kühl. Ich wollte zurückweichen, als er mir entgegen kam, doch die Ketten hinderten mich daran und ich rutschte nur hilflos wieder in die Raummitte. Leicht panisch beobachtete ich das Metall, bis ich es endlich erkannte. Es war nichts weiter, als eine viereckige Stange, mit abgeflachtem Ende, fast wie eine Brechstange und bis auf einfache Prügel konnte man damit nicht anrichten. Trotzdem war ich nicht wirklich besessen darauf, sie an meinem Körper spüren zu müssen. Stewart ignorierte meine Drohungen desinteressiert und versetzte mir einen harten, festen Schlag in die Kniekehlen. Ich schrie auf und wollte mich krümmen, vergeblich aufgrund der Ketten und im nächsten Moment ließen meine Beine nach. Hilflos wimmernd und unter Schmerzen hing ich in meinen Fesseln. Ich verfluchte ihn, beschimpfte ihn als gottverdammten Hurensohn und der nächste Schlag ging direkt in meine Taille.

Ich weiß nicht, wie lange diese Prozedur weiterging, aber für mich erschien jede Minute wie ein gesamtes Jahr. Immer wieder fragte er, wer ich war und wie die Gruppierung hieß, der ich angehörte, doch egal wie oft ich es ihm versicherte, dass ich unschuldig war, er fuhr fort. Irgendwann stellte Stewart eine Kerze auf den Stuhl neben uns, um mir ins verheulte Gesicht sehen zu können. Es muss eine Fratze aus Schmerz und Verzweiflung gewesen sein, doch viel mehr galt seine Aufmerksamkeit meinem Oberkörper. Er fuhr mit den Fingern leicht über die Narben, die ich von der Feuerprobe davon getragen hatte und murmelte eher zu sich selbst: „Mann kann sie so stark spüren, das ist höchstens ein Jahr her.“, und mit einem Hauch Erkenntnis packte er mich daraufhin an den Haaren und wollte wissen, wieso ich diese Feuerprobe abgelegt hatte. Ich beharrte darauf, dass ich nicht wüsste, wovon er sprach und bereute es gleich daraufhin, denn Stewart war der Auffassung, dass demnach Feuer das beste Mittel war, mich zum Reden zu bringen.

Durch die Schmerzen blieb mir keine Zeit nachzudenken und das war wohl das schlimmste aller Gefühle, die ich in dieser Nacht vernahm. Ich konnte meinen Kopf nicht benutzen, nicht überlegen was ich sagen durfte und was nicht. Es war das schrecklichste, was ein Mensch empfinden konnte: So voller Schmerz zu sein, dass man glaubt, verrückt zu werden und irgendwann, wenn der Körper und auch der Geist das nicht mehr erträgt, beginnt man ja zu sagen, zu allem und jedem.

Ab einem gewissen Punkt hielt ich es nicht mehr aus und schrie nur noch: „Es tut mir leid!“, ohne die geringste Ahnung, was genau mir eigentlich Leid tat. Ich schrie es immer und immer wieder, brüllte es aus mir heraus, bis meine Stimme versagte und krächzte es noch Minuten lang danach. Ich flehte um Verzeihung, versprach mich zu bessern und schwor, nie wieder Fehler zu machen. Meinen Peiniger schien das zu verwirren, aber ich sah ihn nicht einmal mehr. Vor meinem inneren Auge war ich wieder im Bußzimmer und wurde für irgendetwas bestraft, was eine Strafe nicht einmal verdient hätte. Ab und an durchbrach Stewart diese Gedankengänge, verlangte dass ich gestehen würde und ich gestand. Ich gestand alles, was er wollte, gab alles zu und sagte zu allem Ja!, nur, damit er aufhörte. Als Antwort erklärte er ungerührt: „Endlich sprechen wir gleiche Sprache. Das Problem ist, nur, wenn wir zwei aufhören, werdet Ihr alles zurücknehmen. Spätestens dann, wenn die Schmerzen nachlassen. Und deswegen werden wir jetzt weiter machen, so lange, bis ich sicher bin, dass Ihr dabei bleibt, Falcon.“

Nach einiger Zeit dann hörte ich ein Klopfen. Es hallte an mir vorbei, als wäre es nur Einbildung, doch dann klopfte es erneut, lauter, eindringlicher und ich erhob müde meinen Kopf. Es dauerte einige Zeit, bis mir bewusst wurde, dass Stewart seine Tortur abgebrochen hatte und leicht gereizt zur Tür ging. Schlapp und kraftlos ließ ich meinen Kopf wieder sinken, erleichtert, dass es vorbei war. Meine Arme schmerzten, da ich an den Ketten gezerrt hatte und meine Schultern fühlten sich an, als würden sie bei der kleinsten Bewegung brechen. Noch nie zuvor war mein Körper so schmerzerfüllt gewesen. Ich bekam kaum etwas mit, aber ich spürte etliche Prellungen, Verbrennungen und schmeckte Blut. Wenn mich jemand fragte, was mit mir geschehen ist, so konnte ich es ihm nicht sagen, denn alles zog einfach an mir vorbei. Der halb dunkle Raum, der Geruch von verbranntem Fleisch und auch die Kälte des Bodens unter meinen Zehen. Das einzige, was ich nach langer Zeit wieder wahrnahm, war eine Stimme.

Kaum war die Tür geöffnet, fuhr Nevar Stewart an: „Wie könnt Ihr es wagen, mein Rufen zu ignorieren?!“, das war das erste Mal, dass ich den Mann laut sprechen hörte, seit ich ihn kannte und ich war unheimlich dankbar dafür.

Für einen kurzen Moment verlor ich das Bewusstsein, dann kam ich wieder zu mir und hörte Nevar erneut reden. Er schien gereizt, wenngleich er dennoch sehr ruhig sprach. „Ich nehme ihn jetzt mit mir. Ihr habt kein Recht dazu, einen Mann der Deo Volente so dermaßen zuzurichten.“

„Aber ich hatte durchaus einen Grund dafür. Er hat-...“

„Es interessiert mich nicht, was er getan hat!“, unterbrach Nevar ihn kühl und ich hörte, wie die Tür geschlossen wurde. „Ich nehme ihn mit, das ist mein letztes Wort.“

Stewarts Stimme nahm einen zornigen Klang an, während er leise erwiderte: „Ihr seid nicht befugt, so mit mir zu sprechen. Ihr steht weit unter mir. Raus!“

Doch sein Gegenüber schien nicht zuzuhören. Mein Kopf sank tiefer auf meine Brust und mein Nacken zog schmerzhaft, während ich versuchte weiter zuzuhören. Hätte ich Kraft gehabt, ich hätte Nevar angefleht, mich nicht zurückzulassen.

Doch dieser schien sich auch ohne meine Anfeuerung nicht einfach weg schicken zu lassen, denn er sagte fast schon desinteressiert:

„Es ist gut möglich, Stewart, dass Ihr über mir steht. Aber ich diene Domenico und zwar direkt. Ihr habt Euren Posten in einem ganz anderen Bereich und somit nicht annähernde Befehlsgewalt über mich. Und jetzt übergebt mir augenblicklich den Gefangenen, ehe ich mich vergesse.“

Einige Sekunden geschah nichts und ich sackte erneut weg, nur, um kurz darauf wieder zusammen zu zucken. Es fällt mir schwer die folgenden Ereignisse zu berichten, da ich sie kaum zusammenfassen kann. Ich fühlte mich, als würde ich schweben und fallen zugleich. Es schien, als hätte man mir sämtliche Kraft und sämtlichen Verstand hinfort geprügelt. Immer wieder hatte ich Gedanken, die nicht hierher gehörten, Bilder vor Augen, die ich nicht einordnen konnte und hörte Dinge, als würde ich zwischen Schlaf und Wachsein wandeln.

Mit benebeltem Blick sah ich kraftlos in Nevars Gesicht Dieser musterte mich ernst und fragte: „Könnt Ihr mich hören, Falcon?“

Ich konnte es, aber für eine Antwort war ich zu geschwächt und so schlossen sich meine Augen nur wieder. Ich spürte, wie er meine Stirn fasste und leise in einer fremden Sprache fluchte. Dann bekam ich mit, wie er Stewart raue Befehle entgegenbrachte, herrisch, aber ruhig. Der erste war: „Lasst ihn runter.“, daraufhin ruckte es kurz und ich sank in seine Arme. Dann folgte: „Macht ihn los.“, wieder gehorchte der Kreuzer genervt und man befreite mich von meinen Fesseln. Ich wimmerte leise, da die Eisenschellen tief in mein Fleisch geschnitten hatten. Anschließend verlangte Nevar: „Lasst mir ein Pferd holen.“

Diesmal widersprach Steward knurrend: „Pferde sind teuer.“

„Dann holt das Tier später eben vor der Deo Volente ab.“, ich spürte, wie Nevar mich in seinem Umhang einhüllte, dann hievte er mich über seine Schulter.

Unbewusst fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als ich aus dem Tollhaus floh und er mich fragte: Himmel oder Hölle, Sullivan? Damals hatte er mich genauso weg gebracht und meine Antwort wurde mir nur umso bewusster. Hölle... Das musste die Hölle sein...

Es schmerzte ungemein, als mein Körper sich gegen seine Schulter drückte und diese mir tief ins wunde Fleisch stach, doch zugleich war es unheimlich befreiend. Es war mir egal, dass es mir wehtat. Hauptsache war, er brachte mich weg.

Stewart allerdings schien von dieser Idee nicht sonderlich begeistert zu sein. Wahrscheinlich stellte er sich uns in den Weg, denn Nevar blieb mit mir stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Ich hörte die Stimme des Kreuzers weit, weit weg, als wäre der Raum unendlich lang geworden.

„Ich denke nicht daran, Euch eines meiner Pferde zu geben. Ihr hättet ja mit einem hier her kommen können. Das Pferd sehe ich doch nie wieder!“

„Soll ich diesen Mann etwa durch die ganze Stadt tragen? Gebt mir ein Pferd oder ich werde Domenico melden, dass Ihr ungehorsam gegenüber seinem höchsten Mann seid.“

„Du wagst es mir zu drohen, Abtrünniger...?!“, nun war Stewart wütend „Du?! Denk nicht, ich lasse mich von dir einschüchtern, nur, weil du dem alten Mann die Stiefel lecken darfst, Abschaum...!“

Nevar interessierten seine Beleidigungen nicht. Er legte lediglich einen Arm um meine Beine, damit ich nicht weiter rutschte. „Ihr werdet unverschämt, nicht nur mir gegenüber.“, stellte er dabei völlig ruhig fest.

Stewart spuckte neben sich aus. „Gut möglich. Aber eines ist sicher: Einem Ketzer wie dir würde ich nicht einmal meinen schlechtesten Esel geben. Brennen solltest du, wie deine verfluchte Familie, du verdammter Bastard!“

„Wenn ihr fertig seid, so blasphemisch herum zu fluchen, würde ich gerne vorbei. Der Mann wird schwer.“, hörte ich Nevar knurren. „Ich habe scheinbar einen weiten Weg vor mir. Wenn Ihr also so freundlich wärt?“

Ich sackte erneut weg.
 

Als ich die Augen ein drittes Mal öffnete, ging Nevar mit mir durch den kühlen Flur des Gebäudes. Ich erkannte die Gänge wieder, denen ich in Fesseln gefolgt war, die Fackeln an den Wänden und auch die großen Türen zwischen den Stützbalken. Er brachte mich hinaus, setzte mich dann an einer Mauer ab, nicht weit von den zwei Wachmännern und wies mich leise an, zu warten. Ich gehorchte benommen, hatte ich eine andere Wahl? Mein Körper zitterte vor Kälte und Schwäche und mir wurde ungemein schlecht. Ich wollte mich erbrechen, wagte es aber nicht, aus Angst, ich könnte daran ersticken. Nach einigen Minuten dann hörte ich Hufschlag. Ein Pferd wurde direkt vor mir zum Halten gebracht und Nevar befahl einer der vor dem Wachhaus positionierten Soldaten, mich hinauf zu hieven.

Der Blaurock zögerte und wollte wissen, ob Nevar die Erlaubnis hätte, das Ersatzpferd von Kommandant Stewart zu benutzen. Dieser nickte fast wie selbstverständlich. „Natürlich, sonst hätte ich es ja nicht. Ich werde es wohl kaum gestohlen haben, nicht wahr?“

Das leuchtete natürlich ein und so spürte ich, wie man mich auf das Pferd hinauf schob. Nevar setzte mich breitbeinig vor sich, mit dem Rücken zu ihm und band mich mit einem Seil an sich fest, dann ritten wir los.

Anfangs versuchte ich, Haltung in meinen Körper zu bringen, doch nach einiger Zeit gab ich es auf und sackte fast wie leblos zurück. Er schlang einen Arm um mich, um mich zu stützen und es dauerte nicht mal zwei Minuten, da schlief ich ein und das, obwohl ich noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen hatte. Das Geruckel brachte mir Schwindelgefühle und das Hoch und Runter ließ mein Steißbein schmerzen, doch das regelmäßige Klappern der Hufe auf den Steinen hüllte mich vollkommen ein.
 

Ich kam erst sehr viel später zu mir, als Nevar rief: „Francesco!“, und da niemand zu antworten schien, rief er erneut, etwas lauter: „Francesco!“

Langsam öffnete ich die Augen und merkte, dass meine linke Schläfe stark geschwollen war. Ich sah mich um. Wir befanden uns auf dem Platz des alten Henrys, wie ich ihn nannte, direkt vor der Deo Volente. Das Gebäude erhob sich vor mir, als wäre es ein gigantischer Koloss und ich meinte, zu schweben, bis ich mich daran erinnerte, dass ich auf einem Pferd saß.

Nevar hatte die Kapuze tief über mein Gesicht gezogen, als müsste er mich verstecken, dennoch spürte ich die kalte Luft des nahenden Morgens auf meinen Wangen.

Weiter oben öffnete sich ein Fenster und der Kopf eines jungen Mannes mit braunem Haar schob sich heraus. „Meister Nevar?“

Der Angesprochene drehte das Pferd etwas und forderte ihn auf: „Komm runter, ich brauche deine Hilfe.“

Sofort verschwand das Gesicht wieder und das Fenster schloss sich. Ich bekam mit, wie man mich vom Seil löste und dann, wie jemand aus der Deo Volente trat. Francesco war außergewöhnlich klein und dünn, ungefähr um die zweiundzwanzig Jahre und hatte ein freundliches Gesicht zwischen spitzen Wangenknochen und einer tief liegenden Nase. Er half Nevar, mich zu lösen, ohne Fragen zu stellen und dann, mich ins Innere zu bringen. Wenn ich mich nicht irre, gab Nevar dem Tier zuvor noch einen Klaps, worauf dieses laut wiehernd davon rannte.

Die zwei stützten mich von beiden Seiten und brachten mich durch die hohen Flure des Gildenhauses. Ich war unsicher, ob ich in meinem Zustand wirklich zu Domenico wollte, zudem war es überall dunkel. Nicht einmal die Kerze unter der Jesusfigur brannte, nur eine kleine Kerze in Francescos Hand erhellte unseren Weg etwas. Er schloss jede Tür hinter uns mehrmals ab und schob einen schweren Holzriegel davor, dann kamen wir in den Raum mit der Treppe zu Domenicos Zimmer. Zu meiner Erleichterung bogen wir durch die Tür, die unter dieser Treppe hindurch führte und folgten einem weiteren, langen Flur. Auch dieser war dunkel, die Decke endete in spitz zulaufenden, abgerundeten Bögen und zwischen jedem Stützbalken gab es alte, kleine Ölgemälde. Ich hatte keine Zeit, sie zu mustern, da ich zu sehr damit beschäftigt war, nicht wieder zusammen zu brechen. Meine Füße waren unterkühlt durch das lange Reiten und jede Fliese unter meinen Fußsohlen stach schmerzhaft bis in die Knochen.

Sie brachten mich in ein kleines Zimmer am Ende des Flures mit viereckigem Fenster, vor dem ein Scheren-Ziergitter war. Nevar legte mich vorsichtig auf ein Bett direkt davor und begann, mich aus dem Umhang zu befreien, während Francesco einige Kerzen an den Wänden entzündete. Mit jeder Kerze und jedem bisschen mehr Licht wurde ich unsicherer und hilfloser. Ich befand mich in einer Art Schlafkammer, die man scheinbar bereits sehr lange nicht mehr benutzt hatte. Nevar wies den Geistlichen an, Verbandsutensilien zu besorgen und nachdem er wieder zurückkehrte, abzuschließen. Ich registrierte, wenn auch nur benommen, dass Francesco alles tat, ohne Fragen zu stellen und mich dabei immer wieder unsicher musterte. Seine Augen waren voller Sorge, obwohl er mich nicht kannte, was mich auf einen sanften und sensiblen Charakter schließen ließ. Er half Nevar, mich zu verarzten und mich unter mehrere, dünnere Decken zu legen, um mich ein wenig zu wärmen. Irgendwann erkundigte sich der junge Mann leise: „Soll ich Herr Domenico Bescheid geben, Meister Nevar?“

„Nein.“, ich hörte an der Nähe ihrer Stimmen, dass sie direkt neben mir waren, wagte es aber nicht, die Augen zu öffnen. „Er soll vorerst nicht wissen, dass dieser Mann hier ist. Sage zu niemandem ein Wort.“

„Aber-...“

„Ich nehme jede Verantwortung auf mich.“, dieser Satz wirkte ungemein beruhigend auf den jungen Mann, denn er fragte nicht weiter nach, sondern schloss das Fenster direkt über mir, indem er sich über das Bett beugte. Ich nahm den Geruch von fremdartigen, aber durchaus angenehmen Blüten wahr, der scheinbar von ihm ausging. Anschließend setzte er sich auf die Kante meines Bettes und fragte leise:

„Wer ist dieser Mann?“

Nevars Stimme nahm einen verächtlichen Klang an. „Falcon, einer unserer Spione. Stewart hat ihn festgenommen und gefoltert, dieser Idiot. Ich werde mit Domenico sprechen müssen.“

„Die heilige Eminenz ist bis Ende der Woche beschäftigt.“, erklärte Francesco leicht entschuldigend.

„Verstanden. Dann kündige mein Kommen an. Ich werde ihn aufsuchen, sobald ich kann.“

„Wie Ihr wünscht. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun, Meister Nevar?“

„Versorge Falcon und sorge dafür, dass er hier bleibt, bis alles geregelt ist.“, ich hörte ein leises Seufzen von Nevar. „Und zu keinem ein Wort. Domenico wollte nicht, dass die Folter unterbrochen wird. Wenn er erfährt, dass Falcon hier ist, ist er ein toter Mann. Ich muss zuerst mit ihm sprechen.“

„Sehr wohl.“, die Tür wurde geöffnet und ich spürte am Heben der Matratze, dass Francesco sich erhob, um Nevar zu verabschieden. „Ich habe von eurer Mission gehört, ich wünsche Euch alles Gute, Ihr werdet es brauchen.“

„Was hast du gehört, Francesco?“

Nun, wo die Stimmen etwas weiter weg waren, wagte ich es, ihnen einen leichten und versteckten Blick zuzuwerfen. Ich öffnete die Augen einen Spalt und versuchte, sie zu finden. Mein Kopf dröhnte stark und es kostete mich viel Kraft gegen die Schmerz betäubenden Mittel anzukämpfen. Alles, was ich erkannte, war Francesco, der mit dem Rücken zu mir stand. Nevar war hinter ihm in der Tür, bereit zu gehen. Der junge Mann antwortete leise und flüsternd, wahrscheinlich, damit ich es nicht mitbekam:

„Nicht viel, aber genug, um zu wissen, dass es gefährlich werden wird. Die Posten haben sich verschoben, so weit ich hörte. Aber Ihr wisst, dass ich nicht über solches reden darf. Hier, das ist für Euch... Dort steht alles Wichtige.“

„Ich danke dir.“, Nevar ließ es in seinem Umhang verschwinden, ohne dass ich sah, um was es sich handelte. „Auf bald.“

„Gott sei mit Euch.“

„Was auch immer.“, dann fiel die Tür zu.

Francesco drehte sich zurück zu mir. Meine Aufnahmefähigkeit war beeinträchtigt und so bemerkte er meine geöffneten Augen, ehe er mir freundlich entgegen lächelte. „Ihr müsst schlafen, Falcon.“, der Geistliche setzte sich wieder an meinen Bettrand, schloss meine Augen und flüsterte: „Schlaft...“

Es war, als hätte er einen Zauber gesprochen. Die darauffolgenden, stillen Sekunden betäubten mich und auch die Fragen, wer Francesco war, was für eine Mission Nevar hatte und was nun mit mir geschehen würde.

Ohne es zu wollen, schlief ich ein...

Nevars Geheimnis

Es dauerte laut Francesco zwei Tage, bis ich wieder vollkommen zu mir kam und es dauerte zwei weitere, bis mir bewusst wurde, wo genau ich mich befand. Wie meine Vermutung gewesen war, hatten sie mich in eine kleinere Schlafkammer gebracht, die eigentlich für Gäste gedacht war. Da aber über den Winter niemand so lange Reisen unternehmen würde, hatten sie mich dort untergebracht, in der Hoffnung, niemand findet mich.

Während der gesamten Zeit, die sich auf mehrere Wochen ausdehnte, verließ ich das Zimmer nicht und befand mich größtenteils im Bett. Francesco hatte mich gewaschen und in ein weißes Hemd gekleidet, wobei ich unsicher war, ob er das allein bewerkstelligte, denn er war weitaus kleiner als ich. Die Verletzungen, die mir von der Folter blieben, konnte man einfach zusammenfassen:

Stewart hatte mich größtenteils nur verprügelt, was etliche Blutergüsse, Schwellungen, Prellungen und blaue Flecken nach sich zog. Die schlimmsten Wunden waren jene, die er mir mit dem glühenden Eisen zufügte, aufgrund der Mixturen, mit denen er sie einrieb. Die Brandverletzungen heilten besonders langsam und schwollen an, was Entzündungen zur Folge hatte. Besonders mitgenommen waren meine Handgelenke gewesen, in die die Eisenhalterungen teils so tief schnitten, dass mir das Blut bis zum Ellenbogen hinunter gelaufen war. Das würde Narben hinterlassen, so viel stand fest und diese würden nicht so einfach zu verstecken sein, wie die restlichen an meinem Körper.

Das jedoch das war meine kleinste Sorge.

Meine größte war während der gesamten Tage: Was hatte ich nun eigentlich gesagt? Was hatte ich Stewart gestanden, was hatte ich ihm erzählt und was wusste er jetzt von mir? Hatte ich geäußert, dass mein Name Sullivan O'Neil war?

Ich musste mit Nevar sprechen, dringend. Ich verstand nichts von dem, was passiert war und am wenigstens die momentane Situation. Domenico hatte nicht gewollt, dass die Folter abgebrochen wurde, doch wieso?

Nevar kam während dieser Tage kein weiteres Mal und Francesco war durch und durch für mich verantwortlich. So weit ich es verstand, war er ein Gottesdiener, so erklärte er es mir zumindest. Das bedeutete, er war kein Mönch, aber auch kein Priester, sondern ein Diener direkt unter Gott, sprich unter Domenico. Er diente ihm innerhalb der Deo Volente, verließ also niemals das Gebäude, sondern durfte es nur mit Erlaubnis verlassen und sich dann auch niemals weiter als drei Meter entfernen. Angelegenheiten außerhalb dieser Wände gingen ihn nichts an und durften ihn nicht interessieren, sonst könnte er sehr große Probleme bekommen. Aus diesem Grund bat er mich, sämtliche Angelegenheiten bezüglich der Geschehnisse nicht mit ihm zu klären, denn er durfte und konnte nicht einmal etwas dazu sagen. Ich musste es hinnehmen und hatte keine andere Wahl, als meine Gedankengänge so lange mit mir herum zu tragen, bis Nevar zurückkehrte. Zudem wollte ich Francesco keine Probleme machen.

Ich mochte ihn, er war mir sympathisch. Ich lernte Francesco als einen sehr munteren und fröhlichen jungen Mann kennen, ganz anders als die katholischen Diener, die ich bisher gekannt hatte. Zwar redete er nie, außer, man sprach ihn an, aber meistens hörte man seinen Gesang durch die Deo Volente klingen, wenn er umher lief. Er war auch derjenige gewesen, der das Gebetslied gesungen hatte, während ich in Domenicos Zimmer gewesen war. Seine direkten Aufgaben bestanden darin, dafür zu sorgen, dass Domenico alles hatte, was er brauchte. Zudem sorgte er im Gebäude für Ordnung. Er trug die Schlüssel bei sich, entzündete und löschte die Kerzen, hatte Sorge zu tragen, dass jede Tür sorgsam abgeschlossen wurde und musste die anderen Bediensteten stets daran erinnern, ihre Aufgaben zu erfüllen. Durch ihn bekam ich direktere Einblicke in die Gilde und verstand ihren Aufbau und ihr System.

Die genaue Anzahl der Leute beschränkte sich auf sechs Personen:

Domenico, die führende Person des Hauses; Francesco, sein direkter Bediensteter; zwei Wachmänner, die Domenico begleiteten, wenn er es wünschte und drei Boten, die Nachrichten empfingen oder überbrachten. Die restliche Deo Volente befand sich laut Francesco außerhalb und konnte ein- und ausgehen, wie es ihr beliebte. Francesco kannte sie alle, sprach mit jedem und begrüßte jedes neues Mitglied herzlich, weswegen er sehr beliebt war. Menschen wie ich, erklärte er mir, kannte er jedoch meist nicht. Jene, die meine Position hatten, galten als Äußere Bruderschaft, da sie nicht offiziell zur Deo Volente zählten und somit nicht bekannt sein durften. Es war selten, dass Nevar jemanden aus der Äußeren Bruderschaft mitbrachte und ihm vorstellte. Auch er selbst gehörte laut Francesco dazu und war wahrscheinlich dafür zuständig, dass die innere und die äußere Bruderschaft nicht miteinander in Konflikt gerieten, genau verstehen tat er es aber auch nicht.

Ich bat ihn mehrmals, das Zimmer verlassen zu dürfen und wenigstens im Flur umher gehen zu können, aber Francesco lehnte jedes Mal ernst ab, mich ermahnend, dass das mein Tod sein könnte. Er verstand selbst nicht, worin genau das Problem bestand, aber wir sollten beide Nevar vertrauen und einfach warten, bis die Gefahr vorbei war. Mir blieb keine andere Wahl als auf meinem Bett zu sitzen und aus dem Fenster zu starren, aber selbst das durfte ich nur nachts. Francesco gab sich allerhand Mühe, mich irgendwie aufzuheitern und brachte mir öfters die unglaublichsten Leckereien mit. Es handelte sich dabei um Geschenke an Domenico, die er aber aufgrund seines Schwurs der Einfachheit nicht annehmen konnte, da er Geschenke nicht entgegen nehmen durfte. Und auch wenn ich diese kleine, positive Sache genoss, so war es mir dennoch unheimlich unangenehm, so unter Francescos Obhut zu leben. Man merkte, dass er es gewohnt war, wahrscheinlich diente er Domenico ebenso, aber es war ein seltsames Gefühl, zuzusehen, wie er meine Bettpfanne entleerte oder das schmutzige Besteck hinaus brachte. Ich fühlte mich schlecht, wenn er begann mein Bett zu machen, das Kopfkissen auszuschütteln oder die Kerzen gegen Abend löschte.

Ich begann mich im Zimmer zu fühlen, als wäre ich ein Gefangener und wenn mich Albträume über Stewart und meine Feuerprobe wachhielten, lief ich auf und ab und durchsuchte das wenige Mobiliar. Es beschränkte sich auf ein Bett, ein leeres Bücherregal und einen Tisch mit Hocker. Die Schublade im Tisch war ebenso leer wie alles andere in diesem Raum, nur mein Kopf war es nicht und das machte mir zu schaffen. Die Gedanken ratterten nur so umher und brachten mich fast um den Verstand. Es gibt nichts schlimmeres, als sich ununterbrochen die gleichen Fragen zu stellen und keine Antworten zu finden.

Fast noch schlimmer war die Tatsache, dass ich voll und ganz auf Francesco angewiesen war. Nur er konnte mich verarzten, nur er konnte die Kerzen entzünden, nur er konnte die Tür auf- und zuschließen. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, ihn zu bestehlen oder gar niederzuschlagen, verwarf die Idee aber aufgrund meines schlechten Gewissens wieder. Jeden Mittag und Abend, wenn er zu mir kam, fragte ich nach Nevar und auch ihm fiel meine Ungeduld auf. Er begann ab dort jeden Abend eine Stunde bei mir zu bleiben. Dann setzte er sich auf den Hocker an mein Bett, erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden und bot mir an, Fragen zu beantworten, die er beantworten konnte. Auf die meisten ging er nicht einmal ein oder er wusste nichts mit ihnen anzufangen. Ich wurde nicht schlauer, was Nevar betraf, seinen Auftrag,oder sein genauer Posten in der Deo Volente. Auch konnte er mir nicht sagen, wieso Domenico mir nicht hatte helfen wollen oder wieso man mir keinen Nachweis meines Standes gegeben hatte, so, wie es laut Stewart üblich war. Dafür lernte ich aber, wie die Deo Volente genau entstanden war.

Sie war nicht von Domenico gegründet worden, wie ich es angenommen hatte, sondern bereits vor gut fünfzig Jahren von einem Orden aus katholischen Priestern. Damals hatte die Inquisition noch nicht viel mit der Deo Volente zu tun gehabt und die Grundidee war gewesen, ein verbessertes Verhältnis in der Stadt zu schaffen. Das haben sie versucht umzusetzen, indem sie beispielsweise Essensausgaben organisierten und regelmäßige Spenden einsammelten, um Armen zu helfen. Leider verfügte Brehms damals noch nicht über solchen Ausmaß an Reichtum, weswegen es nicht wirklich ein Erfolg war und es entstand die Idee, eine Gilde zu gründen, in der sich sämtliche Katholiken gegenseitig unterstützen konnten. Die gesammelten Gelder, die die Mitglieder regelmäßig zahlten, wurden dann für Arbeits-, Armen- oder Krankenhäuser gespart, so wie für Waisenhäuser oder Kirchenrestaurationen, für katholische Kulturschätze, Klosterbauten und Bildung.

Nachdem die Deo Volente dann an Größe gewann, begannen auch andere, kleinere Gilden sich in die Deo Volente einzugliedern, Pakte zu schließen und diese zu unterstützen.

Man konnte also behaupten, dass es stimmte, was Domenico sagte:

Ohne die Deo Volente wäre Brehms heute noch immer eine Stadt, ähnlich wie Annonce.

Ich fand es erstaunlich, wie viel es bewirken konnte, wenn man sich für Gilden und Zünfte zusammen finden konnte. Wieso galt dann noch immer das Verbot in Annonce? Sah man denn nicht, was für unglaubliche Veränderungen das mit sich brachte?

Ich lernte in der kurzen Zeit viel von Francesco, denn er erklärte mir die verschiedensten Dinge. Nie zuvor hatte ich vermutet, dass die Inquisition auch in anderen Ländern existierte und noch weniger, dass dort in der Vergangenheit sogar Kriege herrschten. Mein Blick war nie über St. Katherine hinausgegangen und auch während meiner Zeit auf See, hatte ich nichts anderes gesehen, als den Annoncer Hafen oder ein unbedeutendes Niemandsland. Aber laut Francesco gab es Länder, in denen die katholische Kirche nicht anerkannt war und in welchen diese nun versuchte, sich durchzusetzen, um die Menschen auf den rechten Weg zu führen.

Mir kam der Gedanke, dass Nevar mit großer Wahrscheinlichkeit aus einem solchen Land stammte. Seine Schriftstücke verfasste er meist in einer fremden Sprache und selten flüsterte er ausländische Worte. Und was war mit meiner Zeit in dem Bauernhaus?

Stets war ich dort alleine gewesen, außer Nevar hatte nach mir gesehen, doch irgendwann kam es immer öfters, dass er nicht alleine war und dann vernahm ich Stimmen. Es interessierte mich nicht, mit wem er dort sprach, aber neugierig war ich trotzdem. So saß ich dann auf dem kalten Boden, starrte vor mich hin und lauschte, so gut es eben ging.

Nevar und seine Gäste sprachen stets in einer mir fremdländischen Sprache. Sie hatte etwas sinnliches und wirkte sehr emotional, da sie oft das R rollten und die Stimme besonders intensiv schwangen, aber gehört hatte ich sie zuvor noch nie.

Was war das für eine Sprache und aus welchem Land kam Nevar? Wieso kam er nach St. Katherine? Oder viel mehr: Was tat er bei der Deo Volente?

Auch das fragte ich Francesco an einem Abend und dieser nickte ernst, ehe er mir erklärte:

„Die Wenigsten wissen etwas über Nevar, das Gleiche gilt für mich. Er dient der Deo Volente bereits seit Jahren und ist ein enger Vertrauter von Domenico. Eigentlich ist er ein einfacher Spion, so wie Ihr, aber durch seine lange Zeit bei uns hat er sich inoffiziell einen hohen Rang erkämpft.“, Francesco saß wieder neben mir auf einem Hocker, ich saß in meinem Bett und sah ihn interessiert an. Er hatte mir gerade das Abendessen gebracht und wollte das Besteck hinaus bringen, als ich ihn bat, mir Gesellschaft zu leisten. Ohne zu fragen ging er der Bitte nach und ließ sich mit Fragen durchlöchern.

„Inoffiziell?“, hakte ich nach. „Ihr habt ihn Meister Nevar genannt, steht er etwa nicht über Euch?“

„Nun, das ist eine komplizierte Sache.“, der junge Diener sah nachdenklich vor sich und ich ließ ihn gewähren. Francesco war anders, als Nevar, er ignorierte Fragen nicht und wich ihnen nicht aus. Manchmal brauchte er einige Zeit, um die richtigen Worte zu finden, aber irgendwann ging er auf alles ein.

Nach einem kurzen Schweigen räusperte er sich und erklärte mir freundlich: „Ich stehe über alles und jedem hier, bis auf Domenico, denn ich bin Domenicos direkter Befehlsempfänger. Aber zugleich ist Nevar unheimlich klug und erfahren, deswegen habe ich großen Respekt vor ihm. In meinen Augen ist er ein Meister und steht weit höher als ich.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“, gab ich zu.

Francesco nickte abermals und legte die Hände geduldig in den Schoß. Eine Geste, die er oft machte, wenn lange Erklärungen vor ihm standen. Er schien damit sagen zu wollen: Er würde so lange sitzen bleiben, bis alles erklärt und verstanden wurde, was es zu erklären und zu verstehen gab. Ich beneidete ihn um seine Geduld, denn meine Fragen wären dem einen oder anderen sicherlich lästig erschienen. Doch Francesco störte es nicht, er erklärte nur:

„Als ich ein kleiner Junge war und bei dem vorherigen Hausdiener in der Lehre, habe ich Nevar kennen gelernt. Es ist gut sieben Jahre her. Er kam hier her, so wie Ihr: Schwer verletzt. Bis dahin habe ich ihn nie gesehen. Der Hausdiener trug mir auf, mich um ihn zu kümmern, in diesem Zimmer hier.“, Francesco sah sich etwas verträumt um, ich folgte seinem Blick interessiert. „Er sah schrecklich aus, was geschehen ist weiß ich nicht. Nevar war einen ganzen Monat hier drin und ich habe ihm jeden Tag Essen und Trinken gebracht und ihn ausgefragt, was er so tut.“, sein Blick wechselte wieder zu mir. „Ihr müsst wissen, ich bin ein sehr neugieriger Mensch, auch wenn es mir nicht zusteht. Wir kamen das eine oder andere Mal ins Gespräch und irgendwie habe ich es im Laufe der Jahre nicht ablegen können, ihn so anzusprechen, als wäre ich weiterhin nur ein Lehrling.“

„Aber eigentlich steht er weit unter Euch, nicht andersherum, richtig?“

Der junge Mann nickte. „Richtig. Nevar ist ein sehr ernster und äußerst großzügiger Mensch, aus diesem Grund schätze ich ihn und selbst wenn ich Domenicos Stand erreichen würde, was niemals geschieht, ich würde ihn niemals als einen Bediensteten ansehen. Es ist vielleicht etwas übertrieben, aber Nevar war eine Zeit lang eine Art Vater für mich, wenngleich er offensichtlich nur Ketzersworte spricht. Ich denke, da ich eine Waise bin, habe ich diese Verbindung etwas übertrieben aufgefasst, doch so war es nun einmal.“

„Ich verstehe.“, Francesco schenkte mir noch einmal ein Lächeln, dann stand er auf und begann aufzuräumen. Er hatte mir ein Buch mitgebracht, in dem es um einige, uninteressante Kirchendinge ging, dieses stellte er mir nun ins Regal. Anschließend schob er den Hocker unter den Tisch und nahm die zweite Decke aus dem Schrank, um sie mir zu geben. Während er sie über meiner ersten ausbreitete, fragte ich: „Von wo stammt Nevar, Francesco? Er wirkt wie ein Ausländer auf mich.“

„Ihr interessiert Euch sehr für ihn.“, stellte er schmunzelnd fest. Ich ignorierte die Bemerkung und nachdem alles seine Ordnung hatte, ließ er sich wieder auf den Hocker sinken. „Nun, ich weiß nicht von wo er kommt. Aber dass er ein Ausländer ist weiß ich ebenfalls. Er hält es geheim und ich bin bemüht, dem gleichzukommen.“

„Er hält es geheim?“, ich sah ihn fragend an. Francesco nickte ernst und sah auf seine Hände.

„Ausländer sind hier nicht gern gesehen, abgesehen von Händlern und selbst die haben begrenzte Rechte, so weit ich es verstehe. Als Nevar damals hier her kam, hatte er Fieber und sprach wirres, ausländisches Zeug. Ich habe ihn nie darauf angesprochen.“

Ich zog eine Augenbraue hoch, dann öffnete ich das Fenster. Die Luft war im Laufe des Tages unerträglich geworden. „Ihr sagtet Ihr wart sehr neugierig. Ihr habt doch sicher gefragt?“

Francesco sah mir schweigend zu, dann gestand er leise: „Ich habe mich nicht getraut. Ich hatte Angst, es wäre ein Geheimnis was er dort redet und wenn er erfährt, dass ich es weiß, misstraut er mir. Ich hatte Recht damit, denn letztlich wissen nur die wenigsten davon, dass er nicht von hier ist. Er spricht sehr gut unsere Sprache und einen Akzent merkt man auch kaum. Nun, aber es gibt Gerüchte.“, sofort erweckte er meine Neugierde und das brachte ihn leicht zum Grinsen. Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Aber zu tratschen ist nicht meine Aufgabe.“

„Ich bin Spion.“, scherzte ich. „Ich lebe von Klatsch anderer.“

Das brachte Francesco zum Lachen. Es war ein schönes Lachen, ehrlich und aufrichtig. Er rückte etwas näher an mein Bett heran, wobei der Hocker laut über den Boden schabte und beugte sich etwas zu mir. „Nun gut, ich will Euch sagen, was ich vermute. Ausnahmsweise, da ich so Mitleid mit Euch habe. Aber von mir habt Ihr es nicht, in Ordnung?“, ich nickte nur und so begann er flüsternd: „Und zuvor muss ich noch etwas anderes erklären, damit ihr meinen Gedankengang verstehen könnt.

Wenn man mit dem Schiff fort segelt gibt es einen weiteren Kontinent, so sagt man. Da herrschten die heiligen Kriege, von denen ich Euch erzählte. Dort gibt es viele, gottlose Länder mit Unmengen an Völkern, bestehend nur aus Ketzern. Unter anderem gibt es dort eine Stadt, die direkt am Meer liegt und bekannt ist als großes Handelszentrum, sie heißt Osyla. Etliche Flüsse führen vom Landinnern aufs Meer hinaus und es gibt riesige Hafenbuchten. Die Kriege begannen dort in dieser Stadt, denn Anfangs beruhten die Unruhen nur auf Handel, indem man versuchte die heidnischen Waren abzufangen, ehe sie unser Festland erreichen konnten. Die Kirche belagerte Osyla, die Stadt wurde damals von den Asaharen regiert. Asaharen, das sind die Menschen aus dem Asaharischen Reich. Sie sind Heiden und lehnen den christlichen Glauben ab, sie haben teilweise sogar eigene Götter. Die Asaharen versuchten selbstverständlich die Katholiken zu vertreiben und verbündeten sich kurzzeitig mit dem Nachbarland, Sorelit. Den Sorelitern und Asaharen gelang es aber nicht, die Katholiken zu vertreiben, da die Soreliter die Asaharen hintergingen und so nahm die Inquisition das gesamte Land ein.“

Die Namen und Begriffe schwirrten nur so in meinem Kopf herum und ich versuchte alles zu ordnen, doch ganz gelingen tat es mir nicht. Verwirrt fragte ich: „Und weiter? Sind die Asaharen nun tot?“

Francesco schüttelte den Kopf. „Nein. Die Asaharen an sich zwar schon, aber es gibt einzelne Teilgruppen, die ihren Glauben weiterhin praktizieren. Das Land selbst gilt jetzt als Teil von Sorelit. Diese haben der katholischen Kirche das Land überlassen, im Gegenzug hat diese einen Eid geschworen, der Bevölkerung nicht weiter zu schaden. In der Folgezeit geschah es nun aber, dass die Asaharischen Gruppierungen sich vergrößerten und einen Pakt mit den umliegenden Nachbarländern gründeten, was die Kirche ihnen gleichtat und was letzten Endes in einem großen Krieg mündete.

Kurzzeitig geriet dieser Teil Sorelits, was ja zuvor das Asaharische Reich war, wieder unter die Kontrolle der Heiden, allerdings folgte daraufhin ein großer Kreuzzug. Diesen Krieg entschieden hat Selando Kora von Kolonnia, denn es gelang ihm die asaharischen Truppen und ihre Verbündete in das Bogarische Reich zurückzudrängen und sie zur Kapitulation zu zwingen, das gleiche galt für Sorelit, denn diese haben versucht während der Unruhen Teile von Gonorra einzunehmen, eines der Verbündeten und schwächeren Nachbarländer. Mittlerweile ist der katholische Glaube in den Ländern gefestigt, allerdings gibt es immer wieder einzelne und kleinere Gruppen, die versuchen das Christentum zu stürzen. Während der Zeit, in der das ehemalige Asaharische Reich wieder den Asaharen gehörte, empfanden die Heiden dies als Befreiung, da die katholische Kirche sämtliche Ketzereien bestraften, nun, wo sie aber wieder unter der Krone der Katholiken lebten, fühlten sie sich unterworfen. Einige unternahmen die Flucht in umliegende Reiche, unter anderem Sorelit und man begann, den Menschen die Auswanderung zu verbieten. Sorelit bekam keine zweite Chance und es wurde ein neues Land gegründet: Jeroba. Sorelit empfand dies als Beleidigung, zudem als Kriegserklärung. Frerosanches Donnaserro, der damalige Kaiser dieses Reiches, verstarb an einer Lungenkrankheit und sein ältester Sohn Gonzo Veranches Donnaserro übernahm die Führung des Militärs, um die asaharischen Ländereien zurückzuerobern. Das führte zu einer militärischen Katastrophe, denn er verbündete sich mit einigen, kleineren Städten, die dafür kämpften, Handel wieder frei betreiben zu dürfen. Jerobas König Alexander Sorades bat den Papst um Unterstützung gegen die heidnischen Truppen, um die christlichen Ländereien zu verteidigen. Die Soreliten und ihre Verbündeten schafften es nicht durch die katholischen Truppen durchzubrechen und die Invasion zerbrach bereits, als sie das Festland erreichten ganz und gar, weswegen nun auch Sorelit fiel.“

Ich starrte ihn an, als hätte Francesco die ganze Zeit in einer mir völlig fremden Sprache gesprochen. Ungläubig fragte ich: „Wozu so viel Aufwand? Für ein paar Ländereien?“

„Das habe ich Nevar auch gefragt, denn er erklärte mir das alles.“, sagte Francesco ernst und seine Stimme wurde zu einem verschwörerischen Flüstern. „Sorelit und das Asaharische Reich, diese kleineren Länder und viele mehr, lebten allesamt unter einer Glaubensrichtung und es drohte die Gefahr, dass diese durch den regen Handel zu uns getragen werden würde. Zwar gab es keine Handelsverträge zwischen ihrem und unserem Kontinent, aber abtrünnige Seefahrer brachten immer wieder Gerüchte und heidnische Utensilien mit zu uns. Und nicht nur das:

Man begann die fremden Völker zu versklaven und Sklaventreiber verkauften sie an unseren Kontinent. Nun gab es durch König Jonathan aus Esas das Gebot, dass frei gekaufte Sklaven ein Anrecht auf ein eigenes Leben hätten und dadurch begannen die Sklaven ihren heidnischen Glauben in die Köpfe der esarischen Bevölkerung zu pflanzen. Wie Ihr wisst ist Esas eines unserer Nachbarländer und es geschah, dass die Sklaven sich dort heimisch fühlten und Familien gründeten, zu Zeiten, als die Inquisition dort noch nicht so stark über Macht verfügte, also trugen sie ihren Irrglauben auch unter einfache Leute.

Die Inquisition erkannte die Gefahr darin, ließ sämtliche Heiden hinrichten, so, wie es Gottes Wille war und sandte Soldaten aus, um diese Verunreinigungen im Kern zu vernichten.“

Verwirrt zog ich die Stirn kraus. „Und was hat das mit Nevar zu tun?“

Francesco beugte sich noch weiter vor. Ich erkannte den Ernst in seinen Augen und auch, dass er ein wenig Furcht hatte, es laut auszusprechen. Er wartete einige Sekunden und zischte dann ganz langsam und so leise er konnte:

„Nun, ich glaube... Nevar ist ein Sorelit.“

Rätseleien um Nevar

Ich starrte Francesco schweigend an und ließ das Gehörte auf mich wirken, bemüht, es für mich zu sortieren.

Das asaharische Reich war also von der Inquisition überrannt worden, ein anderes Land wollte ihnen helfen, verriet sie aber, wurde dadurch kurzzeitig König, dann wurde das Land zurückerobert, es gab einen Kreuzzug und letzten Endes fielen beide Länder und es wurde ein neues von der Inquisition gegründet:

Jeroba.

Es könnte stimmen, dass Nevar aus diesem Gebiet stammte, denn seine Sprache war sehr fremd. Francesco behauptete, er wäre aus dem Land Sorelit, aber das würde bedeuten, er stammte aus jenem Reich, das durch die Inquisition gefallen war. Warum also sollte er nun denen, die Schuld daran waren, dass seine Heimat zerstört wurden, helfen und der Deo Volente dienen? Zudem waren die Kreuzzüge bereits mehrere Jahrzehnte her.

Ich zog die Stirn kraus und schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann doch gar nicht sein. Nevar ist zu jung für einen Vertriebenen aus Sorelit, vielleicht um die dreißig Jahre, jünger noch. Wie soll das gehen? Sorelit gibt es nicht mehr, wenn ich es richtig verstanden habe.“, ich öffnete das Fenster ein Stück und lugte hinaus auf die dunklen Straßen. Die Laternen warfen ihr Licht sanft auf das trockene Pflaster und es war fast totenstill.

„Da habt Ihr Recht.“, pflichtete Francesco mir bei. „Er müsste, wenn er wirklich aus dem unterworfenen Land stammt, etwa achtzig oder neunzig Jahre alt sein. Aber Ihr vergesst etwas:

Die Inquisition hatte selbstverständlich hart zu kämpfen, mit jenen, die sich Gottes Willen widersetzen wollten. Aber es kann unmöglich sein Wille sein, jeden hinzurichten, nicht wahr? Es wurde abgemacht, dass jeder, der zum Kreuz greift und damit in den Krieg zieht, besondere Privilegien genießt.“

Interessiert sah ich ihn wieder an. „Wie meint Ihr das? Ich dachte immer, die Kreuzritter waren durch und durch ausgebildete Soldaten der heiligen Länder.“

„Das ist falsch.“, Francesco räusperte sich kurz, ehe er erklärte: „Das Land wurde zwar besetzt, aber auch wenn es nun einen christlichen König gab, so wurden nicht alle vollends unterworfen. Die Menschen versuchten die Inquisition zu vertreiben, indem sie versuchten, deren Soldaten auszuhungern. Sie vernichteten das Essen in ihren Dörfern, so dass es für sie selbst kaum noch reichte oder brannten Ställe ab, in denen die Soldaten Obdach fanden. Ihr müsst wissen, die Inquisition hat alles für sich beansprucht, um ihre Armee versorgen zu können. Es gab immer Menschen, die dagegen aufbegehrten und versuchten, Unruhen zu stiften. Die Bewohner waren die Leibeigenen des Königs. Knechte, Diener, Bauern und man versuchte den Willen der Bevölkerung zu brechen, damit dies endlich aufhörte. Es gab von dort an feste Regeln, um die Heiden in ihrer Gottlosigkeit zu bremsen und auch andere Dinge, die diese natürlich störten. Teilweise durften sie keinen Alkohol mehr herstellen, es gab Steuerabgaben in enormen Größen wie Fenstersteuern für jedes Fenster im Hause, Beträge die gezahlt werden mussten für Vieh oder Land. Sie mussten ihren schändlichen Glauben ablegen und bekamen die Kirchenpflicht auferlegt. Aufgrund des Nahrungsmangels durfte jede Bauernfamilie nur noch zwei Kinder haben, jedes weitere wurde hingerichtet und man versuchte, die heiligen Gesetze zu verstärken.“

„Das ist schrecklich.“, sagte ich leise. „Und das im Namen Gottes? Das ist doch lächerlich.“

„Darüber darf ich nicht urteilen.“, der Gottesdiener sah mich entschuldigend an, ehe er fortfuhr: „Die Menschen waren Heiden, sie mussten zur Disziplin aufgerufen werden. Furcht ist der erste Weg zur Gläubigkeit, ist es nicht so? Und es ging ja weiter:

Die Inquisition hat dem Volk nicht aus Spaß ein solches Leid gebracht, es war eine Art Buße für ihr bisheriges Leben. Das war zu der Zeit, als Gonzo Veranches Donnaserro, der Sohn des Kaisers von Sorelit, sich mit den Nachbarländern verbündete um mit ihnen die Ländereien zurückzuerobern.“

„Wartet.“, bat ich freundlich. „Ich verstehe nicht, was das alles mit Nevar zu tun hat. Ihr verwirrt mich, Francesco.“

„Hört zu.“, mein Gegenüber lächelte mir aufmunternd entgegen und legte seine Hand auf die meine. „Ihr werdet alles verstehen.“, dann ließ er mich los und lehnte sich etwas zurück, um es sich bequemer zu machen. „Die Inquisitorischen Truppen waren nicht stark genug und wie Ihr wisst, sandte man einen Boten, um den Papst um Unterstützung zu bitten. Nachdem die Heiden dann in Demut und Armut lebten, so, wie die heilige Schrift es vorgibt, bekamen sie vom heiligen Papst das Angebot, zum Kreuz zu greifen und für Gott in den Krieg zu ziehen, um auch die restlichen Teile des Landes einzunehmen. Dafür, dass sie in Gottes Namen kämpften, durften sie nach dem Krieg ein eigenständiges Leben außerhalb der Leibeigenschaft führen. Nicht nur das, sie wurden von den Steuern befreit, bekamen mehr Rechte wie zum Beispiel das beliebige Ausweiten von Familien – sofern die heilige Ehe vollzogen worden ist – oder das Land für eine gewisse Zeit verlassen. Sie durften größere Anzahl an Vieh besitzen, Alkohol herstellen, vieles mehr. Aus diesem Grund schlossen sich viele Soreliten und Menschen aus dem asaharischem Reich der Inquisition an und kämpften gegen ihre eigene Armee.“

„Also fielen die Soreliten durch...Soreliten?“, fragte ich verwirrt und schloss das Fenster wieder, da der kalte Abendwind Francesco und mir Gänsehaut bereitete.

Der Gottesdiener nickte. „Richtig. Etwa siebzig Prozent der katholischen Armee bestand aus bekehrten Heiden. Das war gut, denn die Christen dürfen an Feier- und Sonntagen nicht kämpfen, was ihnen früher oder später zum Verhängnis geworden wäre. Soreliten und andere Heiden hingegen konnten die Befehle weiterhin ausführen. Aber nicht nur einfache Bürger nahmen an dem Kreuzzug teil. Auch Soldaten und leider auch Diebe oder Mörder. Jeder, der dem Krieg beiwohnte, bekam nach diesem Absolution versprochen. Das bedeutet, etliche Verbrecher nahmen daran Teil, um ihre Schuld zu begleichen, denn das Kreuzzugsgelübde versprach ihnen ein neues Leben. Ihnen wurden ihre Verbrechen vergeben, außerdem konnten sie diese unter Gottes Hand weiter führen, sprich mit viel mehr Rechten. Es kam zum förmlichen Abschlachten, Vergewaltigungen. Und das schlimmste war, es war ihnen erlaubt, so lange sie all diese Verbrechen nur an Heiden verübten. Es gab etliche, die nur am Kreuzzug teilnahmen, um zu morden und zu stehlen. Es wurde niemand dafür bestraft, bis auf einige zum Schluss. Als Alexander Sorades dann den Krieg beendete und das Land Jeroba gegründet wurde, bestrafte er jeden Mann, der ein solches Verbrechen binnen der letzten drei Kriegstage verbrochen hatte.“

„Wieso drei Tage?“, hakte ich nach.

„Weil es ihnen erlaubt war während der Kriegszeit, konnte man sie schlecht dafür bestrafen. Allerdings nach dem Krieg war es ihnen untersagt. Die Friedensbotschaft brauchte drei Tage, um bekannt zu werden und Alexander Sorades konnte nicht wissen, wo sie bekannt war und wo nicht, also wurde jeder hingerichtet, der binnen dieser drei Tage ein solches Verbrechen verübt hatte.“

Ungläubig zog ich meine Augenbrauen hoch, mir fehlten die Worte. Nach einigem Schweigen gelang es mir, meine wirren Gedanken zu beruhigen und ich stellte bitter fest: „Das ist doch absoluter Schwachsinn. Es gehören alle bestraft.“

„Das ist Ansichtssache.“, Francesco wog den Kopf. „Ich teile Eure Meinung in dieser Hinsicht: Frauen sind Frauen, ganz gleich, ob Heiden oder nicht. Sie zu schänden ist gottlos und es ist ebenso gottlos zu behaupten, es wäre Gottes Wille. Aber die meisten sehen das nun einmal anders.“, er sah vor sich und schien nachzudenken, dann erklärte er: „Nun, die Überlebenden mussten der Inquisition weiterhin dienen. Zwar hatten sie nun das Recht auf ein Leben außerhalb der Knechtschaft, allerdings galt es als Hochverrat, dieses ohne Gottes Lehren zu führen. Aus diesem Grund blieben viele bei ihrem Inquisitionsdienst, denn Jeroba sollte ein heiliges Land werden. Man riss sämtliche, heidnischen Gebäude ab und führte etliche Exekutionen durch, um den Menschen klar zu machen, dass unser Herr der einzig wahre ist. Ich denke, viele der Heiden hassen unseren Glauben und auch uns als Menschen, müssen sich dem jedoch weiterhin unterordnen. Und ich glaube, Nevars Familie war am Kreuzzug beteiligt und er dient der Inquisition nun deswegen.“

Nickend sah ich vor mich auf meine Hände und musterte meine wunden, aufgescheuerten Handgelenke. Sie waren mittlerweile verschorft und an den Rändern leicht rosa, da die Narben zu heilen begannen. Wahrscheinlich waren diese Verletzungen nichts im Vergleich zu dem, was die Soreliten oder das asaharische Reich hatten erleiden müssen.

„Das ist gut möglich.“, gab ich nach einiger Zeit zu. „Vielleicht hasst er die katholische Kirche deswegen so sehr, aber ich habe das Gefühl, in unserer Vermutung sind noch viele und sehr große Lücken. Irgendetwas passt nicht zusammen, auch wenn ich noch nicht weiß, was.“, dann erhob ich meinen Blick wieder und sah Francesco ernst an. „Und Ihr sagt, der Papst stand hinter diesem Gemetzel? Die ganze Zeit?“

Der braunhaarige Mann vor mir nickte ernst und antwortete leise: „Natürlich, die ganze Zeit. Es steht mir eigentlich nicht zu, so zu sprechen, aber es ist so lange her. Ich denke, es kümmert niemanden mehr.

In Sorelit und im asaharischen Reich lebten viele Menschen, zu viele. Es gab wenig Essen und noch weniger Platz. Die Menschen begannen sich zu verbreiten und mit ihnen ihr blasphemischer Glaube. Der Papst musste dagegen vorgehen, um das ungebildete Volk zu schützen. Außerdem, wenn Ihr mich fragt.“, er schwieg kurz. Ich ließ Francesco und sah ihn aufmerksam an, wartend, dass er fort fuhr. Man sah, dass er mit sich rang, denn das folgende ging ihm nur schwer über die Lippen und seine Stimme wurde wieder unheimlich leise. „Nun ja, das Kreuzfahrerheer hat nicht nur sämtliche Truppen gestoppt, so wie den Handel eingeschränkt und damit den Feind geschwächt, müsst Ihr wissen. Nicht nur das asaharische Reich und Sorelit nahmen Schaden, sondern auch umliegende Länder, mit denen sie Handel betrieben. Das Land Otori, kennt Ihr es?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Es ist eines unserer Partnerländer und wird wie unser Land, St. Katherine, von der Inquisition bewacht. Damals war das noch nicht so. Früher war Otori größtenteils zwar ein christliches Land gewesen, allerdings missbilligte man das Vorgehen der Inquisition so wie die Scheiterhaufen. Otori hatte einen Handelspakt mit Sorelit, aber dadurch dass aufgrund des Kreuzfahrerheeres keine Schiffe mehr durch die Bucht nach Chichao kamen, konnte Otori keine Einnahmen mehr machen. Das Land verschuldete sich und unterschrieb irgendwann einen Pakt mit St. Katherine und Esas. Seitdem sind die drei Länder in einem geschlossenen Dreier-Bündnis und stehen unter der Heiligen Inquisition.“

„Ich verstehe, also wieder ein Vorteil für den Papst.“, merkte ich an, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Das Papsttum gewinnt dadurch enorm an wirtschaftlicher, so wie religiöser Macht.“

Der Gottesdiener nickte abermals. „Richtig.“, dann stand er auf und ging zu einer der Kerzen an der Wand hinüber. Ich sah zu, wie Francesco sie etwas gerade schob, denn sie war nicht richtig an den Halter gesteckt worden und nun tropfte das Wachs auf den Boden. Während er herum hantierte, erklärte er: „Das hat sich die letzten gut fünfzig Jahre so gehalten. Immer wieder stößt die Inquisition an einigen Orten vor und wird an anderen zurückgedrängt, aber eigentlich ist alles beim Alten geblieben.“

„Aber wieso lernen wir davon nichts?“, fragte ich verwirrt.

Francesco warf mir einen verständnislosen Blick zu. „Wir?“

„Die Mönche. Ich war einst Mönch, aber davon gehört habe ich nie etwas. Ich weiß, dass wir von weltlichen Dingen die Finger lassen wollen, aber das wären doch sicherlich Gründe zum Feiern gewesen. Und was ist mit Nevar? Ich verstehe nicht, wieso er nach so vielen Jahren weiterhin der Inquisition dienen sollte. Etwas stimmt daran doch nicht.“

Francesco drehte sich verwundert zu mir zurück. „Ihr wart Mönch?“, doch dann schüttelte er den Kopf, wie, als müsste er seine Neugierde von sich scheuchen. „Das ist einfach zu erklären: Absolution.“, er kam zurück zu mir, nun, wo die Kerze ihre Arbeit wieder anständig machte und ließ sich zurück auf seinen Hocker sinken. „Die meisten der äußeren Bruderschaft gehören der Deo Volente aus Absolutionsgründen an. Wie damals im Kreuzzug unterstützen sie die Inquisition, damit ihnen ihre Sünden vergeben werden. Ich denke, das Gleiche gilt für Nevar. Vielleicht hat er einst einen Fehler gemacht, den er nun bereinigen muss oder vielleicht sogar seine Familie in der Vergangenheit.“

Das leuchtete ein. Ich erinnerte mich an jenes, was Nevar mir erklärt hatte. Er hatte gesagt:

„Ich nehme Aufträge der Inquisition an und erhalte dafür Geld, so wie das Recht auf ein eigenes Leben.“

So wie das Recht auf eigenes Leben. Wahrscheinlich hatte Francesco Recht, nur was war Nevars Verbrechen gewesen? Hatte er jemanden umgebracht? Schlimmeres?

Wenn er ein Lebensrecht brauchte, dann war er gewiss zum Tode verurteilt worden, doch worauf stand eigentlich der Tod? Desto mehr ich nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es von Stadt und Land abhängig war. In Annonce starb man für fünf gestohlene Heller, in Brehms kam man in den Diebesturm, bis man alles abgezahlt hatte. Wo war Nevar angeklagt worden und warum?

Auf jeden Fall lebte er ein zweites Leben, so wie ich. Er war ein Gesuchter, ein Verbrecher und das, obwohl er es nie vorgehabt hatte. Vielleicht war auch alles ein Unfall gewesen, ein Missverständnis, man hatte ihn reingelegt oder er hatte aus Notwehr gehandelt.

Menschen wie Ihr und ich, Verbrecher, die niemals Verbrecher sein wollten, Gesuchte, Abtrünnige. Auch sie gehören der Deo Volente an, denn sie erhalten die Chance auf ein neues Leben.

Also ging es ihm wie mir? Wahrscheinlich lebte er ein ähnliches Leben, nur bereits viel länger. Dadurch, dass er bereits seit fünf Jahren an einer Mission gearbeitet hatte, konnte ich davon ausgehen, dass er ebenso lange der Deo Volente diente. Die Tatsache, dass er seine Identität noch immer geheim hielt, könnte bedeuten, er war noch immer in Gefahr.

Was auch immer er getan hatte, ein einfacher Mord war es sicherlich nicht gewesen.

Mir kam der Gedanke, dass er ein unheimlich schrecklicher Mensch sein könnte. Vielleicht hatte er etliche getötet oder es zumindest auf bestialische Art und Weise getan. Es musste etwas sein, das ihn noch bis heute verfolgte. Irgendetwas Unvorstellbares. Warum sonst sollte er noch immer verdeckt leben müssen?

Francesco schenkte mir noch einmal ein Lächeln, wünschte mir eine angenehme Nachtruhe und nahm das Besteck mit hinaus. Die Deo Volente war mir noch immer nicht geheuer und das nach fast zwei Monaten.
 

Nevar ließ noch lange auf sich warten und die abgemachte Woche dehnte sich zu einer weiteren aus. Ich ertrug es kaum noch, im Zimmer zu sitzen und immer häufiger öffnete ich das Fenster auch tagsüber. Ich wollte raus, ich wollte laufen. Francesco versuchte mich aufzumuntern, indem er mir Bücher vorbei brachte und Schreibutensilien, doch ich nahm es nur dankend zur Kenntnis. Jeder Buchstabe erinnerte mich an meine Arbeit im Skriptorium und auch an die Tatsache, dass ich diese nun verloren hatte. Ob ich eine neue Arbeit finden konnte, sollte ich freikommen? Wohl eher nicht.

Um nicht verrückt zu werden, konzentrierte ich mich darauf, dass Nevar einen ganzen Monat in diesem Zimmer verbracht hatte. Ich versuchte mein kindliches Inneres anzuspornen und den Drang in mir zu erwecken, zu zeigen, dass ich besser war. Ohne Frage könnte ich es sogar länger aushalten, als er, wenn ich wollte. Das einzige Problem, das meine Motivation unterband, war:

Ich wollte gar nicht in diesem Zimmer sein. Wie sehr ich mir meine Dietriche wünschte, um heimliche Nachtausflüge zu machen. Ein paar Mal versuchte ich, das Gitter vor dem Fenster aus der Wand zu lösen oder die Tür irgendwie zu öffnen, vergeblich. Es gab kein Entkommen, ich war gefangen und wahrscheinlich sollte ich auch noch dankbar dafür sein.

Es fiel mir schwer, dieses Gefühl zu empfinden. Zu sehr beschäftigte mich die Frage, was nun aus mir werden würde. Hatte Domenico mich aufgegeben? Hatte er deswegen gewollt, dass die Folter fortgeführt wurde? Vielleicht war seine Hoffnung gewesen, dass ich an den Verletzungen starb, dann wäre er mich los gewesen. Aber wieso sollte er mich loswerden wollen?

Mir kam nach einigen Stunden die Idee, dass ich die Folter als Lektion auffassen sollen könnte. Vielleicht wollte Domenico damit seine Autorität untermauern, seine Macht über mein Leben zeigen. Wenn ja, dann hatte Nevar diese Autorität schlichtweg untergraben und dies würde sehr schlechte Folgen nach sich ziehen. Mit Sicherheit wusste Domenico bereits, dass sein Diener sich eingemischt hatte und war nun wütend.

Dann, als die Woche endlich vorüber war, kam Nevar.

Francesco saß gerade bei mir und erklärte, dass er nicht sein ganzes Leben in der Deo Volente verbringen musste. Er war nun seit fünf Jahren in dieser und würde noch fünf weitere dort verbringen müssen. Danach hatte er das Recht, einige Zeit sein Leben zu leben, um anschließend wieder in das Gildenhaus zurückzukehren.

Es war später Abend, als die Tür aufging und Nevar mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze eintrat. Ich sprang förmlich auf, das Gespräch mit Francesco war vergessen und auch dieser erhob sich, um eine leichte Verbeugung zu machen. Der Attentäter beachtete den Gottesdiener nicht sonderlich, sondern schlug nur seine Kapuze zurück. Unter seinen Augen waren tiefe Ränder und ich erkannte, dass er einen weiten Weg hinter sich hatte. Müdigkeit und Erschöpfung machten auch auf seinem Gesicht breit, während er näher tat.

Ich ergriff als erstes das Wort: „Nevar, Ihr seid zurück!“

„Ich muss mit Euch sprechen, Falcon.“, Francesco fasste diese Äußerung als Aufforderung auf und wollte das Zimmer verlassen, doch Nevar hielt ihn zurück und wies den Gottesdiener an: „Geh zu Domenico. Sag ihm, dass Falcon bei mir ist und wir ihn morgen früh aufsuchen werden.“

Der Angesprochene sah ihn unsicher an und flüsterte: „Er wird außer sich sein, Meister Nevar. Er lässt Falcon und Euch nun bereits seit zwei Wochen suchen. Ich bin nicht sicher, ob ich das kann.“

„Sei unbesorgt.“, er legte Francesco eine Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Lass ihn wüten, wenn er das möchte. Seine Wut gilt mir, nicht deiner Person. Ich danke dir, Francesco.“, und mit diesen Worten ließ er ihn wieder los.

Francesco sah alles andere, als begeistert aus, hörte jedoch und verließ schweigend den Raum. Nachdem die Tür geschlossen war, wandte Nevar sich wieder mir zu. „Ich muss mit Euch sprechen.“, wiederholte er.

„Allerdings.“, ich ließ mich wieder auf das Bett sinken und deutete auf den Hocker vor mir. „Ich habe viele Fragen an Euch.“

„Das ist gut möglich, allerdings seid Ihr vorerst daran, Fragen zu beantworten.“

Nevar ließ sich sinken und mit kraus gezogener Stirn sah ich ihm entgegen. Es war ein seltsames Gefühl, ihn wieder zu sehen und eine noch seltsamere Situation. Ich wollte mich bei ihm bedanken, allerdings war ich nicht sicher, ob es angebracht war. Sollte ich mich lieber entschuldigen, für die Probleme, die er nun wegen mir hatte? Oder doch eher wütend sein? Denn ohne ihn wäre mir das alles nie passiert.

Er öffnete die silberfarbene Schnalle seines Umhanges, indem er die Flügel des Vogels auseinander hakte und warf ihn auf den Tisch, wo er dann als schwarzes Knäuel liegen blieb. Es war lange her gewesen, dass ich ihn in voller Montur gesehen hatte, denn meist lief Nevar herum, wie jeder andere auch. Diesmal war das anders und ich erkannte nach langem wieder die schwarzen Ledermanschetten an seinen Armen, die kleine Tasche an seinem Gürtel mit dem Eisenring daran und die Lederriemen an seinen Oberarmen mit den Messern, von denen eines fehlte. Sie waren genauso dunkel, wie sein Hemd, dessen Schnürung leicht geöffnet war. Dadurch sah ich einen Verband an seiner Schulter, der schon recht alt zu sein schien.

Nachdem ich ihn ausgiebig gemustert hatte, erhob ich den Blick und sah Nevar geduldig an. Dieser war damit beschäftigt, das Buch zu betrachten, das Francesco mir mitgebracht hatte.

‚Wir ehren den Vater voller Liebe und Demut.’

Nach einigen Minuten legte er es skeptisch auf den Tisch zurück. Man sah deutlich, wie sehr ihn das Werk ansprach – gar nicht. Nach einem weiteren, abfälligen Blick drehte er sich wieder zu mir. „Nun, ich habe viele Fragen, wie Ihr sicher auch.“

„Allerdings.“, bestätigte ich, schwieg aber, um ihn sprechen zu lassen.

Nevar fuhr leicht kühl fort: „Ich hörte von den Unruhen. Johnny, Morgans Handlanger und unser Spion, teilte mir mit, dass Blauröcke Euch auflauern würden. Leider kam ich zu spät und Ihr wurdet bereits festgenommen, kurz darauf fand ich Euch bei den Kreuzern wieder. Ich habe Domenico Bericht erstattet, doch er hielt es für angemessen, Euch den Rücken zuzudrehen. Ihr seid in seine Ungnade gefallen, Falcon und ich hoffe, dessen seid Ihr Euch bewusst. Was mir allerdings nicht bewusst ist, ist: Warum? Was ist passiert?“

„Einiges.“, ich hievte meine Beine auf das Bett und setzte mich in den Schneidersitz.

„Dann fangt von vorne an und hört hinten auf. Ich muss alles wissen, wenn ich Euch helfen soll.“

Knapp nickend sah ich auf meine bloßen Füße und die schwarzen Fußsohlen, dann wieder auf meine Handgelenke. Wie oft hatte ich mir meine Antwort die letzten zwei Wochen immer und immer wieder überlegt? Ich dachte kurz nach, ehe ich erklärte: „Ich habe Gilian Daly beschattet und bin in sein Haus eingebrochen, um es mir näher anzusehen. Na ja, er kam früher zurück, als gedacht.“, schwer seufzend ließ ich den Kopf etwas sinken. „Ich war gerade oben und als ich runter kam, war er plötzlich da und schloss mich in der Küche ein. Ich kam nicht raus und da er die Wachen rufen wollte, bin ich ausgebrochen. Nicht schnell genug, wodurch ich mitten in die Blauröcke hinein rannte. Sie erkannten mich und ich weiß nicht wie, aber sie fanden mich dann einige Tage später.“

Nevar nickte. „Hat Gilian Euch gesehen?“

„Erst bei meiner Flucht.“, gab ich leise zu. „Er hat mich erkannt, ich war Kunde in seinem Laden.“ Das Gefühl von Scham machte sich in mir breit und ich fühlte mich, als wäre ich ein kleiner, dummer Junge, der nur Fehler gemacht hätte.

Nevar blieb weiterhin kühl. „Laut der Aussage von Gilian, wollte er die Wachen erst am nächsten Tag verständigen, aber Ihr habt versucht, auszubrechen. Wieso habt Ihr nicht gewartet, Falcon und ihn provoziert und niedergeschlagen?“

„Ich weiß nicht. Ich hatte einfach Angst, sie nehmen mich fest.“

„Und wenn schon. Meint Ihr nicht, Domenico hätte hinter Euch gestanden?“, er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tisch und stützte den linken Fuß auf meiner Bettkante ab. „Stattdessen verletzt Ihr bei Eurer Flucht einen Wachmann mit der Tür und haut das ganze Haus in Stücke.“

„Bin ich deswegen in Ungnade gefallen?“, wagte ich mich leise zu fragen, ohne ihn anzusehen.

Nevar antwortete nicht gleich. Er schwieg einige Sekunden und ich meinte zu spüren, wie er mich musterte. Abschätzend, nachdenklich, abwiegend. „Ihr habt versagt, deswegen. Aber vor allem: Ihr habt seinen Namen bei der Befragung genannt, was ein schlechtes Licht auf die Deo Volente geworfen hat. Ihr habt behauptet, Ihr wärt sein Spion und hättet den Auftrag gehabt, Gilian zu beobachten.“

„Aber dem war doch so.“, unsicher erhob ich den Blick.

Nevar nickte ruhig, dennoch war es nicht wirklich tröstend. „Ja, aber niemand weiß, dass die Deo Volente so handelt. Ich habe Euch immer und immer wieder gesagt, dass Ihr Domenicos Namen nicht nennen dürft. Ihr hättet Euch daran halten sollen, Falcon. Niemand weiß, dass sie Spione hat oder gar Attentäter. Stewart ist eine Ausnahme, er und ich haben bereits einige Begegnungen hinter uns, aber im Großen und Ganzen weiß es niemand. Natürlich macht es Sinn, dass Spione, die Ketzer aufdecken sollen, in einem solchem Skriptorium arbeiten oder in solchen Gruppen agieren. Aber wenn es offiziell keine Spione gibt, würde das bedeuten, dass die Deo Volente Ketzer beinhaltet.“

„Aber was hätte ich sonst sagen sollen? Dass ich nichts weiß? Er hätte mir nicht geglaubt!“, flüsterte ich, in meinem Innern zog sich alles zusammen.

„Ja. Allerdings wissen nun viele der Soldaten, dass ein Mann der Deo Volente im Skriptorium vom alten Pepe arbeitet. Viele spotten, dass die Schriftstücke der Deo Volente dort gemacht worden sind. Nicht nur das, ein Dieb und Randalierer gehört der Gilde an. Falcon, Ihr hättet warten müssen, bis die Gelegenheit zu fliehen kommt. Und wenn Ihr festgenommen worden wärt, dann hätte man Euch in den Diebesturm gesperrt und später dem Richter vorgeführt. Dass Kreuzer sich Eurer annahmen lag nur daran, dass Ihr so ein riesiges Chaos angerichtet habt.“, ich ließ abermals den Kopf sinken. Es war fast, als wären wir wieder in der kleinen Hütte, außerhalb von Brehms und würden eine Diskussion über Gott und Glauben führen. Dieses Mal schien Nevar den Streit zu gewinnen, der eigentlich kein Streit war, denn ich gab frühzeitig auf und seufzte leise.

Nevar fuhr kühl fort: „Männer wie Ihr und ich, müssen für etwas kämpfen, für das wir nicht kämpfen wollen. Wir müssen bereit sein, für die Deo Volente zu sterben – wenn wir überleben, gewinnen wir enorm viel. Aber wenn wir dazu nicht bereit sind und es nicht einsehen, uns für sie zu opfern, dann geraten wir in Panik und wollen mit allen Mitteln fliehen. Wir handeln so, wie Ihr gehandelt habt und das ist falsch. Falcon.“, ich zuckte leicht zusammen und sah ihn wieder an, einfach aus meinen Gedanken gerissen, da er meinen Namen sagte. „Ich kann verstehen, dass Ihr für diese Gilde nicht bereit seid, Unannehmlichkeiten einzustecken, aber wenn ihr Euch dagegen wehren wollt, wird alles nur schlimmer. Merkt Ihr? Ihr wurdet gefoltert, weil Ihr nicht bereit wart, eine Nacht in der Küche zu verbringen. Hättet Ihr gewartet, bis er schläft, vielleicht wärt Ihr problemlos entkommen. Stattdessen stellte Gilian den Tisch vor Eure Tür und holte die Soldaten. Ihr müsst mit Kopf vorgehen, nicht mit Gefühl. Instinkte sind-...“

„...- für Reaktionen in Notlagen und sollten dennoch stets vom Hirn geleitet werden.“, beendete ich seinen Satz, den er während meiner Zeit bei ihm so oft gesagt hatte.

Nevar schwieg einige Zeit lang und sah mir ruhig entgegen, dann nickte er langsam. „Und das Hirn hat bei Euch kläglich versagt. Ihr seid in Panik geraten, wie ein wildes Tier in einer Bärenfalle.“, abermals seufzend sah ich zum Fenster. Mir war nicht danach, mich zu entschuldigen und ich mochte es nicht, belehrt zu werden, doch ich wusste, dass er Recht hatte. Draußen war alles schwarz, denn jemand hatte die Laternen gelöscht und kühle Abendluft drang ins Zimmer.

Nevar nahm keine Rücksicht auf meine Gefühle, die er mit großer Sicherheit bemerkt hatte. Er erklärte: „Das Wachhaus hatte die Aufgabe, Euch festzunehmen. Man brachte Euch mit dem Mord von Luke Caviness in Verbindung und befragte so den Bäcker gegenüber, Franky. Ihr kennt ihn, nehme ich an, denn er erzählte von einem jungen Kerl, der in einer Buchbinderei arbeiten würde und der ihn ausgefragt hätte. Also ging man dorthin, aber siehe da, niemand mit passender Beschreibung arbeitet dort. Allerdings kommt regelmäßig ein Mann aus dem Skriptorium vom alten Pepe vorbei, um Bücher binden zu lassen im Auftrag seines Meisters und die Beschreibung passt natürlich haargenau auf Euch.“, ich wollte das nicht hören. Ich war stolz gewesen auf die vergangenen Dinge, die ich vollbracht hatte und Nevar begann nun, alles zu zerstören. Mein Stolz sackte tief in den Keller und ich fühlte mich mit jedem seiner Worte dümmer, als ohnehin schon. Wahrscheinlich will er mich damit strafen, scherzte ich in Gedanken. Wenn ja, funktionierte es. „Daraufhin ging man am Schreibladen vorbei und erkundigte sich bei einem der Mitarbeiter, Brad Addison, wo denn der andere Kerl aus Annonce wohnt. Natürlich wusste Brad es.“, ich wurde hellhörig und sah ihn an. Brad hatte mich verraten? Aber wieso hatte er mir nichts gesagt? „Also ging man in die Rum-Marie und lauerte Euch auf. Johnny teilte mir glücklicherweise mit, dass dem so war, aber viel zu spät und mittlerweile wussten auch die Kreuzer von Euch. Domenico schickte Stewart und gab ihm den Befehl, dafür sorgen, dass man Euch nicht mit uns in Verbindung bringt. Domenico plante, dass Ihr Eure Taten gesteht und die Deo Volente verneint, so, wie Stewart es Euch ausreden wollte. Und hätte ich die Folter nicht unterbrochen, hättet Ihr das getan.“, seine Stimme wurde leiser, eindringlicher. „Ihr hättet behauptet, nie von der Deo Volente gehört zu haben, wenn er das will und dann wärt Ihr hingerichtet worden, wie ein lausiger Straßendieb, Falcon. Ich bitte Euch eindringlich nächstes Mal nachzudenken, ehe Ihr handelt.“, in meinem Kopf begann alles, sich zu drehen und etwas benommen schloss ich das quadratische Fenster wieder. Laut Nevar hätte ich mich nur festnehmen lassen müssen und die Kreuzer hätten nie mit mir zu tun gehabt. Aber woher sollte ich das denn wissen? Man hatte mich in dieser Hinsicht nicht aufgeklärt. Gut, ich könnte es selbst vermuten, aber wer würde schon wirklich darauf vertrauen?

Leichte Wut kam in mir hoch. Nevar hatte damit wohl bereits gerechnet, denn er fügte etwas sanfter hinzu: „Ich kann es verstehen, Falcon.“

„Was könnt Ihr verstehen?“, mit einem Anflug von Zorn sah ich ihn an.

„Dass Ihr nicht bereit seid, Euer Leben für die Deo Volente zu riskieren, aber Ihr müsst es so sehen: Wenn Ihr es riskiert, könnt Ihr mehr, viel mehr gewinnen.“

„Jeder hätte so gehandelt.“, knurrte ich nur, seinen letzten Satz ignorierend. „Wenn man eingesperrt wird, bricht man aus, das ist nur natürlich. Ich konnte ja nicht wissen, dass Ihr Einfluss auf die Blauröcke habt!“

„Falcon, beruhigt Euch.“, Nevar sah mich ernst an und beugte sich etwas zu mir vor. „Ich verstehe Euch wirklich. Aber Domenico nicht und ich bezweifle, dass wir das ändern können.“, doch ich beruhigte mich nicht. Es regte mich auf, dass dieser Mann scheinbar davon ausging, dass ich einfach abwarten und hoffen würde, man holt mich schon aus dem Schmalassel heraus. Und wütender machte es mich, dass Domenico es scheinbar auch noch für angebracht hielt, einen Menschen wegen solch einfacher Fehler foltern und hinrichten zu lassen. Mir wurde nur umso bewusster, wie unwichtig ich war und welche niedere Rolle ich in seinem dreckigen Spiel einnahm. Zornig senkte ich den Blick, starrte auf meine geschundenen Handgelenke und verfluchte ihn in Gedanken. Nevar nutzte mein Schweigen, um mir seine weiteren Pläne zu erklären. Seine Stimme wurde sanft, dennoch schwang ungemeiner Ernst in seinen Worten mit: „Regt Euch nicht auf, hört mir zu.

Ich habe mich Domenicos ausdrücklichem Befehl widersetzt. Ich war bei ihm, habe um Erlaubnis gefragt die Folter beenden zu dürfen und meine Bitte wurde abgelehnt. Das bedeutet, wir haben nun beide große Probleme, Falcon, Ihr jedoch weitaus mehr als ich. Ich diene der Deo Volente seit Jahren. Vielleicht wird er mich bestrafen wollen, aber zumindest ist mein Leben nicht in Gefahr.

Aber für Euch gilt das nicht. Ihr seid ersetzbar, vorerst.“

Ersetzbar? Das klang wirklich wunderbar. „Was habt Ihr also vor?“, flüsterte ich zerknirscht.

Nevar schien relativ ungerührt zu sein. „Wir müssen etwas finden, das Euch wertvoll macht. Habt ihr etwas bei Gilian herausfinden zu können?“, schweigend schüttelte ich den Kopf. Das hatte Nevar scheinbar befürchtet, denn er seufzte etwas übertrieben und lehnte sich zurück an den Tisch. „Dann müssen wir Euch anders wichtig erscheinen lassen. Es kann sein, dass Domenico Euch für alles die Schuld gibt und Euch los zu werden wäre dort das einzig richtige. Fakt ist immerhin:

Die Wachen kennen Euch, die Kreuzer ebenso und Ihr habt keine Arbeit mehr, also muss die Deo Volente erneut für Euch sorgen. Wir müssen Domenico davon überzeugen, dass Ihr Nutzen für ihn habt.“

„Und wie?“, ich schüttelte den Kopf. „Scheinbar sind meine ‚Fähigkeiten’ miserabel.“

„Vielleicht, ja, aber das ändert sich mit der Zeit. Und wenn Ihr ruhiger werdet seid Ihr durchaus zu etwas zu gebrauchen, Falcon. Nun, jeder Mann, der auch nur annähernd loyal ist, ist etwas wert und das weiß auch Domenico. Wir müssen ihn nur davon überzeugen, dass Ihr loyal seid. Macht Euch beliebt, untermalt Eure Unterwürfigkeit, was weiß ich. Seid demütig.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Nein.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihm entgegen, aber Nevar schien es tatsächlich ernst zu meinen. Ich setzte mich auf und stellte die Füße zurück auf den Boden. „Aber das kann ich nicht! Ich kann alles, aber nicht demütig sein. Nevar, ich kann diesen Mann nicht ausstehen. Er hat zugelassen, dass ich gefoltert werde, wie stellt Ihr Euch das vor?! Er wollte mich tot sehen!“, doch keines meiner Worte änderte etwas an seinem Gesichtsausdruck. Ich starrte in seine Augen in der Hoffnung auf eine Reaktion, aber es folgte keine. Wenn er hoffte, durch Anstarren zu gewinnen, dann tat er gut daran, denn irgendwann ließ ich den Kopf gequält sinken und schloss die Augen. „Das darf doch alles nicht wahr sein. Ich dachte, Ihr stündet hinter mir und nun das!“

Der Mann vor mir stand auf und griff seinen Umhang. Ich konnte hören, wie der Stoff leise raschelte, hinsehen tat ich aber nicht. „Das tue ich. Und am besten ist es vorerst, ihn irgendwie wieder auf Eure Seite zu bekommen. Wenn er das Gefühl hat, Ihr macht nur aus Zwang bei dieser Sache mit, seid Ihr schnell ein Klotz am Bein. Tut wenigstens so, als wärt Ihr kein Ketzer.“

„Ich bin kein Ketzer.“, protestierte ich fast instinktiv.

Mein Gegenüber grinste amüsiert und zog sich an. „Das denkt Domenico zumindest, ja. Und so sollte es bleiben. Unsere letzte Chance ist, dass Ihr so tut, als wärt Ihr voll und ganz davon überzeugt, dass all diese Häretiker ausgemerzt werden müssen. Ihr werdet sehen, elf Monate gehen schnell vorbei und ehe Ihr Euch verseht, steht Ihr als freier Mann auf der Straße.“, ich antwortete nicht. Er meinte es also wirklich ernst, seine Strategie beruhte lediglich auf Schmeicheleien gegenüber Domenico? Schweigend beobachtete ich, wie Nevar seinen Umhang etwas gerade zupfte und die Vogelflügel ineinander hakte. Ehe ich mich versah, war sein Körper vollkommen eingehüllt und nur noch Waden und Füße waren zu sehen. „Wir werden morgen mit ihm sprechen und sehen, ob es etwas bringt. Genießt die Nacht, es könnte Eure Letzte sein.“, damit drehte er ab und wollte gehen.

„Wartet.“, forderte ich schnell. Sofort blieb er stehen und drehte sich zurück, die Kapuze in den Händen, um sie sich über den Kopf zu ziehen. „Ich möchte Euch etwas fragen. Zwei Dinge, um genau zu sein.“

„Dafür werdet Ihr noch genug Zeit haben.“, er griff das Buch vom Tisch und warf es neben mir auf das Bett. „Hier, beschäftigt Euch mit diesem Schund, dann hören die Fragen auf, in Eurem Kopf zu kreisen. Bis morgen früh.“

Die miese Laune in mir wuchs und als die Tür zu fiel und ich hörte, wie der Schlüssel herum gedreht wurde, ließ ich mich auf die Matratze fallen und zog die Beine aufs Bett. Es war doch nicht zu fassen, er behandelte mich wie ein Kind! Ununterbrochen hielt er mich hin, machte aus allem ein Geheimnis und obendrein mich von sich abhängig. Wahrscheinlich hatte er Recht mit dem, was er sagte: Ich war nicht bereit, alles für die Deo Volente zu geben, aber war das verwunderlich? Wenn man mir nicht einmal die einfachsten Sachen erklärte und stets so um Distanz bemüht war? Ich würde alles tun, aber gewiss nicht ewig als Domenicos Lakai leben. Vielleicht machte es Nevar nichts aus, so zu leben und er konnte die Vorteile schweigend genießen, aber ich nicht. Ich hatte das Kloster nicht verlassen, um ein demütiges Leben außerhalb dessen zu führen, sondern, um frei zu sein. War das zu viel verlangt?

Die Decke über mir war weißgrau und zeigte mir einige Risse und Flecken, als ich hinauf starrte und überlegte, was ich tun sollte. Zwei Wochen hatte ich auf Nevar gewartet, nur um zu erfahren, dass er genauso ratlos war, wie ich. Er verlangte, dass ich krieche, demütig bin, winsele, um Verzeihung bitte. War das rechtens? Durfte Domenico so etwas verlangen?

Vielleicht stimmte es, dass ich Fehler gemacht hatte.

Und ja, vielleicht war ich ungeduldig und unsicher gewesen, aber nicht aus Angst vor den Wachen, sondern aus Unsicherheit gegenüber der Deo Volente. Ich wollte nicht festgenommen werden, aus Angst, mir würden schreckliche Dinge passieren und die Gilde würde mich im Stich lassen – Und hatte ich damit nicht Recht gehabt?

Domenico hatte mir gesagt, er würde hinter mir stehen, mit ihm die Deo Volente und als letztes sogar der heilige Vater und nun hatte er vor, mich zu bestrafen, weil ich darauf nicht vertraut hatte. Aber war dies nicht ein Zeichen dafür, dass ich dem nicht vertrauen konnte? Was, wenn Domenico nur noch wütender werden würde, stünde ich vor ihm und er würde mich nicht nur foltern lassen, nein, er würde mir meine Existenz rauben? Er bräuchte nur schnipsen und ich war nichts weiter als Sullivan. Sullivan O'Neil, der Pirat, der Ketzer.

Der Frauenmörder.

Nach einigen Minuten vergrub ich mein Gesicht im Kissen, um meine Gedanken zum Schweigen zu bringen, aber es brachte nichts. Umso länger man nichts zu tun hat, desto mehr denkt man nach.

Ich werde nicht demütig sein, nicht ganz und gar und ich werde kein Wurm sein, niemals!

Das sagte ich mir immer und immer wieder.

Ich werde frei sein!

Fanatiker

Nevar kam schon am frühen Morgen zu mir, doch ich war bereits lange wach gewesen. Die vorherige Nacht glich der Hölle, ich hatte kein Auge zu getan und als ich mich erhob, pulsierte es stark in meinen Schläfen. Fast dauerhaft hatte ich darüber nachgedacht, was ich Domenico sagen und was besser nicht sagen sollte, nur um zu dem Ergebnis zu kommen, dass es wohl von seinem Auftreten abhängig war.

Nevar begrüßte mich nur knapp und ich gab mir nicht die Mühe, ihm eine Frage zu stellen. Er würde ohnehin nicht antworten und so gingen wir nur schweigend zu Domenico. Es war ein gutes Gefühl, das Zimmer zu verlassen und ich genoss es, meine Schritte durch die Flure hallen zu hören. Ob Domenico wusste, wo ich mich die letzten Tage befunden hatte? Die kühle Luft des restlichen Gebäudes erschien mir im Vergleich zu meinem Raum ungemein frisch und mit einem Mal fühlte ich mich dreckig. Mein Zimmer war stickig und warm, es roch stark nach Schlaf und Schweiß und wahrscheinlich roch ich ebenso.

Es war das erste Mal, dass ich tagsüber durch die weiteren Flure ging und diesmal wagte ich es, mir die Gemälde an den Wänden anzusehen. Es waren nur zweitklassige Werke auf denen Landschaften zu sehen waren, dennoch beeindruckten sie mich enorm. Teilweise hatte man das Gefühl, man könne sich mitten in das Bild hinein stellen, als wäre es eine Pforte oder Tür. Alle waren vom selben Künstler, doch es gelang mir nicht beim Vorbeigehen seine Initialen in der unteren, rechten Ecke zu entziffern. Wir erreichten die Treppe und Gänsehaut befiel mich, als ich zwei Wachposten erkannte, die unten an dieser standen. Es waren Blauröcke, doch sie trugen beide ein goldenes Kreuz: Kreuzer. Nevar ignorierte sie, doch ich konnte mich nicht beherrschen, sie anzustarren. Mit dem Schlimmsten rechnend folgte ich ihm dann hinauf zur Tür.

Wie immer begann ich, mich unwohl zu fühlen und der Gedanke, dass unmittelbar hinter mir zwei solcher Wachmänner waren, trug nicht zum Besseren bei. Ich redete mir ein, dass Domenico noch vorhatte, irgendwohin zu gehen und sie würden nun nur auf ihn warten. Francesco hatte gesagt, sie waren dazu da, den Mann zu begleiten, wahrscheinlich hatten sie keinerlei Interesse an mir. Aber egal wie sehr ich dies in meinem Kopf wiederholte, es brachte einfach nichts. Der Gedanke, dass sie hoch stürmen und mich zurück zu den Kreuzern bringen könnten, saß mir weiterhin im Nacken.

„Seine Wut gilt mir.“, flüsterte Nevar mir ernst zu. „Wahrscheinlich werde ich alles abbekommen. Nutzt es für Euch.“

Ehe ich antworten konnte, klopfte er, man hörte ein gedämpftes Hereinrufen und er öffnete die Tür. Langsam traten wir ein und blieben nebeneinander stehen, uns ruhig umsehend. Alles war beim Alten:

In der Mitte des Raumes stand der Tisch, rechts das Bett unter dem Fenster und links war eine Wand mit Schränken. Domenico stand hinter seinem Schreibtisch, mit dem Rücken zu uns. Er starrte zu der Jesus-Figur empor, die an der Wand hing und schien uns gar nicht zu beachten. Unsicher warf ich Nevar einen Blick zu, doch dieser zog nur die Kapuze vom Kopf und wartete geduldig. Wir standen lange so da, doch Domenico dachte nicht einmal daran, uns zu grüßen. Immer wieder sah ich nach links, auffordernd und fragend, doch die einzige Antwort, die ich von meinem Begleiter bekam, war, dass er den Zeigefinger vor den Mund hielt und den Kopf schüttelte.

Gereizt sah ich wieder zu Domenico. Ich erkannte in seiner rechten Hand den Weinkelch und wie er daran nippte. Ganze fünf Minuten dauerte es, bis er leise sagte:

„Ich schlage vor, Ihr fasst Euch kurz, Nevar, denn ich bin verständlicher Weise nicht sonderlich gut gelaunt.“

Sofort trat der Gemeinte vor. „Eure heilige Eminenz, ich habe nur das getan, was ich für richtig hielt. Und ich versichere Euch, dass dies keine negativen Folgen haben wird.“

„Nun, ich denke, für Euch schon.“, Domenico nippte abermals am Glas, dann sah er wieder nach oben.

Nevar wandte ernst und sehr leise ein:

„Es wäre ein Fehler gewesen, einen Mann wie Falcon durch Folter sterben-...“

„Gott macht keine Fehler, Nevar.“, unterbrach man ihn außergewöhnlich kühl.

„Nein, Euer Gott vielleicht nicht. Aber er ist ein wichtiger Spion und ein gutes Mitglied. Wenn wir die Ketzer finden wollen, dann-...“

„Wir haben sie bereits gefunden.“

„Vielleicht haben wir das, vielleicht aber auch nicht. Es werden immer mehr, jederzeit. Noch immer wissen wir nicht, wo sie Ihren Haupt-...“

„Und Ihr wisst scheinbar nicht mehr, mit wem Ihr redet.“, nun drehte der Geistliche sich herum und stellte das Glas auf den Tisch, Nevar leicht wütend anfunkelnd. „Ihr wisst nichts, Ihr seid nichts und Ihr habt auch nichts zu wollen!“, seine Stimme wurde zornig, dennoch blieb sie auf geringer Lautstärke. Nevar schwieg, man konnte mit diesem Mann einfach nicht reden. Unsicher sah ich auf das Weinglas, mich nicht trauend, Domenico direkt anzusehen. Sollte ich mich einmischen? Ich wollte es, wagte es aber nicht.

Domenico fuhr ermahnend fort, während er sich etwas Wein nachgoss: „Ich bin enttäuscht von Euch, Bruder Nevar und glaubt mir, wenn es nach einem der vielen anderen ginge, wärt Ihr längst kein Bruder mehr. Ich habe Euch einen ausdrücklichen Befehl gegeben und Ihr habt diesen Befehl verweigert. Dies ist nicht nur Ungehorsam, es ist Verrat. Mir ist bewusst, dass Gottes Worte wohl niemals vollends zu Euch durchdringen werden, aber dass Ihr selbst seine Befehle ignoriert ist unverzeihlich.“

Sofort sah Nevar ihn wieder an, leicht verhasst. „Mit allem Respekt-...“

„Schweigt!“, der Mann neben mir zog scharf die Luft ein und gehorchte, doch es fiel ihm sichtlich schwer. Domenico wartete einige Sekunden, dann wandte er sich wieder seinem Getränk zu. „Ihr werdet eine dreimonatige, körperliche Strafe für Euer fehlerhaftes Benehmen erhalten und ich werde persönlich dafür sorgen, dass diese wie beabsichtigt ausgeführt wird, um Euch Gottes Liebe wieder bewusster zu machen. Des Weiteren entziehe ich Euch jeder Mission, Ihr werdet die nächsten drei Monate keine Aufträge mehr ausführen. Ihr werdet das folgende, viertel Jahr in der Deo Volente bleiben und Francesco bei den täglich anfallenden Arbeiten unterstützen, so wie an den täglichen Gebeten teilnehmen. Vielleicht müssen wir Euch Gott einfach wieder näher bringen. Die vielen Aufträge zwischen den Ketzern haben Euch verdorben, wie es scheint.“

Ich senkte den Kopf etwas und ungemeine Schuldgefühle brachen über mir zusammen. Ich war schuld daran und nun fehlte mir der Mut, mich einzumischen. Was brächte es? Wahrscheinlich würde Domenico als nächstes auf mich losgehen und damit wäre niemandem geholfen.

Nevars Blick wurde finster und er knurrte leise: „Und wofür soll das gut sein? Ihr wisst genau, wie ich zu Eurem heiligen Vater stehe. Selbst wenn Ihr mich tot prügelt, würde ich mich niemals vor Eurem Herrn verneigen.“

Domenico stellte alles wieder an seinen Platz und erhob sich abermals, um ihm kalt entgegen zu sehen. Als wäre es selbstverständlich, erklärte er:

„Ihr werdet mir Eure Demut, so wie Euren Gehorsam mir gegenüber unter Beweis stellen, Nevar. Vielleicht habt Ihr zu viel Frucht, vor dem Herrn selbst zu knien, aber dann tut Ihr es eben vor mir. Ihr werdet arbeiten, wie es für die Kinder Gottes vorgesehen ist und sollte ich es einmal versäumen, Euch zu züchtigen, werdet Ihr in Demut auf mich zukommen und mich freundlich daran erinnern. Darum flehen, wenn nötig.“

„Das ist nicht Euer Ernst.“, ich sah im Winkelblick, wie der Attentäter den Kopf schüttelte. „Ich habe solche Demütigungen nicht verdient, mit allem Respekt. Ich habe es für die Deo Volente getan. Nur einen einfachen und falschen Befehl verweigert, das erste Mal seit Jahren. Ihr könnt unmöglich von mir verlangen, dass ich die Arbeit der letzten vier Monate dafür einfach aufs Spiel setze und hier umher krieche wie eine Eurer Marionetten.“, ernst ging er einen Schritt vor und deutete mit den Händen zur Tür. „Ich habe Tag und Nacht an dieser Mission gearbeitet, es fehlt nicht mehr viel. Ich brauche nur noch eine Woche, ich muss ansonsten komplett von vorn anfangen, Euer Hochwürden. Es sind gute Leute dafür gestorben, verdammt gute Leute, soll das alles umsonst gewesen sein?“

„Dann werdet Ihr eben von vorne anfangen.“, regungslos und düster sah Nevar zu, wie der Vertreter der Deo Volente die Dinge auf seinem Schreibtisch umher schob, als würde er über etwas völlig belangloses sprechen. „Es ist mir gleich, wie viele Eurer gottlosen, lästernden, wertlosen Häretiker-Freunde dabei umkamen. Umso mehr, umso besser. Das ist mein letztes Wort.“

Noch nie zuvor hatte ich Nevar so kalt erlebt. Er rang mit sich und um seine Fassung, aber seine Augen waren fast blind vor Hass. Leise und eindringlich zischte er: „Ihr habt damit den Tod von gut sieben unschuldigen Menschen auf dem Gewissen, Domenico. Und Ihr wisst, genauso gut wie ich, dass viele von Ihnen mit Glauben an Euren Gott gestorben sind...! Ich habe mir seit fünf Jahren nie etwas zuschulden kommen lassen, das ist nicht Rechten!“

„Was Rechtens ist und was nicht, überlasst Ihr am besten mir.“, schlug man ihm daraufhin vor. Ich sah, wie Nevars Kopf sich etwas erhob und der Stolz sich in ihm zu wehren versuchte. Der alte Mann setzte sich auf die Schreibtischkante, den Weinkelch wieder in der Hand und schob mit gelangweiltem Blick die Kerze etwas von sich weg. „Als ich Euch vor zwanzig Jahren aufgenommen habe, wart ihr nichts weiter, als ein ungehorsames, dreckiges, missratenes und vor allem gottloses Balg gewesen. Ich dachte, das hätte sich geändert, aber scheinbar habe ich mich geirrt. Ich hatte gehofft, die jahrelange Erziehung und das endlos lange Predigen hätte etwas gebracht, zumindest ein wenig den heiligen Geist in Euch zu wecken. So, wie es aussieht, werde ich von vorne anfangen müssen, was Eure Gottesfurcht angeht. Oder eher: Euren Respekt gegenüber der Deo Volente.“, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und um Domenicos Mund bildete sich ein leichtes Grinsen. „Aber dafür werden wir in den nächsten drei Monaten genug Zeit haben, nicht wahr? Mein Sohn?“, dann wurde Domenico wieder kühl und bestimmend. „Ich trage Euch hiermit auf, zu Francesco zu gehen. Er soll ein Bußzimmer für Euch herrichten und entsprechende Bekleidung zur Verfügung stellen. Ihr seid für das nächste viertel Jahr unser Gast.“

Nevar stand da, als wäre er aus Stein. Kein Muskel rührte sich und nicht einmal blinzeln tat er. Nach einigen Sekunden atmete er tief durch, erhob den Kopf abermals ein Stück und machte eine leichte Verbeugung. Anschließend drehte er sich herum, um hinaus zu gehen.

Ich sah weg. Es schmerzte ungemein, ihn so zu sehen und ich fragte mich, was mich erwarten würde. Ich hatte mir fest vorgenommen, Domenico ordentlich die Meinung zu sagen, doch nun, wo ich vor ihm, dem Jesuskreuz und seinem Inquisitionsring stand, wagte ich es nicht mehr.

Nevar legte gerade die Hand auf die Klinke, da murmelte Domenico, mit seinem Wein spielend: „Wartet. Eines wäre da noch.“, sofort blieb der Mann stehen, umdrehen tat er sich jedoch nicht. „Solltet Ihr auf die Idee kommen, meinen Befehl zu ignorieren, Bruder Nevar, macht Euch bitte bewusst, dass die Wachen dort unten bereits informiert sind. Wir wollen doch nicht, dass Euer kleines Geheimnis nach außen getragen wird, nicht wahr?“

Stille.

Ich versuchte, Nevar einen Blick zuzuwerfen, wollte mich jedoch nicht umdrehen. Es dauerte, bis er leise knurrte:

„Nein.“

Das stellte den Geistlichen zufrieden und er lächelte leicht amüsiert. „Sehr gut. Ihr dürft gehen.“ Ohne weiter zu warten, wurde die Tür geöffnet, Nevar trat hinaus und sie fiel laut krachend ins Schloss. Ich fragte mich, während ich seinen Schritten die Treppe hinunter folgte, ob es Domenico Spaß bereitete, andere so zu behandeln oder ob er es wirklich nur aus reiner Überzeugung tat. Ein Blick meinerseits zeigte mir keine Antwort, denn mit einem Mal war er völlig neutral. Er sah mir in die Augen und ich schluckte unbewusst, den Blick unsicher erwidernd. Ich wollte ihn zusammen schreien, für das, was er tat und ihn zurechtweisen, da Nevar solche Strafen nicht verdient hatte, wagte es aber nicht. Das Gefühl, wegzurennen und nie mehr wieder zu kommen überwog bei Weitem. Immer wieder hörte ich eine Stimme sagen: Wenn du hier bleibst, bleibst du Falcon O'Connor! und wäre mir das nicht so wichtig gewesen, hätte ich mich damals wohl einfach umgedreht und versucht, zusammen mit Nevar die Wachen nieder zu schlagen. Mein erstes Problem wäre gewesen, dass er vielleicht nicht einmal mitgemacht hätte und das zweite Problem: Was dann? Zurück nach Annonce?

Domenicos Augen ruhten in den Meinen und setzten mich unter Druck. Es kostete mich viel Überwindung, dem Blick Stand zu halten. Nach einigem Schweigen stellte er, ohne weg zu sehen, das Glas beiseite und fragte leise: „Habt Ihr Angst vor Eurer Vergangenheit, Falcon?“

Diese Frage hatte er mir gestellt, als wir uns das erste Mal gesehen hatten und kurz bevor ich auf sein Angebot eingegangen war. Sofort sah ich weg. „Sollte ich?“

„Da Ihr immer noch hier seid, scheint es, als wäre es so.“, ich hörte, wie er aufstand und gemächlich hinter seinen Tisch ging, um sich zu setzen. Domenico faltete die Hände auf dem Tisch und fuhr gütig lächelnd fort: „Ihr fürchtet Euch vor ihr, aus Angst, Eure Sündtaten holen Euch ein, nicht wahr?“

„Ihr überzeugt Euch regelmäßig davon, ob ich noch Angst habe.“, flüsterte ich, leicht verhasst. „Wenn nicht, hättet Ihr nichts mehr gegen mich in der Hand, nicht wahr? Und für Nevar gilt dasselbe. Ihr erpresst die Menschen damit, mit ihren Erlebnissen. Ihr macht sie zu Marionetten mit Fäden aus ihrer Vergangenheit.“

„Sehr poetische, aber harte Worte.“, seine Stimme klang wieder unheimlich amüsiert, doch ich meinte, einen Hauch Zorn mit herauszuhören. „Allerdings Worte, die Euch nicht zustehen, Falcon.“, ich schwieg.

Wut keimte in mir auf und entflammte sich binnen weniger Augenblicke. Es machte mich aggressiv, so behandelt zu werden und das spürte Domenico. Er war wie ein Tier, das sich an der Panik und der Angst seines Opfers weidet. Ich versuchte es zu unterdrücken, es weg zu schieben, doch es gelang mir nur mäßig. „Wie auch immer. Ihr werdet in die Rum-Marie zurückkehren, bis Ihr einen neuen Schlafplatz gefunden habt. Ich war sehr nachsichtig mit Euch, Falcon, doch leider zwingt Ihr mich dazu, von nun an strenger zu sein. Ich habe es zugelassen, dass Ihr das Leben eines Ketzers führtet, aber von nun an ist das anders.“, ich erhob den Blick und sah ihm schweigend entgegen. Domenico betrachtete wieder gedankenverloren seinen Wein. „Ihr werdet Euch einen Platz in einem katholischen Gasthaus suchen und außerdem eine Arbeit in einem christlichen Geschäft. Francesco wird Euch eine Liste mit ebensolchen zur Verfügung stellen. Von heute an werde ich Euch jeden Sonntag in der Kirche antreffen, so wie jeden Samstag hier, in der Deo Volente, wo ihr dann zusammen mit Francesco das Kopieren der heiligen Schrift beginnt. Dem werdet Ihr solange folgen, bis ich der Meinung bin, Ihr wärt es würdig, wieder in meine persönlichen Dienste treten zu dürfen.“, seine Augen wechselten zurück zu mir, eiskalt und drohend. „Ihr seid ab heute kein Diener der Deo Volente mehr, Falcon, sondern nur noch ein Knecht. Nicht mehr und nicht weniger.“, ich atmete tief durch, nickte aber und sah erneut weg. Was sollte ich auch anderes tun? Wenn ich widersprach, könnte er mich ernsthaft bestrafen. Da war es mir lieber, in die Kirche gehen zu müssen und ab und zu etwas zu kopieren.

Doch Domenico war nicht fertig. Er trank einen Schluck und ich hatte bereits das Gefühl, dass ich gehen sollte, da erklärte er ruhig: „In meinen Augen, Falcon, seid Ihr wertlos. Ihr seid nichts mehr wert, nicht das Geringste. Ihr habt es verdient, im Dreck zu liegen und um Gnade zu flehen, so meine Ansicht. Ihr seid nicht nur gottlos, Ihr seid höhnisch.“

„Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen.“, unsicher sah ich Domenico an, dieser starrte nur in die süßlich riechende Flüssigkeit.

„Ich habe Euch die Chance gegeben, Buße zu tun, aber Ihr habt diese Güte meinerseits mit Füßen getreten.“

„Wenn ihr die Folter meint, das ist lächerlich. Ihr könnt Euch nicht ausmalen, wie ich gelitten habe.“, zischte ich leise.

Er seufzte schwer. Sein Atem brachte die Kerze auf dem Schreibtisch zum Flackern und zog seine Aufmerksamkeit in ihren Bann. „Selbst jetzt, zwei Wochen später, erkennt Ihr Gottes Liebe darin nicht. Es ist bedauerlich.“, Ich habe es mit einem Verrückten zu tun!, hallte es in meinem Kopf, sagen tat ich jedoch kein Wort. Domenico sah mich fast schon mitleidig an. „Eigentlich hatte ich vor, Euch in einem Jahr als freier Mann gehen zu lassen, Falcon. Aber der Monat oder die zwei Monate, die Ihr hier arbeitet, kann ich unmöglich als Buße ansehen. Sie werden wohl hinten dran gelegt werden müssen.“

Ich knurrte leise: „So war es nicht abgemacht.“

„Nein, allerdings, das ist wahr. Nun, wir könnten Euch ja büßen lassen. Dann würde die Zeit sich nicht verlängern. Was meint Ihr?“, ich blieb völlig verständnis- und regungslos stehen. Hinter mir, im Hausflur, hörte ich leise Stimmen. Scheinbar unterhielt sich Francesco mit einer der Wachen, die ihn aufgehalten hatten, zu uns nach oben zu kommen. Kurz lachte er, dann sprachen sie weiter. Es wirkte fast makaber auf mich, dass sie sich dort unten amüsierten, während ich am oberen Ende der Treppe stand und mein Herz vor sich hin raste. Als es etwas leiser wurde, erklärte Domenico unwahrscheinlich sanft: „Ich bin dafür, dass wir Euren Körper für das Strafen, was Ihr getan habt. Ich denke, Ihr wurdet bereits aufgeklärt, was Euer Vergehen war, das muss ich nicht länger vertiefen. Wenn Ihr bereit seid, die Sünde von Euch zu lösen um Platz für den heiligen Geist zu schaffen, bin ich bereit, Euch einen neuen, kleineren Auftrag zu geben.“

„Und wie stellt Ihr Euch das vor?“

Mein Misstrauen wuchs und der Geistliche nickte ernst. „Die Folter hat bereits ein gutes Stück getan, aber ich denke zwei Tage zu fasten, so wie einige Hiebe dürften den Rest tun.“

„Ich bin kein kleines Kind mehr, das man mit dem Rohrstock verprügeln muss, damit es lernt.“, knurrte ich sarkastisch. Meine Zeiten als Mönch waren vorbei und das sollten sie auch bleiben!

Domenico lachte leicht: „Nein, aber Ihr seid ein Kind Gottes, das vom Weg abgekommen ist und es ist meine Aufgabe, Euch zu helfen, zurückzufinden. Und wie kann man das besser, als mit Schmerz und Demut?“

„Tut was Ihr nicht lassen könnt.“, entgegnete ich verächtlich. „Aber eines ist sicher: Ihr werdet mich nicht dressieren können. Ich tue das hier ein Jahr lang und dann bin ich weg, wie vereinbart. Es bringt nichts, den demütigen Hund zu spielen, denn Ihr wisst ohnehin, wie ich in Wahrheit bin und deswegen sage ich es Euch gleich: Ich tue das hier für mich, nicht für den Heiligen Vater. Vielleicht ist es ein Fehler, das zuzugeben, aber Ihr wisst ohnehin, wie ich denke. Ich glaube an ihn, ja, aber nicht an die Deo Volente.“

„Gut, dann ist es wohl abgemacht.“, Domenico lehnte sich etwas zurück und ich hatte das Gefühl, er hätte meine letzten Sätze einfach ignoriert. „Kommt morgen früh hier her und fordert Eure Strafe. Ihr dürft jetzt gehen.“

„Das werde ich nicht.“, platzt es sofort aus mir heraus.

Domenico zog eine Augenbraue hoch. „Was werdet Ihr nicht, Falcon?“

„Ich werde gewiss nicht zu Euch kommen, um Euch darum zu bitten, mich zu züchtigen! Vielleicht könnt Ihr Nevar damit demütigen, mich aber nicht. Wenn Ihr mich bestrafen wollt, müsst Ihr es mit Zwang tun, so viel ist klar, denn ich bin mir keiner Schuld bewusst!“

„Fordert das Glück nicht heraus.“

„Ich habe keine Angst vor Euch, Domenico!“, gereizt richtete ich mich zu meiner ganzen Größe auf. „Und ich habe auch keine Angst vor meiner Vergangenheit. Ich suche lediglich einen Weg, neu anzufangen, mehr nicht! Vielleicht fürchte ich mich vor den Folgen von Fehlern, davor, welche zu machen. Aber gewiss nicht vor dem, was ich bereits getan habe.“

Der alte Mann erhob sich langsam und kam ebenso gemächlich auf mich zu, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Als er vor mir stand, lächelte er mich an. In mir kochte es vor Zorn und ich kämpfte damit, ihm nicht an die Kehle zu gehen. Domenico beugte sich etwas runter, dann zischte er mir ins Ohr: „Oh, doch Falcon, nein, ‚Sullivan’, Ihr habt Angst. Vielleicht spürt Ihr es momentan nicht und wisst Ihr, wieso?“, er sprach noch leiser. „Weil Ihr mich viel, viel mehr hasst. Und das ist gut so. Deo iuvante. Deo volente. Oderint dum metuant.“, er richtete sich wieder auf und ging zurück zu dem Jesuskreuz, dabei plaudernd fortfahrend: „Mit Gottes Hilfe, mit Gottes Wille. Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Weise Worte, findet Ihr nicht?“, ich starrte seinen Rücken an und ballte die Fäuste, als der Geistliche die Zitate der Henry-Statue wiederholte. Das Kreuz betrachtend erklärte er: „Wir werden sehen, ob Ihr morgen früh hier erscheint, um Buße zu tun oder ob nicht. Ich verlange, dass Ihr binnen des nächsten Monats zehn mal hier vor meinem Schreibtisch kniet, mit einem Stock den Ihr bei Francesco erfragt. Ihr bittet mich um Verzeihung für Euer ungehorsames Verhalten, sowie um zehn Schläge. Wenn Ihr binnen der nächsten dreißig Tage zehn Mal erschienen seid, bin ich bereit, Euch den Monat als Buße anzurechnen und ihn nicht als weiteren zu Eurem Bußjahr hinzuzählen. Solltet Ihr nicht erscheinen, gilt unsere Abmachung einen Monat mehr. Ihr dürft jetzt gehen.“

Es dauerte, bis ich es schaffte, meinen Blick von ihm zu lösen und leicht taumelnd drehte ich mich herum. Als wäre ich benommen, ging ich hinaus und schloss leise die Tür, nicht wissend, was ich denken oder fühlen sollte. War das wirklich sein Ernst? Verlangte er ernsthaft, dass ich vor ihm niederkniete?

Die Wachmänner warfen mir beide einen Blick zu, ehe sie sich wieder weg drehten, überzeugt davon, dass ich keine Gefahr war. Ich stieg die Treppe nur langsam hinunter, als würde jede der Stufen in meinen nackten Fußsohlen schmerzen und mir fiel auf, dass ich noch immer barfuß war. Sollte ich nun so zur Rum-Marie gehen? Gab es mein Zimmer überhaupt noch? Ich war seit zwei Wochen nicht dort gewesen und hatte mich nicht abgemeldet. Wo waren eigentlich meine Sachen?

Verwirrt blieb ich dann im Flur stehen und mit einem Mal begann ich zu zittern. Domenico hatte Recht, ich hatte Angst vor ihm. Ich war glücklich gewesen als Kopist von Meister Pepe, ich wollte dieses Leben nicht wieder verlieren. Ich hatte Angst davor, gesucht zu werden und alles aufgeben zu müssen. Ich hatte Angst davor, in den Kerker von Annonce zu kommen und anschließend am dortigen Galgen zu hängen. Viel lieber wollte ich Brehms’ Sehenswürdigkeiten genießen, durch die engen Pfade laufen und verbotene Bücher lesen, um etwas über die Welt zu lernen.

Ich ging wie betäubt bis zum Vorraum der Deo Volente und blieb an der Kerze stehen, diee unter dem Jesuskreuz stand. Ihre Flamme war entzündet und schien wieder nach der Figur greifen zu wollen. Wieder musste ich an das Fegefeuer denken und wieder daran, wie nah ich am Abgrund schritt. Wie könnte ich das ändern?

Ich war nicht bereit, mich so dermaßen vor Domenico zu demütigen und was machte es schon, einen Monat mehr der Deo Volente zu dienen? Aber eine innere Stimme sagte mir, dass, wenn ich jetzt nicht tat, was er wollte, alles noch schlimmer werden würde. Der Mann war darauf aus, mich zu brechen und mir den Stolz zu nehmen, damit ich wieder so wurde, wie zu meiner Klosterzeit. Wenn ich ihm vorspielen würde, er hätte Recht, so wie Nevar es tat, dann war ich besser dran.

Aber ich konnte es einfach nicht.

Das letzte Jahr in Freiheit hatte mir Stolz und Würde gegeben, die zwei Schätze, die ich mir niemals wieder nehmen lassen würde. Ich musste einen Weg finden, dem auszuweichen und trotzdem zu bekommen, was ich wollte. Leider gab es nicht viele Ansprechpartner, an die ich mich wenden könnte, außer Nevar und Francesco. Ich würde zu einem von ihnen gehen, am nächsten Morgen und beraten.

Orientierungslos sah ich zurück in die Richtung aus der ich gekommen war, doch ich hatte keine Idee, wo Francesco oder Nevar sich aufhalten könnten. Es gab noch zwei Türen, die ich nie zuvor betreten hatte, aber ich wollte nicht sinnlos umher streifen. Zuallererst wollte ich Ruhe haben und allein sein, also trat ich den Heimweg an, gespannt, ob es mein Zimmer noch gab.

Umso weiter ich ging, desto bewusster wurde mir, wie gut ich eigentlich weggekommen war. Weder hatte er mich töten, noch foltern lassen, nur wieso nicht? Wieso ließ Domenico mich plötzlich leben? Nevar meinte, ich sollte mich wichtig für ihn machen, aber das war gar nicht nötig gewesen. Was hatte der alte Mann also vor?

Bei dem Gedanken an Nevar wurde ich tieftraurig und ich fühlte mich unwohl. Ich wusste zwar nicht, was genau seine Strafe für einen Ausmaß hatte, aber laut seiner Reaktion ein sehr großes. Es war meine Schuld, allein meine und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich es wieder gut machen sollte.

Der Steinboden von Brehms war eisig kalt, kälter als die Fliesen des Gildenhauses und die unsicheren Blicke der Menschen waren mir peinlich. Es war gegen Vormittag und gewiss ungewöhnlich, jemanden wie mich in solch einem Viertel zu sehen. Menschen mit blauen Flecken, abgetragenen Kleidern und bloßen, dreckigen Füßen gehörten ins Armenviertel. Stattdessen lief ich die Hauptstraßen entlang, um auf dem kürzesten Weg das Gasthaus zu erreichen. Immer wieder rempelte man mich an oder wich übertrieben angeekelt aus und als ich die Rum-Marie erreichte, war mir unglaublich heiß vor Scham.

Marie erkannte mich sofort und war sichtlich froh, dass es mir gut ging. Sie stellte keine Fragen, sondern übergab mir nur meinen Schlüssel und betonte noch einmal, dass niemand im Zimmer gewesen war. Auf meinen verwirrten Blick hin erklärte sie mir, dass ein Mann da gewesen wäre und einen Monat im Voraus bezahlt hätte.

Es war mir egal, wer das gewesen war und auch, wie viel Geld ich diesem Kerl nun schuldete, ich wollte nur noch schlafen. Im Zimmer angelangt fand ich einen vollständig aufgeräumten Raum vor, meine Stiefel, meinen Umhang und alles andere, was ich irgendwie besaß, sauber und ordentlich auf dem Bett liegend. Ich schob es beiseite und ließ mich hinein fallen, die Decke anstarrend und deprimiert. Eigentlich hatte ich stets das Gefühl von Heim gehabt, wenn ich durch die Tunnel zur Rum-Marie gegangen bin, doch diesmal war es anders gewesen. Ich hatte an die Blauröcke gedacht, die mir auflauerten, an die darauffolgende Folter und an das Verlangte von Domenico. Ich musste zurück zur Deo Volente und mit Francesco sprechen, mir eine Liste holen und ein Leben beginnen, das ich nicht wollte. Ich musste es aufgeben, hier her zu kommen, den Geruch von Erbsensuppe wahrzunehmen und die Wärme des Kamins zu genießen. Keine Rum-Marie mehr, kein Meister Pepe und auch keine Spionage. Ich musste alles fallen lassen, was ich mir aufgebaut und wofür ich gekämpft hatte.

Nach einigem Schweigen drehte ich mich auf die Seite, leise stöhnend unter den Schmerzen meiner Verletzungen und starrte wieder auf meine Handgelenke. Wer war ich eigentlich? Sullivan O'Neil, der Mönch der nach den Wundern dieser Welt sucht? Son, der freie Abenteurer? Der Prinz, der sogar zu einer Tollen hält, nur, um ihr das Leben zu nehmen? Oder Falcon, der Diener der Inquisition und der Schoßhund von Domenico?

Wer war ich eigentlich...?

Nevars wahre Identität

Ich erwachte sehr früh und kaum hatte ich die Augen geöffnet, saß ich aufrecht im Bett. Ich sprang hoch, zog mich an und ging hinunter, um zu essen. Noch nie zuvor war ich so voller Tatendrang, noch sie zuvor so voller Energie gewesen. Ich aß so viel Brot, wie ich konnte, schlang die Erbsensuppe hinunter und eilte zur Deo Volente, um mit Francesco zu sprechen.

Es tat gut, voll eingekleidet und mit meiner Ausrüstung zu laufen, statt barfuß unter den angeekelten Blicken der Leute und das stärkte mein Selbstbewusstsein ungemein. Die halbe Nacht hatte ich mit der Frage wachgelegen, was ich tun sollte und die Müdigkeit machte mich nun aktiv und hellwach. Ich würde bei der Deo Volente bleiben, ja, aber gewiss nicht vor Domenico kriechen. Ich hatte meinen eigenen Weg und diesem würde ich folgen. Ich, Son, der einzige Mann, der eines Tages frei sein wird!

Francesco war gerade dabei, den Vorraum der Deo Volente zu fegen, die Kerze im Eingangsbereich brannte bereits und züngelte nach dem Sohn Gottes. Der Gottesdiener begrüßte mich angenehm freundlich, als ich auf ihn zu trat. Fast die ganze Stadt schlief noch, der Platz des alten Henrys war vollkommen leer gewesen und viele der Laternen noch immer entzündet. Ich hatte keine Zeit für lange Gespräche, denn ich hatte viele Pläne für den Tag und es dementsprechend eilig. Zudem wollte ich so wenig Zeit wie möglich in der Deo Volente verbringen, aus Angst, ich würde Domenico treffen.

Francesco sah mir meine Eile an und beließ es mit der Begrüßung bei einem knappen: „Ah, Falcon, Ihr seid es.“ Ich war dankbar dafür, dass ich ihm keine Fragen beantworten musste, ob es mir gut ging, ich gut Heim gekommen war oder was Domenico nun zu mir gesagt hatte. Stattdessen nickte ich nur und wir gingen gemeinsam durch die Flure. Dabei erklärte mir der Gottesdiener: „Die Liste liegt in dem Zimmer, in welchem ihr wart. Ich habe Euch jene Geschäfte angekreuzt, die ich als am besten empfinde. Und was den Stock angeht.“, an dieser Stelle wurde seine Stimme leiser und mitfühlender. „Ich betrachte es als unsinnig, Euch auch vor mir zu demütigen. Ich denke, es reicht völlig aus, dieses kindische Spiel mit Domenico spielen zu müssen. Ich habe ihn zu den Unterlagen gelegt. Wenn Ihr ihn braucht, nehmt ihn, ich muss davon nichts wissen.“

„Ich danke Euch, aber ich werde ihn nicht brauchen.“, antwortete ich selbstsicher. „Meinethalben bringt ihn dorthin, wo ihr ihn her habt.“

„Seid Ihr Euch sicher?“, Francesco warf mir einen unsicheren Blick zu, doch ich beachtete ihn nicht, sondern betrachtete nur die Gemälde.

„Mehr als sicher, ich weiß es. Domenico kann solche Spiele mit jemand anderem spielen, ich habe das nicht nötig.“

Diesmal schwieg er. Ich spürte, dass der Geistliche unsicher war, was er sagen sollte und dass er mir am liebsten widersprechen wollte, doch er tat es nicht, sondern öffnete mir nur die Tür und trat in das muffige Zimmer. Es war wieder hergerichtet, wie vor meiner Ankunft: Die Decken wurden verstaut, das Regal war leer und der Hocker stand wieder unter dem Tisch. Ich erkannte den langen, dunklen Stock auf diesem und auch ein eingerolltes Pergament, das Francesco nun holte. Nachdem er es mir übergeben hatte, schloss er die Tür.

„Hier. Dies sind alle Geschäfte und Gasthäuser, so wie Gilden, die mit der Deo Volente im Bündnis stehen. Ich kann sie Euch nicht ganz und gar überlassen und muss Euch bitten, Euch fünf oder sechs zu merken und es dort zu versuchen. Wenn es ein Misserfolg war, kommt zurück zu mir.“

„Ich danke Euch.“, ich nahm sie ihm ab und rollte sie auf, dann ging ich den Inhalt durch. Links standen die Namen, mittig die Arten der Gebäude und ganz rechts die Adressen. Als erstes waren die Gasthäuser aufgezählt, dann Arbeits-, Kranken- und Tollhäuser, Geschäfte und zuletzt Gilden. Ich beschloss, mich an die Arbeitshäuser und Geschäfte zu wenden und merkte mir von beidem die ersten fünf Namen, so wie Adressen. Es fiel mir schwer, denn die meisten Straßennamen hatte ich nie zuvor gehört, doch es würde schon irgendwie gehen. Wenn sie alle der Deo Volente dienten, konnte ich sicher auch vor Ort erfragen, wo ich denn ebenfalls nach einer Arbeit suchen könnte. Nachdem ich meinte, mir alles eingeprägt zu haben, reichte ich die Schriftrolle zurück und fragte: „Wo ist Nevar?“

„Das weiß ich nicht. Meister Nevar war seit gestern Abend nicht mehr im Gebäude.“

„Er steht unter Arrest und soll Euch helfen, Francesco, ich weiß davon. Also?“

Der junge Mann vor mir grinste entschuldigend und erklärte: „Verzeiht, ich habe den Befehl es nicht weiterzugeben, dass er hier ist. Aber wenn Ihr davon wisst, ist es etwas anderes.“, dann streckte er sein schmales Handgelenk aus und zeigte den Gang zurück, aus dem wir gekommen waren. „Er hat die Aufgabe, die Bibliothek zu reinigen. Um sie zu finden müsst ihr diesen Gang hier zurück, bis zum Treppenzimmer. Wenn ihr aus dem Eingangsbereich kommt, geht eine Tür nach rechts ab. Diese durchschreitet Ihr und folgt dem dahinter liegenden Flur. Er gabelt sich, nach rechts und links. Ihr haltet Euch rechts, vier Stufen hinunter und am Ende des Flurs dann wieder vier Stufen hinauf. Dort ist die Bibliothek.“, dann lächelte er mich wieder an. „Nevar hat sehr schlechte Laune, verständlicher Weise. Vielleicht könnt Ihr ihn ja etwas aufheitern?“

„Danke.“, ich wusste nicht, wie ich Francescos leichtes Kichern deuten sollte, also versuchte ich, es zu ignorieren. Stattdessen drehte ich ab und ging zurück, den Geistlichen einfach stehen lassen und fest entschlossen. Francesco sah mir nach, dann drehte er sich irgendwann um und schloss das Gästezimmer wieder ab.

Ich folgte seiner Beschreibung, bis ich das Zimmer mit der Treppe erreichte, die zu Domenico hinauf führte und kurz hielt ich inne. Die Wachen waren nicht mehr zu sehen, theoretisch könnte ich also problemlos hinauf gehen und ihn töten. Domenico war ein alter Mann, er könnte sich nicht wehren. Vielleicht würde ich es sogar schaffen, dass er nicht schrie?

Ich starrte das Geländer der Treppe an, die Pflanzen an seiner Tür und stellte mir vor, wie ich hinauf schlich. Würde mich jemand hören, dann wäre ich dort oben gefangen. Die Soldaten müssten nur unten stehen und warten, dass ich hinunter kam.

Nach einiger Zeit kam Francesco an mir vorbei, da er auf dem Weg zum Eingangsbereich war. Er hielt einen Besen in der Hand, also ging ich davon aus, dass er den Sand von den Stufen der Deo Volente kehren wollte. Als hätte er mich ertappt, nickte ich ihm irrsinnigerweise zur Begrüßung zu und der junge Mann schmunzelte leicht.

Er blieb kurz stehen, hob ein Blatt auf, das den Weg ins Gebäude gefunden hatte und erklärte dabei freundlich:

„Ach übrigens, die Türen sind immer verschlossen, außer er erwartet jemanden.“, dann richtete er sich auf und warf mir einen gütigen Blick zu. „Und um seine Wachen zu rufen, muss er nur an der Schnur neben seinem Bett ziehen.“

„Na und?“, ich zuckte etwas übertrieben mit den Schultern. „Warum sagt Ihr mir das? Ich hatte nicht vor, hinauf zu gehen.“

„Ach, ich dachte nur, es interessiert Euch vielleicht.“, Francesco begann ein Liedchen zu summen und ging an mir vorbei, um seiner Arbeit nachzugehen. Ich erkannte das Lied. Es war ein katholisches Stück und hieß ‚Auch das Denken an Sünden kann schon Sünde sein’, fraglos eine Warnung.

Ich warf einen letzten Blick zur Tür, dann drehte ich ab, um dem mir beschriebenen Weg zu folgen. Er führte mich durch einen weiteren, langen Flur mit verschiedenen, wunderschönen Gemälden, diesmal jedoch Portraits. Wichtige Persönlichkeiten, wie es schien, Männer wie Frauen und die meisten trugen sichtbar ein goldenes Kreuz um den Hals. Wie auch im ersten Flur gab es hohe Deckengewölbe, wie spitz zulaufende Rundbögen und am Ende dann, durch eine weitere, sehr schwere Holztür hindurch, gelangte ich an die erwähnte Gabelung. Eine steinerne Wendeltreppe führte links hinauf und ein vierstufiger Absatz rechts hinunter. Ich überlegte kurz, mich oben weiter umzusehen, doch dann kam mir der Gedanke, dass Francesco mir nach laufen könnte. Zudem wäre es möglich, dass Nevar während dieser Zeit ging und wenn er mit Francesco sprach, wäre es auffällig, wären wir uns auf diesem knappen Weg nicht begegneten. Mit dem Beschluss, später darauf zurückzukommen, ging ich nach rechts. Es war wirklich erstaunlich, wie groß das Gebäude war.

Auf die Abstufung folgte eine weitere, zweifache Holztür, dahinter lag dann ein niedriger, aber sehr breiter Flur. Er war ungewohnt schmucklos und wirkte fast, wie eine Art Kellergang, abgesehen von dem weinroten und bereits recht schmutzigen Teppich auf dem Boden, der sich quer durch den Gang zog. An den Wänden gab es einfache, kupferfarbene Kerzenhalter und die meisten waren nicht einmal entzündet. Irgendwann erreichte ich das Ende. Der Weg führte wieder vier Stufen hinauf und der Gang ging weiter, bis zu einer kleinen, winzigen Tür, wie die einer Kammer. Rechts gab es, statt einer Wand, etliche Bücherregale, in denen ich die teils weißen, teils vergilbten Bäuche von allen möglichen Schriftstücken sah. Sie dienten als Grenze zwischen Bibliothek und Flur und ich musste den robusten Gestellen so lange folgen, bis ich nach rechts in den Hauptraum abbiegen konnte. Man sah über die Regale hinweg, dass dieser hell erleuchtet war und als ich dann endlich freie Sicht hatte, wurde mir klar, warum:

Fast die gesamte, gegenüberliegende Seite war voller Fenster. Riesige, milchfarbene Rundbogenfenster, ähnlich wie jene aus Kirchen, nur strahlend weiß mit schwarzen Ziergittern. An den Decken hingen zwei schwere, goldene Kronleuchter und darunter waren zwei große Tische mit je acht Hockern und vier Stühlen. An den zwei Wänden und parallel in zwei Reihen dazu gab es Regale, gefüllt mit unendlich vielen Büchern der verschiedensten Farben und Größen. Der Raum war riesig und ich hatte noch nie so viele Bücher gesehen. Ich ging zögernd einige Schritte vor, verließ den Teppich und trat auf den steinernen Boden. Staub wirbelte in der Luft umher und es roch muffig und alt, fast, wie im Skriptorium. Ein Geruch, den ich lieben gelernt hatte und auch vermissen. Als erstes schlugen mich die vielen Werke in den Bann, dann die Tische. Auf die Tischplatte waren runde Formen geschnitzt, in denen man passgenau die Tintenfässer gestellt hatte und daneben gab es Löcher und Einkerbungen für Schreibfedern.

Bewundernd fuhr ich mit den Fingern über das raue und abgenutzte Holz. Ohne Frage würde ich hier bald sitzen und die heilige Schrift mit Francesco kopieren müssen, doch das machte mir nichts aus, im Gegenteil. Ich sah die vielen, eingetrockneten Tintenflecke, die splittrigen Ränder und die vielen Kratzer und verspürte sofort das Bedürfnis, daran arbeiten zu können.

Dann vernahm ich eine Stimme: „Setzt Euch endlich irgendwohin, Ihr macht mich nervös.“

Ich drehte den Kopf und erblickte Nevar. Er saß gelangweilt auf einem Stuhl unter einem der Fenster und las in einem der Bücher. Neben ihm, an der Wand, erblickte ich einen Putzeimer, so wie Lappen und Besen. Schweigend ging ich seiner Aufforderung nach, griff mir einen Stuhl und ließ mich vor ihn sinken, neugierig einen Blick auf sein Buch werfend. Es war recht alt und auch sehr klein, die Schrift war kaum noch zu erkennen, doch als ich mich setzte, vorbeugte und den Stuhl umständlich näher an mich heran zog, gelang es mir, einen Blick auf den Buchtitel zu werfen:

Die Psychosomatik des Menschen von Falcon Ryan Colm.

Ich war erstaunt, dass Nevar scheinbar ein solches Buch hier unten gefunden hatte, denn Falcon Ryan Colm galt meinem Wissen nach als Sinnbild für gotteslästernde Literatur.

Ich erinnerte mich an meine Zeit, die ich bei Nevar verbracht hatte, denn damals las ich viele Werke von ihm. Sie standen allesamt in Nevars Bücherregalen und das, was er niederschrieb, faszinierte mich einfach. Er beschäftigte sich mit den absurdesten und zugleich faszinierendsten Dingen, beziehungsweise: Er hatte es einmal getan, denn allein aufgrund seiner Bücher war Colm von der heiligen Inquisition verbrannt worden.

Der Instinkt des Tieres war mein absoluter Favorit, genauso wie seine ethologischen Studien zur Verhaltensbiologie von wildlebenden Tieren oder seinen Beobachtungen bezüglich seiner Tauben- und Hundezucht. Seine Bücher galten allesamt als blasphemisch, denn der Mensch stünde laut der Heiligen Schrift höher als das Tier. In seinen Augen war das umgekehrt. Seiner Auffassung nach waren die Menschen es, die kopierten, nachahmten und nacheiferten. Er hatte sich ausgiebig mit der Lebensart von Füchsen, Rehen und Hasen beschäftigt, so wie mit vielen anderen Wesen dieser Erde, um herauszufinden, wie sie lebten, dachten oder handelten. Letzten Endes:

Überlebten.

Er wollte herausfinden, wie sich Tiere tarnten oder sich der Umwelt anpassten, wie sie lernten zu fliegen oder zu fressen, woher sie wussten, was giftig oder gefährlich war und was nicht. Warum bebrüten Vögel Eier? Woher will eine Taube wissen, dass es ihr Ei ist, obwohl sie weg flog? Könnte das Ei kein Stein sein? Wieso frisst der Vogel das Ei nicht auf, wenn er hungert und woher weiß ein Vogel, der nie zuvor brütete, dass er sich auf das Ei setzen muss? Wieso tut der Vogel das vorsichtig, um es nicht zu zerdrücken, weiß er etwa um die Zerbrechlichkeit des Eis? Und wieso brüten nur Vögel Eier, wieso keine Katzen? Woher weiß die Vogelmutter, wann sie zu schwer ist zum Fliegen, wo sie am besten brütet und wie viel sie das Küken füttern muss?

Göttliche Lenkung, das war die Antwort der Kirche. Aber Falcon Ryan Colm sagte:

Instinkt und Naturtrieb. Doch angeboren oder erlernt?

Und obgleich er dafür hingerichtet worden war, entdeckte man viele seiner Ideen und Entdeckungen im Vorgehen der Menschen wieder und man sah, was Militär und Kirche beispielsweise von seinen Forschungen übernommen hatten. Ich war fasziniert von seinen Aufzeichnungen und seiner Art, die Dinge zu sehen. Ich sah mich nachdenklich um und überlegte, ob Domenico überhaupt wusste, was hier unten herum stand oder waren dies etwa all jene Bücher, die konfisziert worden waren? Dann kam mir der Gedanke, dass Nevar es sich auch einfach mitgenommen haben könnte.

Ich beneidete ihn darum, dass er sie las, denn ich hatte die Werke von Colm schon das eine oder andere Mal vermisst. Ich verehrte diesen Mann, seinen Mut und sein großes Opfer und es misslang mir, zu verstehen, wieso man solch ein Genie durch den Scheiterhaufen umbringen musste. Ein wenig sehnsüchtig betrachtete ich die vergilbten Seiten und wünschte mir, auch einen Blick hinein werfen zu können, denn dieses Buch kannte ich noch nicht. Ob Nevar wusste, wie sehr ich Colm bewunderte?

Bestimmt. Vor meinem inneren Auge geschahen die vergangenen Dinge erneut und versetzten mich zurück in meine Zeit in Nevars Keller. Damals hatten wir beide auf dem Boden meines Lagers gesessen und der Wind rüttelte leicht an der Haustür und pfiff durch die Ritzen. Ich war noch unerholt gewesen vom langen Sitzen im dunklen Zimmer und unter meinen Augen lagen tiefe, graue Ringe. Im wenigen Dämmerlicht musste ich aussehen, wie ein lebendiger Toter, zumindest stellte ich mir mich damals wo vor. Ich hatte oft die Idee, dass, wenn jemand einbrach, er wohl schreiend wieder hinaus rennen würde, würde er mich erblicken. Nevar erklärte mir damals, was das letzte halbe Jahr in Annonce passiert war und machte mir bewusst, wie lange ich bereits in seiner Obhut lebte. O’Hagan hatte die Suche nach mehreren Monaten endlich aufgegeben. Man hatte die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, doch allem Anschein nach gab es keine Spur. Was ich damals nicht wusste, war, dass man mich nicht aus den gleichen Gründen suchte, wie am Anfang. Mittlerweile galt ich als mehrfacher Mörder. Einige Leute munkelten, dass es noch immer Spitzel gab, die die Augen nach mir offen hielten, aber ob das stimmte, war ungewiss.

Es war an der Zeit mir ein neues Leben zu geben, damit ich mich auch außerhalb der Häusermauern wieder frei bewegen konnte. In meinem Kopf hallten die Worte wieder, die er damals zu mir gesagt hatte und ich werde niemals Nevars ernsten Blick vergessen:

„Ihr braucht einen neuen Namen. Sullivan O’Neil ist verschwunden und das ist gut so. So sollte es bleiben.“

Ich hatte damals bereits länger darüber nachgedacht, was ich tun sollte, würde ich ein neues Leben beginnen und so sprach ich den Satz, der der erste Schritt in meinem neuen Leben sein sollte, mit dem Gedanken an Falcon Ryan Colm, der mir, ohne es zu wissen, noch viele Male das Leben retten sollte:

„Ich möchte Falcon heißen. Falcon O’Connor.“

Dieser Name bedeutete mir sehr viel und ich empfand ihn als stillen Schutzpatron. Gerne hätte ich Colm kennen gelernt, da dies aber nicht mehr möglich war, hoffte ich, würde ich seinen Gedanken folgen, könnte ich ihm anders begegnen.

Nevar war mit diesem Namen einverstanden und so begannen wir, mich bei diesem zu nennen:

Falcon.

Ich flüstere den Namen leise und starrte vor mich hin, gedankenverloren und grübelnd. Wie lange war es nun her, dass ich diese Entscheidung gefällt hatte? Fast zwei Monate? Und trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass Colm mich wirklich beschützt hätte.

Ich zuckte ungemein zusammen, als der Mann neben mir das Buch plötzlich zuschlug und mich geduldig ansah. Desinteressiert brummte er: „Was wollt Ihr, Falcon?“

Ich sah ihn unsicher an, versuchend zu erkennen, wie es ihm vorging, doch Nevar sah aus wie immer. Er trug seine schwarze Hose, das schwarze Hemd und wieder seine Stiefel. Umhang und Waffen hatte er zwar nicht mehr bei sich, doch man erkannte ihn sofort am widerspenstigen Haar, so wie an der leicht dunklen Haut. Ging es ihm gut? Ging es ihm schlecht? Hatte man mit den Züchtigungen bereits begonnen, hatte er Schmerzen?

Ich erkannte es nicht. Zögernd erklärte ich ihm: „Ich möchte mit Euch reden. Ich habe noch immer viele Fragen, zudem einiges vor, bei dem ich Eure Hilfe gebrauchen könnte.“

Mit einem Brummen warf er das Buch auf den Tisch. Es rutschte ein Stückchen weiter über die Tischplatte, ehe es hielt und ich fürchtete für einen Moment, es würde fallen. Dann sah ich Nevar wieder an. „Ich habe einen Plan.“

„Einen Plan.“, wiederholte er nur und verschränkte die Arme, ziemlich gelangweilt, wie ich fand.

Ich nickte knapp. „Ich habe nicht vor, vor Domenico zu kriechen, Nevar. Er verlangt, dass ich vor ihm in die Knie gehe und darum bitte, bestraft zu werden. Das ist lächerlich und demütigend.“

„Also gedenkt Ihr was zu tun?“

„Ich werde das Jahr mitspielen und dann, wenn es vorüber ist, gehen. So, wie abgemacht, ohne eine Verlängerung seinerseits.“

Nun zog er eine Augenbraue hoch. „Und wie soll ich Euch dabei helfen?“

„Mit zwei Dingen. Erstens will ich alles wissen, was Ihr über die Samariter wisst. Ich möchte sie finden und Domenico ausliefern. Ihr hattet Recht, mit dem, was Ihr sagtet: Wenn ich für Domenico wichtig bin, habe ich eindeutig Vorteile. Ich werde nebenbei, heimlich, weiter an dieser Sache arbeiten und ihm dann häppchenweise alles servieren, was er haben will. So kann ich die Karten zu meinen Gunsten ausspielen.“

„Und Zweitens?“, mein Gegenüber zeigte keine Regung und wirkte wenig begeistert. Bemüht, überzeugender rüber zu kommen, ballte ich die Fäuste und setzte den ernstesten Blick ein, den ich beherrschte.

„Bringt mir das Kämpfen bei!“

Eine Weile geschah nichts.

Dann lachte der Attentäter laut auf. „Das ist Euer grandioser Plan? Ihr wollt tun, was Domenico will und nebenbei das Kämpfen lernen? Mehr nicht?“, er schüttelte den Kopf. „Ich hatte mit einem Mordversuch gerechnet oder einer geheimen Verschwörung, einer kompliziert durchdachten Flucht oder zumindest einem unheimlich ausgeklügelten Streich. Stattdessen kommt Ihr ihm entgegen, mehr nicht?“, ein klein wenig beleidigt sah ich weg und schwieg. Nevars Grinsen wurde wissend, dann beugte er sich zu mir vor und flüsterte: „Oder steckt etwas anderes dahinter, Falcon?“

„Ich weiß nicht, was Ihr meint.“

„Es könnte auch sein, dass Ihr all diese Sachen überlegt habt und zu der Entscheidung kamt, dass es dumm wäre, mir davon zu erzählen.“

Sofort sah ich ihn wieder an. „Wäre es dumm?“

Mein Gegenüber begann erneut zu grinsen. „Oh, Ihr vertraut mir nicht. Und das nach so langer Zeit? Nun, es kommt wohl drauf an, was davon, meint Ihr nicht?“

Auch meine Stimme wurde leiser und ich beugte mich ein Stück vor. „Wenn ich fliehen möchte, nur mal angenommen, weil ich davon ausgehe, Domenico wird mich so lange unter seinem Befehl behalten, wie es ihm möglich ist. Würdet Ihr mitkommen?“

„Nein.“

Ich sah ihm entgegen, in der Hoffnung, es wäre nur ein Scherz, doch scheinbar meinte Nevar es ernst. „Aber wieso nicht?“, zischte ich ihm dann verständnislos zu und zog die Stirn kraus. „Domenico demütigt Euch, Nevar. Gerade ein Mann wie Ihr es seid sollte sich das nicht gefallen lassen! Wenn einer vor der Inquisition fliehen kann, dann seid Ihr es!“

Doch er zeigte keine Regung und stellte nur gelassen fest: „Er demütigt mich nicht, nicht im Geringsten. Ich habe Dinge erlebt, Falcon, an diese Dinge kommt sein albernes Zeug nicht mehr heran. Das, was ich in seinem Zimmer gesagt habe, war nur, um ihn zufrieden zu stellen. In Wahrheit ist es mir egal, was er tut, denn letzten Endes stehe ich darüber.“

„Ich verstehe nicht, was Ihr damit meint.“

Nevar nickte nur. „Ich weiß. Ich will versuchen, es Euch zu erklären:

Ich kann und ich werde nicht von hier weg gehen. Nicht, weil ich der Deo Volente treu ergeben bin oder aus Loyalität zu Domenico, sondern weil ich hier bleiben muss. Das, was Domenico tut ist nichts weiter, als eine einfache Spielerei, es lässt mich kalt. Es ist nichts Neues und wenig schockierend. Ich habe nur gespielt, dass es mir etwas ausmachen würde. In Wahrheit habe ich meinen eigenen Kopf und gehe weiterhin meinen Sachen nach, auch ohne seine Zustimmung.“

Ich lehnte mich zurück und sah ihm schweigend entgegen. Stimmte das? War es Nevar egal oder spielte er mir das nur vor, damit ich seinen Stolz nicht verletzte?

Nach einigen Sekunden Nachdenkens wollte ich wissen: „Womit erpresst er Euch, Nevar, dass Ihr so tief sinken müsst?“

Das brachte ihn erneut zum Lachen, wenn auch nur für einen Augenblick. „Er erpresst mich mit den Morden, die ich die vergangenen zwanzig Jahre in seinem Auftrag ausgeführt habe. Damit, dass ich ein Ketzer bin und auch mit dem, was ich tat, bevor ich zu ihm kam. Mit etwas, was mir im Grunde egal ist. Versteht Ihr? Er erpresst mich nicht wirklich. Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, wie er ist. Ich weiß, wie er vorgeht, wie er denkt und auch, wie er mit den Menschen umgeht. Egal, was er tut: Es überrascht mich nicht. Ich bin freiwillig hier, Falcon, aus Überzeugung. Nicht aus Überzeugung, was die Deo Volente betrifft, sondern aus Überzeugung bezüglich meiner Mission.“, noch ehe ich fragen konnte, hob er die Hand. „Nein, fragt nicht. Ich kann Euch nicht sagen, welche Mission das istt. Aber Ihr solltet wissen, dass sie sehr wichtig ist und ich werde Domenico nicht verlassen, ehe ich sie erfüllt habe. Ich kämpfe seit zwanzig Jahren für die Erfüllung dieses Ziels und wenn es sein muss, werde ich noch weitere fünf Jahre dafür kämpfen. Und so lange ich dieses Ziel vor Augen habe werde ich jede Demütigung nur mit Spott empfangen, versteht Ihr?“

Doch ich verstand nicht. Ich saß vor ihm, starrte ihm entgegen und verstand kein Wort. Es wirkte nicht, als würde er für Domenico kämpfen, doch für wen dann? Für wen sollte er agieren, in der Deo Volente, wenn nicht für eben diese? War Nevar verrückt geworden oder etwa Domenico? Verfolgte er eigene Ziele oder stand jemand hinter ihm?

Dann wurde es mir klar. Ich erinnerte mich daran, wie ich im schwarzen Kater gewesen bin, in Nevars Zimmer und auch an das Buch, das ich entdeckt hatte:

La Sacra Bibbia.

Fassungslos flüsterte ich: „Ihr seid ein Spion.“

Nevar zog eine Augenbraue hoch und starrte mich an, wie einen Idioten. „Natürlich bin ich ein Spion.“

Doch ich schüttelte den Kopf. Ernst zischte ich: „Nein, das meinte ich nicht. Nicht von Domenico. Nicht von der Deo Volente. Ihr seid ein Samariter.“

„Und wie kommt Ihr darauf?“, doch ich schwieg. Er widersprach nicht – diese Tatsache hämmerte auf mein Hirn ein, als würde sie mich umbringen wollen. Ich starrte Nevar entgegen und mir wurde bewusst, in welcher Gefahr ich mich befand. Wenn es stimmte, was ich sagte, dann wäre dies nun ein Grund, mich zu töten.

Nevar schien meinem Gedankengang zu folgen, denn er zog leicht grinsend einen Mundwinkel hoch und flüsterte: „Nun sagt schon, Falcon. Wie kommt Ihr zu dieser Annahme?“

Seine Augen ruhten kühl in den meinen und ich schluckte schwer. „Euer Buch. Damals, im Gasthaus. Es hieß-...“, ich zögerte erneut kurz, dann atmete ich tief durch. „La Sacra Bibbia. Was war das für ein Buch? Mein Gedanke war, dass es die heilige Schrift aus Eurer Heimat ist und vielleicht ist sie im Innern noch immer auf Latein, doch nun kam mir der Gedanke: Wieso solltet Ihr ein solches Buch haben? Und was, wenn es nicht die lateinische Schrift ist?“

Sein Schmunzeln wurde zu einem amüsierten Grinsen. „Und? Was wäre, wenn nicht?“

„Dann seid Ihr ein Samariter! Das, was Domenico verhindern will oder nicht? Ihr dient den Samaritern. Jenen, die Gottes Worte in ihre eigenen umformen?“

Der Attentäter stand auf und auch ich erhob mich fast sofort und stolperte zurück, aus Angst, vor einem Angriff, doch Nevar griff nicht an. Er ging an mir vorbei zu einem der Regale und begann etwas zu suchen, dabei erklärte er: „Es ist kein schlechter Gedanke, dem Ihr damit folgt, auch wenn es Euch hätte wesentlich früher auffallen sollen.“

„Warum habt Ihr mir nichts gesagt?“

„Warum sollte ich?“, der Mann schien gefunden zu haben, was er suchte, denn nun griff er nach einem Buch und zog es aus dem Regal. Während er darin herum blätterte, erklärte er abwesend: „Ich musste erst heraus finden, wie Ihr wirklich zur Inquisition steht, schließlich wart Ihr Mönch. Ihr könntet auch gelogen haben, damit ich Euch nicht ausliefere. Es stimmt, ich arbeite seit einigen Jahren für die Samariter. Nicht von Anfang an, denn früher war ich noch ein Kind, aber ich wusste von Anfang an, wie die Deo Volente aufgebaut war.“, seine Stimme wurde leicht verhasst, als er fort fuhr. „Ich habe früh verstanden, dass Domenico mich nur ausnutzte, eigentlich wusste ich es schon immer. Ich habe diesen Mann vom ersten Tag an gehasst, ganz gleich, ob er mich aufzog wie einen seiner Söhne.“

„Wieso?“, ich ließ mich wieder auf den Stuhl zurück sinken, etwas beruhigter. Nevar stellte das scheinbar doch falsche Buch zurück und blätterte in einem Zweiten.

„Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass die Samariter mich ansprachen, vor sieben Jahren. Seitdem unterstütze ich sie und liefere Informationen bezüglich der Deo Volente.“, er schlug das Buch zu und kam zurück zu mir, es mir entgegen haltend. Während ich es ihm abnahm und neugierig musterte, setzte er sich zurück. Es war ein altes Werk mit vergilbten Seiten. Der Titel war kaum noch zu lesen und ich musste es ins Licht halten, um die alten Buchstaben zu entziffern:

Gottes Blut.

Nevar fuhr fort, während ich es vorsichtig aufschlug: „Aus diesem Grund kann ich hier auch nicht weg, versteht Ihr? Es ist wichtig, dass jemand aus nächster Nähe weiß, was Domenico plant und tut. Kein Spion kann von außerhalb so nah an ihn heran geschleust werden.“

„Warum erzählt Ihr mir das?“, verwirrt blickte ich auf und ihm entgegen. „Was, wenn ich Euch verrate?“

„Dann verrate ich Euch.“, sein Blick war blanker Ernst und ich verstand, dass er nicht beabsichtigte, mich anzulügen. „Davon abgesehen werdet Ihr das nicht tun. Ihr seid der gleichen Ansicht wie ich: Dieses Volk muss aufgeklärt werden, dieser Massenmord aufhören. Dieses Buch dort ist wie alle anderen Werke hier ein Ketzersbuch. Dies hier ist keine öffentliche Bibliothek, nur Francesco hat Zutritt, versteht Ihr? Von diesem Werk gibt es nur zwei Stück, dieses und eines in meinem eigenen Besitz. Es beschreibt, was damals in Asahacia geschah. Kennt Ihr Asahacia? Die Katholiken bezeichnen es als ehemaliges, asaharisches Reich.“, ich nickte und sofort sprach er leise weiter. „Die Katholiken haben Asahacia überfallen und jeden niedergemetzelt, der sich verteidigte.

Man sagt, der Krieg ist bereits seit achtzig Jahren vorbei, aber es stimmt nicht. Es gab viele Jahre lang noch immer einzelne Kolonien, die damals kapitulierten und sich dem christlichen Glauben anpassten. Sie lebten in Gefangenschaft, fast wie Sklaven. Sie durften weder zu ihren Göttern beten, noch durften sie ihr Land verlassen.

Als der zweite Kreuzzug, eine Art Machtdemonstration um auch die umliegenden Länder zu besetzen, begann, rückten die katholischen Truppen ab und ließen nur wenige Posten zurück. Der Krieg war gewonnen, eine Verteidigung war nicht mehr nötig und man begann mit dem Aufbau Jerobas. Viele dieser Kolonien wurden nachträglich zerstört, selbstverständlich gab es Freiheitskämpfer die das verhindern wollten. Zwar war es keine Schlacht mehr, aber Krieg herrschte noch immer und die Soldaten töteten jeden, der sich werte, gleich ob Frauen oder Kinder, und zwar auf bestialische Art und Weise. Das ist erst wenige Jahre her und es gibt heute kaum mehr Überlebende.“

„Ihr kommt aus so einer Kolonie.“, sprach ich meinen Gedanken leise aus. Ich wollte mir nicht ausmalen, was für ein Leben das gewesen sein musste.

Nevar nickte. „Das ist richtig. Ich bin nicht hier, um Rache auszuüben, dafür ist es zu spät. Jeroba ist eine blühende Stadt geworden, mein Volk lebt verstreut auf der ganzen Erde, als Zigeuner, Sklaven oder Flüchtige. Manche haben sich niedergelassen, ihren Glauben verloren und auch ihren Stolz. Keine Rache dieser Welt könnte das wieder gut machen oder Jeroba wieder in das asaharische Reich verwandeln, Asahacia ist tot. Aber was ich tun kann ist, verhindern, dass anderen Menschen das gleiche passiert wie mir. Meiner Familie..“, er schwieg einige Sekunden und sah auf das schwarze Buch in meinen Händen, ehe er erklärte: „Umso mehr Macht Gilden wie die Deo Volente bekommen, desto mehr Macht gewinnt die Inquisition. Und umso mehr Macht die Inquisition hat, desto mehr kann sie andere Völker zerstören.“

Ich nickte und betrachtete abermals das Buch in meinen Händen. In mir machte sich ein seltsames Gefühl breit und ich wusste nicht, was ich empfinden sollte. Weder war ich sonderlich überrascht, noch wirklich gelassen. Nevar war ein Samariter, aber wieso erstaunte mich das nicht im Geringsten?

Ich schlug wahllos eine Seite auf und las die ersten Zeilen. Scheinbar handelte es sich bei dem Buch um eine Art Zeugenbericht eines Asahacias. Der Verfasser erzählte, was geschehen war, wie die katholischen Truppen vorgingen, was er beobachtete und wie er lebte. Er sprach von seiner Familie, von Folter und Angst, Hunger und Flucht. Man könnte es mit einem Tagebuch vergleichen, denn ab und an gab es ein Datum und Angaben zum Tag. Neugierig musterte ich die erste und anschließend die letzte Seite, er hatte ein ganzes Jahr lang mitgeschrieben. Ein Name war jedoch nirgendwo zu finden.

Als ich wieder aufsah, schaute Nevar schweigend vor sich auf den Boden und ich fragte mich, was er wohl dachte. Erlebte er gerade seine Vergangenheit? Leise wagte ich es, zu flüstern: „Wie seid Ihr zu Domenico gekommen, Nevar?“, sofort sah er wieder auf, als hätte ich ihn aus den Gedanken gerissen.

„Was sagtet Ihr?“

„Ich möchte wissen, na ja...“, etwas unsicher starrte ich wieder auf das Buch. „Die Kolonien sind sicherlich ein gutes Stück weit weg. Ich frage mich, wie Ihr hier her kamt, nach St. Katherine. Ihr sprecht unsere Sprache sehr gut und die Tatsache, dass Ihr ein Ausländer seid, ist kaum bemerkbar.“

Mein Gegenüber lächelte gütig. „Das ist nun zwanzig Jahre her und ich habe bisher niemals darüber gesprochen.“, ich nickte nur erneut, ein klein wenig enttäuscht und ließ den Kopf seufzend hängen. Nevar legte mir eine Hand auf die Schulter, dann flüsterte er: „Nun, wo Ihr Bescheid wisst, frage ich Euch erneut:

Was habt Ihr wirklich vor, Falcon?“

Papiere machen Leute

Ich schwieg lange, ehe ich antwortete, denn auch wenn ich Nevar vertraute, so verspürte ich dennoch ein gewisses Unbehagen. Niemandem schenkte ich mehr Vertrauen als ihm, trotzdem wollte ich keinen weiteren Fehler begehen. Es könnte genauso gut sein, dass er mir nur alles vorspielte, um Domenico zu warnen, sollte ich erneut auf dumme Ideen kommen. Doch diesen Gedanken streifte ich dann einfach ab. Warum sollte er das tun? Es ergab wenig Sinn. Nachdenklich fuhr ich mit den Fingern über das Buch in meinen Händen und dachte an die Lektüre bezüglich der Samariter. Die letzten Seiten hatten gefehlt und der restliche Text war nichts weiter als eine große Ansammlung aneinander gereihte Vermutungen gewesen. Ich hatte nicht vor, meine ebenso viele Vermutungen aneinander zu reihen, so kam ich schließlich nie voran und so sah ich dann auf und musterte Nevar ernst.

Der Mann saß geduldig vor mir und ich sah an seinen Augen, dass er bereit war, mir zuzuhören und mich eventuell zu unterstützen. Also erklärte ich ihm:

„Ich will hier raus, Nevar. Raus aus der Deo Volente.“

Mein Gegenüber nickte. „Das Jahr ihr schnell vorbei, glaubt mir.“

„Nein.“, mit gesenktem Blick betrachtete ich wieder das Buch. Wie hatte der Mann sich gefühlt, der dieses Schreiben verfasst hatte? Laut dem, was ich überflog, diente auch er eine Zeit lang der Inquisition. Leise flüsterte ich: „Ich kann es nicht. Ich bewundere Euch, für das, was Ihr tut, Nevar. Ihr dient einer Sache, die Ihr abgrundtief hasst und ich dachte, ich könnte Euch folgen. Ich dachte es wirklich, ich wollte es von ganzem Herzen. In der Zeit, die ich bei Euch verbrachte, wurdet ihr...“, kurz zögerte ich. „...eine Art Vorbild für mich, auch wenn das etwas übertrieben klingt.“, kurz herrschte Schweigen. Nevar beugte sich zu mir, um Augenkontakt herzustellen und ernst forderte er mich mit einem Nicken auf, fortzufahren. Ich seufzte leicht. „Ich dachte, ich würde es schaffen, ein Jahr für Domenico zu arbeiten. Ich meine, ich bin dann frei oder nicht? Keine Verfolgung mehr, eine feste Arbeit, vielleicht ein Haus, vielleicht sogar ein Weib. Meine Melancholie war fast weg, ich hatte einen festen Platz im Leben, versteht Ihr?“, seufzend sah ich zum weißen Fenster. „Aber das ist nicht mein Platz. Ich fühle mich, wie in einem zweiten Kloster, nur anders und dieses Gefühl macht mich krank. Es fällt mir schwer, das zu erklären.“

„Ihr möchtet frei sein.“, stellte Nevar lächelnd fest.

Nickend fuhr ich fort: „Ich möchte wirklich nicht undankbar sein, Nevar, Ihr habt mir sehr geholfen. Ihr habt mir das Leben gerettet und ich schulde Euch viel, denn ohne Euch hätte ich gewiss aufgegeben. Verloren.“, dann erhob ich mich und ging langsam zum Tisch hinüber. Ich legte das Buch zurück und war für einen Moment erleichtert, dem Attentäter nicht entgegen sehen zu müssen. Mit dem Rücken zu ihm blieb ich stehen und legte die Hände auf die kalte Tischplatte. Es war ein angenehmes und sehr tröstendes Gefühl für mich. „Als ich damals das Kloster verließ, lag es nicht daran, wie ich sagte, dass man meinen Freund als Ketzer verbrannt hatte. Es war nur der Auslöser gewesen. In Wahrheit hatte ich es bereits Jahre zuvor nicht mehr ausgehalten. Ich war mein Leben lang ein Gefangener, so lange ich denken kann. Bei meinem Vater, im Heim, im Kloster, auf See, im Tollhaus, im schwarzen Kater, in Eurer Obhut und nun hier. Nur wenige, kurze Tage dazwischen war ich frei, wirklich frei. Das möchte ich nicht mehr. Ich möchte immer frei sein, jeder Zeit.“

Nevar lehnte sich wieder zurück und einige Zeit hörte ich nur, wie er den Stuhl vor sich zurecht schob und die Stiefel darauf lehnte. Nachdenklich wollte er wissen: „Und Ihr meint, nach diesem Jahr könnt Ihr es nicht sein?“

„Doch, das glaube ich schon. Ich traue Euch, Nevar, nur Euch. Und wenn Ihr sagt, Domenico lässt mich gehen, wenn das Jahr vorüber ist, dann ist dem so. Aber bis dahin kann ich nicht warten.“, seufzend starrte ich erneut auf das Buch. Mir fiel auf, dass das es mich wie magisch anzog und ich legte jenes von Colm darüber, in der Hoffnung, diese Magie ginge verloren. „Dies ist Eure Geschichte, Nevar. Nicht meine. Ich kann Euch auf diesem Weg, in diesem Kampf, nicht begleiten. Ich möchte es nicht.“, zögernd drehte ich mich zu ihm. „Es tut mir leid, aber ich möchte mich in diese Sache nicht einmischen. Weder für die Seite der Samariter, noch für die Seite der Inquisition. Es ist Unrecht, was Eurem Volk passiert ist und es ist gewiss etwas, was unterbunden werden muss. Aber nicht von mir, nicht jetzt. Erst muss ich meinen eigenen Platz finden. Ich teile viele katholische Ansichten und andere nicht. Ich muss herausfinden, wer ich bin. Woran ich glaube. Versteht Ihr?“

Der Attentäter schmunzelte nur und ich beneidete ihn um die Stärke, die er besaß. An seiner Stelle wäre ich enttäuscht gewesen oder gar frustriert, aber Nevar sah mir ruhig entgegen, als wäre nichts. Er hatte Recht, er stand über den Dingen, in jeder Hinsicht. „Ich habe und hätte niemals verlangt, dass Ihr mich in dieser Sache begleitet. Ihr habt derzeit kein Leben, welches Ihr dafür riskieren könntet und ich weiß, dass so ein Leben zu bekommen euer einziger Wunsch ist.“

„Also versteht Ihr es?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Natürlich.“, mein Gegenüber zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. „Asahacia geht Euch doch nicht das Geringste an, Falcon, die Samariter genauso wenig. Hättet Ihr unter Domenicos Befehl einen der Samariter gestellt, dann wäre das so gewesen und ich hätte Euch keinerlei Vorwurf deswegen gemacht. Ihr und ich, wir sind zwei Menschen, zwei Leben und zwei Geschichten. Ich habe die meine, Ihr die Eure. Macht Euch kein schlechtes Gewissen, dass Ihr den Samaritern nicht helfen wollt. Ihr schuldet mir nichts und ihnen noch weniger.“

Schweigend starrte ich auf meine Stiefel, leicht an den Tisch gelehnt. Meinte er das ernst? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und fürchtete, er könnte mich für feige halten. Nevar lachte: „Aber Ihr lenkt uns vom Thema ab, Falcon. Ich wollte wissen, was Ihr vorhabt und statt es auszusprechen, redet Ihr drum herum. Ihr wollt also gehen? Die Deo Volente verlassen?“

Schritte hallten durch die Gänge und unterbrachen mich, ehe ich etwas sagen konnte. Wir schwiegen beide und sahen aufmerksam zum Flur, bereit, zu reagieren, wer auch immer da kam. Nevar rührte sich nicht und blieb sitzen, wobei es wohl angebrachter gewesen wäre, sich zum Putzeimer zu stellen oder wenigstens die Bücher zurück zu legen.

Langsam ging die Tür auf.

„Ich bin es nur.“, kündigte sich Francesco an, noch ehe wir ihn sehen konnten. Ruhig kam er näher und lugte irgendwann hinter dem Regal hervor. „Herr Domenico verlässt nun sein Zimmer. Es dauert nicht lange, er trifft nur einen Vertreter der Handelsgesellschaft in der Vorhalle. Ich schließe ab und bitte sprecht nicht zu laut. Ich bekomme Probleme, wenn eine seiner Begleitpersonen euch zwei hier findet.“

„In Ordnung.“, brummte Nevar nur desinteressiert.

Francesco nickte und wollte hinaus, kam dann aber erneut in unser Sichtfeld und bat ihn leise: „Ach und Meister Nevar: Ihr seid nun bereits seit vier Stunden hier. Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr wenigstens endlich anfangen würdet, auch wenn es mühselig ist.“, dann verbeugte Francesco sich leicht, ging wieder und die Tür fiel ins Schloss. Wir lauschten, wie er den Schlüssel mehrmals herum drehte und seine Schritte dann wieder verhallten.

Mies gelaunt schnaubte Nevar: „Bete lieber für ein Wunder, das ist effektiver.“

„Gehört er-...?“, ich rückte etwas mehr auf den Tisch hinauf. „Na ja, gehört Francesco-…?“

„Zu den Samaritern?“, mein Gegenüber wiegte den Kopf und wandte sich wieder mir zu. „Halb, halb. Er ist ein sehr guter Freund und lässt mir ab und an Informationen zukommen, mehr aber nicht. Sagen wir, er ist für freie Meinung, er unterstützt die Samariter aber nicht ganz und gar. Er ist gegen Gewalt, daran liegt es. Meist weiß er nicht, wem er die Informationen gibt oder von wem sie kommen. So ist es am besten, versteht Ihr? Es ist sicherer für ihn.“

„Ich verstehe.“, ich stützte meine Hände auf den Tisch und lehnte mich etwas zurück. „Nun, was ich vorhabe, wolltet Ihr wissen. Eigentlich nichts Konkretes. Ich habe vor, abzuhauen. Ich dachte, dass ich vielleicht ein bisschen spionieren könnte, während Domenico denkt, ich tue, was er verlangt. Und wenn ich genug weiß, kaufe ich mich damit frei.“

„Das funktioniert so nicht.“, Nevar schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Wenn Ihr etwas herausfindet, was andere Spione noch nicht herausgefunden haben, wird Domenico Euch erst recht nicht gehen lassen. Ihr wärt somit einer seiner besten Informanten. Er wäre dumm, würde er es tun.“

„Aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.“, gab ich leise zu. „Wenn ich nichts tue, muss ich nun noch ein ganzes Jahr mitspielen und ich möchte nicht weiter sein Handlanger sein. Ich sehe es nicht ein, noch weitere Monate Schläge einstecken zu müssen, das mit Morgan und Stewart hat mir wirklich gereicht. Ich habe jetzt noch Albträume davon.“

Nevar nickte, dann setzte er die Füße zurück auf den Boden und lehnte die Ellenbogen nachdenklich auf die Knie. „Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr so früh aufgebt. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich, dass Ihr gehen werdet. Aber so früh hatte ich es wahrlich nicht erwartet. Meine Hoffnung war, Ihr haltet das Jahr durch und bekommt ein neues Leben.“

„Ich dachte auch, ich halte länger durch, aber das mit diesem Stewart war einfach zu viel, schätze ich.“

Es wurde dunkler im Raum, da eine Wolke sich vor die Sonne schob und das Licht im Raum etwas dämpfte, fast, als würde sie mein Gesagtes untermalen wollen. Für einige Momente sagte niemand mehr was und jeder dachte nach. Es beruhigte mich, dass Nevar weder enttäuscht, noch verletzt war. Im Gegenteil, er machte sich nun sogar Gedanken, wie er mir helfen könnte. Dafür war ich dankbar.

„Nun, Falcon. Entweder, Ihr spielt mit oder Ihr geht mit Gewalt vor.“

„Ich werde ihn nicht umbringen.“

Überrascht sah mein Gegenüber auf und grinste. „Aber Ihr habt es in Betracht gezogen.“, stellte er fest.

Unsicher blickte ich ihm entgegen, leicht beschämt. „Habt Ihr sonst keine Idee?“

Diese Frage brachte ihn leicht zum Lachen. „Ihr seid doch derjenige, der immer so viel fragt und denkt.“

„Ja, das kann sein, aber ich grübele Tag und Nacht. Ich habe mir vorgestellt, wie ich ihn töten könnte und mit den Papieren verschwinden, aber was, wenn ich dann als Falcon O'Connor gesucht werde? Ich bin auf ihn angewiesen, weil mein altes Leben nicht mehr lebbar ist. Diese Unterlagen sind meine einzige Chance, bis ich die Absolution habe. Ich kann nur als Sullivan O'Neil weiter machen, aber dafür brauche ich seine verfluchte Unterschrift.“, entnervt stand ich auf und begann im Raum umher zu laufen, wie so viele Male zuvor in meinem Zimmer. „Ich brauche seine Unterschrift auf der Absolution und er wäre schön blöd, wenn er die Papiere dafür fertig aufgesetzt in seinem Zimmer hätte. Also wie komme ich da ran, Nevar? Wie komme ich an die verfluchten Unterlagen?“

„Francesco schreibt sie für Domenico.“, erklärte er mir ruhig und sah mir beim Herumlaufen zu. „Er schreibt sie für ihn, im Beisein von Domenico und dem Betroffenen. Das Blatt, das er Euch zeigte, hat er mit Sicherheit längst verbrannt, ihr werdet es also nirgendwo finden. Doch ich bezweifle ehrlich gesagt, dass Francesco Euch ein solches Pergament aushändigen würde. Nicht einmal für mich würde er solch eine Straftat begehen.“

„Dann muss ich ihn erpressen oder bestechen oder ähnliches.“, dachte ich laut.

Nevar lachte trocken: „Erpressen? Bestechen? Francesco? Das könnt Ihr vergessen.“

„Dann muss ich es fälschen!“

„Falcon, es ist sinnlos.“, auch er erhob sich nun und kam mir entgegen, um mich aufzuhalten. Seufzend blieb ich vor ihm stehen und ließ mir seine Hände auf die Schultern legen. „Ihr werdet so einfach nicht an solche Papiere kommen. Davon abgesehen reicht eine einfache Absolution nicht. Ihr braucht zusätzlich ein Schuldbekenntnis, sowie den Nachweis, dass Ihr Eure Schuld in Form von Buße beglichen habt. Dafür ja dieses Jahr Arbeit. Ihr braucht drei Blätter, wenn Ihr mit einem rein gewaschenen Namen weiter leben wollt und diese zu bekommen ist nicht leicht.“

Niedergeschlagen sah ich den silbernen Vogel seines Umhangs an. „Das ist nicht gerecht. Wieso muss ich von einer Sache in die nächste rennen?“

„Falcon, hört auf damit.“, Nevars Griff wurde fester. „Ihr habt verdammt viel hinter Euch gelassen, dies hier schafft Ihr nun auch.“, dann ließ er mich los und verschränkte wieder die Arme. „Denkt Ihr nicht, wenn es so einfach wäre, hätte ich Euch die Sache mit Domenico erspart? Es war nicht meine Absicht, Euch das Leben zu erschweren, sondern Euch zu helfen. Ihr seid ein Flüchtling der Inquisition gewesen, genauso wie ich. Ich wollte Euch helfen, deswegen wart Ihr bei mir und deswegen seid Ihr nun bei Domenico.“

„Ein Flüchtling-...?“, unsicher sah ich ihn an. „Ihr seid ein Flüchtling? So, wie ich?“

Nevar seufzte leicht. „Darum geht es jetzt nicht, Falcon. Es geht um Folgendes:

Es ist wichtig, Ruhe zu bewahren und nachzudenken, ehe man etwas tut. Besonders für Menschen wie uns. Menschen wie Ihr und ich, erinnert Ihr Euch?“

‚Verbrecher, die niemals Verbrecher sein wollten.’, wiederholte ich seinen Satz im Kopf, etwas benommen nickend. ‚Gesuchte und Abtrünnige.’ Ich wusste nicht ganz, worauf er hinaus wollte und starrte ihm unsicher entgegen. Nevar fuhr bereits fort:

„Es ist wichtig, dass Ihr jeden Schritt drei, bis vier mal durchdenkt, Falcon. Ihr könnt jederzeit zu mir kommen, aber macht Euch eines bewusst: Ihr habt Probleme, ja, aber ein Problem zu bewältigen, dem man nicht gewachsen ist, bringt neue Probleme mit sich. Was, wenn ihr mich nicht angesprochen hättet? Weiß der Teufel, was nun passiert wäre. Ihr müsst mit Kopf vorgehen, nicht mit Gefühl.“

„Instinkte sind für Reaktionen in Notlagen und sollten dennoch stets vom Hirn geleitet werden.“

Das brachte ihn leicht zum grinsen. „Richtig und Ihr müsst nun darauf achten, dass Ihr dies auch einhaltet. Ich weiß, dass der Freiheitsdrang gerade enorm ist, aber eine Woche zu warten und dafür alles zu planen ist besser, als Hals über Kopf in die nächste Schlinge zu rennen.“

Wir hörten Schritte. Francesco war gerade dabei, zurück zur Bibliothek zu kommen, um uns heraus zu lassen. Lächelnd sah ich erst zur Tür, dann Nevar an und nickte. „Ich danke Euch. Ich werde mir etwas überlegen und Euch dann erneut aufsuchen. Ich fürchte, ohne Euch hätte ich sein Arbeitszimmer gestürmt oder wäre davon gerannt.“

„Und nicht sehr weit gekommen, nehme ich an.“, er klopfte mir noch einmal auf die Schulter, dann ging er an mir vorbei Richtung Tür. „Ich gehe jetzt spazieren. Wenn Ihr mich sucht, wendet Euch an Francesco.“

„Spazieren?“, leises Rasseln drang durch die Tür, während der gemeinte Gottesdiener den richtigen Schlüssel suchte und Nevar drehte sich zu mir. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und grinste mir leicht schelmisch entgegen. Für einen kurzen Moment erinnerte er an einen misserzogenen, kleinen Jungen, der sich einen Streich ausgedacht hatte.

„Spazieren. Ich habe lang genug hier unten Buße getan, zwischen all dem Staub und den unerträglichen Kerzerswerken. Ich habe schon richtig Kopfschmerzen von der vielen Blasphemie in der Luft.“

„Aber Ihr dürft die Deo Volente nicht verlassen.“, flüsterte ich ernst. Die Tür ging auf und ich griff bewusst beide auf dem Tisch liegende Bücher. Innerlich grinste ich, als mir bewusst wurde, dass das Werk Colms nun mir gehören könnte, wenn ich dreist genug war.

Nevar winkte gelangweilt ab. „Tue ich doch. Die Deo Volente hat einen Garten und der gehört für den restlichen Tag mir. Überarbeitet Euch nicht.“, dann drehte er ab.

Francesco kam lächelnd herein, die Güte in Person und wollte ihn gerade erneut begrüßen, da wandte sich Nevar ein weiteres Mal an mich. „Ach, eines noch: Ihr sollt Euch doch eine Unterkunft besorgen, so wie neue Arbeit, habe ich Recht?“, ich nickte nur und schob die Bücher schnell unter meinen Umhang, unsicher, ob Francesco sie sehen durfte. Nevar bemerkte es und grinste. „Nun, dann wendet Euch, ehe Ihr alles abgrast, an das katholische Gebäude nicht weit vom Fünf-Sterne-Platz. Es heißt Unter Marias Obhut und ist ein altes Arbeitshaus, in dem ich selbst eine Zeit lang lebte. Sie nehmen nur Obdachlose auf, aber wenn Ihr sagt, dass Ihr von Raphael kommt, helfen Sie Euch sicherlich. Es ist zwar lange her, aber viel wird sich nicht geändert haben und es ist dort auf jeden Fall besser, als auf ein Feld geprügelt zu werden oder im Tretrad einer Mühle zu schuften bis zur Ohnmacht.“, anschließend winkte er ab und ging wortlos hinaus.

Francesco sah ihm mindestens genauso verunsichert nach, wie ich, dann strahlte er mir entgegen und verkündete: „Meister Domenico ist wieder oben, Ihr könnt nun raus.“, doch seine Freude verschwand, als er den Eimer samt Besen sah. Schwer seufzend raffte der Diener seine Ärmel hoch, griff den Holzstiel und tränkte den Lappen im kalten Wasser.

Eine leichte Verbeugung meinerseits und schnell ging ich Nevar hinterher und Richtung Ausgang. Der Mann bemerkte es nicht. Er begann zu wischen und murmelte leise: „Ihr habt Euch nicht verändert, Nevar, es ist wirklich nicht zu fassen.“

In meinem Kopf ratterte es. Eigentlich war ich zu Nevar gegangen, in der Hoffnung, dass er mir Informationen geben konnte, damit ich die Samariter fand und nun war er selbst einer. Ich stand am gleichen Punkt, wie zu Anfang, nur wusste ich nun wesentlich mehr und gleichzeitig viel zu viel. Er meinte zwar, es wären zwei Wege und es wäre in Ordnung, würde ich ihn verraten, aber nur weil es für ihn in Ordnung war, musste für mich nicht das gleiche gelten.

Trübsinnig trat ich auf die Straße und erkundigte mich eher müde bei einer alten Dame nach dem Fünf-Sterne-Platz und während ich halbherzig ihrer ellenlangen Beschreibung lauschte, stellte ich für mich fest, dass ich warten musste. Ich musste warten, bis ich die Gelegenheit hatte. Nur was für eine Gelegenheit, das war eine andere Frage.

Nachdem die alte Frau fertig war und so viele Anhaltspunkte genannt hatte, dass ich sie kaum noch beibehalten konnte, fiel ihr ein besserer und viel einfacherer Weg ein und sofort ging eine weitere Beschreibung los. Leicht gequält und aus Höflichkeit hörte ich mir auch diese an und nach einigen Minuten kam ich nicht mehr zurecht. Ich nickte immerzu und bejahte, doch Bescheid wissen tat ich nicht und dann kamen ihr spontan zwei weitere, bessere und wesentlich leichtere Wege. Als das Ende dessen näher rückte, begann ich mich zu bedanken und vorwärts zu laufen und nach einigen Schritten dann gab sie endlich Ruhe und wünschte mir viel Erfolg beim Suchen. Ich schaffte es nicht, einen schweren Seufzer zu unterdrückten und schlurfte weiter.

Ich konnte nicht einfach fliehen, denn dann war ich weiterhin der gesuchte Verbrecher Sullivan O'Neil. Ich konnte nicht als Falcon O'Connor fliehen, denn dann würde Domenico verraten, wer ich wirklich war. Ich konnte ihn nicht töten, denn ohne ihn hatte ich keine Papiere. Und ich konnte nicht ein ganzes Jahr unter seinem Befehl leben, das ertrug ich einfach nicht.

Wie sehr ich es bereute, losgegangen zu sein und wie sehr ich es hasste, diese Reise begonnen zu haben. Hätte ich das Kloster bloß nie verlassen, wäre ich doch kein Mörder geworden, hätte Black nie kennen gelernt und wäre ich doch bloß nicht mit all diesen Dingen in Kontakt geraten. Doch bei der Vorstellung, was dann aus mir geworden wäre, grauste es mir.

Ich wäre ein Mönch, noch immer, für die restliche Zeit meines Lebens. Irgendwann dann hätte ich angefangen, Kinder in Gottes Lehre zu unterrichten, sie geschlagen und zurecht geprügelt, ganz im Sinne der Inquisition. Ich hätte meinen besten Freund verraten und viele weitere, hätte alles aufgegeben, keine Träume gehabt.

Ich wäre ein Mann wie Domenico gewesen.

Nein..., dachte ich immer und immer wieder. Nein, alles ist besser, als das. Alles!

Überraschung

Den Platz der fünf Sterne zu finden war nicht schwer, denn er war recht bekannt und erfreute sich an großer Beliebtheit. Ich konnte mich problemlos bis zu ihm durch fragen, fast jedem sagte er was und als ich dann endlich ankam, erkannte ich ihn sofort.

Es handelte sich um eine Art Mittelpunkt des Bezirkes von dem aus mehrere Straßen abgingen, befliest und sauber, hell erleuchtet und mit fünf Säulen verziert. Auf jeder Säule gab es einen großen, goldenen Stern und unter jedem dieser Sterne stand ein Satz, in eine Steintafel graviert. Ich betrachtete sie lange und ausgiebig und stellte für mich fest, dass diese Schilder wohl eine Art Erinnerung sein sollten:

Ich gedenke unserem Gebot, kein Lebewesen zu Unrecht zu verletzen oder gar zu töten, denn zu richten ist die Aufgabe des Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nichts zu nehmen, was mir nicht gegeben wird, denn zu geben ist die Aufgabe des Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, keine ausschweifenden, sinnlichen Handlungen auszuüben, denn meine Liebe gilt stets nur dem Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu lügen und wohlwollend zu sprechen, denn Ehrlichkeit ist mein Versprechen an den Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu träumen von dem, was mir nicht zusteht, denn das Schaffen der Welt ist Aufgabe des Herrn.

Ob die Brehmser sich wohl an diese Worte hielten? Meine Vermutung war, umso öfter man die Schilder sah, desto weniger sah man sie wirklich und tatsächlich liefen die meisten Menschen einfach vorbei, ohne die runden Säulen mit ihren Tafeln zu beachten. Konnten überhaupt welche diese Worte lesen? Für einen kurzen Moment gab eine der Wolken die Sonne wieder frei und Boden und Häuser begannen in hellen Farben zu strahlen.

Ich starrte zu Boden und zog die Stirn kraus. Etwas schillerte bunt auf den weißen Fliesen und verwirrt sah ich mich um, woher das Licht kam. Wahrscheinlich war es eine Spiegelung von einem bunten Fensterglas, doch nirgendwo gab es Kirchenfenster oder ähnliches. Erneut sah ich zum Boden, anschließend wich ich einige Schritte zurück. Die Farben waren keine Reflexion, sie waren auf dem Stein und es verschlug mir fast den Atem.

Man hatte mit heller Pastellfarbe eine heilige Maria mit Gottes Sohn im Arm mitten auf den Boden gezeichnet. Das Bild war so alt, man sah es kaum noch, sondern nur, wenn die Sonne hinauf schien und es zum Leuchten brachte. Noch nie zuvor hatte ich etwas so wunderschönes und etwas so außergewöhnliches gesehen. Ich sah auf und erkannte, dass auch an den umliegenden Wänden solche Zeichnungen waren, zwischen den Fenstern der oberen Stockwerke, zu jedem der Sterne ein eigenes Bild. An den Rändern waren rote Vorhänge gezeichnet, als würde man auf eine Art Bühne sehen.

Auf einem der Bilder erkannte ich blass einen Mann mit Schwert, hoch erhoben und bereit, damit einen Hund zu erschlagen. Ein Engel hielt die Klinge und hob ermahnend den Finger.

Auf dem zweiten Haus waren zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Sie wollten gerade einen Apfel stehlen, doch ein Engel hielt sie auf und gab ihnen stattdessen zwei.

Auf dem dritten Bild, ein besonders altes, sah man eine Frau in ein weißes Tuch gewickelt, mit sinnlichem Blick. Zwei Engel verdeckten die sündhaften Stellen ermahnend mit einem Tuch und sahen einen jungen Soldaten mit tadelndem Blick an, zum Himmel zeigend.

Das vierte Bild war ein besonders schönes, in hellen Farben. Rechts stand ein junges Mädchen, es hielt den Mantel eines jungen Kerls und dieser wiederum war einem weiteren Weib zugewandt. In jeder Hand hielt er eine Blume und zwischen den dreien waren zwei Engel die wie auf den anderen Bildern die Finger hoben, um ihn daran zu erinnern, dass Ehrlichkeit weitaus wichtiger war, als jugendliche Liebeleien.

Zuletzt betrachtete ich das fünfte Bild. Ich blieb lange stehen, um es mir anzusehen und dachte mit krauser Stirn einige Minuten darüber nach. Die Witterung hatte den Putz an manchen Stellen zum abblättern gebracht und bei den meisten der Bilder war nur noch schwach etwas Blattgold zu erkennen.

Man sah einen Mönch, der auf dem Boden kniete und verträumt in den Himmel starrte. Vor ihm gab es einen Tisch voller Obst, eine gut aussehende Frau und einige Kinder. Hinter ihm jedoch war der Raum völlig leer, bis auf einen düster aussehenden Engel, der auf ein Kreuz an der Wand zeigte. Zweifelnd wiederholte ich das Gelesene:

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu träumen von dem, was mir nicht zusteht, denn das Schaffen der Welt ist Aufgabe des Herrn.

Dann schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab. Was haben denn Träume mit der Erschaffung einer Welt zu tun?

Ich fand das Gebäude, das Nevar mir empfohlen hatte schneller, als mir lieb war, denn es befand sich tatsächlich nur wenige Schritte weiter. Über dem Eingang hing ein großes, hölzernes Kreuz und in die Türen waren wunderschöne Ornamente geschnitzt. Was mich irritierte waren die Gitterstäbe an den Fenstern in Erd- und Obergeschoss, so wie an den Kellerfenstern. Zögernd stieg ich dann die drei Stufen hinauf und griff nach dem schwarzen Türklopfer. Ein ungutes Gefühl beschlich mich und ich bekam mit einem Mal das Bedürfnis, weg zu rennen, ohne zu verstehen, wieso. Es knallte, als das Metall das Holz traf und anschließend, nach einigen Sekunden, ging die Tür auf.

Ich wich ungewollt etwas zurück. Eine sehr alte und finster aussehende Nonne öffnete mir, mit einem goldenen Kreuz auf der Brust und hellblauen, hervorquellenden Augen. Ihr Gesicht war knochig, ebenso wie ihre Hände und ihr Blick verriet mir, dass mit ihr nicht zu spaßen war. „Der Herr wünscht?“, fragte sie mit noch sehr jung klingender Stimme und erhob den Blick abschätzig.

Ich stockte kurz. Zwar wusste ich, dass dies ein katholisches Gebäude war, aber mit einer Gottesdienerin hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Nach kurzem Räuspern suchte ich die passenden Worte.

„Nun, ich suche Arbeit, so wie einen Schlafplatz und-...“

„Dies ist ein Gotteshaus und Anlaufstelle für Obdachlose und arme Geschöpfe, die all Ihr Hab und Gut verloren haben. Wenn ich Euch so betrachte, dann wirkt Ihr auf mich äußerst wohlhabend. Alles Gute.“, und schon schlug sie die Tür zu.

Etwas übereilt stellte ich den Fuß dazwischen und zischte eindringlich: „Aber Raphael sagte mir, dass ich hier Hilfe finden würde!“

Zögernd öffnete die Nonne wieder und musterte mich erneut, diesmal noch misstrauischer als zuvor. Ich gab mir Mühe besonders vertrauenswürdig und ärmlich zu wirken, aber irgendwie ließ sich beides nicht unter einen Hut bekommen, denn schließlich hatte sie Recht: Meine Stiefel, mein Umhang, mein Hemd, einfach alles sprach dafür, dass ich Geld besaß, vom gefüllten Geldbeutel mal ganz abgesehen.

„Raphael? Ihr kennt ihn, verstehe ich das richtig?“

Unsicher kratzte ich mir den Hinterkopf. „Also... Ich soll mir Obdach suchen und er meinte, hier wäre ich richtig. War das eine falsche Information?“

„Bruder Raphael meinte das?“, dass sie eine Augenbraue zweifelnd und sehr kühl hoch zog, verunsicherte mich, denn ich wusste nicht einmal, ob Raphael Nevars Name war oder nur ein guter Freund von ihm. „Ihr dient also der Deo Volente?“, hakte sie nach.

Ich zog scharf den Atem ein, als hätte ich Angst, etwas Falsches zu sagen. „Ähm... ja, sozusagen.“

„Ihr seid also gläubig.“, es schien fast, als wäre dies das Einzige an mir, das ihr irgendwie zusprach. Die alte Frau sah erst rechts, dann links an mir vorbei, als müsste sie sicher gehen, dass niemand mich bemerkt hatte, anschließend forderte sie mich auf:„Folgt mir.“

Ich trat ein und kaum war ich drin, schloss sie ab, machte auf dem Absatz kehrt und ging, dabei rufend: „Fasst nichts an! Sprecht mit niemandem! Und benehmt Euch!“, unsicher folgte ich ihren Anweisungen. Sie geleitete mich durch einen schmalen Flur, der direkt auf eine Treppe zuführte, zuvor gab es links eine offen stehende Tür. Es roch nach Kamin und Suppe, so wie nach alten Menschen und Schweiß. Ich warf im Vorbeigehen einen Blick hinein und erkannte eine Art großen Raum, mit einem riesigen Tisch, bestehend aus vielen kleinen. Etliche Stühle und Hocker standen drum herum und auf ihnen saßen Männer wie Frauen, jeder bereits ergraut, in ärmlicher Kleidung. Sie nähten irgendwelche Dinge wie Hosen und Hemden, scheinbar reparierten sie diese und wurden dabei von zwei weiteren, jüngeren Nonnen unterstützt.

Dann ging es die Treppe hinauf. Sie knarrte gefährlich unter meinen Füßen und ich fürchtete, sie würde einstürzen, während ich der kleinen Frau hinterher ging. Am Ende der Treppe bog sie ab und ging weiter in die entgegengesetzte Richtung hinauf auf das zweite Geschoss. Auch hier gab es einen Flur, diesmal mit mehreren Türen, scheinbar Zimmern. Sie führte mich durch diesen hindurch auf das am weitesten entfernteste Zimmer zu, griff einen großen Schlüsselbund und öffnete die Tür, danach traten wir ein.

Es handelte sich um eine Art Arbeitszimmer. Auf dem Boden lag ein alter, verstaubter Teppich, an der Wand hing ein Kreuz und in der Mitte stand ein Schreibtisch. Die Nonne deutete mir, mich zu setzen und gehorsam tat ich es, nachdem ich die Tür geschlossen hatte. Sie nahm mir gegenüber Platz und ich sah zu, wie sie sich eine kleine Brille auf die Nase klemmte und in einigen Unterlagen zu blättern begann.

Geduldig ließ ich meinen Blick etwas kreisen, doch bis auf ein vergittertes Fenster gab es wirklich nichts, nicht einmal ein Bett. Nur hinter der Tür standen etliche Regale mit Papier in Hülle und Fülle, teilweise bereits so gelb, dass die Stapel wie riesiger Käse wirkten.

„Name?“

Ich zuckte zusammen. „Bitte?“

Düster sah sie mich über ihre Brille hinweg an. „Euer Name. Ich will Euren Namen wissen.“

„Falcon O'Connor.“

„Falcon O'Connor.“, sie sah wieder auf ihr Papier und trug meinen Namen mit der Feder auf eine schwarze, kleine Linie ein, dabei leise murmelnd: „Scheint ja nicht der Hellste zu sein.“, dann sah sie mich wieder an. „Herkunft?“

Ich stockte abermals, unsicher, ob sie nicht wusste, dass ich sie hören konnte. Ich empfand es als sehr unhöflich, ignorierte es aber weitestgehend. „Wofür genau ist das?“

Gereizt richtete die Nonne sich ganz auf und ließ die Feder sinken, als hätte ich sie persönlich angegriffen. „Wollt Ihr nun unsere Hilfe oder nicht?!“

Abermals atmete ich tief durch. „Natürlich.“

„Herkunft?“, wollte sie abermals wissen, mehr als nur aggressiv, aber dennoch mit sehr ruhiger Stimme. Sie war scheinbar eine Frau, die es gewohnt war, sich durchsetzen zu müssen. Ich schaffte es nicht, ein Knurren zu vermeiden, als ich zur Antwort gab: „Annonce.“

Ein verächtliches Schnauben, dann schrieb sie auch dies auf. Sie murmelte dabei leise vor sich hin und ich versuchte, die Sticheleien zu überhören:

„Ihr solltet aufhören, Euch so in den Vordergrund zu spielen, junger Mann. Es ist kein Wunder, dass der Herr Euch in so jungen Jahren bereits zu uns schickt, um Hilfe zu finden. Ihr bringt es nicht weit, wenn Ihr so widerspenstig seid. Na ja, Annonce.“

Schweigend sah ich zu, wie sie mit flinken Handbewegungen mein geschätztes Alter eintrug, so wie, dass ich gläubig wäre und dann zu guter Letzt unterschrieb, sowohl für sich, als auch für mich. Ich überlegte, ob ich anmerken sollte, dass ich selbst unterschreiben könnte, behielt es dann aber doch für mich. Sie hielt nicht viel von mir und ich wollte mich nicht noch mehr aufspielen. Viel lieber zog ich es vor, so zu tun, als wäre ein ich verirrtes und recht verblödetes Schaf, so hatte ich wenigstens mehr Freiraum, denn was sollte sie schon kontrollieren? Es war mir lieber, als in Diskussionen verstrickt zu werden oder das Gefühl zu wecken, sie müsste mich ganz besonders stark unterdrücken.

Als alles gut in der Schublade verstaut war, stand sie wieder auf. „Wir haben keine Zimmer mehr, Ihr werdet mit der Besenkammer Vorlieb nehmen müssen.“

Auch ich stand unsicher auf, leicht lächelnd. „Das macht doch nichts.“ Und das meinte ich ernst. Umso schneller ich Arbeit und Obdach fand, desto besser, denn umso schneller war ich Domenico erst einmal los.

„Das habe ich auch nicht angenommen.“, die alte Frau legte die Hände auf ihre Stuhllehne und ich meinte sehen zu können, wie ihr gerader Rücken noch mehr an Haltung gewann. Bei jedem ihrer Sätze nickte sein ernst und langsam, wie zur Verdeutlichung und bereits binnen einer Minute begann ich, diese dauerhafte Angewohnheit von ihr zu hassen. „Mein Name ist Schwester Anneliese und ich bin die Hausmutter dieses Gebäudes. Wenn Ihr Fragen habt, wendet Euch an mich, bei Problemen ebenso. Ich werde Euch nun Eure Kammer zeigen, dann in Eure Arbeiten einweisen.“

Unsicher sah ich ihr entgegen. „Ehrlich gesagt würde ich gerne erst wissen, was ich machen soll, ehe ich irgendetwas tue, was ich nicht möchte.“

Die Nonne erhob etwas ihr Kinn, ihre Stimme wurde kühl und bestimmend. „Nun, ich denke, wir sind uns alle einig, dass vorerst Eure Gesundheit im Mittelpunkt liegt, so wie Eure Gottesfürchtigkeit. Nicht wahr?“

Meine Antwort klang mehr wie eine Frage: „Äh, ich denke schon?“

„Sehr schön. Dann folgt Ihr mir nun, wie ja bereits gesagt und lasst Euch Euer Zimmer zeigen. Ihr werdet mit dem Boden Vorlieb nehmen müssen, aber ich denke, bis ein Bett frei ist, ist das aufgrund Eurer Frömmigkeit und Eurer unendlichen Demut kein Problem, denn auch Ihr seid nun vorerst Teil unserer Gemeinde, Bruder Falcon.“

„Bruder-...?!“

Sie unterbrach mich kalt: „Ihr redet, wenn Ihr aufgefordert werdet, ansonsten schweigt Ihr und tut Eure Arbeit. Wenn Ihr diese erledigt habt, steht es Euch zu, zu gehen wohin immer Ihr wollt. Allerdings verbitte ich es mir, weltliche und abtrünnige Dinge wie Alkohol oder sündhafte Weibsbilder mit in dieses Haus zu bringen. Gibt es noch Fragen?“

Fassungslos starrte ich sie an, dann atmete ich tief durch. Ich musste das Gehörte erst einmal verarbeiten und blinzelte verwirrt. „Ja, ich würde gerne wissen, wie viel ich verdiene und was genau ich machen soll, wie lange ich hier arbeiten soll am Tag und-...“

„Bis Eure Arbeit beendet ist und je nachdem, wie viel Arbeit Ihr habt.“, sie setzte sich in Bewegung und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzugehen. „Dies ist eine Anlaufstelle für alle Verirrten dieser Stadt, sofern wir sie aufnehmen können. Vorwiegend für alte Menschen, die keine Arbeit mehr finden, da sie zu alt sind, aber nicht alt genug, um sie an ein Krankenhaus weiter zu leiten. Wir helfen ihnen, weiterhin zu arbeiten, wie der Herr es für sie vorsieht, indem wir mit ihnen Näharbeiten im Auftrag der umliegenden Armen- und Waisenhäuser entgegen nehmen. Je nachdem, wie viel Ihr näht, werdet Ihr entlohnt, aber bitte bedenkt, dass Unterkunft so wie zweifache, tägliche Mahlzeiten kosten.“

Wir gingen die Treppe wieder hinunter und stotternd erwiderte ich: „Ich brauche nichts zu essen, vielen Dank, ich sorge für mich-...“

Sofort drehte sie sich herum und ich stolperte fast in sie hinein. „Das gemeinsame Mahl zur Morgenstunde, so wie zum Abend, ist eine Pflicht für alle hier Untergebrachten, Falcon und ich bin nicht gewillt diese lang erhaltenen Regeln, die allen sehr viel bedeuten, für jemanden wie Euch zu unterbrechen.“

„Für jemanden, wie-...?!“, doch sie ließ mich abermals nicht aussprechen.

„Die meisten Menschen hier sind alt und haben keine Angehörigen mehr, wir sind nun ihre Familie. Und ob es Euch passt oder nicht, Ihr gehört von heute an auch dazu, also behandelt alle mit Respekt und wagt es nicht, unsere Hausordnung mit Füßen zu treten. Wenn Ihr mir also bitte folgen würdet?“, demonstrativ ging sie weiter hinunter. Langsam wurde ich wütend. Diese Frau regte mich auf und ich fragte mich ernsthaft, wie Nevar nur auf die Idee kam, mir Maria's Obhut zu empfehlen. Gut, nähen war vielleicht besser, als ein Tretrand irgendeiner Mühle, aber das?!

Schwester Anneliese brachte mich wieder ganz hinunter, die ganze Zeit über weiter redend. „Und bitte bedenkt, dass dies eigentlich nicht für Menschen Eurer Altersklasse ist, also bringt diesem Haus gefälligst Dankbarkeit entgegen.“

„Es ist nur, bis ich etwas Besseres finde.“, ich konnte mir diese Bemerkung nicht verkneifen, doch sie überging sie einfach und führte mich an die Seite der Treppe, wo sie eine kleine, oben dreieckige Tür öffnete, die in die Treppe hinein führte. Ich starrte ungläubig erst sie, dann die winzige und verstaubte Kammer an, brachte aber keinen Ton heraus. Ich hatte mit einem Raum gerechnet, ähnlich wie bei Francesco, nicht mit einer Einbuchtung in der Größe eines Schrankes.

„Nun, Euer Zimmer, bis die Betten repariert sind. Das dürfte nur drei oder vier Tage dauern.“

„Wie viel soll mich das kosten?“, ich steckte den Kopf hinein und schätzte die Höhe ab. Wenn ich Glück hatte, konnte ich gebeugt stehen, aber zumindest war es möglich, die Beine komplett auszustrecken. Ich konnte mir schon denken, wie es polterte, wenn jemand die Treppe darüber entlang ging. Hoffentlich gab sie nicht nach, während ich darin lag. „Also, wie viel soll ich dafür arbeiten?“

Schwester Anneliese schnaubte leicht. „Mit allem Respekt, dies hier ist kein Gasthaus und es ist ja nicht lange. Nur bis die Betten repariert sind.“

„Und wenn ich die Betten repariere?“, ich wandte mich wieder der Hausmutter zu.

Mein Angebot schien sie leicht wütend zu machen, denn ihre Stimme wurde etwas lauter, als sie bemüht beherrscht erklärte: „Mit allem Respekt, Falcon, aber dafür gibt es die vorgesehenen Menschen! Meint Ihr nicht, Ihr solltet erst einmal mit Eurer eigenen Arbeit fertig werden, ehe Ihr Euch auf die Arbeiten anderer stürzt?!“, herrisch verschränkte sie die Arme. „Wenn ich Euch dann bitten dürfte, mir Euer Hab und Gut zu überlassen? Wir übernehmen keine Garantie für Diebstahl, aus diesem Grund nehme ich alles an Besitz entgegen. Zudem verbietet unsere Hausordnung, dass die hier Untergebrachten eigene Dinge in ihren Zimmern aufbewahren. Wenn Ihr das Haus verlassen wollt, könnt Ihr es jederzeit bei mir abholen.“, fordernd hielt sie ihre Hand auf und ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, dass sich noch immer die zwei Bücher in meiner Tasche unter dem Umhang befanden.

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Ich denke nicht, dass es jemanden stören wird. Generell werde ich kaum auffallen und wie gesagt, ich bleibe ja nicht lange. Höchsten heute Nacht und vielleicht ein, zwei Tage mehr.“

Schwester Anneliese erhob die Hand und zeigte zur Tür. „Dort ist der Ausgang. Wenn Ihr mit den Hausordnungen nicht einverstanden seid, dann geht.“

Ich folgte ihrem Fingerzeig, dann seufzte ich und schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin einverstanden, aber ich sehe gern meine Sachen in meinen Händen.“

„Ihr werdet sie während Eures Aufenthalts nicht benötigen.“

Düster blickte ich sie an. Aus dem Zimmer einige Meter weiter drang leises Flüstern und ich erkannte, dass eine der Nonnen gerade jemandem erklärte, wie er die Nadel zu führen hatte. Es war eine Ruhe und Entspannung versprechende Arbeit, immerhin hatte ich durch meinen Aufenthalt bei Nevar das Nähen bereits gelernt und alte Menschen konnten kaum anstrengend sein. Obendrein überzeugte mich der Gedanke, dass ich Arbeit und Obdach in einem katholischen Haus hatte, ganz nach Domenicos Geschmack. Domenico wäre zufrieden und würde den Blick von mir abwenden, mir mehr Freiraum lassend. Für jemanden wie mich, jemanden aus Annonce, war es schwer, Arbeit zu finden. Lieber das, als nichts, ich hatte vorerst keine andere Wahl.

Nach einigem Schweigen löste ich widerwillig meine Tasche von meinem Gürtel und überließ sie Anneliese, mit ihr meine zwei Bücher. Die Nonne griff zu und ich hielt die Tasche fest, während ich die alte Frau ernst ansah und gereizt zischte: „Sie bleibt zu.“

„Wieso sollte sie das auch nicht tun?“, antwortete sie schnippisch und entriss sie mir. Ich brummte nur, dann löste ich auch meinen Geldbeutel.

Mein Vorteil war, sollte Anneliese die Bücher sehen, würde ich wissen, dass sie in meine Tasche gesehen hatte. Mein Nachteil:

Wenn die Inquisition mich als Ketzer hier abholte, brachte mir das auch nicht mehr viel.

Nachdem ich alles Geld nachgezählt hatte, erhielt die Nonne auch meinen Geldsack und ein Gefühl der Erleichterung überkam mich, als mir bewusst wurde, wie viel noch in der Rum-Marie war:

Meine Papiere, meine Dietriche, meine Messer, mein zweites Hemd. Von jenem, was in meinen Stiefeln versteckt war, verriet ich nichts und ich beschloss, auch von dem Rest nichts zu sagen. Wenn sie nichts davon wusste, konnte sie mir auch nichts abnehmen. Anneliese wollte als letztes meinen Umhang greifen, doch ich benannte ihn in Schlafdecke um und warf ihn gereizt in mein neues Zimmer. Im Umhang waren noch einige Münzen eingenäht, außerdem war er mir zu wertvoll. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich die meisten meiner Sachen ansonsten nie mehr wiedersehen würde.

Den Schüssel der Kammer zog Anneliese ab. Sicherheitsgründe, es würde mich schon niemand bei meinem Schläfchen stören. Während sie alles hinauf brachte, sollte ich mich etwas umsehen und in meinem neuen Schlafzimmer zurecht finden, ein sehr schlechter Witz. Mürrisch schloss ich die Tür und schlich mich nach nebenan. Noch immer waren alle mit Nähen beschäftigt und ich wagte es, in den Raum hinein zu treten und mich umzusehen. Schüchternheit machte sich in mir breit, so viele Fremde auf einem Haufen kostete viel Überwindung. Die zwei Nonnen, eine recht alte und eine auffällig junge, nickten mir freundlich zu. Ich nickte zurück und blieb in einer Ecke stehen, aufmerksam zusehend. Nun erblickte ich auch, dass in der anderen Ecke, vom Flur aus nicht sichtbar, ein weiterer kleiner Tisch war, so wie Regale mit verschiedenen Nahrungsmitteln wie Brot oder Gemüse. Scheinbar war dies nicht nur der Aufenthalts- und Arbeitsraum, sondern als drittes auch noch die Küche.

Versammelt waren etwa zehn alte Menschen und viele von ihnen erinnerten mich an den alten Esel. Sie saßen nur da, starrten vor sich hin und ließen sich dann helfen, einige Stiche zu tun. Kaum war die Hilfe wieder verschwunden, sanken sie wieder in sich zusammen und sprachen mit sich selbst. Es war ein beängstigender Anblick und ich fürchtete mich davor, mit ihnen sprechen zu müssen.

Als Anneliese zurückkehrte, erklärte sie den zwei anderen Nonnen, dass ich neu wäre und eine Einführung bräuchte und ehe ich mich versah, befand auch ich mich auf einem Stuhl am Tisch. Man übergab mir sämtliche, erforderliche Gerätschaften, einen Stapel stinkender Hemden und überließ mich meiner Arbeit. Ich stürzte mich förmlich hinein und als die Hausmutter kurzzeitig erneut verschwand, erkundigte ich mich, wie genau die Bezahlung aussah. Die Antwort war schlechter, als erwartet: Drei Heller für jedes Hemd, zwei Heller für jede Hose.

Die junge Frau, an dich ich mich wandte, hieß Schwester Margret und war eine wahre Schönheit. Sie hatte blass rosa Wangen, ein strahlendes, gesundes Lächeln und die zartesten Hände, die jemals die meinen berührt hatten. Ein wenig schämte ich mich schon für mein Empfinden, trotzdem wusste ich das eine oder andere Mal nicht mehr, was ich tun sollte und ließ mir helfen. Es war ein geringer Trost, ihre Haut zu spüren, wenn sie meine Hände berührte, da sie mir den Stoff abnahm oder sich neben mich setzte und freundlich alles noch einmal mit mir durchging. Auch manche der anwesenden Männer wandten sich des Öfteren an sie und es brachte mich zum Schmunzeln, mit anzusehen, wie unschuldig sie war, denn sie merkte nichts davon.

Umso schrecklicher war es, wenn Margret mit dem Kochen begann und Anneliese sich zu uns gesellte, herrisch, düster und schroff. Die meisten alten Leute kuschten vor ihr und zogen die Köpfe ein und ich erwischte ab und an die dritte Nonne, Theresa, dabei, wenn sie genervt die Augen rollte.

Nachdem meine Arbeit dann beendet war, wurde alles überprüft. Die, die ihre Aufgaben nicht richtig erledigt hatten, mussten sie neu aufnehmen und der Rest der Gruppe saß schweigend und geduldig am Tisch, bis die jeweilige Person fertig war. Es dauerte teilweise gut eine halbe Stunde, ehe dann alles seine Richtigkeit hatte, anschließend folgte das Abendessen, begleitet von einem Tischgebet. Zwar war die Arbeit entspannend, doch sie war eintönig und die Luft stets drückend. Ich bekam schnell Kopfschmerzen und als wir dann zu Bett gehen durften, meinte ich, vor Schmerz zu sterben. Das Haus verlassen durfte ich nicht, mit der einfachen Begründung, dass andere mir folgen wollen würden: Die Hausregel.

Wenn ich Spaziergänge machen möchte, solle ich mich einen Tag zuvor abmelden und dann vor dem Frühstück gehen oder eben an Sonntag, denn dann wurde jeder von uns hinaus getrieben. Käme ich zu spät zurück, müsste ich den Tag draußen verbringen, inklusive darauffolgende Nacht, aber meinen Aufenthalt und das Essen dennoch bezahlen, denn schließlich machten sie dennoch Verluste.

Ich blieb mehrere Wochen in diesem Haus und bereits während der ersten vierzehn Tage begann ich es abgrundtief zu hassen, schon allein aus dem Grund, dass die Betten nicht ansatzweise repariert wurden. Als zweites kamen meine Samstage bei Francesco, bei denen ich nach der Näharbeit auch noch die Heilige Schrift kopieren musste und als drittes machten mir die sonntäglichen Kirchenmessen zu schaffen. Selbst wenn ich dieser Strafe von Domenico hätte ausweichen wollen, es war Pflicht von Maria's Obhut aus, ihr beizuwohnen und jedes Mal fühlte ich mich, als würde ich den größten Verrat aller Zeiten begehen. Die Messen, die Gesänge, die Figuren, die Fensterbilder, alles schien mich anklagen zu wollen und ich bekam es mit der Angst zu tun. Selten schaffte ich es, einen Ausflug zur Deo Volente zu machen und jedes Mal war Nevar nicht aufzufinden, es war zum verfluchen. Von Domenico hörte ich nichts und in anderen Geschäften bekam ich nicht die geringste Zusage. Ich überlegte sogar, wieder in das Skriptorium zu gehen, nur, um Marias Obhut irgendwie verlassen zu können, doch überlegte es mir aufgrund Domenicos anders.

Die Rum-Marie gab ich bereits nach drei Tagen auf, das Zimmer war einfach zu teuer, mein Verdienst zu gering und wenn ich noch etwas mit meinem Geld machen wollte, musste ich sparsam sein. Ich schaffte es, alles heimlich mit in mein Zimmer zu nehmen, doch als ich eines Morgens von einem Spaziergang zurückkehrte, war alles verschwunden. Anneliese machte mir eindringlich klar, dass dies gegen die Vorschrift verstoßen hätte und drohte mir sogar mit Schlägen, als wäre ich ein kleiner Junge. Oh ja, ich hasste es dort.

Wieso hatte Nevar mir empfohlen hier her zu kommen? Wieso?!

Ich bekam keine Antwort, woher auch? Francesco konnte mir nichts sagen und legte mir nur jedes Mal tröstend die Hand auf den Arm und am liebsten wäre ich gegangen. Ich spielte fast jeden Abend mit dem Gedanken, einfach zu fliehen, doch ohne meine Sachen aus dem Zimmer der Nonne war das schwierig. Um gehen zu können, brauchte ich erst mein Eigentum zurück und das zu bekommen stellte sich als sehr schwer heraus. In ihrem Zimmer hatte es keinen Schrank gegeben, nicht einmal ein Bett, also wo schlief sie und wo fand ich meine Sachen? Und während ich mir diese Frage immer und immer wieder stellte, beruhigte ich mich, indem ich mir Margrets wunderschönes Lächeln vorstellte. Das und noch mehr.

Ich würde es nicht als Verliebtheit bezeichnen, aber zumindest zog sie mich an und das tägliche, indirekte Zusammensein mit ihr machte mir zu schaffen. An jedem zweiten Tag nach Wochenbeginn war sie nicht da und dann kam mir das Arbeitshaus vor, wie die Hölle.

Dann, nach zwei Wochen, erwartete das Arbeitshaus Besuch und Anneliese riss meine Zimmertür auf, noch ehe die Sonne auch nur aufgegangen war. Ich musste aufstehen und mich waschen, unter ihren kritischen Blicken, denn alles hatte sauber und ordentlich zu sein, wenn der Besuch kam. Es war lange her, dass bereits mein Tag mit mieser Laune begann und das war sicherlich nicht verwunderlich, denn sie meinte, mich besser waschen zu können. Etwas, was ich ganz und gar nicht so empfand und ihr auch direkt ins Gesicht sagte.

Jeder wurde heraus geputzt, man kämmte den Alten sogar das Haar und die Arbeit blieb für den Tag aus, ganz gleich, ob es ein Mittwoch war. Wir hatten uns an den Tisch zu setzen und zu warten, schweigend und in sauberen Sachen.

Es dauerte, bis wirklich etwas geschah, dann hörte ich den Türklopfer. Anneliese zischte noch einmal: „Denkt daran, Höflichkeit!“, dann eilte sie zur Tür um zu öffnen. Neugierig drehte ich den Kopf, doch es war mir nicht möglich, etwas zu erkennen, also lauschte ich nur.

„Da seid Ihr ja.“, schmeichelte Anneliese freundlich. „Wir haben Euch bereits erwartet.“

„Ich habe mich verspätet.“, ertönte es als Antwort.

Ich zog die Stirn kraus und sah zur Tür, dann in die Runde, damit rechnend, dass alle sich wundern würden, aber niemand schien verwundert zu sein. Ich hätte schwören können, dass diese Stimme nicht die Stimme desjenigen war, den man erwartet hatte, doch scheinbar störte es niemanden.

Anneliese lachte leicht. „Ach, das macht doch nichts! Ich bitte Euch, tretet ein.“

„Vielen Dank.“, entgegnete Nevar, eher kühl, dann trat er in den Flur. „Und? Wie steht es um die Gesundheit? Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich.“, die Nonne führte den Mann zu uns in den Raum und mir fiel auf, wie übertrieben ihr Lächeln wirkte. „Seid unbesorgt, Bruder Raphael. Es ist alles, wie es sein soll.“

„Sehr gut, das freut mich zu hören.“, Nevar sah sich nickend um, ohne uns wirklich zu beachten, dann erblickte er mich und grinste leicht. „Ah, ich sehe, er hat Euch gefunden. Guten Abend, Bruder Falcon.“

Ich gab keine Antwort, sondern starrte ihn nur an, nicht einmal merkend, dass mein Mund leicht offen stand.

Anneliese lächelte und legte mir liebevoll ihre runzligen Hände auf die Schulter. „Selbstverständlich, der Herr hat ihn sicher zu uns geleitet.“

„Nun, dann wollen wir ihm danken.“, Nevar lächelte ebenfalls und stellte sich an den leer stehenden Stuhl an der Tischspitze. Ich wusste nicht, was mich mehr schockierte: Sein herzensguter Blick oder das, was er sagte?

„Lasst uns beten.“

Vorbereitungen

„Was zur Hölle tut Ihr hier?!“, war das erste, was ich sagte, als Nevar und ich uns vor die Haustür zurückzogen und ein wenig spazieren gingen. Er hatte darum gebeten, alleine mit mir zu sprechen und nun starrte ich ihn fassungslos an. Die ganze Zeit über haben wir gebetet und gegessen, Nevar hat mich sogar aus der Bibel vortragen lassen. Ich verstand nicht, was hier gespielt wurde und sein amüsiertes Grinsen machte es nicht besser.

„Aber Falcon, ich bitte Euch, solche Worte vor Gottes Haus?“, lachte er.

„Hört auf damit!“, zischte ich nur zur Antwort und funkelte ihn düster an. „Was treibt Ihr hier?!“ Mich packte unbändige Wut, als er nun auch noch anfing, mich zu verspotten.

Abwehrend hob der – angebliche - Mann Gottes die Hände und nickte einem Passanten freundlich zu, der den scheinbar Geistlichen begrüßte. „Falcon, beruhigt Euch erst einmal.“, lächelte er dann ruhig. Das war leichter gesagt, als getan, schließlich litt ich nun bereits mehrere Wochen und hatte ihn nie erreichen können. Ich fühlte mich, als hätte Nevar sich über mich lustig gemacht und durch sein jetziges Auftreten wurde dieses Gefühl nicht gerade weniger stark. Wir liefen ein wenig umher und ich merkte, dass der Frühling allmählich zum Sommer wechseln wollte. Es wurde wärmer, der gelbe Löwenzahn wurde weiß und trocken und die Sonne blieb immer länger am Himmel. Wie viel Zeit ich vergeudet hatte, verschwendet, vor mich hin existiert ohne Sinn und Verstand!

Nach einigem Schweigen dann - wahrscheinlich erhoffte Nevar sich, dass ich nun ruhiger war – ließen wir uns auf eine Bank nahe dem Platz sinken, an dem die vielen Säulen standen. Fast wirkte es blasphemisch auf mich. Zwei Lügner und Betrüger sitzen beisammen, betrachten die Gebote des Herrn und unterhalten sich womöglich noch über den christlichen Glauben. Wie viele der Passanten waren wohl wie wir? Bei meiner Ankunft hatte ich darüber nachgedacht, wie viele der Menschen den Sternen und Bildern keine Aufmerksamkeit zollten und jetzt fiel mir das erste Mal auf, wieso:

Wahrscheinlich gab es viele Dinge, die sie getan hatten, Dinge, die diesen Geboten nicht entsprachen und wenn sie die Blicke heben würden, wäre es, als stünden sie vor einer Beichte. Sie wurden daran erinnert wie missraten sie waren, wie gottlos, wie unehrenhaft und genauso wie ich senkten sie spätestens jetzt demütig den Blick. Ich starrte Nevar an, musterte die Umgebung und anschließend beobachtete ich den Boden vor mir. Betrachtete die vorbeigehenden Füße und wollte niemandem ins Gesicht sehen mit Gedanken wie „Können sie erraten, welche Sünden ich begangen habe?“ oder „Ob man mir ansieht, dass ich ein Lügner bin?“ Im Grunde gab es nichts mehr, dem ich nicht widersprochen hätte.

Ich hatte Wesen verletzt, getötet, gestohlen, ich war wollüstig gewesen, ich habe gelogen, gelästert, geflucht, verspottet und meine wahrscheinlich größte Sünde: Noch immer träumte ich von einem besseren Leben.

Als Nevar endlich den Mund aufmachte und etwas sagte, zuckte ich zusammen, wie ein erwischtes Kind. Wieder starrte ich ihn an, doch diesmal war mein Blick weder zornig oder voller Reue, sondern nachdenklich und suchend. Wenn ein Mensch wie ich schon so sehr von Gottesfurcht gepackt wurde, nur, weil er vor solchen Säulen saß, wie musste Nevar sich fühlen? Und wie viel Stärke brauchte es, um Gott gänzlich den Rücken zukehren zu können? Wie viel Stärke brauchte ich?

„Wir haben uns lange nicht gesehen, Falcon.“, lächelnd ließ auch Nevar seine Blicke schweifen, begutachtete das Nicken und Verbeugen der Vorbeigehenden mit einem sanften Schmunzeln und erwiderte jeden Gruß, sei er auch noch so gering.

„Ihr habt keine Ahnung, was für einer Hölle Ihr mich aussetzt.“, merkte ich bitter an, doch Nevar lachte nur tonlos, etwas amüsiert vielleicht.

„Oh doch, das weiß ich durchaus. Glaubt mir, ich weiß nur zu gut, wie es in diesem Haus ist. Gleiches gilt für Domenico und das ist der wichtige Punkt bei dieser Sache.“, der Gottesdiener beugte sich leicht zu mir und flüsterte eindringlich: „Als er hörte, dass Ihr hier Quartier bezogen habt, muss er es genossen haben, jedes einzelne Wort. Denkt nur, welch ein Wohlgefühl es für ihn sein muss, zu wissen, was für einer starken, christlichen Gemeinschaft Ihr Euch ausgesetzt habt. Ich weiß nicht, ob sein Wille ist, Euch zu bestrafen, Euch Gottes Macht gegenüberzustellen oder ob beides für ihn in einen Topf gehört. Aber was ich weiß, ist, dass Domenico ein Mann der Genugtuung ist.“, wie immer, wenn Nevar sprach, schwieg ich und hörte ihn mit meiner gesamten Aufmerksamkeit zu. Vielleicht lag es an dem Respekt, den ich vor diesem Mann hatte, vielleicht war es auch unbewusste Unsicherheit gegenüber einer so starken Persönlichkeit. So oder so sagte ich kein Wort, sah nur zu wie er sich wieder aufsetzte und wartete wie ein geduldiger Schüler, dass er weiter sprach. Eine Eigenschaft, die ich mir abgewöhnen wollte, aber niemals vollkommen ablegen konnte. Nach einiger Zeit dann fuhr er fort, so sanftmütig und zufrieden, als würde er über das Wetter sprechen und ich konnte nicht sagen, ob das seine Rolle war oder gar Zuversicht in Hinblick auf die Zukunft. „Ich kann mir denken, dass Domenico Euch vorerst vergessen hat. Er wird anfangs nur danach gefragt haben, ob Ihr noch immer vor Ort seid. In seinen Augen habt Ihr verloren, Falcon.“

„Verloren?“, mit krauser Stirn schüttelte ich den Kopf. „Ich habe nicht verloren, das ist Unsinn und das wird auch er wissen. Ich werde seine Füße nicht küssen, selbst, wenn er mich ins Kloster stecken würde.“

„Was wir den dortigen Mönchen lieber nicht antun wollen.“, wieder lachte er. „Ich hörte von Euren Streitereien mit der Hausmutter. Schwester Anneliese lässt der Deo Volente regelmäßig ein Schreiben zukommen und Ihr könnt von Glück reden, dass ich nicht weiter gebe, was dort drin steht.“

„Worauf wollt Ihr hinaus, Ne-… Bruder Raphael?“, drängte ich. Mit jedem seiner Worte wurde ich nervöser. Wollte Nevar mir nun helfen? Worauf sollte dieses Gespräch hinaus laufen und lenkte er nur wieder ab, damit ich keine Antwort bekam, was er hier wollte?

„Ganz einfach: Domenico hat Euch mittlerweile längst wieder vergessen. Nicht gänzlich, aber genug, damit Ihr mehr Spielraum bekommt.“, die Stimme meines Gegenübers wurde ernster. „Domenico ist arrogant, sehr arrogant. Als er hörte, dass Ihr in Marias Obhut lebt, hat ihn das amüsiert und befriedigt, er fühlt sich als Sieger und dieses Gefühl wurde dadurch, dass Ihr so lange hier geblieben seid, nur bestärkt. Er ist so von sich eingenommen – auch aufgrund anderer Dinge – dass er den Überblick etwas verloren hat. Aus diesem Grund kann ich auch hier sein. Francesco hat mich für die Betreuung eingeteilt, es war eher als Test gemeint und Domenico hat die gesamte Eintragungsliste bestätigt, ohne sie auch nur zu überfliegen. Versteht Ihr, worauf ich hinaus will?“, da man meinem Blick scheinbar ein eindeutiges ‚Nein’ entnehmen konnte, beugte er sich erneut vor und flüsterte: „Domenico hat mir die Erlaubnis erteilt, dieses Gebäude zu betreuen, ohne es zu merken. Ich kann jede Woche hier erscheinen, darf die Briefe entgegen nehmen, organisierte die Unternehmungen zu Gottesdiensten. Ich gebe zu, es war ein Glücksspiel, aber wenn nicht ich die Erlaubnis bekommen hätte, hätte Francesco jemand anderes gefunden, da bin ich mir sicher.“

„Das heißt, Ihr habt mich hier untergebracht und wusstet nicht einmal, ob Ihr mich voran bringt?!“, nun war ich wirklich wütend. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihn angeschrieen, stampfend wie ein kleines Kind, aber ich kam nicht einmal zu Wort.

„Manchmal muss man eben alles auf eine Karte setzen und so lange seid Ihr nun auch nicht an dieses Haus gebunden. Es ist ein Haus Gottes, gut, aber bis auf Gottes Segen erhaltet Ihr nichts, was Euch zu Lasten fallen könnte – von der geistigen Folter mal abgesehen, aber ich denke, da habt Ihr Erfahrung genug. Was jetzt viel wichtiger ist: Ich möchte die uns gegebene Zeit in vollen Zügen nutzen. Aus diesem Grund werde ich wöchentlich erscheinen um einen guten Eindruck zu machen. Des Weiteren werde ich Euch in regelmäßigen und geringen Abständen zu mir rufen lassen. Die Weibsbilder aus dem Haus haben großes Vertrauen zu mir und es kann der Deo Volente nur gut tun, wenn wir uns mehr für euch verloren gegangene Schafe einsetzen, richtig?“, er grinste kurz, wurde dann aber wieder ernst und mich schockierte es, wie blasphemisch er werden konnte. „Ihr werdet zwei Mal die Woche zu mir kommen, die Adresse sage ich Euch, sobald ich sie weiß. Es ist wichtig, dass die Deo Volente davon nichts erfährt. Das, was alle wissen sollen, ist, dass ich mich Eurer annehme. Damit es nicht auffällt, werde ich auch noch zwei andere des Hauses betreuen, aber das lasst meine Sorge sein. Wir werden uns gemeinsam hinsetzen und den folgenden Monat dafür nutzen, Euch das Kämpfen zu lehren.“, nun stockte mir der Atem. Das Kämpfen? Nevar ließ mir Zeit etwas zu entgegnen, doch ich konnte nur verwirrt blinzeln. Eine Frau ging vorbei, begrüßte Bruder Raphael lächelnd und er erwiderte den Gruß, erkundigte sich nach dem Wohl ihres Mannes und verabschiedete sie nach ein paar ausgetauschten Höflichkeiten. Dennoch bekam ich keinen einzigen Ton heraus und konnte ihn nur fassungslos anstarren. Nevar hatte förmlich abgelehnt, als ich ihn gefragt hatte und nun das? Nach gut zehn Minuten dann wandte er sich endlich wieder mir zu, lächelte fast abstoßend gütig und sagte ernst: „Für das, was uns bevor steht, ist es wichtig, dass ich davon ausgehen kann, dass es mir möglich ist, mich auf Euch zu verlassen. Ich brauche jemanden, der mir den Rücken freihält, Falcon.“

„Ich kann Euch in dieser Sache nicht begleiten und das sagte ich bereits.“, zischte ich nun sofort. „Ich werde Euren Kampf nicht führen und damit wart Ihr einverstanden.“ doch Nevar schüttelte nur den Kopf.

„Nein, meinen nicht. Aber Euren. Es geht los, Falcon, schon sehr bald.“

„Was geht los? Mein Kampf?“ Welchen meinte er? Den gegen Domenico, gegen die Deo Volente, gegen O’Hagan? Ein knappes Nicken war die einzige Antwort, die Nevar mir gab und er wollte aufstehen, doch ich hielt ihn am Handgelenk zurück. Wahrscheinlich war mein Griff fester, als beabsichtigt, doch war ich es leid, nie Antworten zu erhalten. „Sprecht mit mir, jetzt, hier. Kein weiteres Mal werdet Ihr gehen und mich unwissend lassen, ich habe genug davon. Ich kann Euch nicht vertrauen, wenn ich nicht weiß, was Ihr vorhabt.“

Unsere Blicke trafen sich und es dauerte einige Zeit, bis Nevar wirklich reagierte. Es schien, als müsste er sich erst überzeugen, wie ernst ich es meinte. Nach einigen Sekunden dann ließ er sich sinken, löste sich bewusst ruhig aus meinem Griff und musterte mich, etwas nachdenklich. „Domenico wird Euch entsorgen, sobald er erfährt, was für eine Bedeutung Ihr habt.“

„Bedeutung?“, unterbrach ich ihn, ehe er wirklich zu reden begann.

Wieder ein Nicken. „Vorerst seid Ihr aus dem Weg geräumt. Aber Ihr habt die Folter überlebt und es ist nur eine Frage der Zeit, bis O’Hagan Euch findet. Da ich Euch geschützt habe, noch immer schütze, ist Domenico bereits verdächtig geworden. Bald wird er Nachforschungen anstellen, vielleicht tut er es schon und wenn er in der richtigen Richtung sucht, dann wird er wissen, warum O’Hagan Euch jagt. Und dann müsst Ihr darauf gefasst sein.“

„Und warum Ihr?“, verständnislos zog ich die Stirn in düstere Falten, starrte die Säulen an und jetzt war mir sogar ihre Bedeutung völlig egal. Was zählte waren jetzt nur noch O’Hagan, Domenico, Nevar und ich. „Warum müsst Ihr darauf gefasst sein? Ihr könntet Euch abwenden und mich mit diesem riesigen Chaos einfach alleine lassen.“

„Ihr seid O’Hagans Schwachpunkt. So lange Ihr lebt, sucht O’Hagan euch. Das lenkt ihn von den wesentlichen Dingen ab, die meine Sache vereinfachen. So lange Ihr nicht wirklich gefasst seid, ist O’Hagan unaufmerksam.“, wieder stand er auf und diesmal hielt ich ihn nicht fest. „Es tut mir leid, Falcon, aber jetzt ist nicht die Zeit zu reden. Ihr müsst zurück. In zwei Tagen werde ich Euch zu mir holen und ich verspreche Euch, es werden keine Fragen mehr bleiben.“

„Ihr versprecht es?“, zögernd stand auch ich auf und nickend erwiderte Nevar:

„Ihr habt mein Wort.“, doch eine innere Stimme sagte mir, dass sein Wort in diesem Moment nicht viel wert war. Das Versprechen eines Ketzers, verkleidet als Geistlicher, mitten unter den Geboten Gottes? Blasphemischer konnte es nicht werdet, außer, er hätte es vielleicht auf die Heilige Schrift geschworen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich dem zu beugen und zurück zu ‚Marias Obhut’ zu gehen. Im Grunde hatte Nevar Recht, wie so häufig. Jetzt war nicht die Zeit dazu, zu reden, denn es wäre auffällig, wenn wir so lange zusammen säßen. Davon abgesehen war es wohl auch nicht der richtige Ort. Ich musste mich in Geduld üben, auch, wenn es mir unglaublich schwer fiel.

Im Gebäude angekommen erklärte Nevar gütig, dass ich gebeichtet hätte, entschuldigte sich für die Dauer und irgendwann dann ging er, nach mehreren, längeren Unterhaltungen mit den anderen Leuten. Kaum war der angebliche Geistliche aus dem Haus, es dauerte nicht einmal zehn Sekunden, verfielen alle wieder in den gewohnten Alltag. Kälte und Unfreundlichkeit, Näharbeiten, scharfe Kommandos und dazu stets Gottes Worte im Hintergrund, da einer uns die heilige Schrift vorlas. Wie erleichtert ich war, als man mich Tage später dann wirklich fort schickte. Anneliese brachte mich zu einem Gebäude, versprach mir mich zeitig wieder abzuholen und unsicher trat ich in das ganz normale Wohnhaus ein. Es wurde zur Gewohnheit für mich wie ein Kind hin und her geführt zu werden und ganze drei Wochen wiederholten wir das immer und immer wieder, ohne, dass der geringste Verdacht geschöpft wurde. Ich besuchte Nevar in einem normalen Haus, das kurzerhand von der Deo Volente übernommen und nun zu katholischen Zwecken verwendet wurde. Alles, was es irgendwie katholisch aussehen ließ, war ein Holzkreuz über der Eingangstür und mir kam der Gedanke, dass Nevar das hätte mit jedem Haus tun können. Ob die Deo Volente wusste, dass er ein Haus besetzt hatte, um persönliche Gespräche mit Gottes Schafen zu führen? Wir hatten jeden Tag nur gut vier Stunden, aber diese wenige Zeit nutzten wir vollkommen aus. Nevar und ich sprachen nicht pausenlos, aber er erklärte mir jeden Tag ein bisschen mehr. Während er mir viele Handgriffe und Tricks beibrachte, mit denen ich mich wehren könnte, begann ich langsam immer mehr zu verstehen.

Domenico arbeitete zwar unter O’Hagan, aber nicht in direkter Verbindung zu ihm. Es gab mehrere Unterstufen von Herrschaft und natürlich wollte jeder Herrscher sein eigenes, kleines Reich haben. Domenico tat viel hinter O’Hagans Rücken und als er hörte, dass Nevar mich gefunden hätte, denjenigen, den O’Hagan so eifrig suchte, erhoffte er sich einen Trumpf im Ärmel. Domenico wusste allerdings nicht genau warum O’Hagan mich suchte und als er mich dann vor sich sitzen sah, überkam ihn die dunkle Vorahnung, dass es ein Fehler gewesen war. Er überprüfte es und fand Gewissheit. Der Gouverneur hatte behauptet, ich wäre ein Mörder und Betrüger, doch das war eindeutig eine Lüge gewesen. Nevar hatte mich versteckt, die Morde waren mir also unmöglich gewesen. Der große Domenico, der es geschafft hatte den verfluchten Ketzer und Mörder zu fangen, hatte nichts anderes als einen unschuldigen Mann vor sich. O’Hagan hatte mich nicht gesucht, weil ich jemanden umgebracht oder mich ihm widersetzt hatte, nein, es musste andere Gründe geben, dreckige Gründe. Wenn er mich O’Hagan ausgeliefert hätte, dann hätten Fragen kommen können. Domenico hätte seinen Verdacht äußern müssen und vielleicht hätte O’Hagan versucht ihn los zu werden. Vielleicht hätte Domenico seinen Posten verloren, die Deo Volente ihre Unterstützung und vielleicht wäre alles kaputt gegangen, wofür der alte Narr gekämpft hatte. Also was tun mit mir, wie den Fehler beseitigen? Domenicos Vermutung war, dass ich als Mönch einen Fehler gemacht hatte, den O’Hagan jetzt bestrafen wollte – ein Fehler, der vielleicht nie einer gewesen war. Von der Kiste, die Black hatte haben wollen, wusste er nichts.

Er versuchte mich verschwinden zu lassen, bot mir ein neues Leben, hoffte dabei ich würde sterben. Stattdessen zog ich nur noch mehr Aufmerksamkeit auf mich, was zur Folge hatte, dass ich sterben musste. Das alles klang für mich völlig absurd und Nevar machte mir deutlich, dass es noch viel, viel mehr Informationen gab, die allerdings nicht mal er wusste. Aber Fakt war: Wenn jemand erfahren würde, dass ich, Sullivan O’Neil, noch lebte, dann könnte das Probleme geben. Domenico war ungewollt in eine Sache hinein gerutscht, in der er nicht hatte hinein rutschen wollen. Sein einziger Wunsch war gewesen den Verbrecher Sullivan zu fangen und dafür O’Hagans Gunst zu gewinnen, stattdessen erwies sich das alles als ein großer Fehler. Eine Information, die er nicht hatte herausfinden dürfen.

Nun, wo ich ruhig war und meinem Leben in Marias Obhut nachging hatte Domenico auch wieder ein friedliches Leben. Er brauchte nicht fürchten, dass O’Hagan bei ihm suchen würde. Er hatte mich versteckt, richtig? Wenn man es anders drehte könnte man behaupten, dass Domenico mich vor O’Hagan schützen würde, er war in einem Teufelskreis gefangen. Wenn er mich umbrachte, so wie er es fälschlicher Weise geplant hatte, würde er O’Hagans ausdrücklichem Ausruf widersprechen, mich lebend abzuliefern. Wenn er mich zu ihm brachte, würde man sich wundern warum erst jetzt. Ich bräuchte nur den Mund aufmachen, von seinen Angeboten erzählen und alles wäre aus. Wenn er mich irgendwie zum Schweigen brachte, würde O’Hagan Verdacht schöpfen und denken, dass Domenico von seinen bösen Machenschaften wüsste.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Domenico eine Notlösung gefunden hatte. Ich brauchte nur zu laut atmen und er würde sich dazu entscheiden, mich zu entsorgen. Unbemerkt, heimlich, leise. Vielleicht würde er die Kreuzer schicken, vielleicht einen Mörder beauftragen, vielleicht anderes. Sollte ich noch einmal auf mich aufmerksam machen wäre das mein Todesurteil. O’Hagan würde die jahrelange Suche nach mir abbrechen, die Samariter hätten wieder mehr mit ihm zu tun und ihre Kämpfe, wo auch immer diese waren, würden um einiges erschwert werden. Ich verstand nicht genug von den Rebellen, um zu verstehen, inwiefern diese Kämpfe beeinflusst waren, aber Nevar erklärte mir die Dringlichkeit. Ich war wichtig für sie, für O’Hagan und für Domenico. Noch war Domenico ruhig, aber bald würde er nervös werden und für diesen Tag musste ich gewappnet sein. Mich beschlich die böse Vorahnung, dass das Startsignal nervös zu werden von Nevar kommen würde. Eine innere Stimme sagte mir, dass die Samariter entschieden, wann er mich tot sehen wollte, aber diese Stimme beunruhigte mich nicht. Ich wusste, dass Nevar zu ihnen gehörte und ich wusste auch, dass ich mich auf ihn verlassen konnte.

Während meiner Zeit mit ihm wurde ich immer selbstsicherer und auch ruhiger. Ich bereitete mich auf die nächsten Treffen vor, dachte nach und versuchte mir die Fragen zu merken, die mir in den Sinn kamen, um sie beim nächsten Mal zu stellen. Die blauen Flecken und den Muskelkater ignorierte ich, denn mit der Zeit wurde er zur Gewohnheit. Er zeigte mir Bewegungen, lehrte mich Griffe abzuwehren, zuzuschlagen ohne mir selbst zu schaden und auch, einfachen Attacken auszuweichen. In allem war er jederzeit besser als ich, schon allein, da sein Körper viel stärker war. Ich hatte weder die Zeit noch den nötigen Raum, um mich heimlich zu üben und zu stärken, er schon. Dennoch brachten mich alle erlernten Dinge voran. Zwar hatte ich keinerlei Chance, wenn ich ihm beweisen sollte, was ich konnte, aber Nevar versicherte mir, wenn er nicht wüsste, was ich tun würde, hätte er verloren. Ich glaubte ihm nicht. Dennoch: Durch das viele Reden wurde ich aufgebaut, gewann an Selbstbewusstsein und fasste neues Vertrauen. Ich stellte mir vor, wie ich O’Hagan mit diesen kleinen Handgriffen überraschte, wie ich Verfolger abschüttelte, sogar, wie ich Kämpfe führte. Natürlich war das alles mehr als nur fantastisch, aber ich wusste auch, dass es nur Fantasien waren und machte mir immer und immer wieder bewusst, dass ich mit Ernsthaftigkeit bei der Sache sein musste. Wenn ich in meinem ‚Bett’ lag ging ich alles noch einmal durch, wiederholte Nevars Grundsätze und manchmal kam es, dass ich träumte ich wäre er.

Es war nicht sein Kampf, für den ich übte.

Aber es war auch nicht mein Kampf.

Es war unser Kampf, der von Nevar und mir und ich würde ihn nicht enttäuschen.

Das wusste ich.

Die zwei Seiten des Menschen - Der Stein kommt ins Rollen

Ich mochte eigentlich fast jede Jahreszeit.

Am liebsten den Herbst, wenn es etwas kühler wurde, aber noch warm genug war, um lange Spaziergänge zu machen. Zwar lag überall Laub herum, aber der Duft von alten, vertrockneten Blättern war ebenso angenehm wie dessen Rascheln und es gab nichts schöneres, als der Geruch, wenn man diese verbrannte. Für mich war der Umschwung faszinierend, denn erst wurde alles bunt und farbenfroh, dann ergraute es, verwandelte sich in ein kühles Braun und die Bäume zeugten von Nacktheit und Trostlosigkeit, bereit bis zur nächsten Jahreszeit zu schlafen.

Der Winter dann erinnerte mich an die schönen, ruhigen Zeiten in Brehms, an meine Arbeit im Skriptorium oder meine Nachtwanderungen durch die verträumt erhellte Stadt. Natürlich gab es auch schlechte Dinge, an die ich zurückdachte, aber ich liebte es nur umso mehr, wenn die etlichen Lampen und Laternen in den Steinskulpturen den Schnee erhellten und zum Glitzern brachten und auch dachte ich häufig an die Zeit in Nevars Hütte zurück, die gleichsam aufregend, wie auch prägend und lehrreich gewesen war. Schnee hatte mich schon immer fasziniert, ob es nun die fallenden Flocken waren, die ich als Junge mit der Zunge aufzufangen versuchte oder aber die harte, dicke Masse auf dem Boden, die ich zu Bällen formte und unter meinen Schritten zum knistern und knacken brachte.

Ich mochte auch den Frühling, denn nach einer so langen, kühlen und stillen Zeit begann endlich wieder das Leben. Die Knospen blühten, man war nicht mehr auf Feuer und dicke Kleidungsstücke angewiesen, man konnte die Fenster endlich wieder öffnen und mehr Vögel gab es auch. Ich liebte das Zwitschern, das einem mit der Zeit nervenaufreibend und penetrant erschien und die Händler stellten ihre Waren endlich wieder hinaus vor die Geschäfte. Allmählich wurden die Abende länger und wenn man über die Felder ging, war der Boden nicht mehr hart und gefroren, sondern weich. Man konnte, wenn man sich umsah, überall den Tau sehen da es früher hell wurde und er glich etlichen Sternen, funkelnd und wunderschön.

Dann gab es noch den Sommer, die letzte Jahreszeit und eben jene, die mir am meisten zu schaffen machte. Mit dem Sommer verband ich kaum etwas Positives und auch in diesem Jahr fiel mir das besonders schwer. Wie dankbar ich war, wenn er schnell zu Ende ging und wie niedergeschlagen, wenn er zum größten Teil nur aus Regen und Wolken bestand. Das Wasser überschwemmte meist die Straßen, die Flüsse stiegen zu hoch an, die Ernten gingen kaputt und in Annonce schwamm der Unrat einem bis zu den Knöcheln. Als Mönch hatte ich unter meiner dicken Kutte mehr als nur gelitten und war dankbar für jede Nacht, die ich nackt auf dem Boden schlafen musste. Auf See hatte die Sonne meinen Rücken versänkt und verkohlt, wie ein Stück Fleisch über dem Feuer und wenn man das Haus verließ, war man geblendet. Nein, der Sommer hatte für mich nichts, was mich locken würde, abgesehen von den Blumen vielleicht, die überall blühten.

Aber jetzt gab es das erste Mal etwas, für das ich die Hitze geradezu liebte:

Durch die zu starke Wärme war es fast unmöglich zu arbeiten. Der Schweiß lief jedem in Marias Obhut in Rinnsalen von der Stirn, tropfte von den Nasen und durchnässte unsere Kleidung und sogar die alten Leute hatten Probleme nicht in ihren eigenen Flüssigkeiten unterzugehen. Wir mussten die Fäden nicht mehr mit Speichel benetzen, um sie durch die Nadeln zu bekommen, sondern konnten sie einfach mit den feuchten Fingern gerade ziehen und viele der Kleidungsstücke hatten eine Wäsche nötig, nachdem sie genäht worden sind, aufgrund des Geruchs. Wobei das Wort ‚Geruch’ bei Weitem nicht an das heranreichte, es stank geradezu. Ich empfand es ohnehin als unangenehm, wie alte Menschen teilweise rochen und nun, wo die Luft förmlich stand und kein Lüften mehr half, war es kaum noch zu ertragen. Es erinnerte mich stark an meine Zeit auf See, wo man unter Deck kaum Luft bekam. Wir alle litten unter Kopfschmerzen, es herrschte Gereiztheit und mehrmals gab es Streitereien mit den Schwestern, da niemand mehr Geduld zu haben schien. Gnädigerweise begann dann endlich die so genannte ‚Ausflugszeit’.

Am Anfang zweifelte ich stark daran, dass man wirklich auf die Einnahmen verzichtete, indem man mit uns raus ging, aber schon bald war sämtliches Misstrauen einfach dahin. An besonders heißen Tagen wurden zwei Gruppen gebildet und die Schwestern machten mit uns Spaziergänge durch die Stadt oder um Brehms herum. Meistens kamen wir nicht sehr weit, da die Alten nicht wirklich die Kraft hatten, um große Wanderungen zu unternehmen, aber selbst wenn wir nur auf den Bänken des Platzes vor dem Haus saßen und den Passanten zusahen, war der Sommer schon um einiges erträglicher. Zwei, drei Mal kam es sogar dazu, dass man einen Holzkarren mit Pferd organisierte, ein Geschenk der Deo Volente und wir fuhren aus der Stadt hinaus, ein paar Feldwege entlang und nach einer Stunde dann wieder zurück. Es war ein tröstender Anblick zu sehen, wie sogar die älteren Menschen wieder lächeln lernten und auch wenn ich noch immer keine feste Bindung zu einem von ihnen hatte aufbauen können, fühlte ich dennoch stark mit. Wie viele von ihnen waren schon Jahre in Marias Obhut? Wie viele wussten, dass ihr Leben auch dort enden würde?

Um nicht melancholisch zu werden und darüber nachzudenken, wie mein Lebensende aussehen könnte, konzentrierte ich mich auf die Umgebung und hatte das erste Mal seit langem wieder Zeit mein Umfeld voll und ganz bewusst in mir aufzunehmen. Ich beobachtete still einen kreisenden Bussard, Hasen oder Mäuse, betrachtete die Landschaften und philosophierte vor mich hin, während die anderen in einem Kreis zusammen saßen und Bibelzitate rezitierten oder den Vorlesungen der Schwestern lauschten. Fast war mir, als wäre ich wieder im Kloster, nur aufregender und freier. Mir tat diese Zeit des Sommers mehr als nur gut. Immer weniger sah ich aus wie ein Schuldner aus dem Turm, stattdessen nahm meine blasse Haut wieder eine normale Farbe an, ich schlief besser und die frische Luft half mir, auch meine Kopfschmerzen wieder los zu werden. Umso schrecklicher erschienen mir stattdessen die Tage an denen wir nähen mussten, eingesperrt in das verfluchte, katholische Gebäude. Wenn man es so sah, dann war die Auszeit die uns gegönnt wurde zwar entspannend und erholsam, aber gleichzeitig auch stark kontraproduktiv. Betelleien begannen sobald die Sonne auch nur kurz zu sehen war und jeder von uns erbrachte weniger Leistung als vorher. Für diesen Fall hatte Schwester Anneliese dann ihre kleinen Sprüche parat, die besagten, dass gottesfürchtige Menschen mit dem zufrieden waren, was sie bekamen und dass diese auch arbeiteten wie die Ameisen, ohne zu jammern.

Es war nicht verwunderlich, dass ich mehr als nur glücklich war, als endlich ein Brief das Haus ereilte und zwar von Domenico persönlich. Jeder in meiner Situation wäre wohl zusammengezuckt oder erschaudert, hätte mit dem Schlimmsten gerechnet oder wäre leichenblass geworden, aber mich erfüllte nur die stille, heimliche Freude. Das war es, das war Nevars angekündigte Änderung. Fast eine ganze Jahreszeit hatte ich warten müssen und nun endlich gab es den ersten Wink. Ich sah, wie der Bote den Brief überreichte und erkannte sofort das rote Wachssiegel darauf. Da der Mann bei der Übergabe ein freundliches: „Gott segne Euch und Eure Schafe.“, von sich gab, konnte das nichts anderes sein, als ein katholisches Schreiben und das brachte mich so dermaßen in innere Aufruhe, dass ich wie ausgewechselt war. Ich erfuhr nicht, was darin stand und auch so gab es keinen einzigen Verdacht, dennoch begann ich zu strahlen und selbst die steifen Schwestern konnten mir meine Laune nicht mehr verderben. Bald war es so weit, bald war ich hier raus, ich sah es ganz deutlich vor mir.

Die Treffen mit Nevar wurden seltener, dennoch erzählte ich ihm davon und der Ernst in seinem Gesicht stieg so rasch an, dass es meinen Verdacht nur umso mehr bestätigte. Wenige Tage später dann folgte ein zweiter Brief und das erste Mal fand auch innerhalb von Marias Obhut eine Veränderung statt. Die Schwestern behandelten mich auffällig gut und mir kam der Gedanke, dass ihnen wohl aufgefallen war, dass man großes Interesse an mir hegte. Um es auszutesten täuschte ich starke Schmerzen in meinem Kopf vor, die ich ohnehin des Öfteren bemängelt hatte und mir wurde tatsächlich ein Ruhetag gewährt. Konnte mein derzeitiges Leben schöner sein? Natürlich durfte ich es nicht übertreiben und es zu deutlich machen, dass ich diese Angelegenheit durchaus registriert hatte, aber genießen konnte ich es heimlich dennoch.

Die nächste Nachricht der Deo Volente ließ fast ganze vier Wochen auf sich warten und während dieser Zeit bekamen wir einen neuen ‚Gast’, wenn man es so nennen wollte. Sein Name war Marcel, er kam wie ich aus Annonce und hatte durch Schulden alles verloren, was ihm lieb und teuer war. Da er keine andere Wahl hatte, als die Stadt zu verlassen kam er bis nach Brehms, wo er von der Deo Volente gnädigerweise eine zweite Chance bekam. So, wie er es mir erklärte, hatte diese ihm die Schulden bezahlt, die durch die Zinsen immer weiter angestiegen wären und nun musste er lediglich den gezahlten Betrag in Marias Obhut abarbeiten. Es war fast etwas verwirrend, zu sehen, wie dankbar und glücklich er an die Arbeit ging und ich fragte mich wirklich, wie lange das so bleiben würde. Wann würde der Kerl merken, dass das Leben in diesem Gotteshaus alles andere, als angenehm war? Wir unterhielten uns ab und an leise bei den Näharbeiten oder auf Ausflügen und Marcel war wirklich mehr als nur geblendet, ein Christ durch und durch und wahrscheinlich hatte sein Charakter sich genau so entwickelt, wie meiner, hätte ich das Kloster nicht verlassen.

Auf der anderen Seite jedoch hatte er etwas Verschlagenes an sich, was mich nur umso mehr verwirrte. Ab und an, wenn ich alleine war, kam er zu mir und stellte absurde Fragen, an was ich glauben würde, was ich von diesem Haus hielt oder begann spöttische Gespräche über die Hausmutter. Ich war unsicher, inwiefern ich mich darauf einlassen sollte und mit jedem Satz von ihm stieg dieses Gefühl mehr an.

Als ich Nevar ein wenig später auf ihn ansprach wurde mein Verdacht bestätigt, dass Marcel in Wahrheit nur zu uns geschickt worden war, um mich zu überprüfen. Er hatte die Aufgabe sich mit mir anzufreunden und sich genauer darüber zu informieren, was für eine Einstellung ich hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollte er sich einschleichen, um herauszufinden, in was für einer Verbindung ich mit den Samaritern stand. Seit dieser Offenbarung blieben die Treffen mit Nevar aus und ‚Bruder Raphael’ begann nun damit, sich auch um die anderen zu kümmern. In mir sah er einen starken, gottesfürchtigen Mann, der keine weitere Betreuung nötig hatte, denn auf keinen Fall durfte Marcel merken, mit wem ich mich traf und wieso. Ihm gegenüber tat ich meist so, als wäre ich genervt und gereizt von der Arbeit, versicherte ihm nebenbei aber dennoch meine Gottesfurcht. So verwirrend und undurchschaubar, wie er für mich war, versuchte ich für ihn zu sein – nur besser.

Stück für Stück baute ich ein Bild von mir auf, das grundlegend einen jungen Kerl zeigte, der für seinen Fehler bestraft worden war, aber bei weitem zu hart. Ich deutete immer wieder mein Verständnis an und dass die Deo Volente eine wirklich gute Sache sei, aber ich wäre zu jung dafür und hätte mein Leben noch vor mir. Natürlich dankte ich Gott für seine Hilfe, mich zurück auf den rechten Weg geführt zu haben, aber allmählich, nach so einer langen Zeit, würde ich gern wieder auf eigenen Beinen stehen.

Wie hatte ich es so treffend ausgedrückt?

„Gott hat mir in dieser dunklen Zeit neue Kraft gegeben, mein von ihm gegebenes Leben in die Hand zu nehmen – Nun würde ich sie gerne nutzen und ihm meine Dankbarkeit zeigen!“

Wir fantasierten öfters herum und tatsächlich wirkte Marcel wie der beste Freund, den ich jemals in meinem Leben gehabt hatte. Ich erklärte ihm, wie gerne ich ein eigenes, kleines Geschäft haben würde, mit Frau und Kindern, die Lesen und Schreiben lernen dürften und jeden Sonntag gehen wir gemeinsam in die Kirche und anschließend vielleicht etwas spazieren. Ich konnte beobachten, wie der Kerl immer mehr darauf einstieg und irgendwann war er einfach nicht mehr da. Laut den Schwestern hatte er eine anerkannte, richtige Arbeit gefunden und seine Chance – Gott stehe ihm bei – genutzt und begann nun ein neues Leben.

Komisch war nur, dass es nicht mal zwei Tage dauerte, bis erneut etwas geschah.

Nevar – oder eher Bruder Raphael – brachte den nächsten Brief sogar höchstpersönlich vorbei und zog sich für ein persönliches Gespräch mit Schwester Anneliese zurück. Angespannt saßen alle am Tisch und ließen die kläglichen Versuche der anderen Gottesdienerinnen über sich ergehen, das Unbehagen irgendwie beiseite zu schieben. Dass der Bote der Deo Volente um ein persönliches Gespräch bat machte jeden nervös und während ich meine Blicke kreisen ließ, konnte ich Unsicherheit und Angst in den Gesichtern der Alten erkennen. Die meisten von ihnen fürchteten, er wäre wegen ihnen gekommen, denn natürlich wusste keiner, dass ich die Person war, um die es ging. Während alle bangten, es nicht mal wagten zu tuscheln und absolute Stille herrschte, in der absurden Hoffnung irgendein leises, hilfreiches Wort würde von oben zu uns hinunter dringen, saß ich seelenruhig da und grinste in mich hinein.

Ich hatte es geschafft. Ich hatte Marcel von mir überzeugt, die Schwestern, Domenico und somit sogar die gesamte Deo Volente. Es war lange her, dass ich so dermaßen stolzerfüllt gewesen war und es fiel mir sehr schwer, nicht zu grinsen, als wäre ich ein Toller. Ich fragte mich, wie Nevar darüber dachte und beschloss, ihn irgendwann darauf anzusprechen. Erstens wollte ich wissen, wie ich mich gemacht habe und zweitens hoffte ich wahrscheinlich insgeheim und ohne es selber zu wissen auf eine Art Lob und vielleicht sogar Anerkennung. Das Wort ‚Schauspielerei’ wäre für dieses Theater wohl weit untertrieben gewesen. Vergessen war die Zeit, in der Stolz noch eine Sünde für mich war, stattdessen platzte ich fast vor innerlicher Genugtuung.

Dann, nach ganzen zwei Stunden, verließ Nevar endlich das Zimmer und ging, ohne auch nur ein Wort mit uns anderen zu wechseln. Auch die Hausmutter folgte wieder dem Alltag, ließ nichts verlauten und für einen Moment wurde ich etwas unsicher. War das alles?

Wenige Tage später erschien Nevar ein weiteres Mal, wieder verschwanden die beiden im Zimmer und wieder verließ er uns ohne einen Ton. Meine Unsicherheit stieg fast ins Unermessliche. Habe ich mich geirrt? War alles umsonst? Von einer Sekunde auf die andere fielen mein Wissen und meine Überzeugung zusammen wie ein Kartenhaus und Angst und Panik machten sich in mir breit. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und weiterhin dem Alltag zu folgen, als hätte ich keine inneren Zweifel, aber umso unsicherer wurde ich. Wieso geschah denn nichts? Es war allmählich an der Zeit, dass man mich hier raus holte, raus aus der Obhut, raus aus dem Arbeitshaus. Mehrmals spielte ich mit dem Gedanken zur Deo Volente zu gehen und Nevar aufzusuchen, aber ich riss mich zusammen, auch, wenn es mir zum Ende hin immer schwerer fiel. Was war bloß los?!

Gut eine Woche lang kam keine Nachricht mehr. Ab und an gingen die Alten weg, trafen sich einzeln mit dem ‚Bruder’, aber ansonsten schien es nichts zu geben, was irgendwie auffällig wäre. Es war zum verrückt werden. Es dauerte nicht lange und dieses Stillstehen der Ereignisse führte mich zurück zu meiner Melancholie. Verzweifelt redete ich mir ein, dass Domenico mich testen will und auf etwas Bestimmtes warten würde, um dieses gegen mich nutzen zu können, aber egal was es war, ich würde es ihm nicht geben. Während die Hitze langsam schwand und sich in Wolken und kühle Winde verwandelte, wurde ich immer ruhiger und beherrschter. Paranoider auch, wenn ich ehrlich war. Hinter jedem Neuzugang vermutete ich einen Spion und selbst wenn dieser unendlich zu leiden schien, reagierte ich nicht darauf. Sie alle waren falsch und ich war mitten unter ihnen, keinem konnte ich mehr trauen. Zusammenfassend könnte man behaupten, dass das lange Warten mich verrückt machte, kaputt. Ob ich es wollte oder nicht, ich wurde aggressiver und die Vorstellung, dass Domenico mich dafür auslachte, machte es noch schlimmer. Ob er wusste, wie ich mich fühlte? Natürlich, sonst wäre ich nicht in diesem Haus. Nevar war es gewesen, der mir Marias Obhut nahe gelegt hatte, aber für mich trug die gesamte Schuld der Vertreter der Deo Volente. Mein Hass ihm gegenüber stieg immer mehr an, förmlich ins Unermessliche und nach einiger Zeit überlegte ich, alles in den Sand zu werfen. Vielleicht hatte Nevar sich geirrt, vielleicht hatte er die Zeichen falsch gedeutet, vielleicht hatten wir es getan. Es könnte sein, dass es keine Veränderung gab und ich wäre verbannt noch Jahre hier zu verbringen, zu nähen wie ein Weib und mich auf den Sommer und die wenigen Stunden zu freuen, die ich spazieren durfte – wenn mir nicht gerade die Motivation dazu fehlte. Das Schlimmste war, dass niemand merken durfte, wie ich mich fühlte, also begann ich Abstand zu nehmen und die Beziehungen zu den Schwestern wurden zu reiner Höflichkeit. Keiner durfte wissen, wenn ich krank war, keiner durfte wissen, wenn mich etwas bedrückte – Alles wäre ein zu großer Triumph für Domenico!

Insgesamt verbrachte ich in Marias Obhut ungefähr 5 Monate, fast ein halbes Jahr. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke ist es die einzige Etappe meines Lebens, von der ich sagen kann, dass ich nichts gelernt habe. Abgesehen von den Dingen, die Nevar mir beibrachte, aber diese hätte ich auch gut ohne Marias Obhut lernen können, oh und Nähen natürlich. Es ist eine für mich sehr düstere Zeit, an die ich mich ungern erinnere und über die ich nur selten spreche. Es gibt nichts Schlimmeres, als an einem Ort gefangen zu sein, der einen um den Verstand bringt und arbeiten zu müssen, wohl wissend, dass niemand es einem dankt. Aus dieser Sicht betrachtet war sogar die Arbeit im Tollhaus angenehmer als das Nähen zwischen alten Leuten, die man, wenn man zu viel nachdenkt, irgendwann als verbrauchte Hüllen sieht, bereit zu sterben. Man fängt an darüber zu philosophieren, wo der Sinn steckt, wenn man in solchen Gebäuden stirbt, war dann nicht alles umsonst?

Man näht, bis einem die Finger bluten, zerreißt sich die Hände am Garn und kann die Schere vor lauter Schwäche kaum halten, so lange, bis es zu Ende geht und man auf einer Bahre hinaus getragen wird. Gibt es wirklich Menschen, die dafür dankbar sein können? Wenn ja, ich gehörte zumindest nicht zu ihnen. Während der ganzen Zeit zählte für mich nur eins:

Raus kommen, so schnell wie möglich! Wie sehr vermisste ich ein gutes Buch oder einen Gesprächspartner, mit dem ich diese Gedanken teilen und besprechen konnte. Die Einsamkeit formte mich auf eine Art und Weise, die sehr unangenehm war, aber wahrscheinlich hilfreich. Im Grunde war ich ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Trotz meiner Vergangenheit lernte ich gern neue Personen kennen und knüpfte Verbindungen zu ihnen, auch, wenn sie vielleicht nur rein oberflächlich waren. Nichtsdestotrotz war so etwas für mich sehr wichtig gewesen. Wenn ich mit jemandem in einem Raum saß, dann sprach ich ihn irgendwann an, das war sicher. Anfangs vielleicht nur mit Blicken, doch irgendwann würde das erste Wort fallen und wenn es Sympathie gab vielleicht auch mehr. Diese Eigenschaften wurden von Marias Obhut fast komplett zerstört. Ich gewöhnte mir ab den Menschen ins Gesicht zu sehen, wenn sie vorbei gingen, sprach nur mit ihnen wenn ich gefragt wurde und auch über Witze konnte ich kaum lachen. Ich wurde zu einem kühlen, jungen Mann, der nicht voran kam und es auch wusste. Es fiel mir immer schwerer Vertrauen zu fassen, erst durch O’Hagan, nun durch Domenico. Immer wieder musste ich mich daran erinnern, wer ich war und auch daran, dass ich Geheimnisse mit mir herum trug, die unbedingt Geheimnisse bleiben mussten. Ich hatte ein Leben und ich hatte eine Hülle die ein anderes zeigte. Während ich mich präsentierte als jemand, der einen Fehler gemacht hatte und für Gottes Hilfe betete, war tief in mir drin das Kind, das Freiheit wollte. Man könnte es trotzige Naivität nennen, aber dieses Kind verschwand niemals, nicht einmal einen Augenblick. Es war allgegenwärtig, wie jener Gott, den es fürchtete und bereit, einfach hervorzuspringen. Es reichte ein Versprecher, ein falscher Hinweis und es könnte zum Verdacht führen. Wenn man eine Frage beantwortete kam die nächste und dann erneut die nächste und irgendwann dann lief man Gefahr, sich zu verheddern. Die Furcht davor war so groß, dass ich alles in mir verschloss und es mied, auch nur irgendetwas zu sagen. Die Schwestern schoben meine Verschlossenheit auf die Langeweile und Eintönigkeit der Arbeit. Man versuchte mich etwas abzulenken, indem ich anfing Putz-Arbeiten zu verrichten, was anfangs eine recht gute Alternative war. Man war allein, konnte seiner Arbeit still nachgehen und nachdenken, wie damals im Tollhaus, nur sauberer. Dennoch war ich froh, als das alles dann endlich vorbei war.

An meinem letzten Tag in Marias Obhut kann ich mich noch sehr genau erinnern. Es war regnerisch und sehr kalt, nun war jedem bewusst, dass der Herbst da war. Mir kam es vor, als wären die Bäume von einem Tag auf den anderen erkaltet. Der Himmel war dunkel, der Wind verpasste mir Gänsehaut und als Nevar das Haus betrat, hatte er etliche Tropfen auf seinem Umhang. Im Laufe seiner Worte verschwanden sie allmählich im Stoff, sie lösten sich auf als wären sie nie da gewesen - ein Gedankengang, der mir lange im Kopf herum spukte.

Wieder hatte er ein Schreiben von Domenico und diesmal war es eindeutig: Er wünschte mich zu sehen. Offiziell suchte die Deo Volente Unterstützung für Gottesdienste und anderes dieser Art. Da ich jung war und bereits sehr viel Zeit in Marias Obhut verbracht hatte, wurde ich gebeten daran teilzunehmen. Ich sollte das Haus verlassen und in eine eigene Unterkunft ziehen. Leben würde ich von meinem Verdienst, ein geringer Betrag, aber ich bräuchte ohnehin nicht viel. Die Worte des angeblichen Bruders klangen wie Musik in meinen Ohren und auch die Schwestern waren sehr zufrieden. Für sie war die Sache einfach:

Ich war weg, zurück auf Gottes Weg und sie hatten wieder einen Platz mehr frei.

Für mich allerdings war es alles andere als einfach. Natürlich freute ich mich ungemein, dass meine Zeit um war und dass die angekündigte Veränderung endlich kam, doch während ich Nevar folgte, fühlte ich mich in meine Ankunftszeit zurückversetzt. Man hatte mir nichts von meinen Habseligkeiten zurückgegeben und alles, was ich besaß waren mein Umhang und das, was ich am Leibe trug. Besonders trauerte ich um meine zwei Bücher, die Nevar mir extra überlassen hatte, doch ich hegte die Vermutung, dass sie nun wieder bei den konfiszierten Werken standen. Sollte das der Fall sein, würde ich sie an mich nehmen, das stand außer Frage.

Umso näher wir der Deo Volente kamen, desto mehr beschlich mich wieder das normale, mulmige Gefühl, dass das Gebäude mit sich brachte. Ich dachte an meine letzten Begegnungen mit Domenico und daran, wie dieser Mann über mich dachte. Ich spürte wieder die Spuren der Folter und die Müdigkeit, die die dadurch kommenden Albträume mit sich brachten und vor allem spürte ich:

Angst.

Der Regen durchnässte mich bis auf die Knochen, ich zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Unsicherheit stieg in mir hoch. Was genau sollte ich bei diesem Mann? Er hatte sich etwas Neues ausgedacht, nur was?

Nevar hatte mir erklärt, dass ich eine Gefahr für ihn war. Sollte ich mich ruhig verhalten, stand mir noch immer die Tür für ein neues Leben offen, aber sollte ich es nicht tun, war es beendet. Domenico fürchtete, dass O’Hagan denken könnte, er hätte mich versteckt. Warum sonst sollte er eine gefälschte Geburtsurkunde verfassen? Einen Nachweis, wer ich war und woher ich kam? Auch die Kreuzer hatten diese Unterlagen gesehen, Marias Obhut, vielleicht sogar jene im Rathaus. Sollte ich nun ein neues Leben beginnen war alles gut. Ich würde verschwinden, Sullivan wäre endgültig tot und Falcon O’Connor wäre der einzige, der noch existierte. Doch wenn es so einfach war, wieso gab man mir nicht einfach ein Haus, eine Arbeit und ein kleines Vermögen? Es musste noch etwas geben, das Domenico daran hinderte. Ein Grund dafür, wieso er mich weder gehen ließ, noch umbrachte. Hatte er Angst, ich käme auf die Idee, ihn zu erpressen? Oder konnte es die Kiste sein?

Das verfluchte Ding kam mir immer wieder zurück in Erinnerung. Dieses rote, schwere Stück Holz, das Black hatte haben wollen. Was war darin? Wieso jagte mich O’Hagan deswegen? Wieso war sie so mächtig und wo war sie jetzt? Untergegangen mit der Caroline? Versenkt, für immer und ewig? Es musste noch Hoffnung geben, sie zu finden, sonst hätte der Gouverneur längst aufgegeben.

Nevars ruhige und dunkle Stimme riss mich aus den Gedanken, als er fragte: „Nervös, Falcon?“, er sprach langsam, es wirkte fast schon spöttisch und ich meinte ein Grinsen zu hören.

Natürlich war ich nervös, aber ich hätte nichts gelernt, wenn ich es zeigen oder gar sagen würde. „Sollte ich?“

„Ihr wärt ein Idiot, wenn nicht.“

Unsicher, ob das freundlich oder als Warnung gemeint war, lief ich etwas schneller und dichter neben ihm. Es fiel mir nicht schwer mitzuhalten, die meisten Passanten wichen uns nun seitwärts aus und ich hatte das Gefühl, dass Nevar mit Absicht etwas langsamer lief. Mit jedem Schritt wuchs meine Unsicherheit mehr. Es war fast, als wäre seine Frage eine Art Zauberspruch gewesen, der nun sämtliche Unsicherheit von mir wieder hoch holte. Ich durfte jetzt nicht nervös werden, Angst zeigen, schon allein deswegen nicht, weil ich Domenico das nicht gönnte. Doch konnte es sein, dass Nevar eine Ahnung hatte, was mich erwarten würde? Fragend blickte ich zu ihm, aber sein Gesicht war wie immer vollkommen unscheinbar. Er sah sich aufmerksam um, lächelte nicht, wirkte aber auch nicht boshaft: Ein Sinnbild für Neutralität, wenn man so wollte.

Irgendwann flüsterte ich hörbar angespannt: „Wisst Ihr etwas?“

„Nicht genug, um damit zu glänzen.“, diesmal klang ein leichtes Seufzen mit und ich registrierte, dass auch seine Stimme leiser wurde – ein schlechtes Zeichen. „Domenico wird Euch einen neuen Auftrag geben, eine Art letzte Chance. Könnt Ihr Euch denken wieso?“

Kurz zögerte ich und versuchte einen logischen Grund zu finden, allerdings traf ich nur wieder auf meine vorherige Unwissenheit. Kopfschüttelnd gab ich dann zur Antwort: „Wenn ich ehrlich bin, nein.“

Nevar nickte. „Ich kann es auch nur vermuten, also verlasst Euch nicht auf meine Worte. Er hat die Wahl: Entweder er gibt Euch ein neues Leben und muss fürchten, dass Ihr ihm irgendwann Probleme macht oder aber er lässt Euch hinrichten, was für Aufmerksamkeit sorgen könnte. Die Kreuzer wissen von Euch, ich, Francesco, viele. Es ist ein zu hohes Risiko, auf dass er sich eingelassen hat und nun wird er es nicht mehr los. Domenico hat Euch aufgenommen mit dem Grundgedanken Euch zu einem Mitglied der Deo Volente zu machen und diesen Gedanken hat er nicht aufgegeben. Es wäre von Vorteil, wenn Ihr mit Herz und Seele der Deo Volente dient – und sicher würde das auch O’Hagan gefallen.“

Allmählich ergab das alles in meinem Hinterkopf einen Sinn, wenn auch noch immer mit vielen Unklarheiten. „Also eine Art...Prüfung?“

„Genau.“, erneut nickte Nevar, dann schwieg er eine Weile. Wir mussten stehen bleiben, da eine Kutsche über die Querstraße fuhr, weswegen neben uns auch weitere Menschen hielten. Scheinbar wollte er es vermeiden, dass andere mithören konnten und so warteten wir geduldig. Der Hufschlag der Pferde hallte an den Wänden wieder und hatte etwas Mystisches.

Kaum ging es weiter, nahm er das Gespräch wieder auf: „Erinnert Ihr Euch an den Grundsatz von Falcon Ryan Colms Werk ‚Die zwei Seiten des Menschen’?“

Selbstverständlich erinnerte ich mich daran, schließlich hatte ich das Buch mehrmals gelesen, bei meiner Zeit in Nevars Hütte. „’Der Mensch hat ein inneres und ein äußeres Leben’?“

„Ich kenne Euer Inneres, Falcon, aber Domenico nicht. Alles, was er kennt, ist Euer äußerliches Sein und auf dieses müsst Ihr nun weiterhin aufbauen, wie auch die letzte Zeit. Für ihn seid Ihr ein Mönch, der einen Fehler gemacht hat, gern zurück würde, es aber nicht mehr kann. Der alte Narr baut darauf, dass Ihr bekehrt wurdet, er ist und bleibt ein Fanatiker.“

„Ihr meint, er hofft, dass Ich eingeschüchtert bin durch die Zeit in Marias Obhut?“

„So ungefähr.“, den Kopf etwas wiegend fügte er leiser hinzu: „Ich gehe davon aus, dass er wirklich daran glaubt. Domenico hat die Hoffnung, dass Ihr nun zu uns gehört, ob freiwillig oder unfreiwillig ist egal. Die Folter, der Druck, die Belastung, die Drohungen. Das sind alles Mittel und Wege dafür, Euch gefügig zu machen. Er möchte, dass Ihr ihn fürchtet oder zumindest Gottes Hand, damit Ihr Euch ruhig verhaltet.“, ich konnte nicht anders, als ein abfälliges Brummen von mir zu geben. Domenico meinte, ich wäre bekehrt und würde alles für die Deo Volente tun und Nevar erwartete nun, dass ich dem folgte? Scheinbar hatte der Mann neben mir meine Gedanken gelesen, denn er sagte: „Falcon, Ihr müsst tun, was er verlangt, das ist der beste Weg zum Ziel.“

„Zu welchem Ziel? Bekehrung?“, während ich abfällig klang, wurde Nevar nur umso ernster:

„Ihr wolltet Euer Leben auf religiösen Säulen aufbauen, nicht ich. Tut, was immer er will und spielt nach seinen Regeln. Domenico denkt, Ihr wärt endlich gefügig, so soll es bleiben. Es ist besser, als wenn er überlegen muss, wie er Euch los wird. Habt Ihr erst einmal Euer eigenes Leben, könnt Ihr tun und lassen, was Ihr wollt.“

„Das ist Unsinn. Als würde er mich in Freiheit leben lassen und das Risiko eingehen, dass ich irgendwann mit dem Finger auf ihn zeige. Denkt Ihr, ich würde das nicht merken?“

„Gut, dann anders:“, kurz sah er mich an, das erste Mal, seit wir losgegangen waren, dann drehte er den Kopf jedoch wieder nach vorn. „Falcon, ihr habt versagt, egal durch welche Einflüsse, Domenico hat sein Vertrauen in Euch verloren. Doch nun ist er dabei, es wiederzugewinnen. Wenn Ihr mitspielt verliert er vielleicht den größten Teil seines Misstrauens und Ihr habt mehr Freiheiten – und die Chance Brehms zu verlassen, ist das nichts? Wenn Ihr Euch erst einmal frei bewegen könnt, habt Ihr mehr Möglichkeiten, Euer Leben umzugestalten.“

Ich gab ihm auf diese Frage keine Antwort, sondern starrte nur gereizt nach vorn. Meine Hoffnung war gewesen, dass Nevar irgendeinen grandiosen Plan hatte, doch das war nicht der Fall. Stattdessen sollte ich parieren wie ein Hund. Wie lange ging das nun schon? Die Vorstellung Brehms verlassen zu dürfen hatte kaum noch eine lockende Wirkung auf mich, vielleicht, weil ich dem schon zu lange hinterher geträumt hatte. Am liebsten würde ich jetzt gehen und die Deo Volente einfach vergessen, aber so einfach war das leider nicht.

Erst als wir an den Platz des alten Henrys gelangten, sprach Nevar wieder mit mir und auch nicht viel. Die ganze Zeit hatte er geschwiegen und mir Zeit zum Nachdenken gelassen, doch nun flüsterte er ruhig: „Ich sage es noch einmal: Egal, was er verlangt, tut es einfach. Denkt an Euer Ziel, Falcon, unser Ziel.“, mehr nicht. Für ihn war scheinbar alles gesagt, denn er wandte sich ab, noch ehe ich antworten konnte. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. ‚Unser Ziel’? Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass auch er viel auf sich genommen hatte, um mir zu helfen. Selbstverständlich wusste ich es im Grunde die ganze Zeit, doch nun, wo wir dem Gebäude näher kamen und ich nach langem wieder die goldene Inschrift las, wurde es mir nur umso deutlicher. Ich durfte ihn nicht enttäuschen, auf keinen Fall. Er hatte Recht: Ich hatte diesen Weg gewählt, also musste ich ihn jetzt auch gehen.

Plötzlich war ich nervöser als zuvor. Der Platz des alten Henrys erschien mir leer und kalt, die Figur tadelnd und vorwurfsvoll. Ich mied es, den Reiter zu betrachten und starrte nur auf Nevars Rücken. Insgeheim versprach ich, zu gehorchen, um ihn nicht zu enttäuschen, dann betraten wir das Gebäude.

Zuerst durchquerten wir den Raum aus Gittern mit der Bank darin, dann durchtraten wir die großen Holztore in den Flur. Wieder fiel mein Blick zuallererst auf den hängenden Jesus über der Kerze und ungewollt kamen mir meine ersten Gedanken dazu wieder in den Sinn: Ich, leidend über dem Fegefeuer.

Nur schwer konnte ich sie abschütteln, schon allein, da alles unheimlich bedrückend auf mich wirkte. Die hohen Decken, die kühlen Wände, die steinernen Fliesen, alles war gefühllos und kalt. Sogar die zwei Pflanzen rechts und links neben Domenicos Tür waren mit einem Mal tot und geisterhaft, ganz gleich, wie grün sie waren. Ohne zu zögern trat Nevar die Treppe hinauf und die Stufen saugten Schritt für Schritt sämtliche Kraft aus meinem Körper. Oben angekommen fürchtete ich fast zu fallen, so sehr war ich betäubt. Wie ich diesen Mann verabscheute, geradezu hasste. Wenn es mir so ging, wie ging es dann Nevar? Seine Gestalt lieferte mir keinerlei Antworten. Stattdessen klopfte er einfach nur, öffnete und trat dann, gefolgt von mir, ein.

‚Tut, was er verlangt.’, wiederholte ich in meinem Kopf immer und immer wieder. ‚Tut, was er verlangt.’, doch kaum sah ich ihn, war für diese Gedanken kaum noch Platz. Alles, was ich in meinem Kopf hörte, war: Was, wenn Nevar Recht hatte und ein Leben, aufgebaut auf Glauben und Religion, nicht funktionierte?

Gehorsam und Loyalität

Die Zeit machte einen Sprung und stand plötzlich wieder still, wenn auch nur für einen Moment. Während ich den warmen Raum betrat, den Duft der Kerzen roch und den Teppich unter meinen Stiefeln spürte, fühlte ich mich zurückversetzt in meine ersten Tage in Brehms. Nichts hatte sich verändert, gar nichts. Der Tisch Domenicos stand noch immer unverändert in der Mitte des Raumes, zusammen mit dem Weinkelch und den flackernden Kerzen. Rechts war das Fenster, leicht geöffnet, der Regen draußen gab ein sanftes Geräusch von sich und der kühle Wind wehte durch das kleine Zimmer, als wollte er auf sich aufmerksam machen. Automatisch weckte alles ein Gefühl der Beklemmung in mir, ob es nun das Kreuz an der gegenüber liegenden Wand war oder der Siegelring der Inquisition am Finger des alten Mannes. Jeder noch so kleine Gegenstand, jede Bewegung, jede goldene Reflektion der Kerzen hatte etwas Bedrohliches.

Diesmal setzte ich mich ohne zu zögern auf den freien Platz, hob den Blick und sah Domenico an, so ruhig wie möglich. Hätte ich mich selbst sehen können, ich hätte wahrscheinlich gelacht. Durch das schlechte Umfeld im Arbeitshaus war meine Haut im Gesicht gereizt und pickelig, meine Hände waren rau und wund vom Garn, meine Haare lagen klitschnass in meinem Gesicht und ich hörte mich selbst kurz schniefen. In diesem Moment erinnerte ich eher an einen Streuner, als an einen ehemaligen Mönch, ähnlich wie Slade, warum auch immer ich zu diesem Zeitpunkt an den Dieb denken musste. Domenico hingegen saß wie immer aufrecht, gütig lächelnd und natürlich trocken und gepflegt vor mir. Ich beobachtete seine Augen, wie sie mich musterten und sich allmählich satt sahen, bereit, jedes Detail in sich aufzunehmen. Es konnte an meinem Hass liegen, aber mir war, als wenn er jede noch so kleine Demütigung erkennen wollte, förmlich spüren.

Während wir uns anstarrten und sich allmählich eine gefährliche Stille zwischen uns aufbaute, nahm Nevar irgendwo hinter mir seinen Platz ein. Er verschwand aus meinem Blickwinkel und anschließend irgendwo in der geringen Geräuschkulisse. Das einzige, was ich hörte, war nur noch Regen - Regen, mein Puls, mein Atem und Regen. Auch wenn ich bemüht war, mein Missfallen nicht zu zeigen, war ich dennoch zu stolz, um wieder aufzustehen, darauf wartend, dass ich mich setzen durfte. Zeitgleich jedoch hatte ich zu großen Respekt, als dass ich einfach los plappern konnte.

Nachdem Domenico mich genug betrachtet hatte, wandte er den Kopf und sagte ruhig: „Ihr könnt gehen, Bruder. Ihr werdet nicht mehr gebraucht.“

Wieder hörte ich kurz eine leise Bewegung, gefolgt von der Tür und anschließend Nevars Schritten, während er die Treppe hinunter ging. Kaum waren wir beide sicher, dass er außer Hörreichweite war, drehte Domenicos Kopf sich zu mir zurück. Ich wusste allerdings nicht, ob mich das freuen sollte.

Trotz all der Freundlichkeit, dem Mitgefühl und der geheuchelten Liebe zu jedem von Gottes Schafen, hatten seine Augen etwas Kaltes und Stechendes. Sie waren verachtend und voller Mitleid, strafend, so wie hilfsbereit, mitfühlend und zeitgleich angewidert. Eine Kombination, die einem in meiner Position durchaus Angst machen könnte, besonders, da seine Stimme genauso zweigeteilt war. In der einen Sekunde dachte man, er meinte es gut mit einem, in der anderen fürchtete man um sein Leben. Ein Verrückter, ein Fanatiker, mehr nicht. Aber zu hoch gestellt, um belanglos zu sein. „Schön, dass Ihr gekommen seid, Falcon. Wie geht es Euch? Seid Ihr gut untergebracht worden?“

Ich nickte, ehe ich antwortete, räusperte mich und gab dann leise zurück: „Es geht mir gut, vielen Dank.“

„Das sieht man, Ihr habt Euch in dem halben Jahr sehr verändert.“, mit einem Lächeln, das mich anekelte, griff er das erste Mal unter den Tisch, um auch für mich einen Kelch zu nehmen und fragte: „Wein?“, dabei goss er bereits ein und ich hatte keine Wahl, als zu bejahen. Dankbar nippte ich an der rötlichen Flüssigkeit, bemüht mein Gesicht aufgrund des bitteren Geschmacks nicht zu verziehen und stellte das Gefäß zurück. Es schmeckte scheußlich. „Wie ich erfahren habe, lebt Ihr in Marias Obhut? Es ist sehr angenehm dort, man hört nur Gutes. Wie seht Ihr das?“

„Es ist eine gute Unterstützung, wenn man vom rechten Weg abgekommen ist.“

„Genau das ist meine Meinung.“, auch er genoss einen kleinen Schluck und lehnte sich dann zurück. Das Kerzenlicht spiegelte sich in seinen Augen, als würde es darin tanzen. „Wir haben hier in vielen Teilen der Stadt solche Gottes-Häuser, Menschen wie Euch kann dort geholfen werden. Es gibt so viele verlorene Schafe, nicht wahr? Männer wie Ihr, die nicht mehr wissen, was gut für sie ist. Männer, die sich haben verleiten lassen und nun geblendet sind. Erbärmliche Kreaturen. Gestalten, die andere aufgeben würden. Aber nicht die Deo Volente, wir versuchen selbst den Verdammten zu helfen. Nicht wahr, Falcon?“

Während er den Rand seines Kelches wieder an seine Lippen führte, lächelte ich bescheiden. Allmählich rutschte ich in meine Rolle des kleinen, beschwerdefreien Mönchs zurück, genau so, wie Domenico es wollte. Ich wusste nicht, ob es automatisch geschah oder ob ich es unbewusst kontrollierte, doch ich war dankbar dafür. Nichts war besser, als ruhig zu bleiben und zu nicken, wenn es um Scheiterhaufen und Folter ging.

Mein Nicken war Domenico Antwort genug. Er genoss es, sich weiterhin in seinem eigenen Glanz zu sonnen und fuhr fort: „Es gibt so viele arme Seelen, Falcon. Jene, die in Gottes Ungnade fallen, weil sie von Faulheit und Trägheit erfüllt sind. Viel zu viele Menschen geben sich der Sünde hin und verlieren alles aus den Augen. Sie vergessen, was sie nach ihrem Leben erwarten könnte, vergessen ihren Platz. Kaum vorstellbar, nicht wahr? Aber was rede ich? Von uns beiden wisst Ihr wohl am besten, wie diese Leute, dieser Abschaum denkt. Habe ich Recht?“

Kurz zögerte ich und sah ihn an, dann senkte ich den Blick und betrachtete seinen Ring. „Ich würde solche Menschen nicht unbedingt als Abschaum bezeichnen, Herr, es gibt schließlich Hoffnung. Oder nicht?“, dann blickte ich ihm wieder entgegen und hoffte, mit dieser Gegenfrage irgendwie ausgewichen zu sein. Seltsamerweise zeigte sein Gesicht keinerlei Regung. Domenico lächelte einfach weiter, kühl und blass, fast wie eine Maske. Trocken bestätigte er:

„Natürlich. Selbstverständlich. Es gibt Hoffnung.“, doch es klang eher wie auswendig gelernt. Nach einiger Stille dann stand er auf und wandte sich von mir ab. Wie damals schon starrte Domenico zum Kreuz hoch und ich konnte mir bildlich vorstellen, dass er wohl die meiste Zeit seines Lebens davor kniete. „Aber für manche nicht mehr, Falcon. Es gibt Menschen, denen können wir helfen, ja. Aber ist es bei den meisten nicht so, dass sie rückfällig werden?“, wieder trank der Vertreter der Deo Volente etwas und ich sank ungewollt ein wenig in meinem Stuhl zusammen, merkte es aber recht schnell und setzte mich sofort wieder auf. Spielte er auf mich an? Konnte das sein? Allmählich schwand mein Gefühl der Betäubung, stattdessen kam die Nervosität zu mir zurück. „Wisst Ihr, ich habe schon viel gesehen. Genug, um mir Urteile zu erlauben, Falcon. Natürlich ist in jedem ein Teil des Herrn, ohne Frage, aber nicht jedem ist es bewusst. Es gibt gottlose Menschen, denen bringt keine Hilfe der Welt mehr etwas.“, Domenico hielt inne, als müsste er sich besinnen. Schweigend wartete ich darauf, dass er fortfuhr und als er es tat, war seine Stimme nur noch ein heiseres Flüstern. Es wirkte wie ein Selbstgespräch oder ein Dialog mit dem Kreuz, vollkommen verrückt. „Man versucht es immer wieder und wieder, aber letzten Endes kann niemand mehr etwas für sie tun. Sie haben sich dem Teufel verschrieben, daran gibt es nichts zu rütteln, sie sind verloren. Hexen, Häretiker, Ketzer, Gotteslästerer. Nur die heiligen Flammen können ihnen noch helfen. Das ist das Letzte, was wir für sie tun können.“, langsam drehte Domenico sich dann zurück und starrte mich an, als wäre ich das Beispiel für das, was er aufgezählt hatte. „Das versteht Ihr doch? Falcon?“

Ich konnte spüren, wie ein Schweißtropfen sich aus meinem Haaransatz löste und meine Schläfe hinunter lief, wagte es aber nicht, ihn weg zu wischen. Stattdessen hielt ich mich an den Lehnen fest, aus Angst hinaus zu rennen oder vornüber zu kippen und erwiderte den starren Blick. Allmählich wurde mir klar, wieso Domenico zur Inquisition gehörte.

Fast schon heiser hauchend brachte ich dann hervor: „Selbstverständlich, Herr. Ihr habt vollkommen Recht.“ Ich konnte spüren, wie meine Kehle sich immer mehr zuschnürte. Vorbei waren Nevars und meine Gedankengänge, dass Domenico darauf hoffte, mich bekehrt zu haben. Ich war ein Ketzer und ich würde ewig einer bleiben. Er setzte sich wieder, in aller Ruhe, ließ mich nicht aus den Augen und ich konnte eine Art Veränderung erkennen. In Domenico herrschte Ruhe. Es glich einer Vermutung oder einem geheimen Wissen, einer stillen Erkenntnis. Nur was er erkannt hatte, wurde mir nicht so wirklich klar. Vielleicht hoffte er nun, dass ich ihm keine Probleme machen würde? Vielleicht dachte er, ich war seiner Meinung und wäre sogar dankbar für die Flammen?

Falls ja, musste ich ihn enttäuschen. Ich wollte alles, aber nicht sterben! Zu lange hatte ich gelitten und geschuftet, das sollte nun alles umsonst gewesen sein? Oder aber, der Gedanke kam mir ein wenig später, er hoffte nun, dass ich um mein Leben bettelte. Vielleicht reichten meine Demütigung und meine Arbeit in Marias Obhut schlichtweg nicht aus, um ihn zufrieden zu stellen. Bevor Domenico mich dorthin geschickt hatte, hatte er verlangt, dass ich um Strafe bat. Nun hatte er die Gelegenheit sich das Bild von mir auf Knien zurückzuholen.

„Ich bin froh, dass wir uns einig sind, Falcon.“, ich hörte den dumpfen Laut, während er den schweren Kelch abstellte und auch das kaum hörbare Schaben, als er ihn beiseite schob, um seine Ellenbogen abzustützen. Mit gefalteten Händen unter seinem spitzen Kinn wanderten seine Augen meinen Oberkörper entlang, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Es ist anstrengend, diese Tatsachen zu vertreten, aber selbstverständlich auch sehr ehrenvoll. Wisst Ihr, es ist mein Traum, eines Tages eine reine und Gott erfüllte Welt zu sehen. Natürlich liegt so etwas in weiter Ferne, aber wir sind auf dem besten Weg dorthin. Wisst Ihr, was das Schlimmste an der Gottlosigkeit ist, Falcon? Sie ist ansteckend. Es reicht ein verunreinigter Mann und jeder andere in seiner Umgebung ist gefährdet. Worte, gesprochen mit falscher Zunge können schreckliche Dinge anrichten. Das seht Ihr doch genauso?“, ein knappes Nicken meinerseits und er fuhr fort: „Wir haben in vielen Teilen des Landes angefangen, diese schrecklichen Dinge zu unterbinden, aber ich möchte ehrlich sein:

Wir sind kaum noch in der Lage, etwas zu tun. Ich will Euch erklären, wieso. Mittlerweile sind selbst gebildete Menschen betroffen. Sie halten Reden und pflanzen ihre abtrünnigen Worte in die Köpfe der Zuhörer. Sie schreiben Bücher mit verwirrenden Äußerungen, ketzerischen Absichten und unvorstellbar unreinen Gedanken. Sie verleiten den Leser dazu, in die falsche Richtung zu sehen, auf die falsche Art und Weise zu denken. Sie wollen, dass wir den Weg, dem wir folgen sollten, aus den Augen verlieren. Es dürfte Euch nicht schockieren, Euch am wenigsten, aber es gibt sogar Mönche, die ihren Glauben verlieren und eben diese, sind die schlimmsten. Sagt Euch der Titel ‚Gottes Blut’ etwas?“

Nun war es vorbei.

Die ganze Zeit über hatte ich Haltung bewahrt und geschwiegen, doch nun, mit einem Mal, wurde ich leichenblass. Ich konnte spüren, wie mein Körper kribbelte, durch die plötzliche Gänsehaut, als sich meine Haare warnend aufstellen. Gottes Blut? Natürlich kannte ich es. Es war das Tagebuch, das Nevar mir anvertraut hatte. Das Ketzersbuch aus der Bibliothek der Deo Volente, jenes, welches ich hatte in Marias Obhut zurücklassen müssen. Meine Glieder wurden eiskalt und ich bewegte mich nicht mehr, atmete nicht einmal mehr tief ein. Mit Sicherheit hatte man das Buch genauer betrachtet und Domenico informiert, von nun an gab es kein Zurück mehr. Wie kalt mir war...!

Da ich keine Antwort gab, schwiegen wir beide kurz, aber zumindest blieb Domenicos Blick so abwesend. Anders als sonst, wenn er mich anstarrte, als könnte er tief in mein Innerstes sehen, waren seine Augen nun stehen geblieben und fixierten fast schon apathisch irgendeinen Punkt auf meinem nassen Umhang. Nach einigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, murmelte er leise und kaum hörbar: „Gottes Blut. Es ist eine Schande, dass sie das Wort ‚Gott’ überhaupt in den Mund zu nehmen wagen, geschweige denn zu schreiben. Ich werde diese Welt erst in Frieden verlassen können, wenn ich sicher bin, dass jedes dieser abscheulichen Werke verbrannt worden ist. Sie sind zu gefährlich, Falcon, ebenso, wie jeder, der diese Lügen studiert. Jedes Schriftstück, jeder Schreiber und natürlich jeder Leser dieser abscheulichen Dinge muss schleunigst sein Ende finden, das steht außer Frage. Wie seht Ihr das, Falcon?“, und mit einem Mal existierte ich wieder. Domenicos Augen rückten das letzte Stück nach oben, starrten mir entgegen und zeigten mir deutlich, dass es nur eine Antwort gab. „Was denkt Ihr, muss mit diesen Dingen passieren?“

Ich zögerte. Diesmal dauerte es, ehe ich leise eine Antwort geben konnte: „Sie müssen ihr Ende finden, Herr, das steht außer Frage.“

Sein Gesicht, kühl und bedrohlich, verwandelte sich in ein sanftes, lobendes Lächeln.

„Wie schön, wir sind uns erneut einig.“, es war nur ein Spiel, das wurde mir immer bewusster und Domenico allein bestimmte, wie die Regeln lauteten und wer der Sieger war. Ein wenig desinteressiert griff er neben sich, um mit seinem Wein herum zu spielen und beiläufig erklärte er: „Die Deo Volente wurde bestohlen, es ist schon lange her. Ein Buch fehlt, ‚Gottes Blut’. Es wurde aus dem Regal genommen und entwendet, seitdem nicht mehr gesehen. Eigentlich sollte es den Schülern und Geistlichen dienen, als Sinnbild für Sünde, damit sie lernen, wie falsch die Teufelswerke auf uns wirken können, aber nun ist es fort. Schon allein da ich die Verantwortung trage, ist es meine Pflicht, dieses Buch zurückzubringen, Falcon.“, er sah erneut auf, den Weinkelch noch immer mit der Hand bewegend. „Egal, was es kostet und wenn ich über gottlose Leichen gehen muss.“

Schwer schluckend betrachtete ich die rötliche Flüssigkeit in seiner Hand, dann jene in meinem eigenen Kelch und atmete tief durch. Es fiel mir schwer nicht zu zittern. Was erwartete er? Ein Geständnis? Wenn ja, vielleicht war das meine letzte Chance?

In meinem Kopf drehte sich alles. Am liebsten hätte ich den Wein gegriffen und einen Schluck getrunken, um meine trockene Kehle neu zu beleben, aber ich fühlte mich zu schwach dafür. Wie benommen war ich auf meinem Stuhl zusammen gesackt, angestarrt von Domenico und dem heiligen Jesu’ weiter hinten an der Wand und in Begriff, zu brennen. Es kam Folter gleich, was Domenico mit mir trieb. Er sprach es nicht direkt an, dass ich schuldig war und dem Tode geweiht und egal wie absurd es war, das ließ mir Hoffnung. Es war qualvoll und ich stand kurz davor zu schreien: „Nun klagt mich endlich an, aber hört auf damit!“ Vielleicht wollte er, dass ich mich zu Boden warf und alles zugab, in der Hoffnung auf Vergebung, aber so viel Kraft konnte ich beim besten Willen nicht mehr sammeln. Ich war froh, wenigstens noch atmen zu können, ohne ohnmächtig zu werden. „Ihr seid so still, Falcon. Habt Ihr nichts dazu zu sagen?“

Das erste Mal während des ganzen Gespräches fühlte ich mich wirklich angesprochen. Seine Stimme war voller Spott und weitere Schweißtropfen lösten sich aus meinem Haar. Mir war kalt, unglaublich kalt und dennoch erschien mir der Raum stickig und unangenehm. In mir ratterte es, aber ich wusste kein einziges Wort, das ich sagen sollte. Unsicher blickte ich ihn an, zitternd, aschfahl und hilflos. Was wollte er hören? ‚Ja, Domenico, Ihr habt Recht, ich bin ein Sünder, verbrennt mich?’ Oder ‚Ich war es, der das Buch gestohlen hat, bestraft mich dafür?’ Wahrscheinlich. Ihm verlangte es danach, dass ich im Staub vor ihm lag und flehte, jammerte und weinte, wie ein kleines Kind oder eines der Hexenweiber. Der Alte hatte sich erhofft, mich durch die Folter und die Arbeit zu brechen und gewiss war es ihm in vielen Punkten gelungen. Nun wollte er die Ergebnisse sehen. Er wollte Wunden sehen, Narben, er lechzte danach Tränen zu erblicken oder Wimmern zu hören. Vielleicht bereute Domenico es sogar, meiner Folter nicht beigewohnt zu haben, denn was war erleichternder, als eine Seele, die Buße tat? Und es fehlte nicht mehr viel, ich hätte ihm all das gegeben. Seine starren Augen, diese Selbstverständlichkeit, diese Überlegenheit, all das zeigte mir, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Verzweifelt senkte ich den Kopf wieder, kniff die Augen zu und fuhr mir das erste Mal mit der Hand über die nasse Stirn, weiterhin schweigend. Das Beste wäre, ich würde aufspringen und hinaus rennen, doch was, wenn die Rotröcke bereits warteten? Könnte es nicht sein, dass er Kontakt zu O’Hagan hatte? Könnte es sein, dass er Bescheid wusste und man erwartete mich bereits freudig? Vielleicht bezweckte Domenico mit seinen Worten, dass ich floh oder ihn angriff, damit er mich loswerden konnte. Vielleicht wollte er der Welt zeigen wie unglaublich verkommen die Ketzer waren, wenn sie sogar Männer Gottes angriffen?

Seine Stimme riss mich aus den Gedanken, so sehr, dass ich etwas zusammenzuckte und ich verfluchte mich, für meine Schwäche. Ich hatte mir vorgenommen, kühl zu sein, stattdessen saß ich auf dem Stuhl, als stünde ich vor dem Fallbeil.

„Ihr wirkt nervös, Falcon. Verständlich. Wenn jemand einst so nahe wie Ihr am Abgrund wanderte, ist es wohl nur normal, dass man so sehr auf die Vorstellung reagiert, hinunter fallen zu können. Aber keine Angst, ihr habt es geschafft.“, ich verstand kein Wort und das sah man mir auch an. Kurz hörten wir Hufschlag und ein stärkerer Windhauch löschte eine der vier Kerzen auf Domenicos Tisch. Gedankenverloren griff er die längste noch brennende und entzündete sie wieder. Es dauerte, da das Wachs herunter tropfte und auch fast jene in seiner Hand löschte. „Ich bin froh, dass mein guter Einfluss zumindest bei Euch Früchte tragen konnte, nur leider ist das an anderen Stellen nicht der Fall.“, der Mann seufzte bedauernd und lehnte sich wieder zurück. „Es ist unverzeihlich, dass ich nicht früh genug erkannt habe, was für einen schlechten Einfluss man auf Euch ausübte. Aber seid unbesorgt, nun gehört es zur Vergangenheit. Ich bin sehr zuversichtlich, Falcon. Eure Entwicklung gefällt mir, Ihr seid auf dem besten Weg, zurück zum Herrn zu finden.“, nach einem kurzen Aufblicken stellte er fest: „Ihr wirkt verunsichert.“

Leise gab ich zu: „Ich...denke, ich kann Euch nicht folgen.“, dann zwang ich mich, mich etwas zu entspannen. Was redete der Mann dort von schlechtem Einfluss?

„Dann will ich Euch nachhelfen: Nevar hat Euch verunreinigt, das ist offensichtlich. Ich werde mir nie verzeihen, wie blind ich war. Ihr habt so viel gegeben, um Euch zu bessern und ich habe es nicht sehen können!“, allmählich redete Domenico sich deutlich in Rage. Den Wein hatte er beiseite gestellt, stattdessen verschränkte er wieder die Finger ineinander und starrte wütend in die kleinen Flammen vor sich. Sie flackerten, wenn er die Luft zwischen den Worten ausstieß. „Nevar hat mich geblendet, er ist ein verräterischer Heuchler! Ein Ketzer! Ich habe mich täuschen lassen, aber das wird mir kein weiteres Mal passieren. Doch was rede ich mit euch darüber? Ihr seid nichts weiter, als ein Unschuldiger, der davon betroffen war. Ihr konntet nichts für das, wozu er Euch trieb. Glücklicherweise hat er Euch das Buch stehlen lassen, so wurde ich aufmerksam. Dieses gottlose Aas! Brennen wird er, da seid Euch gewiss!“, nun verstand ich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, ob ich ihn mit aufgerissenen Augen anstarren sollte oder mit weit offen stehendem Mund. Nevar?! Es ging um Nevar?! Domenico musste verrückt geworden sein, aber viel schlimmer war die Tatsache, dass er etwas zu wissen schien. Ich musste den angeblichen Bruder warnen, ehe es zu spät war, aber wie? Ich konnte wohl kaum hinaus rennen, dann wäre ich genauso am Ende. Die Worte des Mannes vor mir brachten mich so durcheinander, dass ich kaum noch nachdenken konnte. Ich hatte keinerlei Ahnung, wie ich Nevar in Schutz nehmen sollte, ohne mich selbst zu gefährden. Außerdem, meinte Domenico das überhaupt ernst? Dachte er wirklich, dass ich darauf aus war, wieder gottesfürchtig zu werden und dass Nevar allein die Schuld trug, dass dem nicht so war? Er fuhr einfach fort, hörbar aggressiv und zeigte mir nur umso mehr, wie wenig Sympathie er mittlerweile für meinen Freund empfand: „Ich habe fest daran geglaubt, dass er den richtigen Pfad gefunden hat, aber scheinbar lag ich falsch. Während er mir Treue und Ehrlichkeit vorheuchelte brachte er Euch dazu, zu stehlen und zu lügen, aber nicht nur Euch! Jemand hat das Buch entgegen genommen und versteckt, letzten Endes an ihn übergeben und diesen jemand werde ich ebenso finden und über ihn richten! Es ist unfassbar, zu hören, dass eine Gottesdienerin diesem Dämon unter die Arme gegriffen hat! Das muss aufhören. Wenn selbst in unseren Gotteshäusern die Sündhaftigkeit einkehrt ist bald alles verloren, das seht Ihr doch ein?“

Ich war vollkommen hilflos. Nur nebenbei registrierte ich, dass eine der Schwestern Bescheid gewusst haben musste, wenn sie Nevar wirklich unterstützt hatte, aber wirklich voran brachte mich das nicht. An Domenicos Blick erkannte ich, dass er eine Antwort erwartete, die er selbst als selbstverständlich sah, dabei hatte ich nicht einmal die Frage verstanden. Mir wurde schwindelig und schlecht, das alles war viel zu viel. Sollte das bedeuten, dass ich Nevar verraten hatte, ohne es zu wollen? Hatte ich irgendeinen Fehler gemacht, weswegen man auf ihn aufmerksam geworden war? Das Buch hatte ihn verraten, aber hätte ich es ohne ihn überhaupt in den Händen gehabt, geschweige denn mitgenommen?

Konnte es vielleicht wirklich sein, dass er es mit meiner Hilfe lediglich aus der Deo Volente schmuggeln wollte? Wozu?

Der alte Mann beugte sich vor, starrte mich weiterhin an und zischte wie im Wahn: „Ich muss etwas unternehmen und Ihr werdet mir dabei helfen!“, es glich einer Drohung. Mit einem Ruck sprang er auf, kam zu mir und packte meinen Arm. Ich hatte keine andere Wahl, als zu folgen. Es war unglaublich wie viel Kraft im Arm dieses zerbrechlich wirkenden Mannes steckte! Schmerzhaft drückten sich seine dünnen, knochigen Finger in meinen Oberarm, während er mich zu einem seiner Bücherregale zog. Ich hatte kaum den Kopf dafür, um es ausgiebig zu mustern. An ruhigen Tagen vielleicht hätte ich Stunden davor stehen können, ein Werk nach dem anderen hervor ziehen, vielleicht etwas durchblättern oder lesen, aber so auf keinen Fall. Meine Knie waren ganz weich und ich kniff mein linkes Auge leicht zu, um den festen Griff zu ertragen. Nun, wo er mir so nah war, konnte ich Domenicos Alter riechen, den Wein, den er getrunken hatte und vor allem seinen Schweiß. Es war ein unangenehmes Gefühl, das ich gern vergessen hätte. „Seht Euch das an, das alles sind Werke des Teufels. Wisst Ihr, was mit den Männern und Weibern geschah, die diese törichten Wörter verfassten? Sie brannten, Falcon, allesamt!“, statt mich los zu lassen drückte er noch fester zu und versank in einer Art Ekstase, die ich nie hatte nachempfinden können. Der Gedanke an das, was er getan hatte, erfüllte den Gottesdiener vollkommen und fast schon liebevoll strich er mit den Fingern seiner freien Hand über die Kanten des Regals. „Kein einziger von ihnen hat überlebt, Falcon, kein einziger. Jeden habe ich in die Hölle geschickt, genauso, wie Gott es verlangt. Langsam und qualvoll. Und der Verfasser von Gottes Blut wird der nächste sein!“, es widerte mich an, ihm zuhören zu müssen. Ich wollte mich lösen, doch er ließ es nicht zu, sondern zog mich am Kragen zu sich. Sein Blick war fanatisch und Domenicos Stimme nur noch ein verrücktes Wispern: „Und Ihr werdet mir helfen, Falcon! Ihr liefert mir Nevar und er dann den Schreiber! Ihr und ich, wir werden diesen Samariter ein für allemal auslöschen! Dieser Narr vertraut Euch und genau das werden wir zwei uns zu Nutze machen. Denkt nur, all Eure Sünden würden Euch vergeben werden!“, dann endlich gab er mich frei. Ich stolperte unbeholfen zurück und rieb mir die Stelle, an der nun ohne Frage blaue Flecken entstehen würden. Domenico hatte vollends den Verstand verloren und das Schlimmste daran war, dass er mich mit hinein zog. Was sollte ich tun? Das, was er verlangte?! Das konnte unmöglich Nevars Ernst sein! Hatte er vermutet, was der Alte Narr vor hatte? Ich musste ihn fragen, bezweifelte jedoch stark, dass man mir Gelegenheit dafür gab. Während ich ein wenig zurückwich, um nicht erneut gepackt zu werden, spielte ich mit dem Gedanken raus zu rennen, doch Domenico gab mir zu verstehen, dass ich diese Idee bereuen würde. Er war aufmerksam und achtete darauf, stets zwischen mir und der Tür zu stehen und kaum wandte ich den Blick ab, wandte er sich mir zu. Einigermaßen gefasst, aber mit der Hand noch immer auf dem Regalrand, sagte er ruhig: „Ihr werdet noch heute Nacht Euer neues Quartier beziehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er Euch aufsucht und wenn es so weit ist, verwickelt Ihr ihn in ein Gespräch."

„Gespräch, Herr?“, fragte ich leise und unsicher.

Nickend musterte Domenico die Buchrücken seiner kleinen Sammlung. Die meisten waren alte Werke, bereits kaputt und ausgefranst, vergilbt oder zerrissen, aber alles in Allem noch sehr gut lesbar. Etwas abwesend gab er zur Antwort: „Ich werde Euch mehrere Fragen mit auf den Weg geben, deren Antworten Ihr versucht herauszufinden. Seid unbesorgt, ich stehe hinter Euch und mit mir der Herr. Euch kann nichts passieren, Falcon, so lange Ihr nur auf dem richtigen Pfad bleibt. Und nun geht. Francesco gibt Euch die Adresse Eurer Unterkunft. Erwartet mein Schreiben im Laufe des morgigen Tages.“, Nur langsam setzte sich mein Körper in Bewegung, ich war wie gelähmt. Kurz bevor ich die Tür erreichte rief Domenico mich noch einmal zurück: „Ach ja, Falcon?“, ich drehte mich um und erkannte ein sanftes Lächeln, fern von jeder Verrücktheit. Der alte Mann wirkte freundlich wie eh und je. „Gute Nacht.“

Blass verbeugte ich mich leicht, richtete mich dann auf und verließ den Raum. Ich schaffte es nicht, den Gruß zu erwidern, sondern wollte nur noch weg. Mit jeder Stufe hinab zitterte mein Körper mehr und unten angekommen musste ich erst einmal ausharren. Hilflos hielt ich mich am Geländer, starrte die Tür an und dann zu den Fliesen auf dem Boden. Was sollte ich tun? Gehorchen, wie Nevar es gesagt hatte? Niemals! Das wäre früher oder später sein Todesurteil und der Untergang für alles, wofür er die letzten Jahre gekämpft hatte. Mein Körper verkrampfte sich so stark, dass es mich kurz schüttelte und ich schaffte es nicht, einfach zu Francesco zu gehen. Gut, ich war heil aus der Sache raus, aber wie lange? Über die Samariter wusste ich kaum etwas, aber konnten vielleicht auch sie mir gefährlich werden, wenn ich im Weg stand? Wie würde Nevar reagieren, wenn er hörte, was hier vor sich ging? Ahnte er es vielleicht schon?

Ich stand lange dort, lauschte meinen eigenen Gedankengängen, als würden sie nicht zu mir gehören und bekam immer stärkere Panik. Domenico wollte einen Keil zwischen uns treiben, das stand außer Frage, doch wie weit durfte ich das zulassen?

Und wie weit hielten wir beide das unbeschadet aus...?

Das letzte Teil im Puzzle

Noch nie zuvor erschien mir der Weg zu Francesco so unglaublich lang. Ich ging nur Schritt für Schritt, lauschte dem Widerhall an den Wänden und kämpfte damit, nicht zu zittern oder gar umzufallen. Domenicos Worte wiederholten sich in meinen Gedanken immer und immer wieder, es schien kein Ende zu nehmen. Wie sehr verfluchte ich diesen Mann, wie sehr verfluchte ich meine gesamte Situation!

Da der Diener der Deo Volente weder in der Bibliothek war, noch auf einem der Gänge, lief ich ein wenig ziellos umher, bis ich ihn dann endlich fand. Er war in jenem Zimmer, in dem ich einst so lange Zeit gelegen hatte und kaum erkannte Francesco mich, zierte ein Lächeln sein Gesicht. Es war sanft und gutmütig und das auf eine Art und Weise, die nur er an sich hatte. Ohne ein Wort verbeugte ich mich leicht zur Begrüßung, trat ein und schloss die Tür hinter mir, dann blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Holz. Mir war kalt. Tief in meinem Innern, aber auch außen durch den Schweiß, der mich auskühlte.

Er fragte: „Kommt Ihr wegen dem Schreiben, dass ich Euch von Domenico geben soll?“, doch es folgte keine Antwort. Ich musste blass gewesen sein, denn der Diener wirkte mit einem Mal, als wäre irgendetwas mit mir ganz und gar nicht in Ordnung. Wahrscheinlich lag es an seinem Verbot, dass er mir keine Fragen stellte, doch seine Augen waren voller Sorge. Sie fragten wahrscheinlich mehr, als seine Zunge es die letzten zehn Jahre getan hatte.

Ehe ich etwas sagte, ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen und eine Art Unbehagen kam in mir hoch. Es war schrecklich gewesen, so lange hier leben zu müssen und ich wollte mir nicht ausmalen, wie ich die nächsten Tage unter Domenicos Bewachung leben würde. Wo ich leben würde.

Als ich dann etwas herausbrachte, kamen mir meine Worte fremd vor, als würden sie nicht zu mir gehören:

„Francesco? Ich muss mit Euch reden. Es geht um Ne-... Bruder Raphael.“ Meine Stimme war krächzend und heiser, trotzdem versuchte ich, deutlich zu sprechen.

In aller Ruhe drehte Francesco ab, zog einen der Stühle zu sich und ließ sich sinken, dann deutete er mir, es ihm auf dem Bett gleichzutun. Der Aufforderung folgend setzte ich mich auf die zusammengefalteten, staubigen Decken. Es war ein seltsames Gefühl und erinnerte mich an alte Zeiten. Wir hatten oft Gespräche geführt, bei denen ich auf dem Bett saß und er auf dem Stuhl. Gespräche über Gott und die Welt, über die Deo Volente und auch über Nevar. War es überhaupt nötig, anzukündigen, worum es ging? Sicherlich konnte der Mann es sich denken. Wäre die Tür abgeschlossen, hätte sich wohl nichts verändert. „Ich möchte ehrlich zu Euch sein.“

„Ihr wisst, dass ich zu vielen Dingen weder denken, noch handeln darf?“, erkundigte mein Gegenüber sich vorsichtig. Francesco ahnte Böses. Ich kannte ihn gut genug, um das zu sehen. Als Antwort bekam er nur ein liebloses Nicken. In Wahrheit interessierte es mich gerade nicht sonderlich, ob er denken durfte oder nicht. Menschen taten es, auch ohne Erlaubnis. Und was das Reden anging, dazu konnte man sie notfalls zwingen.

Meine Nervosität verwandelte sich allmählich wieder in Betäubung und ich wurde unglaublich müde, zugleich aber aufmerksam und berechnend. Wie damals in der Kajüte des Kapitäns, schoss es mir durch den Kopf. „Ich frage nicht Euch als Diener, sondern als Freund, Francesco. Ich muss mit Euch reden, dringend.“

Sein Lächeln verschwand etwas und Francesco lehnte sich zurück. Ich konnte ihm ansehen, dass er nicht sicher war, ob er sich freuen sollte oder nicht. Jedoch war ich zu ernst, als dass er mir das Gespräch verwehren würde. Stattdessen versuchte er es mit Vernunft, etwas, was bei mir so gut wie nie etwas gebracht hatte, zumindest nicht, wenn ich so war.

„Falcon, Ihr wisst, wie die Sache hier aufgebaut ist. Quält mich nicht mit Wissen zu Dingen, in die ich nicht eingreifen kann. Es gibt nichts Schlimmeres, als etwas zu erfahren und spüren zu müssen, dass man nur zusehen kann und hoffen.“

„Dann hört auf damit.“, ungewollt klang ich abfällig.

„Das geht nicht.“

„Es muss gehen!“, nun klang es aggressiv. Ich beugte mich etwas vor, näher an ihn heran und sagte leise, eindringlich, nur für ihn hörbar: „Ich habe Bruder Raph-… Meister Nevar verraten, ohne es zu wollen. Domenico verlangt, dass ich Nevar ausspioniere. Er will, dass ich ihm helfe, die Samariter zu töten. Er denkt-…“, doch weiter kam ich nicht.

Der Gottesdiener sprang auf, gab ein verzweifeltes „Genug!“, von sich und rang hilflos die blassen, schlanken Hände. „Falcon, das geht zu weit, ich bitte Euch: Haltet mich daraus!“

Aber ich hörte nicht. Auch ich erhob mich, trat an ihn heran und umfasste Francescos Arm. Ich spürte diesmal nicht, wie rau die Kutte war, die er trug und registrierte auch nicht, dass wir aufhörten zu flüstern. Eindringlich sprach ich weiter auf ihn ein:

„Nein! Francesco, ich brauche Eure Hilfe. Ihr müsst Nevar warnen. Ich schaffe das nicht allein, ich weiß nicht einmal wo er ist!“, mit jedem Wort wurde mein Griff ein wenig fester und widerspenstig löste Francesco sich.

„Ich werde mich nicht in solch gottlose Dinge einmischen, es tut mir leid!“, als könnte er mir so ausweichen, ging er leicht um den alten Tisch in der Raummitte herum und legte seine Finger auf das dunkle Holz. „Ihr kennt die Regeln. Ich habe sie Euch so oft erklärt, bitte ignoriert sie nicht. Ihr wisst, wie ich leben muss!“

Wütend platzte es auf mir heraus: „Aber Ihr habt Nevar bereits so oft geholfen!“

Doch der Gottesdiener schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe Bruder Raphael geholfen, Falcon! Und zwar viel zu oft!“, Francesco stieß die Luft aus, um ruhig zu bleiben, ging an mir vorbei und beugte sich über das Bett. Etwas unbeholfen schloss er das Fenster zur Straße. Ein bisschen spät, wie ich im Hinterkopf anmerkte und wofür ich mich selbst verfluchte. Anschließend drehte er sich zurück zu mir. Mein Gegenüber war völlig überfordert, mit der gesamten Situation, aber vor allem mit mir und meinem Verhalten. Es fiel mir schwer einzuschätzen, ob es aus Angst war, Unsicherheit oder gar Loyalität zur Deo Volente. Ich hoffte nicht Letzteres, von ganzem Herzen.

„Falcon.“, mit Nachdruck bittend griff der Diener meine Hand und drückte sie. Wieder ein Versuch, Vernunft zu entfachen, aber diesmal war ich derjenige, der sich löste. Das Bild erinnerte fast an ein zerstrittenes Ehepaar und hilflos fuhr Francesco sich durch das kurze Haar. „Hört mir zu, und hört mir gut zu. Es stimmt, ich habe Meister Nevar oft beigestanden und ihn in vielen Dingen unterstützt, aber nur, weil ich nicht wusste, was ich tat. Ich habe nur geholfen, weil er mich im Dunkeln ließ und ich habe nicht vor, das zu ändern. Wenn herauskommt, was ich tue, ist das mein Tod, ist Euch das klar?“

Für mich klang es eher nach einer billigen Ausrede, als nach einer wirklichen Tatsache. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nevar den Mann stets im Ungewissen ließ. Früher, ja. da dachte ich, er täte es, aus Sicherheit für Francesco, aber mittlerweile glaubte ich, nein, war ich sogar fest davon überzeugt, dass Francesco mehr Ahnung hatte, als wir alle glaubten.

Missbilligend zischte ich: „Ihr verratet Euren besten Freund?“

„Falcon.“, sein Blick wurde fast flehend. Wieder wollte er meine Hand greifen, wieder zog ich sie zurück und nahm auch gleich einen Schritt Abstand. Da er nicht wusste, wohin mit seinen Händen, fing er nun an, an seinen Fingern herumzufummeln. Nervös, flüsterte es in meinem Kopf. Er ist nervös.

„Ich bin nicht wie Ihr: Stände ich vor den Kreuzern, sie könnten mich binnen weniger Sekunden brechen. Wäre ich eingeweiht, wäre ich eine Gefahr. Ich bitte Euch, Falcon, bitte! Weiht mich nicht ein und bittet mich nicht, mich einzumischen!“

Die Luft leicht ausstoßend wandte ich mich ab und schüttelte den Kopf. „Aber das tue ich.“, sinnlos und aufgebracht tat ich zwei Schritte in den Raum hinein, dann drehte ich mich zurück und versuchte leiser zu sprechen: „Versteht Ihr nicht? Ich soll Nevar verraten! Ich habe keine Wahl, er muss es erfahren! Er muss gewarnt werden. Ich bin nicht sicher, ob er damit gerechnet hat und falls nein, muss es ihm jemand sagen. Nur Ihr kommt dafür in Frage, Francesco!“, wir starrten uns an und eine unheimliche, bedrückende Stille machte sich breit. Ich wollte weiter reden, konnte die Wörter förmlich schon hören, aber die Stimmung war fast schon lähmend. Ich wusste nicht, ob ich ihm Vorwürfe machen durfte und noch weniger, ob es vielleicht ein Fehler war, überhaupt mit ihm zu reden. Was, wenn er uns verriet? Was, wenn Francesco es mit der Angst zu tun bekam und Domenico gar darauf ansprach? Ich war unsicher, ob ich es ihm zutrauen sollte, ein Verräter zu sein und selbstverständlich fühlte ich mich sehr schlecht dabei. Aber vielleicht gab es ja mehr als nur seine Sicherheit als Grund, dass Nevar den Mann – angeblich - nie eingeweiht hatte?

Als Francesco den Blick endlich löste und zu Boden sah, verstand ich, dass ich gewinnen konnte. Verloren waren wir so oder so, wenn er nicht mitspielte. Was machte es dann, wenn er uns verriet? Es war vielmehr eine Art Gefühl, als Erkenntnis. Ich durfte nur nicht nachgeben. Mich erschrak der Gedanke, aber: Francesco war manipulierbar.

Ruhig redete ich weiter auf ihn ein, währenddessen zurück auf das Bett sinkend. Es knarrte ächzend und leise unter meinem Gewicht, was die Stille um uns nur noch betonte.

„Domenico hat sich in den Kopf gesetzt, die Samariter zu finden. Er ist besessen davon, ein Buch zu vernichten, das man der Bibliothek geklaut hat und nun will er Nevar reinlegen, damit dieser ihn zum Autor führt. Es ist absurd, er ist völlig verrückt, wahnsinnig.“

Bitter und sehr leise flüsterte Francesco: „Das war er schon immer.“, regte sich jedoch nicht, sondern starrte nur zu Boden.

„Aber jetzt ist es an der Zeit, etwas dagegen zu tun.“, fuhr ich fort, noch intensiver und in seine Augen starrend. Es war, als hätte seine Bestätigung mich nur noch umso mehr beflügelt. „Francesco. Ihr sagtet mir einst, dass Nevar wie ein Meister für Euch ist. Ihr verehrt ihn. Ist es nicht so? Wollt Ihr diesen Mann nun einfach so in den Tod schicken? Ich soll ihn verraten. Versteht Ihr, was das bedeutet? Das wäre sein Tod!“

Der Braunhaarige vor mir gab keine Antwort. Stattdessen sank er langsam zurück auf den Stuhl, ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Ich begann mich schlecht zu fühlen, wie ein Erpresser, aber diese Gefühle schob ich beiseite. Wenn ich auf Francesco Rücksicht nahm, würde ich nicht weiterkommen. „Er kämpft für uns, für eine Welt ohne Unterdrückung, für die Aufklärung. Ich bin mir sicher, dass Domenico viel früher aufgefallen wäre, dass das Buch fehlt. Zumindest, wenn ihr es nicht verhindert hättet. Auch glaube ich, dass es sicherlich viel, viel mehr Dinge gibt, die Ihr bereits für Nevar getan habt, für mich. Ihr habt es zugelassen, dass Nevar zu Marias Obhut konnte und Ihr habt ihn auch in anderen Fällen sicherlich dutzende Male unterstützt. Ich verlange nicht viel von euch. Ich möchte nur, dass Ihr ihn warnt.“, ruhig griff ich etwas nach vorne und legte meine Hand auf die des Braunhaarigen, sie war eiskalt. Eine innere Stimme sagte mir, dass die Methode, die Francesco sonst bei mir anwandte, andersrum sicherlich auch funktionierte. Er war genauso nervös wie ich, nur hatte er mehr, viel mehr zu verlieren. ‚Berührung erzeugt das Gefühl einer Verbindung und eine Verbindung erzeugt das Gefühl von Vertrauen.’ Diesen Satz hatte ich in einem der Werke von Falcon Ryan Colm gelesen, nun verstand ich ihn. „Francesco, bitte. Bruder.“

Die Augen des Gottesdieners wanderten auf unsere Hände und kurz zuckte sein Zeigefinger vor Angespanntheit. Es schien, als hätte seine Hand erst registrieren müssen, dass meine auf ihr lag. Langsam und müde erhob er den Kopf und sah mir entgegen, ängstlich, aber ruhig. Ich erkannte, dass ich Recht hatte: Francesco hatte schon viel für uns geopfert, allerdings mehr für Nevar, als für mich. Der Diener der Deo Volente verehrte diesen Mann, aber er hatte nicht die Kraft, weiterhin so viel für ihn zu geben.

Er flüsterte „Das ist unser Tod.“ und seltsamerweise nickte ich nur. Früher hatte mir das Wort ‚Tod’ Unbehagen bereitet, heute war es mein Begleiter geworden. „Wenn Domenico erfährt, dass auch Ihr der Sündenträger seid, nicht nur Nevar, dann trifft es Euch genauso wie ihn. Und wenn ich Euch folge, dann trifft es auch mich. Es gleicht Blasphemie, Falcon.“

„Es gleicht Blasphemie, dass er gottesfürchtige Menschen foltert.“, nachdem ich ihn los gelassen hatte, seufzte ich schwer und lehnte mich an die Wand. Wie oft hatten wir so gesessen? Fünfzig Mal? Ich vermisste den lockeren Umgang aus alten Zeiten. „Ich verlange nicht viel.“, erklärte ich dann erneut. „Übergebt ihm ein Schreiben von mir, ein paar Zeilen, nur wenige Worte. Warnt ihn für mich. Nur ab und zu ein paar Briefe, mehr nicht.“

Die Reaktion, die er mir auf meine Bitte gab, verwunderte mich. Statt zu nicken oder zu verneinen, legte Francesco seine Hände in den Schoß und starrte vor sich. Ein vertrautes Bild. Eine Pose, die er einnahm, wenn er zu Erklärungen ausholte. Fast sofort wurde ich still, erwartungsvoll wie ein Kind bei einem Geschichtenerzähler. Ich wartete, aber nach einer Minute fragte ich mit Nachdruck: „Was wollt Ihr mir sagen?“, mehr nicht. Ich wollte nicht, dass er nur Zeit schindete, um meine Bitten ignorieren zu können, aber trotzdem wollte ich hören, was er zu sagen hatte.

Tief einatmend suchte Francesco einen Punkt im Raum, welchen anzustarren ihn wohl weiterbrachte. „Das Buch, ‚Gottes Blut’. Es stimmt:

Ich habe dafür gesorgt, dass Domenico nichts davon erfährt.“, beichtete er dann nach langem Überlegen. „Lange Zeit lag es in seinem Zimmer, bis ich es in die Bibliothek bringen konnte. Er hat es immer und immer wieder studiert. Es gibt nur wenige Werke, für die er so viel Hass empfindet.“, da seine Stimme immer leiser wurde, löste ich mich wieder von der Wand und beugte mich etwas vor, um ihn besser zu verstehen. „Ich weiß nicht, warum Nevar mich darum gebeten hat, es in die Bibliothek zu holen. Ich habe zugestimmt, ohne Fragen zu stellen. Ich konnte nur Vermutungen anstellen.

Aber nachdem er es in den Händen hielt, war ich mir sehr sicher: Dieses Buch hat mit seiner Vergangenheit zu tun. Nicht nur vom Inhalt her, sondern auch, was die Herkunft betrifft. Ich vermute sogar, dass es familiäre Hintergründe hat.“

„Warum erzählt ihr mir das?“, wollte ich wissen.

„Weil es wichtig ist.“, er sah auf und fixierte mich mit seinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich Francesco so ernst erlebt. Zwar sah ich noch immer Angst, aber da war noch etwas, das ich nicht deuten konnte. Eine Art Zeichen, die ich nicht verstand. Auch der Gottesdiener beugte sich vor und seine Stimme wurde zu einem verheißungsvollen Wispern: „Ihr kennt mich, ich mische mich nicht ein. Wenn Gott will, dass ich handle, zeigt er es mir. Aber ich weiß dennoch sehr viel, zu viel. Viel zu viel.“

Da er eine Pause machte, wollte ich wissen, was er meinte, aber statt eine Antwort zu geben stand er auf, ging zur Tür und fingerte an seiner Kutte herum. Nach einigen Augenblicken zog er den mir so bekannten Schlüssel hervor, dem ich so lange meine Gefangenschaft zu verdanken hatte und schloss ab. Mir wurde bewusst, wie ernst das Wissen war, das er nun mit mir teilen wollte. Ich sah zu, wie er sich setzte und lauschte aufmerksam, da er noch auf dem Weg zu mir mit Erklärungen begann: „Vor einem halben Jahr kam ein Mann hier her, als Gefangener. Er wurde bereits nach drei Tagen verbrannt, durch die heiligen Flammen. Er wirkte verrückt auf mich und schrie, fast die ganze Zeit, bis sie ihn knebelten. Er verdammte Domenico dafür, dass er das Wissen töten will und als ich Nevar mit dem Buch in der Hand sah, verstand ich.

Die Samariter... Die Aufklärung... Die heilige Schrift, die vielen Bücher die Nevar entwendet hat...“ Abwartend sah er mich an und erhoffte sich wohl eine Reaktion, aber ich wusste nicht ganz, welche.

Leise gab ich zu: „Ich kann Euch nicht folgen.“

Francesco nickte nur, fast entschuldigend. „Meister Nevar hat vor langer Zeit bereits andere Bücher gestohlen, sie jedoch zurückgebracht. Aus diesem Grund habe ich nichts gesagt und Domenico gesagt, es läge an der Unordnung. Solange sie wieder auftauchen, ist es, denke ich, in Ordnung gewesen. Domenico muss davon nichts wissen. Ich dachte anfangs, er würde sie privat lesen wollen um sich zu bilden und da, finde ich, spricht ja nichts dagegen. Nun gut, es sind Ketzerswerke, aber jedem seins, richtig?

Aber diese Annahme war falsch.

Es gab ein besonders altes Buch, wunderschön. Darin befand sich ein farbiger Holzschnitt, der die heilige Jungfrau zeigte, mit vielen Engeln, Blumen und Ranken. Ich habe ihn mir gern immer mal wieder angesehen, das Bild war ein wahres Kunstwerk, mit Blattgold und viel Liebe zum Detail.

Irgendwann aber war dieses Bild...anders.“, der Mann zögerte und ich zog die Stirn kraus, was Francesco wohl verunsicherte. Sich im Raum umsehend suchte er nach den passenden Worten. „Ich konnte es mir nicht erklären, mir war, als sähe es verändert aus. Eben…anders. Nicht auffällig. Aber wenn man es gut kennt und selbst versucht hat, abzuzeichnen, so wie ich, dann merkt man es. Ich dachte anfangs, ich wäre verrückt. Bis mir auffiel, dass es in einem der Bücher war, die Nevar ausgeliehen hatte. Da habe ich es verstanden: Die Samariter, sie kopieren Bücher. Nevar hat die ganzen Jahre über immer wieder Werke an sich genommen, sie kopieren lassen und sie anschließend zurückgebracht. Domenico denkt, es gäbe einen Autor, irgendwo, der sie weiter veröffentlichen lässt. Wenn er denkt, er hätte ihn, lässt er ihn hinrichten – aber die Ausgaben nehmen dennoch kein Ende.“

„Ihr meint...“, in meinem Kopf drehte sich alles und ich zog die Stirn noch mehr in Falten. „Ihr meint, die Samariter sind nichts weiter, als ein Haufen Kopisten? Deswegen will Domenico sie töten?“, das ergab für mich keinen Sinn. Natürlich war es gefährlich, wenn Ketzerswerke nicht aufhörten, sich zu verbreiten, aber im Grunde war das kein neuartiges Problem. Ich fühlte mich, als würde Francesco sich über mich lustig machen und ich wollte ihn schon anfahren, aber er schüttelte ernst den Kopf.

„Das ist längst nicht alles.

Vor kurzem wurde in Reiden, einer Stadt etwas weiter, ein Mann festgenommen, der ketzerische Auszüge der heiligen Schrift bei sich getragen haben soll. Sie waren nicht in Latein geschrieben, Falcon, sondern auch für das einfache Volk verständlich“, Francesco starrte mich an, als wäre das die Lösung all meiner Probleme. „Versteht Ihr jetzt, wieso Domenico die Samariter jagt?“

Und wahrscheinlich war es sie auch. Bis ich antworten konnte, musste ich erst einige Sekunden nachdenken und das Gesagte überschlagen. Für das einfache Volk verständlich?

Sie kopierten Bücher, Ketzerswerke und sie brachten sie unter das Volk. Also...

„Das heißt, sie übersetzen die Bücher auch?“, sprach ich meinen Gedanken laut aus.

„Nicht nur irgendwelche Bücher: Die Heilige Schrift selbst.“

Leise hauchte ich: „La Sacra Bibbia.“ und sah weg. Dass Francesco mich nicht verstanden hatte und nachhakte, was ich gesagt habe, ging an mir vorbei. Vor meinen Augen sah ich wieder das kleine Buch von Nevars Bett, kurz nach unserem Kennenlernen. Ich konnte wieder die goldene Schrift unter meinen Fingerspitzen spüren und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Aber natürlich! Sie übersetzten die heiligen Zeilen, was sonst? Woher sonst sollte so ein Buch stammen? Ich hatte gedacht, nur der Titel wäre anders verfasst, aber allmählich begann alles für mich einen Sinn zu ergeben. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch das Innere übersetzt und deutlich. Die Frage war nur, was sprach gegen eine solche Übersetzung?

Da ich auf Francesco Frage nicht einging, beantwortete er meine Gedankengänge von selbst, indem er ruhig erklärte: „Viele Geistliche stimmen den Gedankengängen der Samariter zu. Sie möchten, dass auch das gemeine Volk in der Lage ist, den Worten Folge zu leisten und sie obendrein zu verstehen. Selbstverständlich ist Domenico dagegen, so wie der Großteil der heiligen Mutter Kirche.“

„Aber wieso?“, wollte ich irritiert wissen. „Ist es nicht von Vorteil, wenn jeder verstehen kann, was der Herr uns vorschreibt?“, die Frage war eher an mich selbst gerichtet, trotzdem hörte ich Francesco antworten:

„Das ist einfach: Umso mehr verstehen, was eigentlich verlangt wird, desto weniger sind bereit, mehr zu geben, als nötig. Seht doch Euch an, Ihr seid das beste Beispiel. Wenn man die Furcht vor dem Herrn verliert, dann gehorcht man weniger.“

Mein Blick wechselte zurück zu ihm und nun verstand auch ich. Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es nirgendwo in der heiligen Schrift einen Text, der beschrieb, dass man Ablassbriefe kaufen sollte, wenn man in den Himmel wollte.

Das war wahrscheinlich auch das Problem: Kaum einer verstand sie wirklich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viel die Kirche selbst erfunden hatte oder so interpretierte, wie es ihr passte. Ich wusste, dass bei Messen der Priester etwas vorlas und dann übersetzte, für die Menge und für die Zuhörer. Wer dachte schon darüber nach ‚Steht das da auch wirklich?’ Wer würde einem Priester misstrauen? Vor allem, vielleicht wusste der Priester es selbst ja auch nicht besser! Viele würden sich vom Glauben abwenden, die Gottesfurcht verlieren und auch den Respekt vor der heiligen Kirche. Man würde sehen, dass man auch leben konnte, ohne an Gott zu glauben, und es würde früher oder später keine Scheiterhaufen mehr geben. Ketzer hätten Anrecht auf ein christliches Leben, Läuterungen wären nichts anderes mehr, als öffentliche Hinrichtungen. All das, was Nevar vorhergesagt hatte, würde eintreffen. Die Samariter standen dafür, dass man frei denken konnte, beten wann man wollte und glauben, wenn man es möchte. Die Inquisition zwang einen dazu, mit Gewalt wenn nötig. Aber waren die Samariter dann nicht die Guten?

Mir fiel auf, dass ich vieles aus der Bibel zwar gelernt hatte, aber eigentlich kannte ich nur die wichtigsten Dinge. Geschichten, die man während der Lehrstunden interpretierte, Zitate, die einem der Abt immer wieder sagte oder Stellen, die der Priester bei Messen vorlas. Aber die gesamte, komplette heilige Schrift kannte ich nicht. Ich wusste, was sie uns lehrte und ich wusste auch, was in ihr stand – das hatte man mir schließlich beigebracht.

Aber hatte ich es jemals überprüft? Nein.

Ich konnte es gar nicht. Ich konnte die Sprache nicht ausreichend, also wie auch? Wenn ich ehrlich war, hatte ich nur dann gelesen, wenn es mir aufgetragen worden war und wenn es hieß, darüber nachzudenken, dann hatte ich mich hingesetzt und abgelenkt, aus Angst, der Herr würde meine Gedanken bestrafen. War das richtig so?

Ich hatte nie ernsthaft über das nachgedacht, was man mir bei den Messen erklärt hatte, da ich fürchtete, es könnte mein Seelenheil kosten. Aber wieso auch? Es war schließlich immer alles logisch gewesen und selbstverständlich. Die Seele kommt in den Himmel – wir müssen nur brav sein und Buße tun, so stand es geschrieben.

Durch das Verständnis, das mich nun endlich erfüllte, konnte ich nicht mehr ruhig sitzen. Ich musste aufstehen, begann hin und her zu laufen und wild zu gestikulieren, fast schon euphorisch. Endlich ergab so vieles für mich einen Sinn. Erst wollte der Gottesdiener mich festhalten, es gelang ihm aber nicht und so ließ er mich freudig sagen: „Das ist es! Deswegen hasst Domenico die Kopisten so! Deswegen stehen bei Nevar so viele Bücher! Jetzt verstehe ich auch, wieso er dieses Buch wollte und auch, wieso er mir so viele gezeigt hat!“, Francesco verfolgte mich mit dem Kopf, rührte sich aber nicht. Ich beachtete weder seinen besorgten Blick, noch die Tatsache, dass man mich vielleicht hören konnte. „Und deswegen war Domenico mir gegenüber so misstrauisch! Ich bin Kopist!“, fast schon strahlend sah ich Francesco an. Meine Betäubung war vergessen, meine Angst ebenso. Er hatte mir die Frage beantwortet, die mich monatelang gequält hatte. „Er hat geglaubt, ich wäre ein Samariter!“, sprudelte es nur so aus mir heraus. „Er dachte, ich würde für sie arbeiten!“

„Falcon, nicht so laut...!“, Die Ermahnung ging einfach an mir vorbei.

„Die Kreuzer haben mich befragt, weil sie wussten, dass ich Kopist war. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte die Unterlagen gefälscht, jetzt weiß ich auch wieso, ich bin mir ganz sicher!“

Nun stand auch Francesco auf, schob den Stuhl beiseite und trat auf mich zu. Es wirkte auf mich, als wolle er ein Kind beschwichtigen und zur Ruhe zwingen. Sanft legte er seine Hände auf meine Schultern und sprach auf mich ein, ganz leise, noch während ich mitten am Reden war. Er versuchte mir zu erklären, dass ich leise sein musste und nichts überstürzen durfte, es durfte mir nicht zu Kopf steigen, doch ich hörte nicht ansatzweise zu. Die Erkenntnis, das Wissen, es durchströmte mich wie ein Fluss, ich konnte nicht mehr aufhören zu reden. Ich sprach von dem Buch, das ich gestohlen hatte. Davon, dass Nevar viele Bücher besaß, die ich während meiner ersten gemeinsamen Zeit mit ihm gelesen hatte. Die Arbeit im Skriptorium, die mich ermunterte weiter zu kopieren und die Tatsache, dass Nevar mich stets beflügelte, weiter dort zu arbeiten. Vielleicht wollte er sogar, dass ich für die Samariter arbeitete, irgendwann? Der Gedanke freute mich, denn er zeigte mir, dass er mir wirklich etwas zutraute. Nach einigen Minuten in denen ich über die Bücher sprach und Falcon Ryan Colm seufzte Francesco und fuhr sich durch die Haare. Wahrscheinlich bereute er es, dass er gesprochen hatte, aber ich nicht im Geringsten. Ich packte ihn an den Schultern, grinste und sagte: „Ihr glaubt nicht, wie viel Ihr mir geholfen habt!“

„Ich fürchte, doch. Aber ich weiß nicht, ob es das Richtige war.“, gab Francesco zu bedenken.

Er war wirklich verunsichert. Immer wieder fuhr er sich durch die Haare, nervös und verwirrt, fast, als könnte er spüren, dass etwas Schreckliches passierte.

Ich lachte nur und schüttelte den Kopf. „Das war es ganz sicher nicht. Umso mehr man weiß, desto mehr gerät man in Schwierigkeiten. Das ist das Einzige, was ich wirklich begriffen habe. Aber seid unbesorgt, Francesco...

...ich weiß jetzt genug, um zu wissen, was ich zu tun habe!“

Bestimmung

Der Platzregen hatte fast ohne Ankündigung begonnen. Erst zog sich eine dunkle Wolke über die Stadt und dann ging es los, von einer Sekunde auf die andere. Ich war froh, dass es kein Gewitter gab, trotzdem verfluchte ich jeden einzelnen Tropfen. Binnen weniger Minuten hatte sich das Wasser auf Brehms gepflasterten Straßen gesammelt und begann den Schmutz und das Laub hinfort zu spülen. Rinnsale bildeten plätschernd kleine Bäche, die die Straßen herunter liefen, Pfützen sammelten sich wie winzige Seen und es dauerte nicht lang, da war ich nass bis auf die Knochen. Ein schlechtes Omen, wenn man bedachte, mit was für einer frohen, neuen Erkenntnis ich durch die Stadt lief. Ich hatte mir die Kapuze meines Umhanges über den Kopf gezogen und schniefte leise aufgrund der Kälte, die das Nass mit sich brachte. Eine Erkältung hatte mir noch gefehlt, der Herrgott meinte es in letzter Zeit wirklich nicht gut mit mir. Trotzdem war ich froh, nicht in Annonce zu sein. Hier roch es leicht nach Fisch, wie häufig, wenn es regnete. Vielleicht durch den Fluss nahe Brehms, den man mit künstlich angebrachten Abzweigungen an vielen Stellen durch die Stadt geführt hatte, teils zur Säuberung, teils zur Verschönerung. Es gab nicht viele Städte, durch die Wasserwege führten, genau genommen hatte ich noch nie von einer solchen gehört. Brehms war die einzige Stadt, die ich kannte, die so viele Brücken hatte.

In Annonce hingegen würden die Ausscheidungen jetzt aufweichen und die Feuchtigkeit in eine riesige, braune und beißende Masse verwandeln. Wenn es dort regnete und man durch den Schmutz ging, hatte man oft Ausschlag und Pusteln an den Beinen und Füßen, jeder Tropfen schien zu jucken und die Kleider bekam man nie mehr sauber. Nein, da war ich froh, dass es Brehmser Regen war. Zwar gab es auch hier Qualm und Ruß, Dreck und Krankheit, aber es war einfach anders, als in Annonce. Besser, angenehmer. Nicht so elend.

Lange Zeit lief ich ein wenig unsicher umher und fand mein Ziel nicht. Ich suchte ein bestimmtes Wohnhaus, in dem ich Unterschlupf finden sollte, um mir Arbeit und Bleibe zu suchen. Zwar hatte Francesco mir den Weg ungefähr beschrieben, aber nach einigen Ecken wusste ich nicht mehr, ob ich richtig war. Der Gottesdiener hatte etwas von einem Heiligenbild erzählt und einen roten Haus, aber weder fand ich Bilder, noch rote Wände. Alles, was ich sah, waren Pfützen, glänzende Steine und Regen, der hinunterprasselte. Eine Zeit lang fiel er so stark, dass es fast schmerzte und ich musste mir Schutz suchen. Erst, als es weniger wurde, ging ich weiter und kramte einen Fluch ausstoßend nach dem Pergament, das man mir mitgegeben hatte. Es war in einen braunen Lederumschlag gefasst, den man mit einer bronzenen Münze verschließen konnte, indem man das kleine Band daran einmal herumwickelte und die Münze wie bei einem Knoten hindurch steckte. Schlicht und einfach, aber es gefiel mir. Abgesehen von der schnell gekritzelten Wegbeschreibung zu meinem neuen Heim befanden sich darin Fragen, die ich Nevar stellen sollte. Ich sollte ihn verhören. Wie ironisch, wenn man bedachte, dass er in so etwas wohl viel besser war, als ich. Aber noch besser war Nevar wohl darin, meinen Fragen auszuweichen, zumindest hatte es die letzten Monate über sehr gut funktioniert. Ich suchte unter einem Torbogen Schutz, der eine Nebenstraße von einem Platz trennte und fischte nach dem Papier. Da ich keine Tasche bei mir trug, hatte ich das Büchlein in meinen Gürtel gesteckt, unter das Hemd, trotzdem war es leicht nass geworden. Hoffentlich hatte Francesco wasserfeste Tinte benutzt, dachte ich etwas unsicher und zu meiner Erleichterung war das wohl auch der Fall. Das Stück Pergament hatte der Gottesdiener aus einem Buch herausgerissen, das wohl nicht mehr wichtig gewesen war. Auf der Rückseite befanden sich gekrakelte, lateinische Worte, die nun verschmierten, als ich sie mit den Nassen Händen berührte, um den Zettel aufzuklappen. Es sah recht schön aus, auf dem fast schwarzen Ton wurde nun eine Art grün, immer heller werdend. Im Innern befand sich Francescos Krakelei, eine schnell aufgemalte Karte. Nach einiger Überlegung wusste ich wieder, wo ich mich befand und stellte seufzend fest, dass ich zu früh abgebogen war. Ich hätte geradeaus gemusst und dann nach rechts die Hauptstraße entlang, hatte aber bereits die erste Seitengasse genommen. Logisch gesehen müsste ich nun also eigentlich nur geradeaus laufen und würde dann auf die eigentlich gemeinte Straße treffen, richtig? Zu meiner Enttäuschung führten aber zwei Wege geradeaus und mittlerweile kannte ich die Stadt gut genug, um zu wissen, dass mindestens einer der beiden Wege völlig verquer abbog, sich tausend Mal gabelte und im Endeffekt an das andere Ende der Welt führte. Vielleicht sollte ich besser zurücklaufen?

Als würde der Anblick mir die Frage beantworten, sah ich auf und schob die Kapuze ein klein wenig zur Seite. Durch die Feuchtigkeit klebte sie, genauso wie meine Haare, förmlich auf meinem Kopf, so dass sie sich nicht mehr so geschmeidig mitbewegte, wie sonst. Jedes mal, wenn ich den Kopf drehte, musste ich die Hand heben, um auch die Kutte zu bewegen. Es fühlte sich fast an, als steckte ich in einem nassen Sack, überall lag sie fest an meinem Körper, als wären Hemd, Hose und Umhang meine zweite Haut. Ekelhaft. Ich ging einen Schritt zurück und sah hoch, in der Hoffnung, nun vielleicht doch noch ein Heiligenbild zu sehen.

Der Torbogen war sehr groß und weiß-grau, auf beiden Seiten führte eine Mauer entlang und als ich hoch sah, erblickte ich zwei, kaputte und schmutzige Tiergestalten. Sie saßen auf Podesten, die bekrallten Pfoten etwas tiefer, als wollten sie hinunterklettern. Beide hatten die Körper einer riesigen Katze, ihre Köpfe allerdings erinnerten an Adler. Gleiches galt für ihre Vorderfüße und die Flügel auf ihren Rücken. Sie sahen genauso bemitleidenswert aus, wie ich. Der einen fehlte ein Stück des Schnabels, der anderen einen Teil seines langen Schwanzes, sämtliche Anmut war dahin. Solche Tiere hatte ich schon öfters in Brehms gesehen, Nevar nannte sie Greife. Sie waren die Herrscher von Himmel und Erde, ein Symbol für Jesus Christus. Zwischen ihnen war eine Art Band eingemeißelt, an den Enden mit zwei Spitzen und Reste von Blattgold zeigten, dass es einst recht prächtig ausgesehen haben muss. In der Mitte stand: Ora et labora – Bete und arbeite!

Ich konnte mich nicht erinnern, diesen Torbogen zu kennen, eine große Hilfe war er also nicht. Dafür bereute ich es, nach oben gesehen zu haben, denn der Regen, der von den Gestalten hinunterlief, war mir direkt ins Gesicht gefallen und genervt wischte ich mir über die Wangen und das Kinn. Überall tropfte es von mir.

Meine Augen kreisen lassend suchte ich dann den Rest der Umgebung ab: Ein Wirtshaus, ein paar Wohnhäuser und ein geschlossener Laden. Wie meistens, wenn es regnete, war Brehms fast wie tot. Die meisten suchten Schutz in Wirtshäusern oder Häusereingängen, keiner wollte krank werden. Die wenigen, die herumrannten, beeilten sich und versuchten ihre Köpfe mit Tüchern oder Körben zu schützen. Ein leises Seufzen, nichts gab mir einen Anhaltspunkt. Weder gab es ein Schild ‚Heiligenbild dort entlang’, noch konnte ich hinter einer Ecke den Giebel oder die Kante eines roten Hauses erblicken. Da ich zu stur war, zurückzulaufen oder zu fragen, ging ich einfach geradeaus und entschied mich für den rechten Weg. Laut Karte hätte ich später rechts abbiegen müssen, also konnte es unmöglich ein Fehler sein, den am weitesten rechts liegenden Weg zu nehmen.

Die Bäche und Flüsse, die sich hier versammelten waren ein wenig stärker, als auf meinem bisherigen Weg, denn es ging leicht bergab. Als Junge hätte ich wohl ein gebogenes Blatt genommen und es wie ein Schiff schwimmen lassen. Ich beobachte während des Laufens, wie das Wasser sich seinen Weg zwischen die Kopfsteine suchte und hielt die Augen nach allem offen, was irgendwie rot war. Eine rote Rose auf dem Schild eines Ladens, eine teuere, rote Kerze hinter einem Fenster, ein rotes, winziges Blütenband auf dem Boden, zertrampelt und verdreckt. Kein Haus, kein Bild, kein Heiliger – letzteres am allerwenigsten. Die Stadt Brehms hatte ihren Glanz verloren, schon lange. Es war zum verrückt werden. Nach einigen Schritten wurde der Weg wieder etwas gerader, aber auch zusehends enger, so stark, dass ich die Arme hätte ausstrecken können und die Wände auf beiden Seiten berühren. Die Häuser erschienen mir durch die Enge immer höher und viele Fensterläden ragten offen auf die Straße und befanden sich förmlich direkt über mir. Manche hatten ihre Wäscheleinen bis zur anderen Häuser-Seite gespannt und die in Brehms so beliebten Schwippbögen machten alles noch winziger. Wenigstens saßen nun keine Vögel darauf, darauf bedacht, jeden mit ihrem Kot zu treffen, der unter ihnen hindurch ging. Da der Weg anfing zu schlängeln bewegte ich mich fast wie ein Betrunkener, erhob ab und zu den Kopf und blieb dann abrupt stehen. Neben mir war eine hohe Mauer, an der Efeu wuchs und dahinter, sehr weit entfernt, erkannte ich etwas Rotes: Eine Häuserwand. Sie war dunkel und aus Backstein, mit schwarzem Dach und schwarzen Fensterläden, genauso, wie Francesco es mir beschrieben hatte. Dort musste ich hin, das war mein neues Heim, allerdings wirkte die Mauer nicht so, als würde sie mich durch lassen und Anstalten machen, zur Seite zu gehen. Ich legte die Hand an den Stein, aber er war gut verputzt, keine Chance hinaufzuklettern. Also gut? Weiter laufen und so bald nach rechts, wie nur möglich. Der erste Weg, der abbog, führte mich durch eine kurze, torartige Überdachung und anschließend auf einen Hinterhof mit altem Brunnen. Ein Mann passierte mich, recht eilig, dann war ich wieder allein und fand mich in einer Sackgasse vor. Weder ging ein Weg nach rechts ab, noch konnte ich das rote Haus sehen, da die anderen um mich herum zu hoch waren. Ich drehte um und ging weiter, fluchte nach einiger Zeit erneut und fand mich ein weiteres Mal in einer Sackgasse vor. Beim dritten Anlauf führte der Weg nach links. Da es in meinen Augen Sinn machte, dass der Weg auf den anderen treffen müsste, der mir noch zur Auswahl gestanden hatte, folgte ich ihm, aber ich fand mich auf einer Gabelung mit sechs Zweigen wieder, in deren Mitte ein von Steinen umringtes Bäumchen stand. Ein Stern, wenn man so wollte, mit viel zu viel Auswahl, doch wieder gewann meine Sturheit. Das wohl Schlimmste war, dass ich irgendwann wieder den zwei Greifen gegenüberstand und trotzdem nicht gescheit genug war, zurückzulaufen. Stattdessen nahm ich diesmal den linken Weg und verirrte mich nur erneut. Brehms war fern jeder Logik, das wurde mir immer bewusster. Die Stadt war ein Labyrinth, ein Irrgarten! Gäbe es keine Menschen, die man fragen könnte, würde man sich wohl für immer verlaufen und irgendwann elendig verhungern!

Eine ganze Stunde irrte ich umher, entdeckte völlig neue Orte in Brehms, freute mich aber nicht wirklich, da ich sie wohl ohnehin nie wieder finden würde. Ein kleiner Buchladen, ein hübscher Brunnen zwischen Grün, eine ehemalige Kapelle, aber nichts rotes, kein Heiligenbild an einer Häuserwand.

Als ich das Backsteingebäude dann endlich fand hatte der Regen längst aufgehört und ich war völlig unterkühlt. Sogar meine Gedankengänge zu Domenico und den Samaritern hatte ich irgendwann einfach vergessen. Alles, was ich jetzt wollte, war schlafen und vielleicht etwas warmes, eine Suppe oder ein Bett, ein schönes Feuer. Das Gebäude vor mir glich jedem anderen Haus und war nicht wirklich etwas Besonders. Klein, schmal und hoch. Zwei ganze Stockwerke, so wie ein Kellergeschoss, zusammengepfercht zwischen zwei anderen Häusern in beige und dreckigem weiß. Es wirkte fast, als hätte man es dazwischen gequetscht, um eine Lücke zu füllen. Eine dreistufige Treppe aus Stein mit einem schwarzen Metallgeländer auf der linken Seite führte hinauf zur Holztür mit Eisenbeschlägen und es gab kleine, quadratische Fenster mit Gittern, wahrscheinlich, um Gesindel fernzuhalten. Ich ging hinauf, klopfte gegen das Holz und wartete. Nach einiger Zeit öffnete sich ein kleines Fenster mit Eisenstangen davor, das man in die Tür eingelassen hatte, um zu überprüfen, wer davor stand. Zwei helle, blaue Augen sahen mich an und musterten mich verkniffen, umringt von Falten, dann schlug man die Klappe wieder zu und ich hörte es Rasseln. Scheinbar hatte man abgeschlossen, denn es dauerte, bevor man die Tür aufzog.

Ich stand einem Mann gegenüber, der so klein war, dass man meinen könnte, vor mir wäre ein Kind. Sein Rücken war gebeugt, so dass er den Kopf schief legen musste, um mich ansehen zu können und auf seiner verschorften Kopfhaut befanden sich nur wenige, graue und zause Haare, die wirr abstanden. Ein Verrückter, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Seine Augen waren blutunterlaufen, als hätte er sich etwas hinein gerieben und ich war nicht sicher, ob ich mich etwas bücken sollte, damit er mich besser sehen konnte. „Ihr seid O’Connor, Deo Volente. Der Reisende, den ich aufnehmen soll.“, stellte er fest und lachte herzlich.

Nickend nahm ich meine Kapuze vom Kopf und zwang mich, ihn nicht so anzustarren. „Gott zum Gruße.“ Ich wusste, dass ich zu einem Aaron Guinness sollte, nun hatte ich ihn wohl gefunden. Wie sagte Francesco? Klein, alt, Ihr werdet ihn erkennen. Eindeutig, das war er.

Ohne meine Begrüßung zu erwidern machte er Platz und deutete mir mit der Hand, dass ich eintreten sollte, fast etwas aufgeregt. Dann schloss der Mann die schwere Tür. Der Geruch von Feuer und Kerzen kam mir entgegen, vermischt mit Regen, modrigem Holz und Staub. Neugierig betrachtete ich den Raum mit dem Tisch und den vier Stühlen daran, den einzelnen Hocker in der Ecke und mehrere Weidenkörben drum herum. Scheinbar flocht hier jemand Körbe und anderes aus dem Holz. Vor den zwei Fenstern hingen löchrige Decken, die die Kälte aufhalten sollten und überall auf dem Boden waren Splitter und Stöckchen. Weder die Feuerstelle, noch die zwei Kerzen gaben wirklich viel Licht. Es schien, als würde die vom Rauch dunkle Wand sämtliches verschlucken. Anders, als im Arbeitshaus, gab es hier keinen Flur und alles wirkte ein wenig ärmlich, trotz der äußeren Erscheinung. Es gab nicht einmal einen Abzug, wenn man mit den Fingern die Wand langging waren sie schwarz vom abgelagerten Ruß. Gegenüber der Feuerstelle führte ein Weg in ein weiteres Zimmer, allerdings war der Zugang mit einem Tuch geschlossen worden. Jetzt wusste ich, wieso Nevar mir Marias Obhut empfohlen hatte, denn es war bei Weitem besser gewesen, als das hier.

Aaron schloss die Tür ab, schob einen Riegel vor das Guckfenster und drehte sich dann grinsend zu mir um. Der Alte freute sich scheinbar, Besuch zu haben. Francesco hatte ihn gebeten, mich, einen Reisenden, aufzunehmen. Nicht lang, nur ein, zwei Wochen, bis ich weiter zog. Es kam mir vor, wie ein Theaterstück, trotzdem spielte ich mit. Ich kannte es schon zur Genüge, nicht sagen zu dürfen, wer ich war, was ich tat oder woher ich kam.

„Hab selten Besuch.“, grinste er und zeigte mir seinen fast zahnlosen Mund. Als würden wir uns seit Jahren kennen schob er mich vor in die Nähe der Feuerstelle, über uns knarrte kurzzeitig der Boden. War noch jemand hier? „Kommt nur, kommt. Keine falsche Scheu, ich tu nicht mehr beißen.“, wieder lachte er heiser. „Die Zeiten sind vorbei. Setzt euch, zieht euch aus. Ihr müsst hungrig sein! Ich hab Suppe, schmeckt hervorragend.“, noch ehe ich ja oder nein sagte, trat er an ein Regal, griff eine Holzschüssel mit Sprüngen am Rand und füllte sie mit der gemeinten Suppe. Es erinnerte eher an Wasser, ich sah nicht einmal Gemüsestücken. Alles, was darin war, war weißlicher Brei. Kleine, weißliche Körnchen, die zerfielen, wenn man sie mit dem Löffel anrührte. Mich leise bedankend schlüpfte ich aus meinem Umhang und sofort nahm man ihn mir ab, um ihn über einem Stuhl ans Feuer zu legen. „War’s ’n langer Weg? Ein scheiß Wetter, was? Ihr seid nass bis auf die Knochen, wartet nur. Ich such ’n Hemd für Euch raus und ’ne Hose, wenn ich eine hab. Da holt man sich ja den Tod!“

„Es geht schon, ich danke Euch.“, versuchte ich sein Angebot abzulehnen, aber er ließ es sich nicht nehmen, seinen Gast richtig zu versorgen. Meine Suppe trinkend beobachtete ich, wie der Mann schlurfend zu einer alten Truhe ging, sie öffnete und darin herumwühlte. Eine Motte schreckte auf und flatterte umher, ehe sie sich an die Wand setzte und Staub tanzte durch die Luft. Währenddessen murmelte er leise: „Die Bruderschaft muss zusammenhalten, sag ich. Schlafen könnt Ihr hier, keine Frage, aber muss ja nicht alles sein. Ich hab ein altes Hemd, bin mir ganz sicher. Ah. Was ist das?“, scheinbar hatte Aaron etwas gefunden, denn er hielt ein Stück braunen Stoff hoch. Ein schrecklicher Anblick, kleine Löcher von Insekten, ausgefranste Ränder an Ärmeln und Kragen und eine faserige Kordel für die Brust-Schnürung. Mit dem Stück Lumpen zufrieden ließ er die Truhe zufallen und erhob sich. „Gefunden. Hier, zieht das an, sonst frieren Euch noch die Eier ab. Ihr seid doch kein Bruder oder?“, ein verwirrtes Kopfschütteln meinerseits. „Gut. Will ja nicht schlecht reden, was? Vor Brüdern, mein ich. Haben sich immer so, wenn man solch Wörter sagt. Eier und Schwanz, knallrot werden sie.“, das braune Ding landete auf dem Tisch, dann steuerte er eine Leiter an, die ins obere Stockwerk durch eine Luke hindurch führte. „Ich such die Hose, Herr. Zieht Euch um, na los nur, los. Bin gleich wieder da und esst gut. Die Suppe ist gesund! Kartoffeln sind da drin!“, und schon war ich allein.

Sollte ich mich freuen, hier wohnen zu dürfen? Ich war unsicher. Ein paar mal stach ich noch mit dem Holzlöffel in das nach nichts schmeckende Wasser und suchte die versprochenen Kartoffeln, dann beschloss ich, aufzugeben. Mit jeder Bewegung, die ich vollführte wurde das Gesöff dickflüssiger und pampiger, als würde irgendetwas am Grund kleben und sich Stück für Stück mehr auflösen. Skeptisch griff ich die Schüssel ganz, stellte sie schief und sammelte das Wasser am Rand. Tatsächlich: Am Grund war weißlicher Brei, die Kartoffeln wahrscheinlich, er erinnerte fast an Erbrochenes, wenn da nicht irgendetwas kleines, wackelndes wäre. Mit zusammen gekniffenen Augen hielt ich mir das ‚Essen’ näher ans Gesicht und verzog den Mund. Würmer? Maden? Wollte ich es wissen?

Vorbei war der Traum einer guten Suppe um mich zu wärmen, mir war schlecht. Als ein Mann, der nichts besaß und mit Hilfe der Deo Volente einen Neuanfang starten wollte, sollte ich dafür wohl dankbar sein, aber es fiel mir sehr schwer. Gut, ich musste nichts, gar nichts bezahlen, aber war das eine Vergiftung oder Magenverstimmung wert? Wie sehr sehnte ich mich nach einem guten Essen, am besten gewürzt. Während meiner Zeit im Skriptorium hatte ich mir oft eine gewürzte Suppe gegönnt oder sogar ein Stück Brot. Reste vom Vortag, aber immerhin eine Art veralteter Luxus. Sogar das Essen im Arbeitshaus war besser gewesen, als das hier. Lauschend, wo der alte Mann war, blieb ich etwas sitzen und da ich nichts hören konnte, erhob ich mich, ging zurück zum Kessel und ließ das widerwärtige Zeug hinein fallen, darauf bedacht, nichts zu verspritzen. Auch die Pampe am Grund schob ich mit einem Löffel zurück, dann wischte ich den Rand der Schüssel mit meinem Hemdzipfel ab, damit man nichts mehr sah. Noch immer hungrig, aber für die nächste Zeit wohl eher appetitlos, schlüpfte ich dann aus meinem Hemd. Es klebte überall, als wäre ich in einen Fluss gesprungen. Misstrauisch erinnerte ich mich in Gedanken daran, dass ich Acht geben musste, dass der Kerl mir nichts stahl, zog dann das braune Hemd meines Gönners an und steckte mein Münz-Säckchen darunter in meinen Hosenbund. Viel war nicht darin, man hatte mir in Maria’s Obhut fast alles weggenommen, mit der Begründung, dass ich mehr verbraucht als verdient hätte. Der Stoff war hart und kratzig, er juckte auf meiner Haut und stank fürchterlich nach Schimmel, Rattenkot und Feuchtigkeit. Hätte ich nicht so viele, auffällige Narben, wäre ich lieber frei gelaufen, als in diesem Fetzen. Man konnte sagen, dass mein äußerliches Erscheinungsbild am Tiefpunkt angelangt war. Meine Messer waren weg, ich besaß kein Buch mehr, keine Tinte, kein Papier, nicht einmal mehr ein zweites Hemd, geschweige denn die Unterlagen von Domenico. Alles, was ich noch hatte, waren so wenig Taler, dass ich mir nicht mal mehr anständiges Essen kaufen konnte und Mathew, die Erbse. Ich hatte sie aus meiner Tasche genommen und in einer Dielen-Ritze versteckt, wann immer ich Gefahr lief, ich könnte sie verlieren. In Momenten in denen ich unterwegs war, tat ich sie in meine Tasche, in den Münzbeutel oder klemmte sie, wie jetzt, zwischen meine Zehe. Es war fast etwas verrückt, wie einer dieser Gegenstände die die Heiden so anbeteten, Steine oder Stöcke. Trotzdem hoffte ich, dass sie mir ein wenig Glück brachte.

Als Aaron wiederkam hatte ich scheinbar aufgegessen, mich umgezogen und meine Sachen lagen auf den Stühlen zum Trocken am Feuer. Der Alte hatte tatsächlich eine Hose gefunden, allerdings war sie viel zu groß. Zwischen den Beinen befand sich ein riesiger Flicken und man erklärte mir, dass der Vorbesitzer Läuse gehabt hatte. „Den ganzen Stoff zerkratzt hat der Letzter Neuanfänger, der Idiot. Den ganzen Stoff! Prügeln hätt’ ich ihn sollen!“, trotzdem zog ich sie an. Mein Gastgeber war so freundlich mir ein Band zu leihen, damit ich sie fester binden konnte und neu eingekleidet war ich dann bereit, mein Zimmer anzutreten. Meine Sachen nahm ich mit, ich würde sie ans Fenster hängen. Auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass man mein weniges Rückgeld, das ich in die Hosenbeine eingenäht hatte, fand. Gastfreundschaft in allen Ehren, aber ich traute dem freundlichen Mann nicht über den Weg.

Fast die ganze Zeit über schweigend folgte ich ihm in die obere Etage, indem ich die Leiter hinauf stieg und ließ mir erklären, dass er oft Leuten der Deo Volente half. Es war eine gute Sache, sie unterstützten die Leute und Menschen wie er konnten auch etwas tun. Er bekam Geld und dafür versorgte er seine Gäste mit Essen und Kleidung und unterstützte sie dabei, Arbeit zu finden und eine eigene Unterkunft. Ich wollte nicht wissen, wie viel man ihm zugesteckt hatte, dafür, dass ich trotzdem nur Würmer bekam und Lumpen. Sicher gab es ein verstecktes Lager in dem Würste hingen und Weinfässer standen, nur darauf wartend, dass ich aus dem Haus war.

Das obere Stockwerk war genauso eng, wie das untere. Wie ich vermutet hatte schlief der Alte unten im Erdgeschoss, seine Tochter oben, allerdings war sie außer Haus. Der einzige, der ebenfalls hier lebte, war ein zweiter Schützling der Deo Volente. Er hieß Theodor, erklärte mir der Greis und führte mich durch den schmalen Weg. Hier gab es drei Zimmer. Zwei große, jenes von Theodor und seiner Tochter Isabelle, dann noch ein drittes, kleineres. Es lag an der Dachschräge, so dass man Acht geben musste, sich an der schiefen Wand nicht den Kopf zu stoßen. Die Tür dazu konnte man von innen mit einem Riegel verschließen und es gab ein winziges Fenster mit Schweineblase davor. Zufrieden und freudig plappernd stellte Aaron sich in die Raummitte und sah sich um. „Ja, hier ist’s. Toll, was? Richtig gutes Holz.“, als müsste er sich selbst davon überzeugen klopfte er gegen die Deckenbalken. „Hat einiges hinter sich, sag ich Euch. Hier schläft es sich gut. Wenn was Geschichte hat, dann ist’s was wert, da verwett ich meine letzten Haare drauf.“, da alles gut zu sein schien trat er wieder heraus und nun war es an mir, einzutreten. Mit meinen Kleidern unter dem Arm duckte ich mich etwas und sah mich um. Ich konnte nicht aufrecht stehen, sonst würde ich mir den Kopf stoßen und auf dem Boden hinterließ ich Spuren, denn er war weiß vom Staub. Nur gut, dass ich gelernt hatte, wie man putzte. Im Zimmer verteilt, das etwas länger als ich war, aber genauso hoch standen gut 4 Becher und Töpfe, die das hineintropfende Regenwasser sammelten. Zwei von ihnen waren bereits voll und man konnte am den dunklen Kränzen um sie herum sehen, dass das wohl schon länger so war. Das Wasser hatte den Boden verfärbt und wie eine Umrandung hatte weißlicher Schimmel angesetzt. Es gab ein Bett, direkt in der Mitte und unter der Schräge, auf das ich alles ablegte und nur nebenbei registrierte ich die grünblauen, blumenähnlichen Muster auf den einst weißen Laken. Noch mehr Schimmel. Eine Kommode oder einen Schrank gab es nicht, aber zumindest einen Hocker mit einer rostigen Schüssel, in der Wasser war für die Morgenwäsche. Bemüht zu lächeln hauchte ich: „Ich danke Euch. Ihr helft mir wirklich sehr damit.“

Die Antwort klang fast selbstverständlich. „Ich helf gern. Fühlt Euch wie Zuhaus’. Essen gibt’s drei Mal am Tag, morgens Brot, mittags Suppe und abends den Rest. Kien findet Ihr unten und wenn Ihr scheißen müsst, geht in den Hof, einfach um das Haus rum. Ah, der Schlüssel!“, mit Unbehagen ließ ich meine Blicke erneut schweifen, dann drückte mir Aaron einen kleinen, schwarzen Schlüssel in die Hand. Für einen kurzen Augenblick konnte ich seine vom Flechten kaputten Finger sehen, voller Dreck und Blutkrusten. „Gut, bin dann unten. Ist was, brüllt, aber nich’ zu laut. Denkt an die Bettruhe und bei Ausgangssperre mach ich den Riegel zu. Seid Ihr nich’ da, schlaft Ihr draußen.“

Leicht nickend ließ ich mich nun endlich sachte aufs Bett sinken. Es war anstrengend geduckt zu stehen, trotzdem stieß ich meinen Kopf an der Schräge. Mir die Stelle haltend sah ich Aaron wieder an, dieser lachte leicht, wollte eigentlich noch etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf und ging. Wieder seufzte ich schwer. Ich mochte das Haus nicht, das Essen, die Kleidung und dieses Zimmer am wenigstens. Einen gottlosen Fluch ausstoßend rieb ich mir meinen Hinterkopf und musterte das schwarz gefärbte Dach über mir, dann das Kissen zu meiner rechten. Hier gab es kaum Luft und das, obwohl der Wind durch jede Ritze kam und das Fenster nicht wirklich dicht war. Als würden der Staub und der Schmutz alles auffressen, was man mit Genuss atmen könnte. Davon abgesehen stieg der Rauch aus dem unteren Zimmer zu mir nach oben und bildete einen leichten Dunst in der Luft. Ich beschloss, das Fenster zu öffnen, sobald der Regen vorbei war und die Tür am besten gleich mit. Bis dahin jedoch schloss ich sie sorgfältig mit dem Riegel ab, verstaute den Hausschlüssel und meine wenigen Münzen unter der feuchten Matratze und ließ mich darauf sinken.

Da war ich nun, noch immer in der Obhut der Deo Volente und noch immer ohne tieferen Sinn oder erfülltes Leben. Aber zumindest hatte ich so etwas wie ein Ziel. Während ich den Tropfen lauschte und versuchte zu ignorieren, wie hungrig ich war, starrte ich den verrußten Deckenbalken an und machte mir meine Lage etwas bewusster. Ich hatte herausgefunden, wer die Samariter waren und was sie trieben. Auch wusste ich, wieso Domenico sie fürchtete, dass sie auch unter den Katholiken Anhänger hatten und dass sie im Grunde nichts taten, was wirklich schlecht war. Die Kirche fürchtete das Wissen, die Samariter verbreiteten es.

Was ich nicht wusste, war, wo man sie finden konnte, aber wahrscheinlich wusste Nevar es. Francesco war einverstanden gewesen, ihm meine Bitte zu überbringen, sich bei mir bemerkbar zu machen. Es würde Domenico zufrieden stellen, wenn ich mit ihm sprach, schließlich sollte ich ihn befragen, aber in erster Linie wollte ich mehr erfahren. Ich war Kopist! So oft hatte ich das Gefühl gehabt, dass, was ich tat, war sinnlos – als Samariter wäre das anders! Ich wollte Nevar darum bitten, die Samariter unterstützen zu dürfen und ohne Frage würde er es mir erlauben. Allein der Gedanke daran, zu was für großartigen Werken ich Zutritt hatte, ließ mich erbeben. Ein wenig aufgeregt drehte ich mich auf die Seite und die Latte unter dem Stroh knackte leise. Sie war durchgebrochen, schon lange und durch mein Gewicht brach wohl auch allmählich der Rest. Momentan interessierte es mich nicht, Nevar war wichtiger, aber am Morgen würde ich es wohl mit Rückenschmerzen bereuen.

Ich würde so viele Ketzerswerke lesen können, wie ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte und endlich die Chance haben, Gottes Worte wirklich zu verstehen. Ich erinnerte mich an die alte Hexe im Schuldturm, die mich vor vielen Monaten angesprochen hatte. Sie sprach davon, dass Gott alle liebte und unfehlbar war, anders als die Menschen, die stets Fehler machten, weil sie Menschen waren. Ja, der wahre Glaube bestand nicht aus Furcht, er bestand aus Liebe. Anfangs hatte ich es abgestritten, aber mit der Zeit hatte ich diesen Gedanken immer mehr geteilt. Die Katholiken regierten mit Angst und ich hatte so lange, viel zu lange gebraucht, um das zu verstehen.

Aber ab nun würde alles anders sein. Ich war so fest entschlossen, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Mein Weg war entschieden, definitiv. Ich wollte vorwärts gehen und Nevar in seinem Kampf unterstützen. Der Kampf, der nun auch meiner war. Damit die Menschen endlich sahen, wie Gott wirklich war.

An diesem Abend betete ich das erste Mal nach langer Zeit wieder das Vater Unser und es überfiel mich nicht einmal Unsicherheit. Ich meinte, endlich verstanden zu haben, worum es ging und das gab mir so viel Sicherheit, dass ich den Herrn kaum fürchtete. Vielleicht kam ich in die Hölle und vielleicht musste ich für vieles büßen, bei Mord angefangen. Aber ich wusste, dass ich es nicht tun konnte, indem ich bis zum Tode schuftete oder Ablassbriefe bei einem Priester kaufte. Mit einer Pilgerreise durch den großen Kontinent und ein paar Goldmünzen war Mord nicht zu sühnen, dafür musste ich mehr tun, viel mehr. Beten und arbeiten, arbeiten und beten – das brachte mir niemals mein Seelenheil zurück.

Nein, ich wusste, was ich tun musste und das würde ich: Ich würde den wahren Glauben verteilen. Früher, bevor ich meine Reise angetreten hatte, damals im Bußzimmer hatte ich überlegt, dass es vielleicht meine Bestimmung war, das Volk zurück zu Gott zu führen. Es war nur ein Spaß gewesen und natürlich hatte ich nie auch nur mit geringster Ernsthaftigkeit darüber nachgedacht... Aber nun, so viel Zeit später, erschien es mir logisch.

Ich konnte spüren, dass der Herrgott hinter mir stand, ich spürte seine Kraft förmlich in mir. Sie beflügelte mich und machte mir Mut, als hätte das Gebet ihn das erste Mal in meinem ganzen Leben wirklich erreicht. Er würde mir ein Zeichen senden, wenn er das nicht wollen würde, dachte ich. Er würde die Samariter aufhalten, aber tat es nicht. Ich konnte die Welt bewegen, wenn ich wollte, wenn ich es wirklich wollte. Und das hatte ich vor, mit der Hilfe des allmächtigen Herrn. Endlich war ich wieder ein wahrer Christ. Keine Sünden mehr, keine Blasphemie, nur noch der wahre Glauben sollte mich erfüllen, nie wieder sollte mehr ein Fluch über meine Lippen kommen!

Es krachte, als die Latte nun gänzlich nachließ und erschrocken schrie ich auf, mich reflexartig am Bettgeländer festhaltend.

„Verflucht noch mal, zum Teufel mit diesem verdammten Zimmer!“

Vivere militare est – Zu leben heißt zu kämpfen

Selbst nach zwei Wochen schaffte ich es nicht, mich an mein neues Leben zu gewöhnen. Weder mochte ich mein Zimmer, noch mein Bett, geschweige denn das Essen, wenn man dieses überhaupt so nennen konnte. Das einzige, was mir sympathisch war, war das Flechten der Körbe, zumindest am Anfang. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gemacht und ich stellte mich als sehr geschickt heraus, wenn es darum ging, die dünnen Zweige ineinander zu verhaken. Ich lernte, wie man welche Muster entstehen lassen konnte und auch, woher man solches Holzwerk bekam, wie man es am besten auswählte und welches Material für welchen Korb am Besten geeignet war. Zwar wurde die Arbeit mit der Zeit langweilig und man schnitt sich sehr häufig in die Finger und Handflächen, dennoch mochte ich sie. Das Flechten war monoton und ruhig, man konnte seinen Gedanken nachgehen oder sich unterhalten.

Letzteres tat ich oft mit Theodor, meinem Zimmernachbarn. Der etwa dreißigjährige Mann mit den dunklen Augen, dem schwarzen, lockigen Haar und dem leichten, südlichen Akzent war ein sehr nachdenklicher Mensch. Er sprach von sich aus eher selten, aber wenn man sich mit ihm zusammensetzte und ein Gespräch begann, stellte er sich als sehr intelligent und ruhig heraus. Er kam aus einem kleinen Dorf im Norden und war der Sohn eines Bauern. Er war in die Stadt gezogen, um etwas Besseres aus seinem Leben zu machen, aber wirklich funktioniert hatte es nicht. Aus Angst davor, seinen Vater zu enttäuschen, lebte er nun seit bereits drei Jahren in Brehms und hatte auch nicht vor, zu ihm zurückzukehren. Theodor war der Meinung, dass seine zwei Brüder sicherlich genug für ihn sorgen würden und es wäre nur eine Entlastung, wenn er nicht Heim kam.

Stattdessen hatte er eine Zeit lang als Lehrling in einem Gemüseladen gearbeitet, die Sache dann aber nach gut einem Jahr abgebrochen und sein Glück in einer Schmiede versucht. Da er auch dort nicht wirklich eine Zukunft fand, die er sich vorstellen konnte, wandte er sich irgendwann an die Deo Volente. Diese hatte ihn hier einquartiert, das war nun drei Monate her und man hörte deutlich, dass Theodor seine Lage missfiel. Wann immer wir alleine waren und darüber sprachen, machte er mir deutlich, dass er alles tun würde, aber nicht sein restliches Leben lang Körbe flechten. Sein Problem lag allerdings darin, dass er schlichtweg keine Alternative fand, wohin er sonst gehen könnte.

Ein wenig Leid tat er mir schon, aber ich versuchte, mich von seinen Problemen zu distanzieren. Natürlich könnte ich mit ihm zusammen nach Arbeit suchen oder ihm etwas beibringen, um seine Chancen zu verbessern, dafür hatte ich allerdings keine Zeit. Ich hatte eigene Probleme und vor allem: Pläne.

Wir arbeiteten von Morgens bis zum Mittag, dann bekamen wir einige Stunden frei und wann immer es mir gelang, suchte ich das Weite. Manchmal suchte ich Francesco auf, um zu fragen, ob es etwas Neues von Nevar gab oder aber ich kaufte mir ein wenig Brot, denn im Arbeitshaus essen tat ich nichts. Geld dafür zu bekommen war einfach. Oft flocht ich einen Korb mehr, als verlangt und diesen durfte ich dann behalten und verkaufen. Ich machte kleine Körbchen für Puppen oder Blumengestecke. Sie brachten nicht viel, aber genug, um mir ab und zu etwas Frisches zu gönnen.

Am Nachmittag arbeiteten wir abermals ein wenig und anschließend, wenn ich abends erneut frei bekam, lief ich durch die Stadt. Nevar hatte mir gesagt, dass es wichtig wäre, in Bewegung zu bleiben. Er behauptete, dass der Körper sich daran gewöhnen würde und da ich ihm glaubte, zwang ich mich jeden Abend, zu rennen. Da es mir unsinnig erschien, um das Haus herum zu laufen, behauptete ich, ich hätte ein Treffen mit einem Weibsbild, das ich auf keinen Fall verpassen wollte. Theodor und Aaron lachten darüber, wenn ich los sprintete, sagten aber sonst nichts dazu.

Alles in Allem konnte man sagen, dass ich meine Zeit sinnvoll nutzte, indem ich Geld beiseite legte, mich vorbereitete und meine Gedanken sortierte. Dass es von Nevar keine Spur gab, machte mich allerdings ein wenig nervös. Es war meine Aufgabe, ihn auszuspionieren, aber wieso schickte Domenico ihn nicht zu mir? Vielleicht war es auch auffällig, wenn er das tun würde, also wartete er, bis Nevar von selbst zu mir kam?

Dieser Gedanke erschien mir zwar am logischsten, aber jene, dass ihm vielleicht etwas zugestoßen war oder er wusste, was ihn erwartete, weswegen er nicht mehr kam, kreisten ebenfalls in meinem Kopf herum. Was, wenn er nicht auftauchen würde, da er wusste, was ich tun sollte? Und was, wenn ich ihn nicht wieder sah? Noch immer hatte ich das Buch von Domenico, in denen die Fragen standen, die ich Nevar stellen sollte.

Nach den gut zwei Wochen hatte ich mich an den neuen Rhythmus meines Lebens bereits so sehr gewöhnt, dass ich schon vor Aaron wach wurde und oft saß ich gebeugt auf dem Hocker im Erdgeschoss und war bereits dabei, die Körbe herzustellen, wenn er hinunter kam.

Manchmal aber war das anders. Es gab Morgen, an denen es mich hinaustrieb und ich war oft so dreist, dass ich den Schlüssel nahm, die Tür aufschloss und Spaziergänge machte. Ich schlenderte dann durch Brehms oder ging in den Glockenturm der kleinen Kapelle etwas weiter, von wo aus man den Sonnenaufgang beobachten konnte. Es sah wunderschön aus. Etliche Häuser erstreckten sich vor mir, wie auf einem der Gemälde aus der Deo Volente. Einzelne Vögel kreisten über der Stadt, weit fort sah man die Silhouetten der Berge und die Sonne färbte alles in sanftes orange und rosa. Ein Bild, als wäre es gemalt. Stechend weiße Wolken mit gelblichen Bäuchen schwebten über den Himmel, es roch nach Frische und Stück für Stück wurden die Menschen unter mir wach. Die Verkäufer öffneten ihre Ladentüren und stellten ihre Waren aus, auf dem Marktplatz begann das Leben und man hörte Kinder. Weit über mir, hoch im Turm, schlug die Glocke und kündigte den Tagesbeginn an, dann wurde es wieder still. Der tiefe Ton hallte noch lange nach und der Wind wehte durch den kleinen Raum um mich herum, als würde er tanzen. Ich mochte das Gefühl, die Einsamkeit. Manchmal verschränkte ich die Arme auf dem Fenstersims und starrte fast eine Stunde lang einfach nur hinaus. Oder aber, ich setzte mich auf den Boden neben der Treppe, die nach unten führte und dachte nach. Der Raum war überschaubar, denn es gab keine Möbel. Es war nur eine Zwischenetage und eine Leiter führte höher in das Glockenzimmer.

An einem Tag jedoch war etwas bedeutend anders.

Wieder schlich ich mich einfach fort und suchte die Kapelle auf und als ich ihren Höhepunkt erreichte, war es noch immer dunkel. Zwar färbte der Himmel sich allmählich rot, allerdings würde die Sonne noch einige Zeit auf sich warten lassen. Auf leisen Sohlen verließ ich die Treppe, ging zu meinem Fenster und starrte hinaus. Es gab nur wenige Lichter. Einzelne Fenster waren beleuchtet, die meisten Laternen bereits wieder aus und Rauch stieg aus einem großen Schornstein in die Luft – Frankys Backstube. Ich konnte sehen, wie das Wasser der Flüsse spiegelte und glitzerte und auch, wie ein Hund durch die Straßen rannte.

Als dann plötzlich jemand sprach, zuckte ich so sehr zusammen, dass ich fast hinunter gefallen wäre. Eine Stimme hinter mir sagte:

„Was sind Ziele der Samariter?“

Ich fuhr herum und starrte Nevar entgegen. Der Mann hatte seine Kapuze heruntergeschlagen und saß auf dem Boden, am anderen Ende des Zimmers. Es dauerte, bis ich begriff. Er blätterte in einem Buch und erst, als ich an meinen Hosenbund griff und registrierte, dass es nicht mehr da war, verstand ich, in welchem: Es war jenes Buch, das Domenico mir gegeben hatte. Darin war Francescos Wegbeschreibung, aber auch die Dinge, die ich über die Samariter herausfinden sollte. Nevar las weitere Fragen vor, ein wenig spöttisch vielleicht: „Wer ist ihr Anführer? Wo ist ihr Hauptsitz? Wie lange dient er ihnen bereit?“, dann schlug er es zu, hielt es leicht hoch und zog amüsiert eine Augenbraue nach oben. „Ist das Euer Ernst?“

Ich fühlte mich ertappt und schlecht, obwohl es natürlich nicht ansatzweise meine Idee gewesen war. Unsicher stand ich mit dem Rücken am Fenster und suchte nach den passenden Worten, ehe ich stotterte: „Nevar, ich kann es Euch erklären. Es ist wirklich nicht so, wie es gerade aussieht! Ich versuche bereits seit Tagen, Euch zu erreichen. Das alles ist eine äußerst peinliche Angelegenheit!“

„Allerdings.“, unbeachtet ließ er das Buch neben sich auf den Boden fallen. „Ziemlich peinlich sogar. Offensichtlicher geht es nun wirklich nicht. Wieso schreibt der alte Narr nicht gleich drüber ‚Fragen zum Ausspionieren der Samariter’? Hat er nicht darüber nachgedacht, was passiert, wenn jemand das bei Euch findet?“

„Ach, Ihr wisst davon?“, erleichtert atmete ich auf und sah zu dem kleinen Schreibwerk, dann wieder den Mann an. Er sah aus wie immer, als wäre unser letztes Treffen noch gar nicht so lange her.

„Ich war bei Francesco und er sagte mir, Ihr sucht mich. Auch sagte er mir, was Domenico vorhat. Ich muss sagen, es amüsiert mich. Wie lange hat der Mann gebraucht, zu verstehen, was hier vor sich geht? Sieben Jahre?“

Als er aufstand und das Buch wieder an sich nahm, starrte ich Nevar unsicher entgegen. Wie meistens wirkte er enorm gelassen auf mich und nicht so, als würde ihn die ganze Angelegenheit beunruhigen. Ich sollte ihn verraten, aber es schien ihm nichts auszumachen. Stattdessen lehnte er sich neben mir an die Wand, schlug das Buch erneut auf und blätterte gelangweilt wieder darin herum. „Und?“, wollte er wissen, ganz nebenbei. „Wie viele der Fragen habt Ihr bereits beantwortet?“ Ich registrierte nur halb ein leises, kaum merkliches Geräusch, eine Art Klappern. Es verriet mir, dass er seine Waffen bei sich trug, irgendwo unter dem Umhang. Ob er einen Auftrag gehabt hatte?

„Bisher keine. Ich wollte erst mit Euch reden.“

„Ich verstehe.“, bei der letzten Seite blieb er stehen und zog die Stirn etwas kraus. Ich hatte das Büchlein mehrmals gelesen und wusste, was dort geschrieben worden war. Es handelte sich um Vermutungen und Regeln, an die ich mich halten sollte. Keiner durfte wissen, was mein Auftrag war und das Buch durfte auf keinen Fall in die Hände eines Samariters gelangen.

Tja, das hatte ja glorreich funktioniert!

Nevar schmunzelte. Wahrscheinlich hatte er gerade genau diese Zeile gelesen und meine Wangen wurden etwas rot. „Nun.“, begann er dann leise. „Da Ihr so ein ausgezeichneter Spion seid, fangt mal an, mich unauffällig auszuhorchen.“, der Attentäter drückte mir das Buch gegen die Brust und unbeholfen ließ ich es unter meinem Umhang verschwinden. „Ach ja und denkt dran: Ich darf davon nichts wissen.“, er schien sich wirklich einen Spaß aus der ganzen Sache zu machen. „Dafür habt Ihr mich doch sehen wollen?“

„Ehrlich gesagt, nein.“, gab ich leise zur Antwort. „Anfangs habe ich überlegt, ob ich Euch verraten soll. Wir hatten bereits in der Deo Volente darüber gesprochen und Ihr sagtet, es wäre in Ordnung. Aber ich habe mich dagegen entschieden.“

„Das ist nicht das, wofür ich Euch zur Deo Volente gebracht habe.“, Nevar sprach sehr ernst, aber ruhig. Man merkte, dass er mich zu nichts drängen würde und meine Entscheidung akzeptieren, egal, wie sie ausfiel. „Ihr wolltet ein Leben auf religiösen Säulen. Wenn Ihr Domenicos Befehle verweigert und keine Informationen zu den Samaritern abliefert, wird Euch das viele Probleme einbringen.“

„Das ist mir gleich.“, ich sah, wie er abermals eine Augenbraue hochzog, doch da ich es ernst zu meinen schien, verschwand Nevars Spott. Er wollte mehr hören. Ich erklärte: „Ich habe mit Francesco gesprochen. Ich weiß jetzt, wer die Samariter sind und was sie tun. Ich weiß, wieso Domenico sie fürchtet und ich weiß, worin ihr Sinn besteht. Sie sind Kopisten, richtig?

Und ich bin ebenfalls Kopist, Nevar.

Ich habe eingesehen, dass Ihr Recht hattet. Es bringt nichts, darauf zu hoffen, dass der Herr einem hilft. Man muss selbst etwas tun, wenn man glücklich werden will.“

Während wir sprachen, wurde es allmählich heller. Ich registrierte nur halb, dass hinter uns die Sonne aufzugehen begann und ihr sanftes Licht warf unsere Schatten in den Raum. Anfangs nur schwach, aber bald würden sie härter und stärker werden, greifbarer.

Nevar stieß sich von der Wand ab, stellte sich vor mich und stellte den Kopf etwas schief. Es war lange her, dass seine Augen so in mir forschten. „Und das bedeutet was? Ihr wollt den Samaritern beitreten?“, als ich nickte, stieß mein Gegenüber abfällig die Luft aus. „Ihr sagtet, dass Ihr Euch in diese Geschichte nicht einmischen wollt, schon vergessen?“

„Aber ich habe mich umentschieden.“

„Ihr könnt nicht an die Leute glauben, die Euch gerade am meisten voranbringen, Falcon. Sobald jemand Euch ein besseres Angebot macht, seid Ihr auf und davon, ist es nicht so? Es tut mir leid, aber in den Samaritern findet ihr genauso wenig Euer Ziel, wie in der Deo Volente. Nein, noch weniger. Außerdem: Ihr seid Christ oder nicht?“

„Natürlich bin ich Christ!“, da meine Antwort patziger klang, als sie gemeint war, versuchte ich besonders ernst auszusehen, während ich fortfuhr: „Aber die Samariter doch auch? Wieso sonst sollten sie die Heilige Schrift kopieren? Francesco hat mir alles erzählt, Nevar. Ich weiß jetzt, wer die Samariter sind, was sie tun und auch, was ihr Ziel ist. Sie wollen das Volk aufklären! Und was könnte wundervoller sein, als daran teilhaben zu können?“

„Ein freies Leben und die Chance, es so zu gestalten, wie Ihr wollt?“, noch immer war Nevars Stimme eher wenig begeistert. Er verschränkte die Arme, sah an mir vorbei hinaus und kurz schimmerte es in seinen dunklen Augen. „Das abgemachte Jahr bei Domenico ist bald vorbei, Ihr habt es fast geschafft. Wollt Ihr wirklich so kurz vor dem Ziel alles aufgeben, um Eurem Drang nach Rebellion nachzugehen?“, dann wechselte sein Blick wieder zu mir zurück. „Seid ehrlich zu Euch selbst, Falcon. Ihr habt das Leben eines Gesuchten satt gehabt und wolltet neu anfangen. Als Samariter wärt Ihr nicht nur erneut ein Gesuchter, nein, Ihr wärt obendrein auch noch ein Verräter. Wisst Ihr, was Domenico tut, wenn er erfährt, was Ihr treibt? Glaubt mir, Stewarts Folter damals ist nichts dagegen. Bleibt bei Eurem jetzigen Leben. Tut, was er will und dann seid ein freier Mensch. Sucht Euch ein kleines Schreibstübchen, kopiert Eure Bücher, seid zufrieden, zeugt Kinder, was weiß ich. Für das Leben als Samariter seid Ihr nicht geschaffen.“

Wahrscheinlich war es ein ernst gemeinter Rat, allerdings wirkte er nicht so, nicht auf mich zumindest. Ich wandte mich ab, drehte mich mit dem Rücken zu ihm und starrte zur Stadt hinunter. Es war so weit. Der helle Himmelskörper hatte sich erhoben und färbte nun alles mit seinem hellen Licht. Häuser und Bäume, Fenster, Dächer, alles wurde wie pures Gold und strahlte. Als würden Juwelen in den Flüssen schwimmen, funkelten sie vor sich hin und für einen kurzen Augenblick hatte Brehms wieder etwas Beeindruckendes. Brehms, die Stadt des Handels und des Reichtums, der Kultur und der Ordnung. Genau so hatte ich mir die Stadt immer vorgestellt, es war unvergleichlich.

Es dauerte etwas, bis ich leise zischte: „Ihr traut mir das also nicht zu, ja?“, und obwohl ich es nicht wollte, gab ich mit meiner Stimme preis, dass ich enttäuscht war. Als Francesco mich aufklärte, hatte ich mich gefreut, dass Nevar mir so viel zutraute – aber das war wohl falsch gewesen. Gut, ich hatte viele Fehler gemacht und vieles vergeigt, aber war das wirklich so schlimm gewesen, dass ich in seinen Augen für Abenteuer nicht geschaffen war? Wofür hatte ich so vieles gelernt?

Doch dann verstand ich.

Ein Kopfschütteln meinerseits, anschließend hauchte ich: „Nein. Nein, Ihr glaubt an mich, richtig? Ihr habt mir so vieles beigebracht. Ich habe nachgedacht, Nevar. Sehr viel nachgedacht. Ich glaube, dass Ihr mich testet – jetzt, aber auch die ganze Zeit über, immer wieder. Die Bücher im Haus damals, sie lagen mit Absicht dort, habe ich Recht? Damit ich sie lese und damit Ihr erfahrt, wie ich dazu stehe. Ihr wolltet mich davon überzeugen, dass mein Glaube falsch ist – vergebens. Dann brachtet Ihr mich zu Domenico. Wahrscheinlich, weil ich es mir wünschte, ein Leben auf Gottes Säulen zu erbauen. Aber ich glaube auch, damit ich merke, dass ein Leben so nichts bringt. Immer wieder gabt Ihr mir Zeichen, nicht wahr? Zeichen, damit ich verstehe. Kleine Proben, um zu wissen, woran Ihr seid.“, langsam drehte ich mich zu ihm. Das Kappelenzimmer schien zu glühen, so sehr strahlte es durch die Sonne. Ich spürte ihre Wärme in meinem Kreuz, während ich flüsterte: „Und auch das jetzt ist ein Test. Ihr wollt wissen, ob ich zögere, aber das tue ich nicht. Es stimmt, dass ich sagte, ich kann Euch in Eurem Kampf nicht unterstützen und dabei bleibe ich. Mich gehen die Asahacia nichts an und für Euer Volk zu sterben wäre Dummheit, da mich nichts mit ihm verbindet. Aber dieser Krieg und jener gegen die Inquisition, das sind zwei verschiedene Dinge.“, kurz schwieg ich, doch Nevar ebenfalls. Er sah mich nur an und ich wünschte mir eine Reaktion, wenigstens einen kleinen Blick. Ein Zeichen, das mir sagte ‚Du hast Recht, Sullivan!’ oder ‚Ihr redet Unsinn!’, doch es blieb aus. Seine Augen ruhten seelenruhig in meinen und sein Mund verzog keinerlei Mine. Versucht, entschlossen zu wirken, erklärte ich: „Ich bin noch immer gläubig. Ganz gleich, wie viel die Inquisition in Gottes Namen anstellt, ich glaube noch immer an ihn. Aber nur, weil ich an den heiligen Vater glaube, muss ich nicht an die heilige Kirche glauben, an ihre Folter, ihre Scheiterhaufen, an Ablassbriefe oder an ihre Predigten. Ich glaube an die Gebote und ich glaube weiterhin ans Fegefeuer, daran wird sich wohl nie etwas ändern. Aber ich habe mich verändert.

Woran ich aber nicht mehr glaube, Nevar, sind die Unterdrückung und die Furcht, die von Seiten der Kirche kommen. Und genau daran möchte ich etwas ändern. Das Volk hat lange genug gelitten und wenn ich die Samariter unterstütze, dann habe ich die Chance etwas zu tun, was mich erfüllt. Die Chance, etwas zu bewegen und etwas zu verändern. Solange Menschen wie O’Hagan über uns richten, werde ich niemals frei sein. Ich habe es begriffen.

Also bitte lasst mich Euch unterstützen.“

Noch immer reagierte er nicht. Der Mann vor mir stand da, wie aus Eisen gegossen, seelenruhig und als ein Windhauch sich ins Zimmer verirrte, bewegte sich nicht einmal sein Umhang. Als er dann endlich etwas hauchte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Seine Stimme war leise, bedrohlich, vor allem, da er meinen Namen sagte. Nevar sprach außergewöhnlich langsam und jedes Wort schien seine eigene, schwere Wirkung auf mich zu haben und mich hinunter zu drücken: „Noch wandelt Ihr zwischen Abgrund und Himmel. Aber wenn Ihr Euch wirklich dazu entschließt, dann gibt es kein Zurück mehr, nie mehr. Man kann aus der Hölle nicht mehr fliehen, Sullivan.“

Ich hielt mich am Fensterbrett hinter mir fest, atmete tief durch und nickte.

Anschließend flüsterte ich kaum hörbar zurück:

„Ja, da mögt Ihr Recht haben... Aber aus einem falschen Himmel erst Recht nicht.“

Neue und alte Bekannte

Nach einigem Schweigen hatte Nevar sich abgewandt, mich angewiesen meine Sachen zu holen und ohne Widerworte hatte ich gehorcht. Es wäre zu gefährlich, in Aarons Haus zu bleiben und gleichzeitig den Samaritern zu helfen. Das Buch Domenicos hatte er mir abgenommen und während er es musterte und in der Kapelle auf meine Rückkehr wartete, eilte ich zu Aarons Haus. Es erfüllt mich mit Stolz, dass der Attentäter mit meinen Plänen einverstanden war, aber auf der anderen Seite war ich auch sehr unsicher.

Damals, als wir uns kennen lernten und Nevar mir das erste Mal das Angebot gemacht hatte, ihn zu begleiten, meinte er, dass ich mich damit abfinden müsste, nicht zu wissen, was wir taten. Zwar wusste ich nun, was die Ziele der Samariter waren, aber mir war auch bewusst, dass ich über vieles nicht aufgeklärt werden würde. Ohne zu zögern hatte ich mich einer Gruppe angeschlossen, deren Leben Gefahr für mich bedeutete. Ich wollte mir nicht ausmalen, was mit mir geschah, wenn Domenicos Männer mich zu fassen bekamen. Folter war das Mindeste, das wusste ich. Wahrscheinlich würde man versuchen, so viel herauszufinden wie möglich – und die Samariter wären sehr unvorsichtig, wenn sie mich gleich zu Anfang über ihre genaueren Pläne aufklären würde.

Das hieß, ich musste mich beweisen. Ich musste einen guten Eindruck hinterlassen und selbstbewusst wirken, zuverlässig und stark. Ob Nevar mir helfen würde? Gut, er hatte ja gesagt, aber glaubte er wirklich an mich? Oder war er vielleicht sogar verschwunden, wenn ich zur Kapelle zurück kam?

Am Haus angekommen schlich ich mich auf mein Zimmer und begann, mein weniges Hab und Gut zusammenzupacken. Viel war es nicht:

Etwas Brot, ein wenig zurückgelegtes Geld und meine Kleider, die ich gleich anzog. Die Fetzen, die mir Aaron gegeben hatte, ließ ich einfach zurück. Dafür nahm ich ein altes Hemd an mich, das ich mir für wenige Heller gekauft hatte.

Anschließend schlich ich wieder hinaus und lief so schnell, wie ich konnte. Mein Herz raste und ich war aufgeregt, wie ein kleines Kind. Würde mich Nevar jetzt wirklich zu den Samaritern bringen?! Ich hatte kein schlechtes Gewissen Domenico gegenüber und die Zweifel, die ich hatte, wegen meines Namens, schob ich beiseite. Es stimmte: Das Jahr unter Domenico war fast vorbei gewesen und es fehlte nicht mehr viel und meine Absolution würde in meinen Händen liegen. Ich könnte ein Leben als Falcon O’Connor beginnen und glücklich irgendwo leben. Allerdings und dieses Wissen überwog bei Weitem: Ich dürfte niemals sagen, wer ich wirklich war. Selbst wenn Domenico mir Absolution für Sullivan O’Neil erteilt hätte, hätte O’Hagan nicht aufgegeben, mich zu bekommen. Ich hätte ein Leben auf Lügen aufgebaut und wahrscheinlich weiterhin unter der Obhut der Inquisition.

Gut, vielleicht wäre ich frei gewesen und hätte mir eine Arbeit nach meinem Geschmack gesucht, aber früher oder später hätten meine Vergangenheit, mein Glaube, die Kirche oder O’Hagan mich eingeholt und alles wäre umsonst gewesen.

Diese Gedanken die ganze Zeit über immer wieder hin und her drehend folgte ich Nevar durch die Straßen. Er hatte am Eingang der Kapelle gewartet und war losgegangen, noch ehe ich ihn erreichte. Ein wenig unbeholfen rannte ich die letzte Strecke bis zu ihm und versuchte Schritt zu halten.

Ob der Flechtmeister schon gemerkt hatte, dass ich weg war? Ob Theodor gehört hatte, wie ich meine Sachen packte? War Domenico überrascht?

Wir sprachen den ganzen Weg über kein Wort und Nevar fragte auch kein weiteres Mal nach, ob ich sicher war. Er nahm meine Entscheidung hin und hoffte wahrscheinlich, dass ich bei ihr bleiben würde. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen liefen wir durch Brehms umher, gingen über einige Brücken, vorbei an Skulpturen und Wappen, Laternen oder Wandmalereien. Unbewusst fragte ich mich, wie es wohl dem alten Henry ging und auch, ob Francesco nun wütend auf mich war. Hatte er es vielleicht geahnt, dass ich früher oder später Nevar folgte? Hatte er gehofft, ich wäre ein vollwertiger Christ geworden?

Wir verließen das Reichenviertel nach einer Weile und die weißen Steine wurden durch Holzbretter ersetzt. Mitglieder der Bettlergilde reihten sich auf den Straßen, baten um Almosen und zeigten ihre zahnlosen Münder und entstellten Körper. Ein Kind fragte nach Essen, ein anderes rempelte Nevar an in der Hoffnung auf Beute und bekam dafür eine feste Kopfnuss. Mir wurde unwohl, als ich merkte, dass wir immer tiefer in die Armengegend eindrangen. Hier gab es kaum Dekorationen, viele Häuser waren nicht mehr bewohnt. Zugemauerte Fenster, zugenagelte Türen und heruntergekommene Gestalten, die sich darin eingenistet hatten, zeugten von Armut und Krankheit.

Ich sah viele Kinder, was mich an mein Leben im Waisenhaus erinnerte. Sie waren dreckig und trotz Kälte auf bloßen Füßen, wahrscheinlich Streuner und kleine Diebe. Statt Läden gab es etliche Kneipen und eine war dreckiger, als die andere.

Zu meiner Enttäuschung bog Nevar ausgerechnet in eine dieser ein und ich konnte nicht anders, als kurz vor ihr stehen zu bleiben und sie angewidert zu mustern. Die Mauern waren alt und hielten nur noch gerade so, die Fenster waren direkt über dem Boden und viele hatten nicht mal mehr Fensterläden. Die Scheiben waren so verschmutzt, dass man nicht mehr hinein sehen konnte und an einer Wand sah ich herunter gefallene Ziegel.

‚Der Vagabund’. Ein seltsamer Name, der mir gefiel. Dennoch spürte ich deutlich, dass ich etwas anderes erhofft hatte. Vielleicht ein Gasthaus wie die Rum-Marie?

Vor dem Gebäude gab es eine kleine Mauer, unter der ein Mann lag, entweder betrunken oder tot und kaum öffnete Nevar die Tür ins Innere, hörte man lautes Gerede und Musik. Ich atmete tief durch, ehe ich folgte, mit dem Schlimmsten rechnend.

Alte Hozldielen, staubige Luft, Spinnenweben in den Zimmerecken und heruntergebrannte Kerzen, dennoch war es erträglich. Weder stank es nach Erbrochenem, noch nach Urin. Stattdessen roch alles einfach nur alt und modrig. Ich musste mich ducken, um meinen Kopf nicht an der niedrigen Tür zu stoßen und als diese dann hinter mir zufiel, blieb ich erneut stehen und sah mich um. Um in den Schankbereich zu kommen, musste man einer achtstufigen Treppe nach unten folgen und mit jedem Schritt schien es dämmriger zu werden. Sogar unter ihr lungerten Gestalten herum, an manchen Tischen spielte man Karten, in anderen tauschte man Waren gegen Geld und überall, wirklich überall, floss das Bier in Strömen. Die Musik eines Fidelspielers war so laut, dass man fast rufen musste, um etwas zu verstehen und die Schreie und wilden Gesänge der Männer dazwischen taten den Rest.

Nevar schlug seine Kapuze vom Kopf, ehe er die Hand hob und dem Wirt ein Zeichen gab. Dieser, ein dünner, schlaksiger Kerl mit lockeren Kleidern, nickte knapp und zeigte zu einem der Plätze. Der Rauch in der Luft brannte einem in Hals und Augen und als ich Nevar durch die engen Tische folgte, musste ich kurz husten und hielt mir den Zipfel meines Umhanges vor den Mund.

Schweigend folgte ich meinem Begleiter weiterhin und als wir dann den gemeinten Platz erreichten, schlug auch ich meine Kapuze um. Wir waren nun in der fast hintersten Ecke des Gasthauses, noch immer in Sichtweise der Tür und standen drei Männern gegenüber. Jeder von ihnen starrte mich an. Ich konnte nicht anders, als zurückzustarren, während ich meine Kapuze nun ebenfalls zurückzog.

Einer von ihnen, der Kleinste der Runde, hatte dunkelbraunes, krauses Haar, das ihm in einigen Strähnen in die Stirn hing. Den Rest hatte er zu einem Zopf gebunden und ich schätze ihn um die dreißig Jahre. Seine Augen waren aufmerksam und golden, aber auch seine leicht dunkle Haut ließ auf einen Ächaten schließen. Im ersten Moment wirkte er wie ein Zigeuner auf mich, in der Kleidung eines Seemanns oder Reisenden.

Als zweites gab es noch einen zweiten, wesentlich größeren Mann, ein richtiger Hüne. Sein Haar war tiefschwarz und kurz, seine Augen etwas zwischen blau und grau und sein Blick düster. Er starrte mich an, als müsste er erst darüber nachdenken, wer ich war und was ich wollte. In seinem Gesicht waren außer den Bartstoppeln viele, kleine Narben und er wirkte wie ein Krieger auf mich.

Der dritte und letzte Fremde vor mir, war kein Fremder. Ich sah ihn unsicher an und als ich ihn dann erkannte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. „Ihr?!“, platzte es einfach aus mir heraus.

Slade schien genauso überrascht. Er saß in der Ecke zwischen den zwei anderen, hatte sich an die Wand gelehnt und seinen Fuß auf einem der Stühle abgesetzt. Als er mich erkannte, ließ er den Bierkrug sinken und lachte: „Ihr verfolgt mich also nicht, nein?“

Nevar wollte ruhig wissen: „Ihr kennt euch?“

Und der scheinbare Straßendieb gab zur Antwort: „Allerdings! Das ist der Kerl aus Annonce, der in Scheiße getreten ist. Es ist gut ein halbes Jahr her – aber diesen Gestank vergisst man nicht!“

Ohne es zu wollen, wurden meine Wangen rot. Besonders, als der Mann mit den braunen Locken etwas lachte und mit starkem, ächatischem Akzent sagte: „Ah, davon hast du mir erzählt. Der, der dich verfolgt hat“, es klang lustig, wie er sprach: Das ‚h’ sprach er aus, wie jenes von ‚ch’ des Wortes ‚Drachen’ und das i und r betonte der Mann besonders stark. Im ersten Moment war ich irritiert und ich musste genauer hinhören, um ihn verstehen zu können. „Nun und wieso schleppt Ihr den Kerl zu uns, Nevar?“

Während alle sehr amüsiert waren und ich nur umso schweigsamer, schien es, als hätte Nevar nicht einmal zugehört. Er sprach ganz ruhig, als er sagte: „Er gehört zu mir, beziehungsweise: Zu euch. Sein Name ist Falcon. Habt ihr einen Platz für ihn?“

„Einen Platz, aye? Etwas kurzfristig, so von heute auf morgen.“, der Mann wog den Kopf und sein Blick wechselte wieder zu mir, diesmal deutlich nachdenklicher. „Er sieht nicht aus, als könnten wir ihn brauchen.“

„Ich bin Kopist.“, versuchte ich mich wichtiger erscheinen zu lassen. „Ich kann schreiben und lesen. Rechnen auch.“

„Kopist?“, nun sah er kurz zu Slade, dann wieder zu Nevar. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Wenn er von Euch kommt, dann wird er in Ordnung sein.“

Kurz knallte es und alle drehten die Köpfe. Einer der Männer hatte beim Karten spielen verloren, war aufgesprungen und beschwerte sich lauthals. Da seine Freunde ihn beruhigten, sahen alle wieder zu mir. Der Mann neben mir erklärte: „Falcon braucht eine Unterkunft, er musste seine aufgeben. Außerdem hat er derzeit kein Einkommen. Das hier wird sozusagen sein Neuanfang, also seid nicht zu streng mit ihm.“

Slade lachte. „Wir werden es versuchen.“, neckisch grinste er mir entgegen: „Aber so verwöhnt wird er nicht sein, er ist Annoncer.“

Doch erneut wirkte Nevar eher unbeeindruckt. „Wie auch immer. Ich werde nach ihm sehen, sobald ich kann. Was den Auftrag angeht, den führe ich heute Abend aus. Meine Aufgabe ist hiermit erfüllt. Ihr hört von mir.“

Ein wenig unsicher vielleicht sah ich ihn kurz an, daraufhin aber wieder zu den dreien vor mir. Er wollte gehen und mich einfach allein lassen? Ich kannte diese Männer doch gar nicht und wusste nicht ansatzweise, was ich sagen sollte!

Aufmerksam beobachtete ich, wie der Lockige nickte, an seinen Gürtel griff und Nevar ein kleines Säckchen zuwarf und kaum hatte er erhalten, was er wollte, drehte er ab, klopfte mir noch einmal auf den Rücken und ging. Ich konnte nicht anders, als ihm zögernd nachzusehen. Mein Herz setzte kurz aus. War das sein Ernst?

Kaum drehte ich mich zurück, fielen mir die düsteren Augen des Dritten und ganze Zeit über stillen Mannes auf. Noch immer starrte er mich an, fast penetrant.

‚Er kann mich nicht ausstehen.’, vermutete ich und fragte mich, ob es an mir direkt lag oder daran, dass ich wohl aus Annonce stammte. Auch Slade musterte mich, allerdings grinsend, aber der einzige, der sprach, war jener mit dem krausen Haar.

Er lehnte sich etwas zurück, griff seinen Bierkrug und erklärte: „Aye, mein Name ist Yven Robin Mc’Daught, aber Nevars Freunde sind auch unsere Freunde, also für Euch Yven oder Robin. Slade kennt Ihr ja bereits, ah und der Dicke da, der heißt Serdon Gawain Mc’Galahad. Wahrscheinlich werdet ihr eh nicht viel miteinander reden, der Kerl ist recht schweigsam. Aber lasst Euch davon bloß nicht täuschen, er ist kein Idiot.“

Wahrscheinlich war es unsinnig, aber ich deutete dennoch eine Verbeugung an und stellte mich erneut vor: „Mein Name ist Falcon O’Connor.“

„Falcon.“, wiederholte der scheinbare Anführer der drei. „Gut, Falc’dhe, dann schlage ich vor, Slade zeigt Euch Euer Bett und wenn Ihr Euer Zeug abgelegt habt, kommt Ihr wieder her. Wir klären gerade den weiteren Verlauf.“, als wäre es eine Aufforderung gewesen, stellte Slade seinen eigenen Krug ab und stand auf, um Gesagtes in die Tat umzusetzen. Ich konnte nicht anders, als zu nicken und dem Mann zu folgen, der sichtbar amüsiert einfach losging. Während ich erneut durch die Tische schlängelte und meinem flüchtigen Bekannten eine Treppe hinauf zu den Zimmern folgte, konnte ich spüren, wie die Blicke der anderen zwei auf mir ruhten. Ich hörte, wie sie in einer fremden Sprache etwas flüsterten. Ob sie über mich sprachen?

Ich hatte mir die berüchtigten Samariter ehrlich gesagt ganz anders vorgestellt. Gelehrte mit Brillen vielleicht, ehemalige Klosterschüler oder zumindest eine geringe Mischung aus beidem. Stattdessen war ich in eine Gruppe aus Ächaten und scheinbaren Dieben geraten. Verbrecher, natürlich, aber solcher Art?

Slade lenkte mich von meinen Gedanken ab, denn er grinste mir entgegen und spottete: „So langsam glaube ich, Ihr seid besessen von mir. Was habt Ihr die letzten Monate getrieben, so ganz ohne mich? Mich heimlich beobachtet?“

„Natürlich, jederzeit.“, auch ich musste grinsen und konnte nicht anders, als einen verschwörerischen Ton anzunehmen, während ich flüsterte: „Ich dachte Tag und Nacht an Euch und konnte nicht anders, als Euch nachts beim Schlafen zuzusehen.“

Abwehrend erhob der Braunhaarige die Hände und machte einen erschrockenen Laut. „Wuoh! Jetzt mal langsam, das wird gruselig!“, aber es war nur scherzhaft gemeint, denn er lachte und blieb vor einer Zimmertür stehen. Diese aufschließend fuhr er fort: „Nun, wenn Ihr wirklich bei uns bleibt, habt Ihr genug Zeit, mich zu bewundern. Aber starrt mich nicht zu sehr an, sonst werden die Weiber eifersüchtig.“ Sein Zwinkern irritierte mich, doch ehe ich etwas erwidern konnte, verschwand Slade im Innern des Raumes. Ich folgte unsicher.

Vor mir lag ein normales Gästezimmer, allerdings um einiges voller, als es beim Bau wahrscheinlich geplant war. An einer der Wände stand ein Doppelbett, auf dem Boden lagen eine Decke und in einer anderen Ecke mehrere Knäuel Stoff. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um provisorische Betten handelte, denn außerdem lagen Schuhe herum, Taschen, auf dem einzigen Tisch standen Bierkrüge und alte Suppenteller. Zu meiner Verwunderung sah ich weder Pergamente, noch Bücher oder Schreibfedern, aber es wäre auch seltsam, wenn die Samariter hier arbeiten würden. Ich war doch bei den Samaritern?

Ich wollte es nicht, aber ich zweifelte. Nevar war nicht wirklich begeistert gewesen, doch es erschien mir seltsam, Slade direkt nach ihnen zu fragen. Er erklärte mir, dass abends per Los entschieden werden würde, wem das Bett gehörte. Der Rest musste es sich auf dem Boden bequem machen, also ließ ich mich einfach auf einen der Stühle sinken und sah mich weiter um. Es roch muffig und nach Schweiß, aber zumindest schimmelte nichts oder tropfte von der Decke. Schliefen wirklich alle vier Männer hier in diesem Raum?

Der Straßendieb hantierte am Fenster herum, öffnete es und machte sich dann am Tisch zu schaffen. Ich guckte zu, wie er die Krüge absuchte, doch da sie alle leer waren, ließ er es gut sein und sank aufs Bett. Das einzige, was er sich nahm, war ein Kanten Brot, doch er war mittlerweile so hart, dass er hinein biss und ihn dann abfällig zurück auf den Tisch warf.

Aufmerksam starrten wir uns an und mir kam der Gedanke, dass er sich nicht verändert hatte. Sein Blick hatte etwas schelmisch- und zugleich verschlagenes, was einen nervös machte aber dennoch irgendwie sympathisch war. Da er Stille nicht zu mögen schien, lehnte er sich ein Stück zurück, stützte sich auf die Hände und grinste:

„Nun, dann erzählt mal. Ihr wart Kopist beim alten Pepe – war’s Euch zu langweilig?“

Zögern. Sollte ich die Wahrheit sagen oder nicht? Nach einigen Sekunden gab ich zur Antwort: „Unter anderem.“

„Dass Ihr Abenteuer sucht, habe ich schon gemerkt. Hat der alte Henry sich nicht beschwert? Also ich würde mich beschweren, wenn jemand auf mir herum klettert.“, meine Wangen wurden rot und sein leichtes Lachen verstärkte es. „Aber keine Sorge: Ich lasse es keinen wissen, dass Ihr Statuen besteigt. Den Sinn verstehe ich zwar immer noch nicht, aber wenn es Euch Spaß macht? Jeder hat so seine Vorlieben. Die einen mögen Frauen und gutes Bier, die anderen Scheiße und Steine.“

„Ihr versteht es gut, Euch über andere lustig zu machen.“, brummte ich etwas missbilligend.

Slade lachte nur wieder - er nahm es nicht ernst, dass ich beleidigt war. Mit den Schultern zuckend merkte er an: „Das ist mein Charme, die Frauen fliegen darauf und gleichzeitig ist es der ideale Weg, um sie wieder los zu werden. Das ist das Wichtige bei den Weibern, Falcon: Ihr müsst stets wissen, wie Ihr sie wieder loswerdet. Habt Ihr ein Weib?“, da ich mit dem Kopf schüttelte, fuhr der Mann vor mir fort: „Gut so. Es ist wie mit dem Alkohol: Man muss es genießen können, ohne daran zu ersaufen. Ihr versteht, was ich meine? So muss das Leben aussehen! Wenig Leute um sich, aber dafür die Richtigen.“, ächzend erhob er sich wieder, klopfte mir dabei auf den Oberschenkel und lachte: „Aber was rede ich? Das wisst Ihr selbst, sonst wärt Ihr nicht hier. Das, was Ihr nicht braucht, könnt Ihr dort in die Kiste schließen. Keine Sorge, die da unten stehlen nicht. Wenn Ihr so weit seid, kommt wieder runter zu uns.“, und schon drehte Slade um und steuerte schlendernd die Tür an.

Da ich meinen Umhang nicht tragen wollte, erhob ich mich, um Besagtes zu tun und während ich aus dem schwarzen Stoff schlüpfte, drehte er sich noch einmal um.

„Ach ja, hier, für das Zimmer!“, er warf mir einen Schlüssel entgegen. Es kam so unerwartet, dass ich ihn nur im letzten Moment fing und ungewollt mit dem Fuß gegen die Bettpfanne stieß. Ein dumpfer Laut, dann rutschte der Nachttopf ein Stück vor und etwas schwappte über den Rand. Ich wich gerade noch rechtzeitig zurück.

Slade lachte so laut auf, dass ich zusammenfuhr und ehe er verschwand, hörte ich noch: „Ja, ja, Annoncer!“

Die Tür fiel zu und ich konnte nicht anders, als auf die Flüssigkeit zu starren, die allmählich im Boden einsickerte. Da war ich nun, scheinbar. Während ich die große Holzkiste in der hintersten Ecke ansteuerte, sie aufschloss und meinen Umhang, so wie mein zweites Hemd hineinfallen ließ, dachte ich darüber nach, ob es die richtige Entscheidung gewesen war.

Ich war nun bei den Samaritern – hoffte ich zumindest und allem Anschein nach gaben sie mir eine Chance. Dass sie es Nevar zuliebe taten, ehrte mich nicht gerade, aber ich war überzeugt davon, dass ich beweisen konnte, dass ich gut in meinem Fach war. Was mich irritierte, war, dass es Ächaten waren, mit denen ich nun zu tun hatte. So weit ich wusste, waren Ächaten Ketzer. Sie glaubten nicht an Gott und schon gar nicht an die Heilige Schrift. Wenn es stimmte, dass die Samariter diese kopierten und übersetzten, verstand ich nicht, wieso gerade diese Leute das tun sollten.

In der Hoffnung, dass man es mir erklärte, blieb ich kurz am Fenster stehen und starrte hinaus. Die Zimmer-Etage war im ersten Stock, also konnte ich auf die Straße hinunter sehen und auch die heruntergekommenen Häuser gegenüber.

Pergamente gab es hier nicht, gleiches galt für Bücher. In der Kiste waren nur Kleidungsstücke gewesen und unter dem Bett konnte ich auch nichts sehen. Das bedeutete, dass die Samariter ihrer Arbeit woanders nachgingen. Ich war aufgeregt. Mein Herz schlug die ganze Zeit ein wenig schneller, als sonst und eine Art Vorfreude packte mich. Nevar hatte mir eine Chance gegeben, mich zu beweisen. Er war einfach gegangen, damit ich auf eigenen Beinen stand und nun war dies die Gelegenheit, zu zeigen, was ich konnte. Er würde es nicht bereuen, mir diese Chance gegeben zu haben, auf keinen Fall. Vor meinen Augen saß ich bereits an einem Tisch und kopierte die heilige Schrift. Es gab ein kleines Büchlein, das ich allein geschrieben und gebunden hatte und alle staunten nicht schlecht, als sie es sahen.

Es hatte lange gedauert, aber ich hatte nun einen neuen Weg eingeschlagen und anders, als damals bei Domenico, war ich fest entschlossen, wirklich entschlossen. Viel mehr, als je zuvor. Vielleicht dauerte es, aber wenn wir damit etwas bewegen konnten, dann war es, einen Weg zu ebnen, der in die Freiheit führte.

Und ich wäre an diesem Weg beteiligt gewesen!

Ich, Falcon O’Connor, der Kopist!

Nein:

Ich, Sullivan O’Neil, der freie Mann und Gläubige!

Die ersten Schritte

Das „Wir bereden den weiteren Verlauf“ stellte sich als Essen und Trinken heraus. Kaum war ich unten und saß mit Serdon, Robin und Slade am Tisch, reichte man auch mir einen Bierkrug und wir ließen es uns gut gehen. Sie waren so nett, für mich zu zahlen und ich machte keinen Hehl daraus, dass ich beschloss, es zu genießen. Es gab Suppe und Fleisch, Brot, Bier und gute Unterhaltung.

Ich wagte es nicht, direkt zu fragen, ob Serdon und Robin Ächaten oder gar ehemalige Sklaven waren. Stattdessen versuchte ich es herauszufinden, ohne dabei zu offensichtlich vorzugehen. Robin erzählte mir, dass nicht sie allein ‚Die Gruppe’ waren und dass ‚Die Gruppe’ aus mehr Leuten bestand. Bei ‚der Gruppe’, was er immer sehr auffällig betonte, damit auch ich folgen konnte, handelte es sich ohne Frage um die Samariter. Der Mann machte mir deutlich, dass sie überall in Brehms verteilt waren. Das brachte einige Probleme mit sich, denn mittlerweile gab es so viele Anhänger und Halb-Anhänger, Schein-Anhänger, aber auch Feinde, dass man den Überblick verlor. Nicht nur, dass es gefährlich war, nein: Es war auch gänzlich uneffektiv.

Am Anfang, als ‚die Gruppe’ nur aus wenige Gelehrten bestand, war es sicher gewesen. Niemand hatte die Werke zurückverfolgen können, sie waren wie eine Art Schatten. Aber nun, bei einer so großen Anzahl, griff die Inquisition immer wieder Samariter auf, stellte ihnen Fragen und kamen letzten Endes hinter ihr Geheimnis und auch Vorhaben. Aus diesem Grund handelten sie verdeckter und man könnte sagen, dass alles etwas zum Stillstand kam. Zwar kopierten sie noch immer Bücher, aber noch mehr im Geheimen, als ohnehin schon. Das Hauptproblem waren ‚die Redner’, wie Robin sie nannte. Sie sahen sich selbst als Propheten, stellten sich auf die Straßen und begannen den Herrn zu preisen. Nicht nur, dass es mehr als nur offensichtlich war – nein, sie taten es im Namen der Samariter und des Herrn. Man musste sie nur festnehmen und wenn man Pech hatte, wussten sie alles, was es zu wissen gab.

Er selbst, ebenso Serdon und Slade, gehörten noch nicht lange ‚der Gruppe’ an. Sie waren erst seit einigen Jahren dabei, aber hatten bereits zwei solcher Fälle miterlebt. Die Menschen drehten einfach durch, erklärte er mir. Sie waren überzeugt davon, dass Gott sie schützen würde und dachten nicht mehr nach.

Das war wohl auch ein Grund, wieso ich kurzerhand genaustens ausgefragt wurde, woher ich kam und wie mein bisheriges Leben verlief. Unsicher, ob sie mich auch für so einen ‚Redner’ halten könnten, beschloss ich, meinen Glauben nicht zu sehr zu beteuern. Ich erzählte, dass ich in einem Kloster groß geworden war, es aber verlassen hatte, um zur See zu fahren. Irgendwie trieb es mich nach Brehms und hier arbeitete ich lange Zeit in einem Skriptorium. Auf die Frage, wieso ich mich nun für die Samariter entschieden hatte, sagte ich nur, dass ich etwas Sinnvolles machen wollte. Ich wollte etwas tun, das die Welt verändert. Etwas, dass dem Volk Freiheit, Glauben aber auch Ehrlichkeit bringen kann. Etwas, was mir geholfen hätte, als ich am Boden lag, denn die Inquisition hatte es nicht getan.

Da wir nicht zu laut über die Inquisition sprechen konnten, fing Slade ein Gespräch über Frauen an – sein Lieblingsthema und ungewollt wurde ich in sämtliche Niederlagen und Höhepunkte seiner Lebensgeschichte eingeweiht. Ich erfuhr von seiner ersten großen Liebe, die einen anderen heiratete, von seinem ersten Mal in einer Scheune, das unvergleichlich gewesen war und auch von seiner ersten Krankheit, als eine Dirne ihn förmlich gegen seinen Willen ritt. Wir lachten viel, denn mit jedem Krug Bier verschwand die Ernsthaftigkeit. Am Ende lachten wir mehr, als dass wir sprachen und erst, als die Müdigkeit sich über unseren Geist legte, wurde es ruhiger.

Serdon sprach die ganze Zeit über kein einziges Wort. Es war mir unangenehm und machte mich nervös, doch er starrte mich immer wieder minutenlang an. Wann immer ich zu ihm sah, schien er zu mir zu sehen und wenn Robin oder Slade ihn ansprachen, brummte er lediglich oder stieß die Luft aus. Ich beschloss, ihm etwas aus den Weg zu gehen, um Problemen auszuweichen.

Ein sehr amüsanter Entschluss, wenn man bedachte, dass unsere Lager direkt nebeneinander waren. Als wir uns angetrunken und schrecklich erheitert zu unserem Zimmer begaben, legte er sich direkt neben mich und ich wünschte mich weit weg. Zwar war es dunkel im Zimmer, aber ich spürte, dass er selbst jetzt irgendwo in der Dunkelheit lag und mir entgegen starrte.

Slade hatte den Münzwurf gewonnen und machte es sich im Bett bequem, leise vor sich hin summend und stark betrunken. Robin hingegen wirkte völlig nüchtern. Während wir uns in unsere Decken wickelten, bereit zu schlafen, saß er noch eine Zeit lang am Tisch und las in einem kleinen Buch. Ich hörte zu, wie die Seiten leise raschelten, wenn er umblätterte und manchmal, wie er sich bewegte.

In meinem Kopf rotierte es.

Ich hatte nicht genug getrunken, um meine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Stattdessen schienen sie ein Wettrennen zu veranstalten. Scheinbar war ich nun bei einer Randgruppe der Samariter gelandet, aber Robin versicherte mir, dass ich bald schreiben dürfte. Es gab regelmäßige Treffen und sobald sie sicher waren, dass sie mir trauen konnten, durfte ich daran teilnehmen. Bis dahin galt es, mich zu beweisen. Dass ich nicht von allein hier gelandet war, sondern dank Nevar, war ohne Frage von großem Vorteil. Sie schienen dem Mann zumindest zu einem gewissen Anteil zu vertrauen, somit hatte ich es nicht ganz so schwer.

Dennoch machte mich die Situation nervös. Ich lebte nun in einem Gasthaus, abhängig von mir völlig fremden Menschen und mit förmlich nichts in der Hand. Ich musste vertrauen, mehr blieb mir nicht übrig. Aber eine innere Stimme wollte mir einreden, dass ich es verlernt hatte, dieses Gefühl zu empfinden.

Ich musste es trotzdem tun. Das sagte ich mir immer und immer wieder, besonders, während Slade mich an manchen Tagen mit sich schliff, halfen tat es aber kaum. Wir schlenderten oft durch die Stadt und versetzten mich zurück in meine Kindheit. Es war Zeit, für Geld zu sorgen, erklärte er mir. Jeder musste einen Beitrag leisten und da weder er, noch ich Arbeit hatten, mussten wir uns anders welches beschaffen. Begeistert war ich nicht, aber trotzdem empfand ich unsere kleinen Abenteuer als aufregend. Anfangs lenkte ich die Leute unfreiwillig ab, während Slade die Beutel los schnitt oder hier und da einen Apfel mitgehen ließ, doch spätestens, als ich mein Glück versuchen sollte, weckte er das Kind in mir. In Brehms wurde Diebstahl oft mit dem Diebesturm bestraft, aber wenn man Pech hatte, mit dem Verlieren einer Hand. Abschrecken tat mich das jedoch nicht. Nach einigen Tagen begannen wir Wettstreits daraus zu machen, wer mehr bekam.

Wir stahlen nicht viel, da es zu auffällig wäre, aber das, was wir bekamen, teilten wir gerecht. Währenddessen plauderten Slade und ich ein wenig. Neben seinen Frauengeschichten und Belehrungen, worauf man bei ihnen achten musste, erfuhr ich, dass er bereits sein ganzes Leben in Brehms war. Der Mann kannte die absurdesten Geschichten und Legenden, kannte jeden Winkel und fast jede Person, wenn auch nicht persönlich. Es machte Spaß, ihm zuzuhören, wenngleich ich mir all das, was er sagte, niemals merken könnte. Er liebte diese Stadt, seine Stadt und er war stolz, ein Brehmser zu sein. Kein Wunder also, dass er das Thema Annonce nicht ruhen lassen konnte. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, nutzte er sie, um mir zu verdeutlichen, woher ich kam. Er versuchte, mir den Annoncer Akzent abzugewöhnen, gab aber nach gut einer Stunde kopfschüttelnd auf. Ich verstand nicht einmal, was genau diesen Akzent ausmachte, also wie sollte ich ihn loswerden?

Zum Nachmittag hin setzten wir uns dann oft in eine Unterführung auf den trockenen Boden, kauten altes Brot und beobachteten die Leute, die uns passierten. Die meiste Zeit, die ich im Vagabund lebte, verbrachte ich mit Slade und ich lernte, seine Art zu verstehen. Ich verstand seinen Humor, aber auch seinen Sarkasmus und wenn er Anspielungen machte, kam es immer öfter vor, dass ich ihm folgen konnte und andere nicht. Wir dachten oft zur gleichen Zeit dasselbe und so, wie er meine leicht frechen Sprüche mochte, mochte ich seine. Er hatte eine Art und Weise an sich, Dinge zu äußern, die dreist aber gleichzeitig amüsant war. Sicherlich gab es einige, die sich von seinem Verhalten angegriffen fühlen würden, aber wenn man ihn besser kannte, verstand man ihn.

Das Einzige, was ich an ihm hasste, war seine Gerissenheit. Manchmal spielten wir Karten oder er holte einen kleinen Beutel aus seiner Tasche. Diesen konnte man aufklappen und im Innern waren kreuzförmige Linien gezeichnet. Dieses Spiel machte mir besonders Spaß. Man musste mit kleinen Steinchen versuchen, die des anderen weg zu nehmen, aber er gewann fast immer und mit jedem Gewinn, war ich einen Teil meines Verdienstes wieder los. Dennoch ließ ich es niemals sein, ihn herauszufordern und als er mir eines Tages eine weitere Ausführung dieses Spiels schenkte, konnte ich es kaum noch lassen, jede freie Minute gegen ihn zu spielen.

In den zwei Wochen, in denen wir uns besser kennen lernten und das eine oder andere Mal vor den Blauröcken flohen, begann allmählich der Schneefall. Es war schon lange kalt gewesen, doch irgendwann rieselten die weißen Flocken vom Himmel und schmolzen auf den Steinen. Nun war ich bereits ein ganzes Jahr lang in Brehms, aber dieser Gedanke erfülltr mich nicht mit Traurigkeit oder gar Reue. Gut, laut Domenico wäre ich wohl etwa um diese Zeit ein freier Mann geworden und hätte meinen Dienst erfüllt, aber die Gedanken daran vergaß ich immer mehr. Ich dachte nicht darüber nach ‚Was wäre, wenn?’ Ich genoss mein Leben und fühlte mich frei, gesund und gut.

Slade zeigte mir absurde Schleichwege und ein verlassenes Haus, in denen Pflanzen wuchsen. Er kannte Tunnel, die kaum einer benutzte und Händler, die alles viel billiger verkauften. Der Dieb versuchte mir zu zeigen, wie man Messer so warf, dass sie nicht mit dem Griff abprallten und durch ihn verstand ich viel über den Aufbau der Stadt. Er zeigte mir das Brehms, das ich trotz meiner langen Zeit nie gesehen hatte: Das Brehms der Gesuchten, das Brehms der Freien. Ich lernte, diese Stadt wieder zu lieben und manchmal saßen wir auf den Dächern, beobachteten den Sonnenuntergang und ich dankte Gott dafür, noch immer hier zu sein.

Dennoch würde ich niemals behaupten, dass Slade und ich so etwas wie Freunde waren. Zwar verbrachten wir fast Tag und Nacht zusammen, außer, ich schlenderte allein umher, aber über ihn selbst erfuhr ich nie sonderlich viel. Ich gab nicht viel über mein eigenes Leben Preis und er schien das gleiche auch bei sich tun zu wollen – das respektierte ich. Schon, ich wollte wissen, woher sein geschlitztes Ohr kam, ob er einer Gilde angehörte oder was ihn dazu brachte, so ein Leben zu führen. Fragen tat ich aber niemals.

Über Robin und Serdon erfuhr ich genauso wenig. Wir trafen uns oft abends, aßen gemeinsam und tranken, gingen gemeinsam zu Bett und sprachen über belangloses Zeug. Wichtige Gespräche führte Robin mit uns nicht und ich bekam das Gefühl, dass er wesentlich höher stand, als Slade oder Serdon. Robin entschied, wann wir zu Bett gingen und Robin entschied, wann Slade und ich etwas kaufen sollten oder wann wir uns ausruhen durften. Serdon blieb auch weiterhin so ruhig, aber wo auch immer Robin war, dort war auch er. Als wäre Serdon ein übergroßer Wachhund. Ich mochte auch Robin mit der Zeit, denn ich kann mich an keinen Abend erinnern, an dem er nicht freundlich grinste oder einen Witz auf den Lippen hatte. Zwar war er ein sehr ernster Mensch und stets aufmerksam, betrank sich nie und behielt stets die Tür im Auge, aber dennoch war er auf seine Art sehr nett und ich schätzte ihn. Ich konnte spüren, dass auch Slade großen Respekt vor dem Mann hatte, wenngleich er ihn fast immer aufzog. Robin war der Kleinste von uns und manchmal fand er nicht die passenden Worte oder fluchte auf ächatisch, da er ein Problem mit unserer Sprache hatte. Auf der anderen Seite war er der einzige, bei dem der Alkohol so gut wie keine Wirkung zeigte und der Slade beim Spielen fast immer schlug.

Die interessanteste Verbindung allerdings bestand zwischen Robin und Nevar.

Des Öfteren kam es vor, dass Slade und ich ins Gasthaus zurückkehrten und den Mann in schwarz am Tisch sitzen sahen. Robin und er unterhielten sich dann leise, Serdon schweigend im Hintergrund und Slade und ich zogen uns aufs Zimmer zurück. Es schienen bedeutsame Gespräche zu sein, wenn der Dieb uns sofort weg führte. Ich fragte mich, worüber sie sprachen. Samariter-Dinge, ohne Frage, aber was für welche? Es kam auch nicht selten vor, dass Slade mit an den Tisch gerufen wurde – nur ich musste gehen. Es dauerte eine ganze, weitere Woche, bis man auch mich dazu rief und in mir herrschte fast sofort Aufregung.

Mittlerweile war der Schnee etwas liegen geblieben. Nicht viel und auf den Straßen war alles zertreten, aber die Dächer und Mauern Brehms’ waren weiß. Als Slade und ich in den Vagabunden traten, warfen wir unsere Blicke wie meistens zuerst zu Robins Stammtisch. Er saß oft dort, so wie auch jetzt und auch dieses Mal zusammen mit Nevar.

Ich wollte schon abdrehen und mich aufs Zimmer zurückziehend, wohl wissend, dass mich ihr Gerede nichts anging, doch Robin rief „Falc’dhe!“, also blieb ich unsicher stehen. Es war seltsam und vor allem ungewohnt. Was wollten sie denn von mir?

Nachdem ich ruhig am Tisch saß, während Slade es sich neben mir bequem machte, sah ich von einem zum anderen. Serdon starrte mich nur düster an und Nevar musterte seinen Bierkrug. Es schien fast, als hätten sie nur auf mich gewartet. Ich wollte nicht unsicher wirkte und nahm eine straffe und selbstsichere Haltung an, doch der Gedanke daran, wie Sardon mich anstarrte und dass Nevar mich gut genug kannte, um mich zu durchschauen, machte mich etwas unsicher. Ein kurzer Blick zu dem Mann in schwarz, dann zu Robin. „Was ist?“

Der Ächate zögerte, das merkte man deutlich. Er wich mir aus, indem auch er sein Bier musterte, ehe er mich wieder ansah und kurz zu überlegen schien. Unsicherheit. Hatte ich etwas falsch gemacht?

Slade spottete: „Hat es dir die Sprache verschlagen, Rob?“

„Ich überlege, wie ich es formulieren soll.“, der Ächate starrte in meine Augen, als wäre da irgendwo die Lösung für seine Probleme zu sehen. Nach einer Weile erklärte er ruhig: „Falcon, Ihr wart nun lange Zeit bei uns und ich denke, dass wir Euch mehr anvertrauen können. Möchtet Ihr noch immer für uns als Kopist arbeiten?“

„Ja!“, meine Antwort kam fast sofort und Robin lachte etwas.

Ich hörte, wie Nevar schmunzelnd sagte: „Habe ich es Euch nicht gesagt? Er kann es kaum erwarten, die Feder zu schwingen.“

Machten sie sich etwa über mich lustig? Ich warf Nevar einen kurzen Blick zu, aber es schien nicht so, als wäre das der Fall. Viel mehr, als müsste Robin sich erst davon überzeugen, dass er diesen Schritt wirklich gehen wollte. Er murmelte: „Ich habe entschieden, Slade mitzunehmen, aber er ist verhindert. Darum kam mir der Gedanke, dass Ihr mich begleiten könntet.“

Ich versicherte: „Das würde ich sehr gern.“, und nickte, um meine Worte etwas zu verdeutlichen. Der Mann vor mir jedoch wog nur den Kopf.

„Ihr müsst verstehen, dass ich sehr vorsichtig sein muss.“, erneut nickte ich, denn natürlich konnte man das verstehen. Aber wie sollte ich ihm vermitteln, dass es bei mir keinen Grund zur Vorsicht gab?

Diesmal war es Slade, der sprach. Er setzte sich aufrecht, bewegte beim Sprechen etwas die Hand und wollte wissen: „Denkst du etwa, Falcon ist ein Spion? Das ist albern. Gut, ich kenne ihn nicht sehr gut, aber: Bitte, er ist Annoncer durch und durch! Ich habe ihn die letzten Wochen lang fast permanent gesehen. Er würde nicht mal als Spion taugen, wenn er unsichtbar wäre.“

„Es ist aber Fakt...“, stellte Robin ungerührt fest. „,...dass er fast ein Jahr lang der Deo Volente diente und uns kein einziges Wort davon gesagt hat.“

Ungewollt schreckte ich zusammen und sah Slade an. Damals, auf dem Platz des alten Henrys, hatte ich verneint, als er mich mit der Deo Volente in Verbindung brachte. Wieso hatte Nevar Robin davon erzählt? Ich hatte es geheim halten wollen!

Der Dieb neben mir wirkte aber alles andere als überrascht. Er zuckte nur mit den Schultern und spottete: „Na und? Jeder von uns hatte schon mal was mit den Pfaffen am Hut, sonst wären wir nicht hier an diesem Tisch. Und seien wir ehrlich: Würdest du es herumposaunen, dass du vor Domenico kriechen musstest, um seine Stiefel zu lecken?“

„Ich bin nicht vor ihm gekrochen.“, verteidigte ich mich. „Und ihm die Stiefel geleckt habe ich erst Recht nicht. Ich habe eine Zeit lang auf seine Kosten gelebt, das ist alles. Es war mein Leben, jederzeit.“

Nevar schmunzelte abermals und bewegte den Krug, so, dass das Bier sich kreisartig bewegte. Aufmerksam sah er zu und schwieg, als würde ihn das Gespräch nicht ansatzweise interessieren.

Robin lachte nur trocken und kratzte sich an der Schläfe. „Aye, gu mahath, das kann gut möglich sein. Meinetwegen kann er auch vor Domenico auf Knien rum gerutscht sein, bis sie bluten. Es geht darum, dass ich davon nichts wusste.“, als er ausgesprochen hatte, drehte Robin sich zu mir, beugte sich ein Stück vor und klopfte leicht auf den Tisch. Ernst flüsterte er: „Falc’dhe, ich habe Euch bereits am ersten Tag gefragt, wie Euer Leben verlaufen ist. Ihr hättet mir das sagen müssen! Wie soll ich Euch trauen, wenn Ihr alles vor mir geheim haltet?“

Kühl entgegnete ich: „Ich bin auf Euch angewiesen, Robin und dennoch weiß ich nichts über euch. Trotzdem muss ich Euch trauen. Ich denke, wenn es keinen gefährdet, dann kann dies ruhig auf Gegenseitigkeit beruhen. Vertrauen baut man auf – man erkauft es sich nicht, indem man mit Ehrlichkeit prahlt. Und seien wir realistisch: Hätte ich von anfangan gesagt, wer ich bin, woher ich komme und was ich erlebt habe, wärt Ihr nur erst Recht misstrauisch geworden.“

„Ein Punkt für den Annoncer.“, lachte Slade, griff dann Robins Krug und nahm einen tiefen Schluck. Dieser brummte nur und fuhr sich über das Gesicht, während Nevar amüsiert sagte:

„Was habt Ihr zu verlieren, Robin? Gebt ihm eine Chance.“, erst jetzt sah er auf und stellte sein eigenes Getränk auf den Tisch zurück. „Ich habe ihn nicht hierher gebracht, damit Ihr ihm Taschenspielertricks beibringt.“

„Das ist mir bewusst.“, der Ächate seufzte leise, ehe er mich erneut anstarrte und nachzudenken schien. Scheinbar war die Sache sehr ernst, aber ich war kein Verräter und zeigte ihm das auch, so gut es ging. Entschlossen sah ich ihm entgegen und wich seinem Blick nicht ansatzweise aus. Er sollte keinen Grund haben, mir zu misstrauen, ganz gleich, wie viel ich zu verbergen hatte.

Nach einer Weile brummte der Gruppenführer, sah zu Serdon und fragte etwas in einer fremden Sprache. Dieser – er hatte den Blick bisher kein einziges Mal von mir gelöst – gab nur ein tiefes Brummen von sich. Wieder ausländisches Gemurmel von Seiten Robins, ehe er zu mir zurück sah und erklärte: „Also schön, Ihr dürft mich anstelle von Slade begleiten. Wir werden sehen, was daraus wird. Seid morgen bei Sonnenuntergang wach, wir müssen sehr früh los.“

Mir wurde heiß vor Aufregung und ich nickte knapp. Ich durfte mit?! Nach so vielen Wochen hatte ich endlich die Gelegenheit, die eigentliche Arbeit der Samariter zu sehen? Als ich zu Slade sah, grinste dieser und zeigte mir, dass er sich für mich freute. Er hatte nicht an mir gezweifelt, das spürte ich deutlich.

Nevar hingegen wirkte eher unbeteiligt. Er murmelte etwas, sehr leise und zu meinem Erstaunen gab Robin etwas ächatisches zur Antwort. Der Attentäter schien es zu verstehen, denn er stieß abfällig die Luft aus und erhob sich. Ich sah zu, wie er die Schenke verließ und auch, wie Robin ihn begleitete, gefolgt von Serdon. Scheinbar hatten sie noch etwas zu besprechen, außerhalb unserer Hörreichweite, aber das war mir gleich.

Stolz erfüllte mich und eine Art innerer Aufruhr. Wenn Robin mich wirklich mitnehmen würde, dann hatte ich die Chance, mich zu beweisen und zu kopieren. Ich konnte endlich zeigen, was ich konnte! Ich hatte schon sehr lange nicht mehr mit Feder und Tinte gearbeitet, trotzdem war ich kaum unsicher. Ich wusste, dass ich nur etwas üben musste und schon würde es wieder einwandfrei funktionieren!

Slade schlug mir freundschaftlich gegen die Schulter, schob mir Nevars Bierkrug zu und griff sich Robins. Wie meistens sah er nicht ein, selbst Geld dafür auszugeben und grinste mir mit seinem Goldzahn entgegen. „Jetzt seid Ihr dabei, hm?“

„Ja, endlich.“, ich hielt das Bier zwar in den Händen, trinken tat ich jedoch nicht. Zu sehr nahmen die Gedanken meinen Kopf ein. Ich sah Regale voller Bücher, Männer an Tischen die schrieben, Papierstapel über Papierstapel und mehr, vieles mehr.

Der Dieb lachte, denn er merkte, dass ich langsam abdriftete. Mit einem dumpfen Laut landete sein Spielbeutel auf dem Tisch. Er faltete ihn auf, verteilte die Steinchen und sagte: „Wir spielen darum, wer wem das nächste Getränk ausgibt.“

Und für diesen Moment war es mir sogar egal, dass ich nun wahrscheinlich für die nächsten drei Stunden sämtliches Bier zahlen musste. Ich war viel zu abgelenkt, um ein ernsthafter Gegner zu sein – was ich ohnehin so gut wie nie war. Ich starrte zur Tür oberhalb der kleinen Treppe, durch die die drei Männer verschwunden waren und begann zu grinsen.

Robin gab mir eine Chance. Er misstraute mir, ja, aber er war dabei, diese Tatsache zu ändern.

Und ich würde ihm keinen Grund geben, diese Entscheidung zu bereuen!

Ein indirektes Wiedersehen

Wie angekündigt gingen wir bereits am frühen Morgen los. Robin und Serdon hatten sich in einen Mantel gehüllt und wir liefen größtenteils schweigend durch die Straßen. So früh war kaum einer unterwegs, wenngleich die Ausgangssperre längst vorbei war und während wir uns unseren Weg durch Brehms schlängelten, stellte ich mir selbst Unmengen an Fragen.

Ich wusste nicht ansatzweise, wer oder was mich erwarten würde und zugleich hatte ich meine eigenen, kleinen Fantasien vor Augen. Vielleicht eine Art kleines Skriptorium, wie jenes von Meister Pepe oder eine Bibliothek, wie jene aus der Deo Volente?

Der Ort, den wir aufsuchten, lag mehrere Bezirke weiter und eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, wir würden das Ziel niemals erreichten. Zwar schmolz der Schnee, sobald er auf dem Boden lag, dennoch war es eisig. Ich sah zu, wie mein Atem durch die Luft wirbelte und rieb mir meine Hände unter dem Umhang.

Robin sprach kaum ein Wort mit mir. Er schien wie meistens in Gedanken zu sein, aber wenn er merkte, dass ich ihn ansah, lächelte er mir entgegen oder munterte mich auf, mit Sätzen wie „Es ist nicht mehr weit.“

Der zweite Ächate hingegen sagte weiterhin nichts. Mir kam der Gedanke, dass er vielleicht nicht sprechen konnte, aber an Respekt verlor ich dennoch nicht. Nun, wo wir nebeneinander hergingen, wurde mir nur umso bewusster, wie groß der Mann war. Er ragte einen ganzen Kopf über mich hinaus. Wenn man ihn mit Robin verglich, war es fast ironisch, denn dieser war ein Stück kleiner als ich und recht schmal. Stark gebaut, ja, aber nicht so ein beängstigender Hüne.

Ich versuchte mir auszumalen, wie stark Serdon sein musste, aber fand niemanden zum Vergleich und dann überlegte ich, ob er eine Kuh stemmen könnte. Ein absurdes Bild, aber für diesen Moment kam es mir sehr imposant und beeindruckend vor.

Als wir dann endlich das erreichten, was wir angesteuert hatten, standen wir vor einem normalen Gebäude innerhalb des angesehen Viertels. Zwar nicht in jenem der Adligen, aber hier gab es kaum Schmutz und wieder wesentlich mehr Dekorationen. Wir befanden uns in einem besonders verwinkelten Gebiet von Brehms und ich verlor schon binnen weniger Minuten den Überblick. Links neben uns führte ein Arkadengang entlang, über dem ein großes Wohnhaus war und hinter den Säulen erkannte ich das Ladenschild eines Händlers. Es sah hübsch aus, in Form eines Wappens mit Pflanzen drum herum. Die Säulen selbst waren mit Mustern verziert und bogen rechts ab zu einer kurzen Unterführung. Dahinter sah ich eine Art Hof, anschließend wieder einen leichten Tunnel, geführt von einem weiteren Hof. Sechs solcher Unterführungen hintereinander. Über jedem der Wölbungen waren Köpfe in den Stein gemeißelt und auch hier gab es Efeu-Ranken oder goldene Inschriften mit Zitaten aus der heiligen Schrift oder Weisheiten der Abgebildeten.

Rechts von mir zog sich eine weitere Häuserwand entlang, mit großen Einbuchtungen die von Balkonen stammten. Auch hier gab es Pflanzen über Pflanzen, Vasen auf dem Boden, an der Wand oder an den Scherengittern der Fenster. Man hatte Töpfe an die Schwippbögen gehangen und ein kleiner Baum kämpfte sich durch das Gestein nach oben. Das dunkle Grün schien zu leuchten durch die weißen Mauern und den Schnee darauf. Es war ein herrlicher Anblick.

Robin steuerte ein Wirtshaus an, das unmittelbar neben dem Händler lag und ich konnte beim Vorbeigehen den Titel dessen lesen: „Brehmser Mittelpunkt.“

Im Innern dann erfüllte der altbekannte Geruch von Bier und Rum die Luft. Es gab nur wenige Gäste, aber die, die es gab, waren laut genug um den gesamten Raum damit zu erfüllen. Einige tanzten lachend zu einer Fidel und andere erzählten sich Witze am Tresen. Die zwei Ächaten vor mir beachteten es nicht, sondern gingen geradewegs durch die Tische hindurch auf einen roten Vorhang zu. Ich registrierte im Winkelblick, dass der Wirt uns zwar bemerkte, aber er interessierte sich nicht annähernd für uns.

Hinter dem Vorhang gab es ein Zimmer mit Tisch, Regalen, Geschirr und Stühlen und in diesem wiederum eine Tür zur Speisekammer. Robin öffnete sie, ging in die Hocke und während Serdon an der Tür blieb und Wache hielt, hantierte er am Boden herum. Er beachtete weder das Regal darin, noch das Obst, die Getränke, den Besen oder die Stofffetzen. Alles, was ihn interessierte, war jene Falltür, die er nun aufzog.

Mit einem Handzeichen deutete er mir, dass ich hinuntersteigen sollte und nachdem ich es ohne Zögern tat, folgten auch die anderen zwei.

Im unteren Teil befand sich der Keller des Gasthauses, aber anders, als erwartet, gab es nicht nur Kisten und Regale. Robin ging erneut vor und meinen Kopf aufmerksam hin und her drehend, musterte ich alles, was es um mich herum gab. Regale und Kisten, die zum Lager des Wirtshauses gehörten und weiter hinten, am Ende des Kellerzimmers, zwei große, flache Tische. Ich erkannte Pergamente darauf, Bücher und in einer Ecke gab es einen weiteren, kleinen Stapel. Auf dem Boden stand eine Kiste voller Papier, Federn lagen herum und überall standen Kerzen, die geringes Licht spendeten. Es roch nach Feuchtigkeit und war kalt, aber vor allem roch man Tinte, Staub und Papier. Wir blieben stehen und standen zwei Personen gegenüber, die an den Tischen saßen und schrieben. Als sie uns erkannten, lächelten sie Robin zu und tauschten kurze, fremd klingende Worte miteinander. Anschließend deutete man auf mich und Robin erklärte:

„Das ist Falcon. Er gehört zu uns.“

Eine kurze Vorstellung meinerseits, aber sie reichte, damit die zwei Gestalten mir die Hand gaben. Einer von ihnen, er stellte sich als Devin vor, erinnerte mich an einen früheren Bekannten aus dem Kloster. Er hatte ein rundes Gesicht mit deutlichen Sommersprossen und braunes, leicht gewelltes Haar. Laut seiner Aussprache war er Brehmser und sein Lächeln war offenherzig und ehrlich. Durch seine Brille wirkte er wie ein Gelehrter, aber seine ärmliche Kleidung ließ auf einen einfachen Mann schließen.

Die zweite Person verwirrte mich. Es handelte sich um eine wunderschöne, schlanke und junge Frau, mit haselnussbraunen Haaren, die ihr in einem langen, geflochtenen Zopf bis zur Hüfte reichten. Ihre Hand war leicht rau, aber ihr Händedruck fest und überzeugend. Ich starrte sie an, wie ein Idiot, denn weder schrieben Frauen für gewöhnlich, noch waren sie gebildet genug, um solcherlei Dinge wie diese hier zu verstehen. Wahrscheinlich eine Nonne, dachte ich, doch der freie Blick, der mir in ihr Dekolleté möglich war, ließ mich daran zweifeln. Ich starrte in ihre hellgrünen, unglaublich klaren Augen, die mich an Katzen erinnerten, um mich von dem Schönheitsfleck direkt auf ihrer linken Brust abzulenken und während sie mit nur leichtem, südlichen Akzent hauchte: „Ich grüße Euch, mein Name ist Mona.“, bekam ich unglaubliche Gänsehaut. Noch nie zuvor hatte ich eine so wunderschöne, anmutige Frau gesehen.

Nachdem sie meine Hand wieder los gelassen hatte, ging sie zu Robin und während sie ihm einen Kuss auf die Lippen hauchte, wurde ich rot. Nicht nur, da sie etwas so intimes einfach so vor unseren Augen taten – ich schämte mich dafür, sein Weib auf diese Art angesehen zu haben. Lassen konnte ich es dennoch nicht, wenngleich ich versuchte, es weniger offensichtlich zu tun. Ihr grünes Kleid betonte ihre Figur ungemein und wenn sie an mir vorüberging, konnte ich nicht anders, als zu glotzen.

Das ging über viele Tage so und an keinem wurde mein Bedürfnis schwächer. Es ging so weit, dass ich von ihr träumte und das schlimmste war, dass Mona davon nichts zu merken schien.

Wir gingen von da an fast täglich in ‚die Schreibhöhle’ und begannen, einzelne Werke zu kopieren. Bis auf Devin, Mona, Robin und mich gab es außerdem noch vier weitere Kopisten aber wir trafen uns sehr selten. Einer von ihnen, Rory, war für die Zeichnungen zuständig und ein weiterer, Finn, holte regelmäßig die Seiten ab, um sie zu binden. Es machte mir Spaß, mit den anderen zu schreiben, wenngleich wir kaum Zeit zum Sprechen hatten und der Keller alles andere, als bequem war. Manchmal brachte der Wirt uns Reste nach unten oder Getränke und wenn mehr als vier Schreiber da waren, las einer aus dem Buch vor, während alle mitschrieben. Zu meinem Erstaunen wurde nicht in jedem Fall darauf geachtet, dass die Seiten wirklich eins zu eins aussahen, wie die Vorlagen. Viel wichtiger waren Inhalt und Rechtschreibung, denn es ging darum Wissen zu vermitteln. Wir kamen sehr zügig voran, da wir alle an einem Buch saßen und die Seiten untereinander aufteilten. Wenn wir fertig waren, feierten wir unseren Erfolg, indem wir nach oben gingen und etwas tranken. An den Tagen, an denen ich nicht in der Schreibhöhle war, streunerte ich mit Slade durch die Stadt, aber ich genoss es, wenn Robin mich bat, mich am nächsten Morgen wieder mit ihm auf dem Weg zu begeben.

Am allermeisten deswegen, weil ich so viel lesen konnte. Meistens bekam ich nur wenige Seiten zum Abschreiben, die ohne den Rest wenig Sinn ergaben, aber mir wurde die Aufgabe zuteil, zur Kontrolle alles noch einmal zu lesen. Es war unbeschreiblich! Nicht nur Werke von Falcon Ryan Colm, nein, wir hatten auch Bücher von Michaelos Rasero, der bekannt dafür war, dass er Visionen von Gott hatte. Mitschriften von Roman Stuarts, einem Philosophen, der über den Sinn des Lebens sinniert hatte und es gab sogar einige Gedankengängen von Richard von Henrys, dem größten Ketzer überhaupt!

Da ich keine einzige Abschrift mitnehmen durfte, setzte ich mich oft stundenlang in die hinterste Ecke und verschlang die Worte geradezu. Robin ließ mich machen und Mona fand es amüsant. Serdon, der eigentlich nur bei uns saß und stets Wache hielt, musterte es eher skeptisch, doch mit der Zeit ließ sogar sein düsterer Blick nach.

Ich verstand allmählich immer mehr, wie das System der Samariter funktionierte und auch, wo Nevars Platz in dieser Planung war. Fertige Bücher übergab Robin an ihn und Nevar brachte sie fort. Wohin wusste ich nicht, aber was ich mitbekam, war, dass Robin wiederum neue Bücher von Nevar erhielt. Wahrscheinlich hatte er früher die Werke aus der Bibliothek der Deo Volente geholt und an die Samariter übergeben und nun nahm er sie von woanders. Für jedes Buch erhielt Nevar eine gewisse Summe an Geld, zumindest glaubte ich das. Ich beneidete den Mann, denn als ich fragte, wie viel es mich kosten würde, eines der Bücher behalten zu dürfen, lachte Robin nur. „Das könnt Ihr euch nicht leisten, Falc’dhe, glaubt mir.“, war das einzige, was er sagte. Wenn das stimmte, dann mussten die Samariter mit den Werken sehr gut verdienen.

Bei jedem Schriftstück, das wir fertig stellten, bekamen wir eine nicht geringe Summe ausgezahlt und während der Arbeit erhielt ich einen Schlafplatz, so wie Essen und Getränke. Man konnte sagen, ich hatte ein sehr gutes Leben und ich genoss es. Slade selbst kopierte nie, aber auch er lieferte ab und an Schriftstücke ab und wenn das Geld dennoch knapp wurde, gingen wir auf Beutezug.

Im Laufe des ganzen Monats, den ich regelmäßig in der Schreibhöhle arbeitete, empfand ich mein Leben als immer angenehmer. Der Schnee begann liegen zu bleiben und ich kaufte mir von meinem Geld neue Hemden, so wie eine dickere Hose. Natürlich musste ich aufpassen, denn ich hatte keine Papiere mehr, aber niemand schien nach mir zu suchen. Wahrscheinlich dachte Domenico, ich wäre tot oder aber, er suchte an den völlig falschen Stellen, hatte kein Interesse mehr an mir oder war froh, mich so schnell losgeworden zu sein. Vielleicht hatte auch Nevar seine Finger im Spiel, ich wusste es nicht, aber mit der Zeit vergaß ich alles, was mit der Deo Volente zu tun hatte. Ich baute Freundschaften auf, vor allem mit Mona.

Die Halb-Ächatin war ausgesprochen intelligent und es gab Abende, an denen waren wir allein im Skriptorium. Dann schrieben wir, nur nebenher und unterhielten uns über das, was wir lasen. Ihre Ansicht interessierte mich sehr und ihre Lebensart faszinierte mich.

Sie glaubte an Gott, ja, aber sie sah ihn nicht als Gott der Christen an. Mona erklärte mir, dass die Ächaten eigene Götter hatten und auch, dass sie daran glaubte, dass all diese Götter, ihre und meine, ein und derselbe Gott waren. Sie betete, aber auf ihre eigene Art und besuchte weder christliche Messen, noch folgte sie ächatischen Ritualen. Ihre Mutter war Ächatin, ihr Vater Christ gewesen und sie hatte sich schon früh für eine der Religionen entscheiden müssen. Statt dies zu tun, hatte sie allerdings einen eigenen Glauben entwickelt und nun kämpfte sie für die Samariter, um die Inquisition zu schwächen. Sie war der Ansicht, dass, wenn weniger Angst und Druck herrschen würde, jeder Mensch seine Religion frei entfalten könnte. So würde sich die Welt weiterbilden in eine Zukunft voller Freiheit und Liebe. In eine Zukunft, die niemanden mehr unterdrückte.

Für mich klang das alles ziemlich fantastisch, andererseits empfand ich diese Gedanken als sehr schön. So manches Mal vergaßen wir vor lauter Gerede das Schreiben, wobei ich mich zwingen musste, meine unzüchtigen Gedanken zu vertreiben. Besonders schlimm war es, wenn ich angetrunken war und ich glaube, Mona verstand irgendwann, was ich für sie empfand. Ich bewunderte ihre Treue zu Robin, denn sie hielt mir stand und wich jeder Andeutung gekonnt aus. Es amüsierte sie, aber nicht auf boshafte Art und Weise – es schmeichelte ihr.

Devin ging es ähnlich wie mir. Wir sprachen nur sehr selten, da er meist dann da war, wenn ich gerade ging, aber ich merkte, dass er sich ebenfalls in Mona verguckt hatte. Er beobachtete sie häufig, wenn sie umher ging und wenn ihr Handgelenk schmerzte, stürzte er sich förmlich darauf, ihre Arbeit übernehmen zu dürfen. Er warb um ihre Aufmerksamkeit, aber gegen Robin kam keiner von uns beiden an.

Irgendwann wurde der Schnee so hoch, dass wir seltener in die Schreibhöhle gingen. Der Weg war zu weit oder aber es herrschten Schneestürme, die uns daran hinderten, das Gasthaus zu verlassen. Manchmal kam es vor, dass ein solcher Sturm tobte, während wir unten waren, also brachte man uns Decken und wir übernachteten zwischen dem Papier.

An ein solches Mal erinnere ich mich noch ganz genau. Robin, Mona, Serdon und ich waren an diesem Abend die einzigen, die noch in der Schreibhöhle waren und der Wind pfiff so stark, dass wir selbst im Keller unten die Fensterläden klappern hören konnten. Die Straßen waren so gut wie leer, keiner wollte bei diesem Wetter hinaus und jetzt zurück zum Vagabunden zu gehen wäre unser sicherer Kältetod. Wahrscheinlich würde sogar Robin sich verlaufen oder wir würden uns vor lauter tanzenden Flocken verlieren.

Aus diesem Grund beschlossen wir, über Nacht zu bleiben, obwohl das gegen Robins Prinzipien sprach. Er war der Meinung, dass es riskant war, denn sollte jemand auf die Idee kommen, uns zu beobachten, könnte ihm auffallen, dass wir verschwunden waren. Man gab uns braune Decken und etwas frierend rückten wir alle ganz nahe beieinander und beschlossen, zu schlafen.

Ich allerdings konnte es nicht. Das Geklappere der Läden machte mich förmlich verrückt, außerdem war mir zu kalt zum Schlafen. Während alle sich zur Ruhe gelegt hatten, blieb ich am Tisch sitzen und schrieb noch ein wenig. Wir hatten gerade einen besonders kleinen Auftrag. Das Buch hatte nur wenige Seiten und es würde nur noch ein, zwei Tage dauern, dann wären wir fertig. Es handelte um die verschiedenen Glaubensarten, die es gab und darum, was für Vergleiche man zu den Katholiken ziehen und welche Religion sich aus welcher entwickelt haben könnte. Die ausschweifende Art des Autors langweilte mich. Er hatte die Angewohnheit etliche Nebensätze in einem Satz einfließen zu lassen und sich in jeder Zeile zu wiederholen. Man merkte zwar, dass er wusste, was er schrieb, dass er davon überzeugt war und dass er dem Leser sehr wichtige Dinge nahe bringen wollte, aber es ging nur sehr langsam voran und schon nach einer halben Seite verlor ich die Lust. Ich ließ das Werk links liegen, stand auf und musterte unsere Kiste. In dieser waren alle Bücher drin, die wir noch kopieren mussten, insgesamt fünf Stück. Robin achtete darauf, nicht zu viele aufzunehmen, denn wenn jemand die Kiste fand, wäre das ein riesiger Verlust. An viele Bücher kam man so einfach nicht mehr heran. So weit ich wusste, lagerten die Samariter die fertigen auch woanders, um kein zu großes Risiko einzugehen.

Neugierig nahm ich eins nach dem anderen hoch, wischte mit der Hand den Staub von den Einbänden und las die Titel.

Von Lämmern und Lämmchen – Domenic Marco

Gedanken-Käfig – Mary A. Fayette

Das goldene Kreuz – Shane McMillian

Gott hat uns verlassen – Leonie von Schwelm

Zwischen Liebe, Lust und Last – Vladimir Jones

Kennen tat ich keines der Bücher und es fiel mir schwer, mich zu entscheiden, welches ich lesen sollte. Ich griff nach dem ersten von Domenic Marco und blätterte darin herum, aber die Schrift war wirklich winzig und schwer zu lesen. Es handelte sich um eine Art Roman, in der der Protagonist Gottesdienste besuchte und zum Nachdenken angeregt wurde, als er einen Priester bei einem Mord beobachtete. Ziemlich weit hergeholt, wie ich fand, aber wohl nicht weit genug, um dafür nicht auf dem Scheiterhaufen zu brennen, denn das hatte er dafür getan.

Da mich solche fiktiven Dinge nicht interessierten, griff ich jenes von Shane McMillian. „Das goldene Kreuz.“ Ich hatte mal in eines seiner Werke hineingelesen und mochte ihn. Leider musste ich damals das Buch abgeben, als man es für ein Ketzerswerk erklärt hatte. Beim Überfliegen verstand ich, dass es sich um einen riesigen Text darüber handelte, wie die Kirche ihr Geld verdiente und die protzigen Kirchdekorationen finanzierte. Er sprach negativ über Ablassbriefe, bis hin zu Spenden, Pilgerreisen und sogar die Kirchensteuer machte er schlecht. Ein Aufklärungsbuch.

Solche Art von Büchern fand ich hier oft und wir kopierten sehr häufig eben solche. Sie sollten zum Nachdenken anregen und wahrscheinlich funktionierte es auch.

Als drittes griff ich jenes Buch von Mary A. Fayette.

Langsam schlug ich das kleine, rote Werk auf. Es war sehr dünn und alt, am Buchrücken hatte es Risse und einige Seiten waren lose. Es sah aus, als hätte man es aus dem Müll gefischt oder aus einem eingestürzten Haus, voller Dreck und Schmutz. Kurz roch ich daran und nahm den Geruch von Ruß war. Wahrscheinlich hatte Slade es gefunden, als er, wie so oft, in ein abgebranntes Haus eingestiegen war, um mitzunehmen, was immer er tragen konnte.

Geschrieben war das Buch allem Anschein nach wirklich von einer Frau und die Jahreszahl auf der ersten Seite zeigte mir, dass es noch gar nicht allzu alt war. Ich las die ersten Zeilen, blätterte dann ein wenig hin und her und las weiter. Bilder gab es keine, aber dafür umso mehr Text.

Die Frau war keine Nonne, sondern eine verheiratete Ehefrau, die sich über die Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen und anderen, unterdrückten Gruppen ausließ. Darüber, dass die Heilige Schrift frauenfeindlich sei und darüber, dass man das Volk verdummen ließ, damit niemand dagegen aufbegehren konnte. Sie schrieb lange Texte darüber, dass, würden Frauen lesen und schreiben lernen, die Männer Unterstützung hätten – stattdessen empfanden diese es als Schande und schämten sich für ihr Weibsbild.

Dieser Frau war das gleiche passiert und auf der letzten Seite stand, dass sie nichts bereute, von dem, was sie geschrieben hatte. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass jemand dies lesen würde und dass sich etwas verändern würde, aber sie wusste, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall war. Sie erklärte, dass sie wahrscheinlich brennen müsste, irgendwann und dass man sie für toll erklärt hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Keiner nahm sie mehr ernst und man wich ihr aus.

Dennoch, ermahnte sie immer und immer wieder: Selbst wenn es solche Folgen hat, sollte der Mensch niemals aufhören zu denken. Man sollte sich nicht unterdrücken lassen, weil Gott es einem angeblich vorschreibt, dass es so richtig wäre! Denn er liebte jeden von uns er hatte uns die Fähigkeit zu denken geschenkt! Also war es richtig, es zu tun!

Ich las die Zeilen immer und immer wieder, ehe ich das Buch zuschlug und den Einband anstarrte.

Mary A. Fayette. ......Mary-Ann?

Nach einigem Zögern stand ich auf, steuerte eine der Zimmerecken an und setzte mich mit meiner Decke dorthin. Die Kerze stellte ich neben mir auf eine der Kisten, gerade hell genug, um lesen zu können. Konnte das sein? War Mary-Ann die Autorin?

Sie hatte damals erklärt, dass sie für ihr Wissen bestraft worden war, also wieso nicht?

Während ich mit den Fingern immer wieder über den roten Einband strich, erinnerte ich mich an ihr Gesicht und die Zeit, die ich mit ihr verbracht hatte. Sie war tot, durch mich – aber sie wäre auch ohne mich gestorben. Hatte man sie wirklich für dieses Buch so hart bestraft?

Ich wollte es lesen, aber bereits bei der zweiten Seite vergaß ich es einfach und meine Gedanken nahmen meinen gesamten Kopf ein. Ob es wohl weitere Bücher von ihr gab? Und wie konnte ich das herauskriegen?

Ich könnte Robin fragen oder Nevar. Vielleicht würden sie mir sogar helfen, an die Bücher heranzukommen? Möglich wäre es, aber eher unwahrscheinlich. Die meisten Funde waren Glückstreffer, denn die Bibliothek war uns verwehrt – außer natürlich, Francesco belieferte Nevar noch immer mit den Schriftstücken. Ob er mir vielleicht eines der Bücher geben würde, würde ich danach fragen? Es war gefährlich, zur Deo Volente zu gehen. Sie lag weit entfernt vom Vagabund oder Brehmser Mittelpunkt, zum Glück. Wäre es schlau, in den Bezirk zurückzugehen, um mein Glück bei Francesco zu versuchen?

Als jemand mich ansprach, leise und sanft, zuckte ich so unglaublich zusammen, dass das Buch zu Boden fiel. Mona hockte vor mir und fragte: „Ist alles in Ordnung?“, doch als ich so zusammenfuhr, kicherte sie und ließ sich neben mich sinken. Die anderen schienen zu schlafen, weswegen sie sehr leise sprach, als sie sagte: „Ihr starrt diese Seite nun schon gut zehn Minuten an. Stimmt etwas nicht?“

Mit roten Wangen legte ich das Buch geschlossen auf meinen Schoß. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Mona mich beobachtet hatte und irgendwie war mir diese Tatsache peinlich. Aber vor allem wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass ich glaubte, die Autorin des Buches zu kennen.

Die Frau neben mir griff es, musterte den Einband und lächelte dann: „Ein schönes Buch, mit traurigem Ende.“

„Ihr kennt es?“, wollte ich wissen.

Mona nickte leicht und betrachtete es eingehend. „Ja, wir haben es bereits kopiert, aber das ist lange her. Da habe ich es gelesen. Interessiert Ihr Euch für solches Schreibwerk?“, fragend deutete sie auf den roten Einband.

Ich nickte und behauptete: „Ich mag es, wie die Frau schreibt.“

Das klang einleuchtend. Wieder betrachtete Mona es, stand dann allerdings auf und flüsterte: „Auf jeden Fall solltet Ihr es nicht mehr heute lesen, Falcon. Es ist schon spät und Robin wird Euch morgen sehr früh aus dem Haus jagen.“, und während sie mit einem wundervollem Lächeln und den perfektesten Hüftbewegungen, die ich jemals gesehen hatte, zurück zu ihrem Lager ging, ließ sie das Werk achtlos in die Kiste zurückfallen. Ich beobachtete sie so lange, bis sie wieder auf dem Boden lag, mit dem Rücken zu mir. Um meine peinliche Situation zu verbergen, beschloss ich, trotz Kälte alleine zu schlafen. Ich pustete die Kerze neben mir aus, rollte mich zusammen und starrte das Holz der Kiste vor mir an, mich darauf konzentrierend, meine missliche Lage wieder zu beenden. Sie hatte wirklich wunderbare Hüften, daran gab es keinen Zweifel. Würde Robin es bemerken, wie ich gerade empfand, würde er mich wohl entweder auslachen oder umbringen.

Mary-Ann hatte also wahrhaftig ein Buch verfasst. Kein Wunder, dass ihr Mann so reagierte. Wahrscheinlich hatten ihn sämtliche Geschäftspartner förmlich in der Luft zerrissen, von der kirchlichen Gemeinde mal ganz abgesehen. Aber dennoch hatte sie es getan.

Ich empfand Ehrfurcht für diese Frau, die so viel Leid erlitten hatte und beschloss, ihr Buch zu kopieren. Ihr zuliebe, aber vor allem, damit ihr Opfer nicht umsonst gewesen war. Es war mir gleich, ob Robin erst die anderen Bücher bearbeiten wollte. Ich würde meine Pausen dafür nutzen, Mary-Anns Gedanken zu verbreiten.

Das war ich ihr schuldig!

Feuer und Flamme

Brehms war eine Stadt der Scheinheiligkeit, das hatte ich früh bemerkt, aber dennoch wirkte sie oft wie eine Stadt des Glücks auf mich. Ich liebte die gepflasterten Straßen, die Statuen und Figuren, die Wandmalereien, die Pflanzen, die Sauberkeit und die Ordnung. Ich mochte es, wenn Markt war und man Waren sah, die es in Städten wie Annonce höchstens für die Adeligen gab. Die Menschen waren nicht so mies gelaunt, wie die Annoncer und der Brehmser Humor hatte etwas Eigenwilliges.

Wenngleich ich niemals ein echter Brehmser werden könnte, so gewöhnte ich mir, vor allem durch Slade, dennoch viel von diesem Menschen an. Nicht nur sein freches Auftreten ging an mich über, sondern auch seine Art und Weise, andere zu betrachten. Er brachte mir bei, worauf man achten musste, um den Leuten bestimmte Dinge ansehen zu können. Für vieles gab es Hinweise, seien es Abdrücke von früheren Ringen, kleine Narben, raue Hände oder vergilbte Mundwinkel von Kautabak. Bestimmte Gangarten sagten viel über bestimmte Lebensabschnitte aus und viele gaben sich arm, damit man nicht merkte, dass es bei ihnen etwas zu holen gab. Wir machten uns einen Spaß daraus, Menschen zu beobachten, um zu wissen, wann ihre Waren unbewacht waren.

Slade war fasziniert von den Dingen, die ich von Falcon Ryan Colm gelernt hatte und wir sprachen oft sehr lange und ausführlich darüber. Zwar durfte ich die Bücher nicht aus der Schreibhöhle hinausbringen, aber wenn ich etwas gelesen hatte, erzählte ich ihm davon und der Brehmser hörte mir mit einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit zu. Wir probierten, ob es stimmte, was der Mann geschrieben hatte und oft stellten wir fest, dass es der Fall war. Bestimmte Blicke lösten bestimmte Reaktionen aus und bestimmte Gesten oder Sätze entweder Sym- oder Antipathie. Es machte uns Spaß.

Wir kombinierten sein wachsames Auge mit den Gedankengängen des Autors. Meistens fantasierten wir nur herum, aber es reichte, um uns den Tag zu versüßen.

Im Laufe der Zeit gab es kaum noch einen freien Tag, den ich nicht mit dem Dieb verbrachte. Wann immer es ging, streiften wir durch die Straßen, schlichen über die Dächer oder betranken uns in einem der Wirtshäuser. Robin begann mich zu necken, indem er mich fragte, wo denn mein Schatten wäre, wenn Slade nicht da war und wenn er zu tun hatte, langweilte ich mich schrecklich. Wir investierten unser Einkommen in ein Schachzabel, womit wir endlich ein Spiel fanden, indem wir gleich gut waren und manchmal gaben wir unser Geld für Dirnen aus.

Nevar brachte mir auf Anfrage hin irgendwann ein zweites Buch von Mary-Ann und ich las es, ehe ich es an Robin weitergab. Es ging um die Erziehungsmethoden, die es gab und darum, welche fruchteten und welche nicht. Man merkte, dass sie eine Frau war, denn ein Mann würde wohl niemals über solche Themen schreiben.

Außerdem konnte ich viele, weitere Ketzerswerke lesen, sie studieren und verstand viel mehr von der Welt. Robin erklärte mir zwar, dass in manchen Aufklärungsbüchern übertrieben wurde, aber dennoch vervielfachten wir sie auch weiterhin. Daven zeigte mir, wie man die Zeichnungen kopierte, obwohl ich bei Weitem versagte und Mona machte mir bewusst, wie viele, verschiedene Stil-Mittel es beim Schreiben gab.

Es war eine schöne Zeit, die ich so in Brehms verbrachte und ich liebte sie fast mehr, als jene bei Meister Pepe. Ich lernte mindestens genauso viel, konnte ein wenig Geld zur Seite legen und genoss mein Leben in vollen Zügen. Natürlich musste ich den Blauröcken ausweichen und wenn die Kreuzer durch die Straßen zogen oder patrouillierten, hockten Slade und ich teilweise stundenlang in unseren Verstecken und hofften, dass sie weiter zogen. Ob man mich suchte, wusste ich nicht, aber wenn, fand mich niemand.

Zum Höhepunkt des Winters hin entdeckte man die Schreibhöhle und als wir das Gasthaus erreichten, gab es nur noch Trümmer und unsere Blätter lagen verbrannt auf der Straße. Daven war verschwunden und Mona weinte viel, aber wir zogen nur in ein neues Versteck, in einem anderen Teil des Bezirks. Scheinbar hatte der Mann uns nicht verraten, denn unterhalb des Ledergeschäftes konnten wir lange unbemerkt weiter unserer Arbeit nachgehen. Für einen kurzen Moment wurde mir bewusst, wie gefährlich mein Leben war, trotz allem lebte ich es weiter. Ich hatte nicht vor, mich davon einschüchtern zu lassen, denn mir war von Anfang an bewusst gewesen, was für einer Gefahr ich mich mit diesem Lebensweg ausgeliefert hatte. Nach einiger Zeit bekamen wir einen neuen Illustrator, Thomas, doch er verließ uns bereits nach wenigen Tagen wieder und ein Mann namens Marc übernahm seine Stelle. Slade und Nevar lieferten uns neue Bücher, wir kopierten neue Werke und als wäre nichts passiert, lief alles weiter seinen gewohnten Gang. Ich konnte mir vorstellen, mein ganzes, restliches Leben so zu fristen. Ein wenig kopieren, ein wenig stehlen, zwischendrin das Leben genießen und Spaß haben. Spielabende mit Slade, Trinkabende mit Robin und den anderen. Wieso dieses Leben wieder aufgeben? Ich war glücklich und hatte das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, wobei mir etwas ganz entscheidendes fehlte.

Was dies war, bemerkte ich recht schnell. Besonders, als wir immer öfters gezwungen waren, in der neuen Schreibhöhle zu übernachten. Manchmal kam es vor, dass ich ohne Robin zur Arbeit kam und dann warf ich Mona heimliche Blicke zu und obwohl ich zu Beginn unsicher war, ob ich mich irrte, schien sie diese zu erwidern. Nach einem besonders anstrengenden Abend saßen wir gemeinsam in einer der Ecken und tranken und als wäre dies nicht genug, schlief sie in meinen Armen ein. Marc beobachtete uns, doch der blonde, dickliche Kerl mit den Schweinsaugen machte mir kaum Sorgen. Dies galt eher für Serdon, denn auch dieser starrte zu mir hinüber und mir in die Augen, als könnte er meine Gedanken lesen.

Seit da an versuchte ich, solche Situationen zu vermeiden, aber Robin vertraute mir immer mehr. Er ließ uns häufiger allein und es schien fast, als würde Mona Halt bei mir suchen. Bei einem Zweiergespräch, während wir allein waren, gestand sie mir, dass sie Robin zwar liebte, aber dass dieser sich sehr verändert hatte. Der Ächate lebte für die Samariter und oft hatte sie das Gefühl, für sie gäbe es kaum noch Platz. Tag und Nacht hatte er zu tun, kümmerte sich um alles und schien immer mehr an Kühle zu gewinnen. Es war mir unangenehm und ich wollte das alles nicht hören. Auch, wenn ich Robin nicht sehr gut kannte, verdankte ich ihm viel und wollte ihn als Freund sehen. Dennoch legte ich den Arm um sie und wir küssten uns an diesem Abend. Es fühlte sich anders an, als bei den Dirnen oder mit Melina und als wir uns lösten und Mona mit geröteten Wangen den Raum verließ, dabei sanft meinen Arm streifend, konnte ich nicht anders, als mir an den Mund zu fassen. Es war eine Art Kribbeln und mein Herz schlug schneller.

In den folgenden Tagen sahen wir uns sehr häufig während der Arbeit an oder lächelten uns schüchtern zu. Es erinnerte an das Spiel zweier Kinder, die zu ängstlich waren, sich anzusprechen, sich aber bereits tagelang beobachteten. Wenn Robin dabei war, wich Mona mir aus und auch ich blickte oft zu Boden, aber kaum war er nicht mehr bei uns, galten meine Augen nur noch ihr.

Serdon wurde deutlich misstrauischer und sein Beobachten schränkte uns stark ein. Wir merkten beide, dass wir Gefahr liefen, entdeckt zu werden, aber ich konnte nicht anders. Wir trafen uns nach der Arbeit hinter dem Haus und flüsterten leise miteinander. Meist sprach sie nur über ihren Mann und ich merkte bald, dass ich ihr Trost war und ihr Halt, mehr nicht. Sie sehnte sich nach Liebe und Anerkennung und ich war bereit, ihr diese zu geben, ganz gleich, ob ich nur ein Ersatz war.

Aus den heimlichen, kurzen Treffen wurden Stunden, aus den flüchtigen Küssen Verlangen und ernste Liebkosungen. Wahrscheinlich lag es an der Kälte, dass wir nicht sofort weiter gingen, denn während einer Nacht, die wir nur zu zweit in der Schreibhöhle verbrachten, geschah es dann, dass ich über ihr lag. Noch nie zuvor hatte sich der Liebesakt so unglaublich angefühlt!

Mona warf immer wieder den Kopf in den Nacken, umklammerte mich förmlich und presste mich so stark zusammen, dass es mir fast den Verstand raubte. Die Dinge, die ich bisher mit den Frauen getan hatte, waren nichts im Vergleich zu diesen Gefühlen.

Als es vorbei war, lösten wir uns mit roten Wangen voneinander, nur um erneut zusammenzukommen. Wir wollten am liebsten niemals aufhören und nachdem wir uns trennten, konnte ich es insgeheim kaum noch erwarten, es erneut zu tun. Robins Anblick ließ Reue aufkommen, aber Monas wiederum ließ mich diese vergessen.

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich konnte nicht anders, als mir zu wünschen, dass Robin, Serdon und die anderen verschwanden. Diese wenigen, seltenen Momente, in denen wir allein waren, reichten oft nicht aus, um so weit gehen zu können und ich begann sie zu drängen, sich in unserer freien Zeit mit mir zu treffen. Ich wollte sie öfters sehen, wenngleich ich niemals die Trennung von Robin verlangt hätte und mir war bewusst, dass ihre Liebe an erster Stelle ihm galt. Da Serdon immer aufmerksamer wurde, mussten wir noch mehr Abstand voneinander nehmen und irgendwann bat ich Slade um Rat.

Obwohl ich geheim hielt, um welche Frau es sich handelte, erkannte er meine Situation sofort und lachte mich aus. Mona war attraktiv, da waren wir uns einig, aber würde Robin erfahren, was hier vor sich ging, wäre ich ein toter Mann.

Seinen Rat beherzigend versuchte ich dann zu kopieren, wenn die Halb-Ächatin nicht anwesend war, aber das stellte sich als ausgesprochen schwierig heraus. Da ihr Mann von unseren Liebeleien nichts wusste, trafen wir durch ihn immer wieder aufeinander und begannen förmlich, voreinander zu fliehen. Direkte Gespräche waren kaum möglich, da Mona nervös wurde, sich verhaspelte oder meinen Blicken auswich. Ich wiederum driftete in Gedanken ununterbrochen ab oder missverstand, was sie sagte.

Unserer Anführer wäre ein Idiot, hätte er nicht bemerkt, was hier vor sich ging. Dementsprechend war es auch kein Wunder, dass ich mich irgendwann mit ihm in einem Zimmer befand, Serdon mürrisch im Hintergrund. Der etwas Kleinere griff mich am Arm und wies mich eindringlich daraufhin, dass Mona zu ihm gehörte. Vielleicht war er kein guter Ehemann, aber er liebte sie und er würde nicht zulassen, dass ich sie verführen würde. Er machte mir deutlich, dass ich nicht das Recht hatte, Hand an sein Weib zu legen und auch, dass er ein Auge auf mich hatte. Erst nach mehrmaligem Versprechen, Mona niemals anzufassen, ließ er mich in Frieden und von da an war der Ächate deutlich kühler. Dass dies bereits geschehen war, behielt ich für mich und ich hoffte, Mona tat das gleiche.

Wann immer wir uns seit da an trafen, sprachen wir nur sehr oberflächlich miteinander und fast immer warfen wir unsicherer Blicke zu ihrem Mann. Dieser wiederum suchte deutlich intensiver Kontakt zu der Halb-Ächatin, um mir deutlich zu machen, wo sein Platz war und wo meiner. Es quälte mich, sie neben ihm sitzen zu sehen und ihr Liebesgeflüster zu hören. Es ging so weit, dass ich eines Nachts mit anhören musste, wie sie es taten und mir drehte sich fast der Magen um.

Slade hatte kaum Mitleid mit mir, aber trotzdem versuchte er, mich zu trösten. Wir suchten noch häufiger Dirnen auf oder betranken uns und ließen es uns gut gehen. Mit dem Tauen des Schnees kam auch das Leben zurück in die Stadt, aber nichts konnte mich wirklich von ihr ablenken. Mit Beginn der Märkte gab ich immer öfters Geld für Schmuck aus, aber der Dieb nahm ihn mir mit deutlichen Ermahnungen wieder ab. Würde Mona ihn wirklich tragen, wäre das mein sicheres Ende. Ich sollte von ihr ablassen und mir eine neue Liebe suchen, aber das war leichter gesagt, als getan.

Zu Winterende hin bekamen wir einen sehr großen Auftrag, denn Robin brachte uns ganze zwölf Bücher und ich war fast dankbar dafür, dass wir nur wenig Zeit hatten, mit ihnen fertig zu werden. Der Druck unserer Arbeit wuchs fast ununterbrochen. Wir mussten mehr arbeiten, schneller und intensiver, aber auch die Gefahr stieg weiter an. Als wären sie Teil des Frühlings gab es nicht nur immer mehr Knospen auf den Brehmser Straßen, sondern auch Kreuzer und Soldaten. Allem Anschein nach hatte jemand etliche Ketzerswerke in die katholische Bibliothek geschmuggelt und auf einigen Gottesdiensten hätte es Aufstände gegeben. Die Samariter nahmen allmählich überhand und die Inquisition plante angeblich, härter durchzugreifen.

Wir nahmen an einem dieser Gottesdienste Teil und ich wurde das erste Mal Zeuge davon, was für eine Macht ‚Die Gruppe’ hatte. Der Priester stand weit vorn und predigte auf Latein, als plötzlich jemand aufsprang und widersprach. Er stellte Fragen und den Mann zur Rede, dann folgte ein weiterer Mann und wenige Sekunden später standen alle auf ihren Füßen und das Gebäude war erfüllt von Protesten und Vorwürfen. Eine Frau hielt ein Schriftstück in die Luft und brüllte, dass das, was der Mann behauptete, nicht in der Schrift zu finden war und ein alter Herr verlangte den Beweis, dass Ablassbriefe Gottes Wille wären.

Von da an nahmen wir immer öfter an solchen Messen Teil oder ließen einzelne Blätter beabsichtigt in den Kirchen zurück. Unser Ziel war es, auch den Geistlichen die Augen zu öffnen oder zumindest ihren Helfern, die die Kirchgänge aufräumten und die Blätter fanden. Wir mussten zum Nachdenken anregen und merkten, dass wir auf dem besten Wege waren, dieses Ziel in die Tat umzusetzen. Zwei mal noch kam es vor, dass wir einen neuen Arbeitsplatz suchen mussten, da unser vorheriger entdeckt wurde und ein weiteres Mal verschwanden Leute aus unserer Reihe. Marc kam eines Tages einfach nicht mehr zu den Treffen und wir erfuhren von Nevar, dass er tot war. Auch Robin verschwand, aber nach wenigen Tagen kehrte er zurück, voller blauer Flecke. Die Kreuzer sammelten jeden auf, der ihnen irgendwie verdächtig erschien und zu unserem Nachteil suchten sie sich solche besonders aus den ärmlicheren Vierteln heraus.

Als wäre das nicht genug, kam eines Abends Nevar zu uns in die Schenke und verkündete, dass ‚der alte John’ zu Besuch wäre. Ich wusste im ersten Moment nicht, wen er meinte, doch als Robin laut auflachte und mit Slade, Serdon und zwei anderen, mir fremden Männern ‚der Gruppe’ anstieß, verstand ich:

Sie hatten es geschafft, O’Hagan nach Brehms zu locken. Ein Zeichen dafür, dass die Inquisition Unterstützung brauchte, um gegen die Samariter vorzugehen.

Mich freute es eher wenig, aber natürlich verstand bis auf Nevar niemand, wieso. Während alle feierten, saß ich nur leichenblass in einer Ecke und starrte in mein Bier. Wenn der Gouverneur extra bis nach Brehms kam, hatten wir durchaus Fortschritte gemacht, aber Fakt war, dass dies für mich nur umso gefährlicher sein könnte. Wenn er mich sah und schlimmstenfalls erkannte, war es aus.

Der Attentäter legte mir eine Hand auf die Schulter und ich weiß noch heute, wie er zu mir hauchte: „Ihr habt die Hölle gewählt, Falcon, also dürft Ihr Gottes Hand nicht fürchten.“

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Wahrscheinlich hatte er Recht, aber es war leichter gesagt, als getan. Weder Slade, noch Robin und schon gar nicht Mona wussten von meinem Leben als Sullivan O’Neil. Wie sollte ich ihnen klar machen, dass O’Hagan mich kannte, hasste und vielleicht sogar noch suchte? Die Frage wurde mir nur umso ernster, als Robin beschloss, dass wir an O’Hagans Rede teilnehmen würden. Er wollte ein paar Worte zum Volk sagen, mit einem großen Fest und viel Trara. Der Ächate fand es amüsant, zu sehen, was er zu den Äußerungen zu sagen hatte und auch, wie er mit den Früchten der Samariter umging.

Ich hingegen fand es alles andere als amüsant. Ich wollte nicht mit, kam aber nicht drum herum und allmählich merkte sogar Slade, dass etwas nicht stimmte.

Wenige Tage vor diesem großen Ereignis griff er mich beiseite und fragte mich ernst, was mit mir los sei. Er wollte wissen, was mich beschäftigte, wieso ich so unkonzentriert war und ob mich etwas belastete. Ich wäre zwei Mal fast beim Stehlen erwischt worden und beim Kopieren machte ich ununterbrochen Fehler. Nachts lief ich im Zimmer umher oder machte stundenlange Spaziergänge durch die Stadt. Es brachte nichts, ich konnte es ihm nicht verheimlichen, aber ich konnte es ihm auch nicht sagen.

Stattdessen lautete meine Begründung, dass mir Mona im Kopf herumschwirrte. Ich schob es auf Liebeskummer, obwohl ich es allmählich geschafft hatte, sie aus meinem Hinterkopf zu verdrängen und das Ergebnis war eine lange, spöttische Predigt, dass ich sie niemals kriegen würde und dass sie nun einmal auf kleine Männer stand und nicht auf Annoncer.

Slade machte sich einen Spaß daraus und ich war gezwungen, darauf einzugehen und mitzulachen. Im Innern allerdings machte mich das Zusammentreffen mit O’Hagan nervös.

Ich hatte Angst vor ihm.

Als die Rede dann endlich kam, sammelten sich etliche Menschen auf dem Brehmser Hauptplatz und drängten sich dicht aneinander. Der Matsch ging uns bis zu den Knochen, der geschmolzene Schnee bildete überall tiefe Pfützen und wir rutschten unbeholfen hin und her. In der Mitte hatte man ein Podest aufgebaut, auf dem einige Uniformte standen. Rot- wie Blauröcke, aber vor allem etliche Kreuzer.

Unsere Gruppe bestand aus Slade, Robin, Serdon und mich und wie die meisten um uns herum, hatten wir uns in dicke Umhänge gehüllt, um die Kühle ertragen zu können. Trotz der beengenden Masse spürten wir jeden Windzug und das Gedrängel und laute Gerede um uns herum machte es nicht angenehmer. Ich war zwar dagegen, dennoch kämpften wir uns so weit nach vorne, wie es ging. Wir sollten alles hören können, was der Gouverneur den Menschen zu sagen hatte und wenn möglich, seinen Blick sehen. Robin wollte den Triumph spüren.

Wir schoben die Masse beiseite, stießen mit den Ellenbogen und Slade ließ hier und da eine Münze oder anderes verschwinden. Ich allerdings konzentrierte mich nur auf das Holzgestell.

Es erinnerte an eine Hinrichtung aus Annonce, nur ohne Galgen. An der Seite gab es eine kleine Treppe und viele Soldaten standen drum herum, um zu verhindern, dass die Leute das Gestell stürmten. Als würden sich alle im Mittelpunkt treffen wollen, wurde gedrängelt und geschubst und immer wieder trafen Soldat und Fußvolk aufeinander.

Als wir uns in die erste Reihe gekämpft hatten, wurde der Drang von hinten so stark, dass ich gegen den Brustkorb eines Soldaten gepresst wurde. Mein Gesicht so gut, wie es ging, verdeckend, entschuldigte ich mich und versuchte Abstand zu halten. Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschah, wenn einer der Kreuzer mich entdeckte oder gar erkannte.

Slade lachte: „Das ist ein Spaß, was?“, doch ich gab nur einen verächtlichen Laut zurück. Für mich war es nicht ansatzweise lustig.

Nach einigen Minuten versuchte ich, Abstand zu nehmen, aber Robin hielt mich fest. Er zischte: „Wo wollt Ihr hin, Falc’dhe?“

„Es ist mir zu voll.“

Der Dieb neben mir spottete: „Annoncer, nie zufrieden.“, ehe er mir die Hand auf den Rücken legte und verschwörerisch wisperte: „Denkt nur, was gleich hier los sein wird! Habt Ihr Euch umgeguckt? Wie viele der Leute Papier in den Händen halten? Das wird gleich ein riesiges Spektakel werden, das dürft Ihr Euch nicht entgehen lassen!“

Auch der Ächate stimmte ein: „Ihr wolltet etwas bewegen, Falcon, jetzt ist es so weit, zuzusehen, wie der Stein ins Rollen kommt.“

Da ich nichts zu erwidern wusste, blieb ich stehen, seufzte innerlich und zog die Kapuze noch ein Stück mehr hinunter. Mir war nicht gut bei der Sache. Mein Instinkt sagte mir, dass ich das Weite suchen sollte, so lange es noch ging.

Irgendwann raunte die Menge auf und Robin zischte ein ächatisches Schimpfwort: O’Hagan kam. Wir konnten nur halb sehen, wie die Menschen sich teilten, um ihn durchzulassen und die Reaktionen der Leute um uns herum waren mehr, als nur verschiedenen. Während die einen schrieen und jubelten, gab es jene, die brüllten, dass er Gott verraten hätte und dass er zurückgehen sollte, dorthin, wo er herkam. Es dauerte nicht einmal Sekunden und eben diese wurden von den Kreuzern aus der Menge gezerrt. O’Hagan selbst schien es nicht zu interessieren. Es war ein Wunder, dass kein Gemüse flog oder gar Steine. Als er den Mittelpunkt erreichte, stellte er sich seelenruhig hin und mit einem Mal war es still. Auch ich hielt den Atem an und konnte nicht anders, als dem Mann entgegen zu starren.

Da war er: John Anderson O’Hagan, der Vertreter der heiligen Inquisition aus St. Katherine, sogar höher stehend als Domenico. Gottes Rechte Hand und die linke des Gesetzes.

Er hatte sich nicht verändert und mich durchfuhr ein Kribbeln, gefolgt von Gänsehaut. Ich hatte Respekt vor diesem Mann, aber da war noch etwas, tief in mir drin. Seine eisblauen Augen musterten die Menschen vor sich geradezu gelangweilt und als sein Blick für einen kurzen Augenblick auch mich streifte, legte sich bei mir eine Art Schalter um. Die Angst verschwand, stattdessen spürte ich Hass und unbändige Wut. Seine Gleichgültigkeit und die Tatsache, dass er mich einfach übersah, entflammte ein Gefühl der Abscheu in mir. War er es nicht gewesen, der mein Leben zerstört hatte? War er es nicht gewesen, durch den ich bei Domenico gelandet war? Und er war es, der Schuld an Mary-Anns Tod trug, nicht ich! Er war schuld daran, dass Annonce so sehr litt und auch an den tausend Toden, die die Menschen, als Hexer gebrandmarkt, sterben mussten!

Die Glocke der großen Kirche am Ende des Platzes läutete den Mittag ein und ihr Klang untermalte das Schweigen um uns herum nur noch mehr. Er hallte an den hellen Wänden der etlichen Gebäude wider. Kurzes Geflüster, keiner wagte es laut zu sprechen, dann übergab man dem Gouverneur eine Schriftrolle.

Seine Rede schien lang zu werden, denn sein Papier war es allemal, aber bereits nach den ersten Absätzen ließ er sie einfach sinken. Nein, dieser Mann brauchte kein Papier. Das, was er von sich gab, kam aus seinem Innern. Er sprach voller Ernsthaftigkeit und Überzeugung und mit einer Kraft in der Stimme, die jeden in seinen Bann zog.

Der Mann mit den schwarzen Haaren, der roten Uniform und den vielen Abzeichen sprach lange, sehr lange, aber kein einziges Mal unterbrach man ihn. Alle starrten ihm entgegen, auf das goldene Kreuz um seinen Hals oder das Schwert an seinem Gürtel. Er erklärte, warum er hier war und was er plante. Er erklärte auch, dass Dinge geschahen, die ein Symbol des Bösen waren. In seiner Rede machte er allen deutlich, dass Gott uns helfen würde, aber wir durften uns nicht von den Dingen blenden lassen, die aus menschlicher Hand kämen. Denn die Menschen waren leicht zu manipulieren und der Abtrünnige konnte uns jederzeit zu Taten treiben, die wir selbst eigentlich nicht wollten.

Er erklärte, dass Ablassbriefe die einzige, wirkliche Art und Weise der Buße wären, denn Brehms wäre eine Stadt des Fortschritts und Folter und Scheiterhaufen allein konnten unmöglich die letzte Hilfe sein oder nicht?

Alles, was wir uns aufgebaut hatten, schien wie ein Kartenhaus in sich zusammenzubrechen, immer öfter hörte ich Robin fluchen. Der Gouverneur manipulierte die Menschen und wenn jemand aufbegehrte, setzte er sich mit der Person auseinander und überzeugte ihn vom Gegenteil. Am Ende stimmten fast alle zu. Er griff einen Stapel Bücher und Schreibgut, nur, um ihn vor den Augen aller zu entzünden.

Wissen war Macht, ja, aber falsches Wissen trieb die Menschheit in die falsche Richtung. Immer wieder machte O’Hagan dem Volk deutlich, wo Brehms vor vielen Jahren stand und wie die Stadt heute aufgebaut war. War dies keine Besserung? War dies nichts Gutes? Und wie sollte man da noch widersprechen? Es war blanker Wahnsinn, wie sehr er es schaffte, mit wenigen Worten so viele zu überzeugen.

Wir sahen zu, wie die Soldaten haufenweise Papier heranschafften. Das Feuer auf dem Podest wuchs immer mehr an, die Flammen streckten sich zum Himmel und die Asche flatterte in alle Richtungen. Bücher, Pergamente, aber auch einfache Notizzettel, die die Inquisition in den letzten Tagen konfisziert hatten. Viele davon stammten von den Samaritern, aber die meisten aus den Bibliotheken der Inquisition. Auch jene Werke aus der Deo Volente wurden nun dem Feuer übergeben. Dies sollte ein für allemal ein Zeichen setzen.

Für uns war es eher ein schlechtes Bild, denn damit schwanden unsere Quellen. Slade brummte abfällig und zischte: „Das habe ich mir anders vorgestellt.“, doch der Ächate neben uns deutete ihm, leise zu sein.

O’Hagan sprach weiter, während alle riefen, dass er den die Gottlosigkeit niederstrecken sollte. Er erklärte, dass wir alle zusammenarbeiten mussten, wenn wir eine Stadt des Herrn wollten. Wir mussten am selben Strang ziehen und den Teufel gemeinsam verjagen. Er machte niemandem Vorwürfe, denn den Dämonen war es ein leichtes, die Menschen zu täuschen. Viel mehr bat der Vertreter darum, nein, forderte er uns auf, uns nun zusammenzuschließen und ihm zu helfen, Brehms von ihrer Gottlosigkeit zu bereinigen.

Unser Umfeld jubelte so laut auf, dass es in meinen Ohren dröhnte und wieder wurden wir gegen die Soldaten vor uns gedrückt. Es war nicht zu fassen! Der Rauch zog lange, dunkle Säulen in den Himmel und gebannt sah ich zu, wie einige der Soldaten mit Holzstangen aufpassten, dass auch ja alles in Flammen aufging. Das sollte unser Triumph sein? Unser Grund, heute Abend zu feiern?

Wieder zischte Robin etwas in fremder Sprache, dann drehte er ab und wir kämpften uns durch die Menge. Wir wollten weg vom Hauptplatz, uns war nicht mehr nach feiern.

Doch das, was O’Hagan anschließend von sich gab, brachte uns dazu, zurückzusehen.

Man hörte deutlich, dass es ihn anstrengte, weiterhin laut genug zu sprechen, dennoch verkündete er, dass die Deo Volente die vollste Unterstützung bekommen würde, gegen das Verbreiten dieser Lügen vorzugehen. Aus diesem Grund wurde jeder Bewohner der Stadt augenblicklich dazu aufgefordert, sich auszuweisen und obendrein in den nächsten drei Tagen sämtliches Schreibwerk, was er besaß, zusammenzusammeln und kontrollieren zu lassen. Jedes Widersetzen, Verstecken von Ketzerswerken oder Aufzeichnungen, würde schwere Strafen des Herrn nach sich ziehen. Alles, seien es Tagebücher oder Notizzettel, sollte von der Inquisition abgesegnet werden.

Robin, Slade, Serdon und ich starrten uns an, als hätten wir uns verhört, aber die Blicke des anderen machten deutlich, dass dies nicht der Fall war.

Meinte der Gouverneur das ernst? Wollte er alles lesen, was es in der Stadt zu lesen gab?

Dass er Hausdurchsuchungen ankündigte, bekamen wir nur halb mit. In unseren Hinterköpfen ratterten die Schreibhöhlen und die Verstecke der Bücher umher, dann beeilten wir uns, den Platz schleunigst hinter uns zu lassen.

Wir mussten die Bücher verstecken.

Wir mussten die Schreibstuben verstecken.

Wir mussten die Samariter warnen und vor allem:

Wohin sollten wir?

Wellengang

„Und jetzt?!“, wollte einer jener drei, mir fremden Männer wissen.

Wir hatten uns in den Keller eines Wohnhauses zurückgezogen, saßen um einen runden Tisch herum und das einzige Licht, das es gab, spendete eine Kerze in der Mitte. Insgesamt waren wir sieben Personen, aber bis auf unsere übliche Gruppe kannte ich niemanden. Weder den Sprechenden, der gereizt auf den Tisch schlug, noch den großen mit Stoffmütze oder seinen scheinbaren, jüngeren Bruder, dem das Haus gehörte. Ich saß auf einem kleinen Fass, beobachtete alle anderen und lauschte seinen aggressiven Worten, als der mir Fremde fortfuhr: „Jetzt haben wir nicht nur die Inquisition am Hals, nein, sogar O’Hagan persönlich! Ich dachte, er würde sich endlich dazu bereit erklären, sich dazu zu äußern, stattdessen schnippst er und alle sind gegen uns!“

Als Slade verächtlich schnaubte, sahen ihn alle sofort an. Er hatte die Beine länglich vor sich überschlagen und die Arme verschränkt, gelangweilt, aber auch gereizt. „Verwundert Euch das?“, wollte er wissen. „Die Menschen haben Schiss. Als würden sie den Mund aufmachen, wenn Gottes Hand auf dem Podest steht und auf sie zeigt. Dann könnten sie ihm gleich ein Kreuz zum daran nageln schenken.“

Angestachelt fauchte man ihn an: „Ihr findet das wohl witzig, was?! Aber war ja nicht anders zu erwarten! Ich habe gleich gesagt, dass, wenn wir Verbrecher wie Euch aufnehmen, wir nur noch mehr Probleme bekommen!“

Erneut ein verächtliches Schnauben, aber ansehen tat der Straßendieb den Mann nicht. Ich fragte mich insgeheim, was der Kerl sagen würde, wenn er wüsste, wie meine Vergangenheit aussah. Gleichzeitig war ich froh, dass keiner Interesse daran zu haben schien, sie hinauszuposaunen.

Robin saß als einziger auf einem Stuhl und starrte abwesend vor sich auf die Tischplatte, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Serdon, ich nannte ihn oft scherzhaft seinen Schatten, befand sich wie meistens an der Tür und hielt Wache. Da unser Anführer sich nicht einzumischen schien, nutzte der Ältere der beiden Brüder seine Chance, das Feuer noch etwas anzuheizen, indem er zischte: „Wenn man mich fragt, sollte O’Hagan mit dem Hängen bei Schlitzohren wie Ihr es einer seid anfangen, dann würden wir alle wenigstens in einer ehrenvollen Gemeinschaft sterben!“

„Ehrenvoll, hm?“, jetzt verlor sogar Slade seinen Respekt. Als er aufsah, waren seine Augen kühl und spöttisch. Lauernd sah er dem Mann mit Mütze entgegen. „Was wisst Ihr schon von Ehre?“

Diesmal war es der Jüngere, der Antwort gab. Es spuckte auf den Steinboden, wischte sich über die Nase und knurrte: „Mein Bruder hat mehr, als Ihr, Slade, so viel ist sicher. Ihn haben sie nicht rausgeworfen, weil er die Kasse plündert.“

Es war nicht auszuhalten. Slade und ich seufzten fast zeitgleich und während er sich im Raum umsah, rieb ich mir die Schläfen. Wahrscheinlich wusste keiner von uns beiden, was das alles nun mit O’Hagan zu tun hatte und keiner von uns hatte Lust auf solcherlei Diskussionen. Das war wohl auch der Grund, wieso er einfach anfing, die anderen anzuschweigen, während die drei sich immer mehr aufstachelten. Sie bestätigten sich gegenseitig, begannen mit Vorwürfen und verloren das Thema O’Hagan immer mehr aus den Augen. Stattdessen war es plötzlich unheimlich wichtig, dass in der Kasse der Samariter schon seit Wochen Münzen fehlten und das war schließlich Beweis genug dafür, dass Gesindel ausgeschlossen werden sollte.

Ich ließ meine Blicke durch das niedrige Zimmer schweifen, musterte die kahlen, feuchten Wände, eine fette Ratte die den Boden abging und die Pfütze, die sich in der hintersten Raumecke gebildet hatte, da es durch das Fenster zu tropfen schien. Es ging wohl bereits seit Jahren so, denn der Boden unter dem Nass war durch das ständige Aufprallen bereits gewölbt. Mit den Augen konnte ich genau nach verfolgen, wie der Schimmel sich stückweise ausgebreitet hatte.

Erst, als Robin den Kopf hob und etwas von sich gab, war es wieder ganz still. „Seid ihr jetzt fertig?“

Seine Miene zeigte deutlich, dass die Lage ernst war, aber vor allem, dass er überlegte und bemüht war, Ordnung in die Lage zu bringen. Ein richtiger Anführer, schoss es mir durch den Kopf und das war er. Selbst jetzt strahlte er keinerlei Unruhe aus und seine Stimme war so stark und selbstsicher, dass sich alle Gemüter wieder beruhigten. Wir sahen zu, wie er sich zurücklehnte, sich durch das schwarze Haar fuhr und tief Luft holte. „Aye, wir haben ein Problem. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns jetzt gegenseitig anklagen müssen – das wird noch früh genug passieren. Die Sache war anders geplant, das gebe ich zu. Wir gingen alle davon aus, dass er endlich zu den Konflikten stehen würde, stattdessen holt er zu einem weiteren Feldzug aus.“

„Ein weiterer Feldzug?“, wurde der Ächate vom ersten Sprecher wütend unterbrochen. „Gott verflucht, er lässt die ganze Stadt nach uns absuchen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er uns findet! Wenn er einen hat, kriegt er durch diesen den nächsten und so weiter!“

Der Mann mit der Mütze lachte ihn aus: „Hast wohl Schiss, was?“, doch ich schnaubte nur verächtlich: „Wenn er keine Angst um sein Leben hätte, wäre er entweder ein Idiot oder nicht klar bei Verstand. Seien wir realistisch: Für uns sieht es alles andere als gut aus. Es ist, wie er es sagt, mit einem Gefangenen lässt sich leicht der Rest der Gruppe finden. Es ist für O’Hagan ein leichtes, das Gebiet immer mehr einzukreisen, bis er uns hat. Wahrscheinlich lässt er gerade in diesem Moment die ersten Personen festnehmen, wenn nicht gleich befragen und hinrichten. Und sie müssen nicht einmal Samariter sein. Die Vorführungen werden reichen, um die Angst zu verstärken.“

Ich konnte deutlich erkennen, dass die drei mich anstarrten, als wäre ich bis vor kurzem noch gar nicht im Raum gewesen. Wie zur Bestätigung zischte einer von ihnen zu Robin „Wer ist der Kerl?!“, doch dieser ignorierte ihn und hob nur eine Hand, damit er schwieg. Er fragte mich: „Wie meint Ihr das, Falc’dhe?“, und ruhig begann ich zu erklären:

„Die Menschen fürchten um ihr Leben, Robin. Sie werden mit dem Finger auf jeden zeigen, der ihnen hilft, von sich selbst abzulenken. Nicht nur, dass die meisten O’Hagan bei seiner Suche unterstützen werden, nein, sie werden sämtliches Schreibgut, so wie etliche Gerüchte zusammentragen, und so wird jeder noch so kleine Stein umgedreht werden. Es reicht nur, dass einer eine Vermutung ausspricht. Drei weitere werden eifrig nicken und ehe wir uns versehen, stehen wir vor dem Schafott. Wir könnten jetzt alles, was wir kopiert haben oder kopieren wollten verstecken, aber ich bezweifele, dass wir auch nur die Hälfte davon retten können.“

Etwas in Robins Augen veränderte sich und ich konnte deutlich erkennen, dass für Slade das gleiche galt. Ich, ein Außenstehender, mischte mich nicht nur ein, sondern bekam sämtliches Gehör des Anführers? Einigen passte es nicht, andere wiederum wurden mehr als nur aufmerksam. Ich spürte, dass der ältere Bruder nun von den anderen wissen wollte, wer ich war, aber auch dieses Mal bekam er keine Antwort.

„Also was schlagt Ihr vor?“, wieder ging Robins Frage an mich. Ich versuchte, selbstsicher zu wirken. In meinem Hinterkopf warnte mich eine Stimme, dass der Ächate mich testen wollte

und ich erinnerte mich an das kurze Gespräch zwischen ihm und Nevar.

‚Was habt Ihr zu verlieren, Robin? Gebt ihm eine Chance.’, hatte er gesagt. ‚Ich habe ihn nicht hierher gebracht, damit Ihr ihm Taschenspielertricks beibringt.’

Allmählich verstand ich, dass er damit nicht das Kopieren der Bücher gemeint hatte.

„Wir haben zwei Möglichkeiten.“, meine Stimme war sehr leise und ernst. Fast so, als würde sie nur dem Ächaten gelten. Ich wollte ihn beeindrucken und von mir überzeugen. „Entweder, wir versuchen so viel zu retten, wie wir können, verlieren das Meiste und obendrein viele Männer und wenn es vorbei ist, versuchen wir weiter zu machen – wobei wir wieder am Anfang wären und es durch dieses Exempel schwerer werden wird, neue Anhänger zu finden. Oder aber...“, ich zögerte kurz, wirklich nur einen Augenblick.

Sofort fragte jener mit Mütze: „Oder?“, aber Robin hob die Hand abermals und deutete ihm, den Mund zu halten, diesmal mit einem drohenden Blick.

„Oder aber, wir machen weiter wie bisher, nur schneller, effektiver und gezielter.“, erst jetzt sah ich auch die anderen an, so selbstsicher, wie es ging. „Aufklärungsbücher sind zwar schön und gut, aber sie helfen uns gerade nicht weiter. Wir müssen darauf verzichten, Bücher zu kopieren. Sie brauchen nicht nur zu lange, was die Herstellung angeht, sondern auch das Lesen – oft regen sie zwar zum Nachdenken an, aber es ist nicht einmal gesagt, dass die Werke bis zum Ende gelesen werden. Zwar können wir sie weiterhin Gelehrten zukommen lassen, aber was bringt es uns? Sie können unmöglich so riesige Texte mündlich weitergeben.“

„Nehmt es mir nicht übel, Falcon.“, mischte sich Slade ruhig ein und zog eine Augenbraue hoch. „Ihr seid noch nicht lange genug dabei, um zu verstehen, wie unsere Gruppierung wirklich funktioniert. Ich denke nicht, dass Ihr für uns die Pläne schmieden solltet.“

Damit waren die meisten einverstanden, denn ich registrierte im Winkelblick, wie einige nickten.

Ruhig gab ich zu: „Vielleicht verstehe ich nicht den kompletten Aufbau und bin in tiefer gehende Dinge nicht eingeweiht, aber eines weiß ich:

Wir sind zu langsam und die Wellen, die wir schlagen, nicht stark genug. Mit kürzeren Texten können wir mehr Menschen in weniger Zeit erreichen.“

Es knarrte direkt über uns und alle sahen zur Decke, binnen weniger Augenblicke herrschte Stille.War dort jemand? Serdon öffnete die Tür ein Stück, um zu lauschen. Kein Laut drang zu uns hinunter und auch die Dielen waren mucksmäuschenstill. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich versuchte das Bild von herunterpolternden Soldaten zu vertreiben.

„Es gibt aber keine kurzen Bücher.“, wandte einer der Brüder ein, etwas leiser als zuvor. „Außerdem kommt noch das Binden der Bücher hinzu, so wie das Finden der Schriftstücke. Es ist wirklich nicht leicht, an solches Schreibwerk heranzukommen. Wir dürfen nicht wählerisch sein und nur noch knappe Bücher nehmen.“

„Dann pfeift darauf!“, ich wurde nur umso ernster und mit Nachdruck bewegte ich etwas die Hände beim Reden. „Denkt doch mal nach: Müssen es denn unbedingt Bücher sein, die wir kopieren? Natürlich haben wir damit einiges bewegt, wir haben es geschafft O’Hagan nach Brehms zu holen, aber allmählich sollten wir die Taktik ändern. Ihr müsst doch selbst merken, dass wir damit gegen eine gigantische Mauer rennen.“

„Wollt Ihr damit sagen, das, was wir tun, ist sinnlos?!“, fauchte man mich von der anderen Seite her an. Die drei hielten zusammen, das merkte man deutlich. Dennoch hatte ich nicht vor, meine Ideen einfach fallen zu lassen.

„Man hat doch längst erkannt, woher wir unsere Quellen nehmen! Die Inquisition wird uns diese Quellen, die ohnehin schon sehr nüchtern sind, noch stärker kürzen. Wenn wir uns weiter auf Bücher und Schreibgut der Gelehrten stützen, werden wir nicht nur langsamer – er kann uns damit die idealen Fallen stellen und weiß, wonach er suchen muss!“

Der Ächate nickte ruhig. „Aye, ich denke, ich verstehe, worauf Ihr hinaus wollt. Wenn O’Hagan unseren Weg kennt, weiß er, wie wir laufen und dann ist es ein leichtes, uns auf diesen Wegen abzufangen.“

„Richtig. Wir schreiben eigene Texte, kurz und knapp, vervielfältigen sie und verteilen sie in der Stadt. Es ist anstrengend die Bücher gut zu verkaufen, so, dass es sich lohnt und die Ausgaben nicht überwiegen, nicht wahr? Zettel könnten wir an Bäume, Mauern oder gar an die Kirchentüren nageln. Jeder könnte sie sehen. Gut, wir würden nicht viel verdienen, im Grunde gar nichts – aber wir erwecken den Eindruck, dass wir uns nicht unterkriegen lassen und mehr sind, als O’Hagans Männer. Die Brehmser würden weniger Angst haben und uns vielleicht sogar unterstützen. Wenn wir jetzt einen Rückzieher machen oder weiter arbeiten, wie bisher, ist alles umsonst gewesen. So könnten wir es schaffen, der Inquisition zu trotzen!“

Wirklich jeder setzte sich mit diesen Gedankengängen auseinander, denn es wurde still und alle Augen wanderten von mir auf den Boden. Ich blieb ebenfalls ruhig und ließ jedem einzelnen Zeit und Ruhe, über meine Worte nachzudenken.

Zeitgleich überlegte ich selbst, wie es für mich weitergehen sollte. Ich wollte die Samariter auch weiterhin unterstützen, aber war es wirklich gut, mich O’Hagan förmlich auszuliefern? Es war lange her, dass ich mit ihm aneinander geraten war und vielleicht würde er sich gar nicht mehr an mich erinnern, allerdings glaubte ich daran nicht wirklich. Ob er wohl noch diese mysteriöse Truhe suchte? Oder hatte er sie mittlerweile gefunden? Lebte Black noch? Wusste Black, wo sie war? Wusste O’Hagan von den Dingen zwischen Domenico und mir und spielte das jetzt wirklich eine Rolle?

Nach einigen Minuten stand Robin in aller Ruhe auf. Er band seine dunklen Haare wieder zu einem Zopf zusammen und fast wie wartende Hunde starrten ihn alle an, bereit, seine Anweisungen zu hören. Er hatte über alles nachgedacht und war scheinbar zu einem festen Entschluss gekommen, denn ich hörte keinerlei Zögern in Robins Stimme, als er uns in seine Gedanken einweihte. Für ihn war alles geklärt, so schien es, für die anderen aber umso weniger. Kaum sagte er: „Aye, also gut. Falc’dhe.“ Begann eine heftige Diskussion.

Weder die zwei Brüder, noch der letzte Mann waren mit dieser Lösung einverstanden, schon allein, da die Ideen von mir kamen und ich war ihnen gänzlich unsympathisch.

Während die drei also anfingen auf den Ächaten einzureden, dass somit all ihre Kopierarbeit der letzten Tage umsonst gewesen wäre, von dem Besorgen der Schriftstücke mal ganz abgesehen, seufzte Slade erneut schwer, lang und gedehnt. Er hatte im Laufe des Gesprächs eines seiner Messer gezogen und nun sah ich zu, wie er damit desinteressiert seine Nägel reinigte. Ein absurdes Bild, wenn man seine dreckigen Kleider beachtete.

„Was denkt Ihr darüber?“, wollte ich wissen und rückte mit meinem Fass ein bisschen näher an den Dieb heran. Ich sprach leise, damit die anderen uns nicht hörten. „Sollen wir weitermachen, wie bisher?“

Ein verächtlicher Laut war das erste, was ich hörte, ansehen tat Slade mich jedoch nicht. „Wenn Ihr mich fragt: Es ist ganz gleich, was wir tun. Die Stadt, das Land, nein, die Welt gehört der Inquisition. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Es ist vollkommen egal, ob wir Bücher kopieren, Zettel an Wände nageln oder dem Papst in seinen heiligen Nachttopf scheißen und das dann auf seinem gesegneten Kopfkissen auskippen. Es wird immer Idioten geben, die denken, sie hätten mehr Rechte als wir, ganz gleich, was wir tun. Wenn sich nicht die Krone über uns stellt, wird es die Kirche sein und wenn nicht die, dann irgendwer anders. Verflucht sollen sie sein - sogar diese Idioten da denken, sie wären mehr wert, als ich.“

Das, was er von sich gab, klang so gelangweilt und desinteressiert, fast schon ganz selbstverständlich, dass ich für einige Sekunden keine Antwort wusste. Stattdessen bekam ich halb mit, dass der Mützenmann nun irgendetwas Ausländisches fluchte. Die Diskussion wurde immer hitziger und es fehlte nicht mehr viel, dann würde ein Streit ausbrechen.

Verwirrt fragte ich: „Aber wenn Ihr so denkt, wieso unterstützt Ihr die Samariter dann?“

Slade grinste mir direkt ins Gesicht, was mich nur noch mehr verunsicherte, als er zur Antwort gab: „Ich wollte schon immer mal in eine heilige Bettpfanne scheißen, Ihr etwa nicht?“, und für einen kurzen Moment sah ich wieder seinen Goldzahn.

Meinte er das ernst?

Ehe ich fragen konnte, beschloss Robin, den Streit für beendet zu erklären. Diskussionen stahlen uns nur die Zeit und Fakt war, dass niemand einen besseren Vorschlag wusste.

Er gab uns Anweisungen, wie wir weiter vorzugehen hatten. Während er uns auftrug, die einzelnen Schreibhöhlen aufzusuchen und alle von unseren neuen Plänen in Kenntnis zu setzen, schwirrten in meinem Hinterkopf etliche Gedanken umher. Ich fragte mich, ob Slade Recht hatte und das alles eigentlich völlig umsonst war. Wenn ja, sollten wir besser die Beine in die Hand nehmen und uns nie mehr gegen diejenigen auflehnen, die über uns standen.

Zeitgleich jedoch spürte ich deutlich, dass mir dieser Gedankengang missfiel. Ich wollte nicht stillhalten und hinnehmen müssen. Ich wollte kein Spielball sein, eine Marionette ohne Willen. Selbst, wenn ich nur aus gleichen Gründen rebellierte, wie Slade: Es machte mir Spaß, andere zu beklauen und hereinzulegen. Es bereitete mir Freude, zu wissen, dass ich stärker war, als die Gesetze unserer angeblichen Herren und es erfüllte mich mit Stolz, sagen zu können ‚Ich verändere etwas’. Zwar war ich nicht wie Robin, der seinem Tod als Rebell wahrscheinlich ehrenhaft entgegen sah, wenn man ihn schnappte, aber trotzdem war ich ein Teil des Ganzen und das wiederum sehr gerne.

Auf dem Weg zur Schreibhöhle, die sehr weit am Stadtrand lag, überlegte ich, wie die Zettel aussehen sollten, die wir brauchten. Wir hatten die Aufgabe, alle Samariter zusammen zu sammeln und dann mit den Papieren zu beginnen. Währenddessen beobachteten wir, wie die Männer O'Hagans mit den ersten Durchsuchungen begannen. Es war ein beängstigendes Bild. Die Rot- und Blauröcke arbeiteten zusammen und man konnte deutlich sehen, dass sogar die Brehmser Soldaten sich vor den Männern des Gouverneurs in Acht nahmen. Gemeinsam durchsuchten sie Haus für Haus, sammelten die Bewohner am Straßenrand und etwas weiter alles, was irgendwie nach Schreibgut aussah. In den ärmlicheren Gegenden fand man kaum etwas, abgesehen von wenigen Bibelfetzen in Latein, aber hier, im Zentrum der Stadt, gab es so einige Bürger, die auch das Lesen und Schreiben beherrschten. Es formten sich regelrechte Bücherhaufen und wenn man dachte, dass man sich ernsthaft mit allem auseinander setzte, hatte man sich deutlich geirrt. Während die Kreuzer wenigstens ein, zwei Blicke auf die Worte warfen, ignorierten die Rotröcke das Geschriebene ganz und gar und sobald man der Meinung war, alles zu besitzen, was es zu besitzen gab, gingen die Sammlungen in Flammen auf.

Mich befiel die Gänsehaut beim Anblick der Feuer. Nicht nur, weil ich an die Feuerprobe erinnert wurde, sondern auch deswegen, weil uns das eventuell auch bald blühen würde. Es interessierte O’Hagans Männer nicht, was die anderen bei ihrer Arbeit dachten oder fühlten und diese Gleichgültigkeit kannte ich noch zu gut aus Annonce.

Nur wenige Menschen wurden gefangen genommen, aber fast jeder wurde befragt. Zu unserem Erstaunen wurde jede Familie dazu aufgefordert, die zehn Gebote aufzusagen, was mich irritierte. Man könnte fast meinen, O’Hagan hätte einen Kreuzzug gestartet, eine zweite Hexenjagd.

Slade ging zwar die ganze Zeit über aufrecht und gab sich nicht viel Mühe, sein Gesicht zu verbergen, aber ausweichen taten wir den Soldaten dennoch. Am Anfang waren wir ganz still gewesen. Auch, wenn man es ihm vielleicht nicht ansah, war er dennoch vorsichtig. Weder ihm, noch mir gefielen die vielen Soldaten. Wir gaben uns Mühe, die Hauptstraßen zu meiden, doch wahrscheinlich rechnete man damit bereits, denn immer wieder trafen wir auf Vertreter der Kreuzer, die die Gassen blockierten. Einmal waren wir gezwungen in einer engen Abzweigung zu warten und leise fluchte er: „Diese verdammten Kreuzkriecher! Ich dachte, das hat die Stadt hinter sich!“

Aufmerksam sah ich erst ihn an, dann die Straße hinter ihm. Viel erkennen konnte ich jedoch nicht. Die Häuserwände lagen so dicht aneinander, dass ich Slade nicht einmal passieren könnte und unter uns roch es stark nach Exkrementen. Es war eine der Kanal-Gassen, wie man sie nannte, in die man die Ausscheidungen schüttete, um die breiteren, richtigen Straßen freizuhalten. Weder gab es hier viel Licht, noch konnte man sich gut bewegen. Als ich etwas hauchte, klang es, als würde der Wind sich durch die Steine zwängen.

„Also ist dies nicht das erste Mal, dass man so etwas tut?“

„Ihr macht wohl Witze? Annoncer!“, der Dieb starrte weiterhin auf die Straße und beobachtete die Männer, die das Haus auf der anderen Seite. Anschließend drehte er sich umständlich zu mir und drängte mich weiter in den Schatten. „Was denkt Ihr, wieso Brehms als so sauber und gottesfürchtig gilt? Wir haben genauso viele Ketzer, wie jede andere Stadt – aber wir zeigen es nicht. Brehms hat schon vieles hinter sich, die Kreuzfurzer spielen hier gerne ihre Spielchen.“

„Ich verstehe.“, da es noch länger zu dauern schien, suchte ich mir eine möglichst bequeme Haltung und lehnte mich an das unebene Gemäuer. „Ich muss zugeben, als ich nach Brehms kam, war ich erstaunt, wie sauber und ehrlich alles ist, gerecht.“

„Gerecht...!“, schnaubte der Mann neben mir, aber ich tat, als hätte ich seinen Spott nicht gehört.

„Die Straßen hier sind so reinlich und überall stehen Skulpturen und Statuen. Ein schöner Anblick. Zumindest, wenn man aus einer Stadt wie Annonce kommt. Aber mit der Zeit lernt man, dass es wohl überall eine dunkle Seite gibt, sogar hier.“

Darüber hatte ich schon des Öfteren nachgedacht. Natürlich war Brehms wunderschön, ein wahres Paradies verglichen mit meiner Heimat, dennoch gab es auch hier Dreck und Gefahr. Man musste nur danach suchen. Wieder ein Laut des Spottes, doch diesmal lies Slades Kommentar auf sich warten. Ein rot gerockter Soldat rief lauthals nach seinem Partner und sofort starrten wir auf die Straße, darauf gefasst, gesehen zu werden.

Da nichts der gleichen geschah, zischte der Braunhaarige: „Die dunkle Seite nennt ihr das, wo Ihr lebt? Dann kennt Ihr Brehms nicht. Fakt ist, dass in unserem Leben mehr Licht herrscht, als in deren.“, er nickte zu den Katholiken, anschließend sah Slade zu mir. „Seien wir ehrlich: Wir haben mehr Durchblick, als diese Idioten. Und ihr Leben ist trauriger – ganz gleich, wie viel Ehre sie haben. Oder macht Euch Euer Leben so etwa keinen Spaß?“, ich mochte Slades Grinsen, sehr sogar und an dieses erinnere ich mich noch sehr gut. Er zwinkerte, ehe er, einfach so, eine Münze in seiner Hand erscheinen ließ. Es war nur ein einfacher Heller, aber zwischen seinen dreckigen Fingern wirkte er wie neu und strahlend. „Was ist schon Ruhm, Annoncer? Sauberkeit, Ehrlichkeit, wenn man sich davon nichts kaufen kann? Wissen, mein Freund, ist mehr wert. Denn Wissen bringt Reichtum.“, und schon verschwand das Geldstück, einfach so. Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte ich seine Hand an, dann ihn. Es verwirrte mich, was er getan hatte und für einen kurzen Augenblick dachte ich wirklich, ich hätte es mit einem Hexer zu tun. Im zweiten Moment faszinierte mich dieser Taschenspielertrick so sehr, dass ich sogar den Schreck vergaß, von unserem ernsten Gespräch ganz abgesehen.

Ich fragte ihn: „Wie habt Ihr das gemacht? Könnt Ihr mir das beibringen?“, und war ungemein aufgeregt. Slade lachte nur. Vor allem ich, sagte er, als Annoncer sollte so etwas können.

Wir nutzten die restliche Zeit damit, dass er versuchte, mir diese Art von Magie näher zu bringen, aber egal, wie oft er es mir vormachte, ich versagte. Es schien, als würde Slade sich über mich lustig machen. Ich bat ihn, Heller verschwinden zu lassen und später einen Silberling. Nicht nur, dass ich das Geld nie wieder sah, ich wurde aus seinen seltsamen Fingerbewegungen nicht schlau. Als wir dann weiter gingen, war ich beleidigt, wie ein kleines Kind. Weder konnte ich Münzen einfach so auftauchen lassen, noch aus seinem oder meinem Ohr ziehen. Dass Slade mich deswegen auslachte, machte es nicht besser.

Natürlich war das nicht der beste Moment für Zaubertricks, aber es war eine angenehme Ablenkung, ein wenig Herumzuprobieren.

Bis ich dann in Slade hineinlief. Der Mann vor mir war abrupt stehen geblieben.

Wir standen auf einer nicht breiten Straße, starrten nach vorne und meine Münze sank uninteressant in meine Tasche zurück. Mehrere Soldaten hatten sich zusammengefunden und gaben hektisch und aggressiv Anweisungen. Wir wurden Zeuge davon, wie man eine Frau regelrecht in einen Holzwagen prügelte und ihre zwei Kinder wahllos den umstehenden Weibern in die Arme drückte. Das Weib schrie und weinte, jammerte und wehrte sich, aber die Tritte und Schläge der Soldaten waren deutlich stärker. Wir hörten das Geschrei der Kinder, ihr Weinen und das Gemurmel der Umstehenden. Fast zeitgleich zogen mein Gefährte und ich die Kapuzen ins Gesicht und mischten uns mehr unter die Schaulustigen. Es wurden immer mehr, denn die lauten Geräusche lockten die Umliegenden geradezu an.

Ich hauchte: „Es ist grausam, wie man mit ihnen umgeht.“

Slades Antwort „Das man es schon kennt, macht es nur schlimmer.“, betonte diese Grausamkeit nur noch umso mehr. „Aber zumindest werden sie nicht gleich gehängt, erst gefoltert, das gibt uns Zeit.“

Ein schweigendes Nicken war meine einzige Antwort. Das Schlimmste an dieser Situation war, dass wir direkt vor dem Gasthaus standen, unter der die geheime Schreibhöhle lag. Wir hatten unser Ziel erreicht, aber scheinbar viel zu spät. Wahrscheinlich hatte es einen Hinweis gegeben oder zumindest ein paar Gerüchte, denn es war auffällig, dass gleich ganze fünfzehn Soldaten vor Ort waren. Sie hatten die Straße zu beiden Seiten abgeriegelt und begannen nun damit, die Fenster zu vernageln. Das konfiszierte Schreibgut stand in einem Karren, gut bewacht von zwei Männern und für alle sichtbar mitten auf dem Pflaster. Ein leiser Fluch meinerseits, dann zog ich meine Kapuze abermals tiefer ins Gesicht. Wir erkannten Pergamente, Tintenfässer, Stapelweise Papier und etliche, alte Bücher. Ich selbst war zwar nie in dieser Schreibhöhle gewesen, aber alle ähnelten einander ungemein und so konnte ich mir denken, was für einen Verlust das für uns Samariter bedeutete.

Rechts von uns zerrte man gerade den Besitzer des Wirtshauses hinaus, der immer wieder beteuerte, dass er von all dem nichts gewusst hätte. Von seiner Schläfe lief Blut und kaum stand er auf der Straße, beförderte man ihn zu Boden, nur, um ihn anschließend ebenfalls zum Holzkarren zu scheuchen. In den oberen Stockwerken schlossen Soldaten die Fensterläden, die Pflanzen warfen sie einfach hinunter. Es war ein hiesiges Chaos.

„Wir kommen zu spät.“, hörte ich Slade neben mir zischen, der sich ein wenig duckte, um zwischen den Köpfen der anderen zu verschwinden. Da eine Frau mit Tuch über den Haaren lauthals „Verbrennt die Ketzer!“, brüllte, verstand ich ihn kaum und musste mich etwas zu ihm beugen. „Lasst uns verschwinden.“, schlug er vor.

„Ich will erst sehen, was passiert. Vielleicht ist noch etwas zu retten?“, ich versuchte ein wenig nach vorne zu kommen, wollte allerdings nicht zu sehr ins Sichtfeld der Soldaten geraten. Gerade hatte ich es geschafft, mich zwei Reihen weiter zu kämpfen, da stolperte ich fast panisch zurück. Der Dank war ein grober Stoß in die Rippen, da ich einem Kerl auf den Fuß getreten war. Ich ignorierte es. O’Hagan näherte sich der Menschentraube und als wäre sein schwarzes, großes Pferd allein schon lebensgefährlich, machte man ihm mehr Platz, als nötig.

Ein erneuter Fluch von Slades Seite und auch er nahm weiter Abstand. Diesmal war ich es, der verschwinden wollte. „Das hat uns noch gefehlt!“, doch Slade hielt mich am Arm zurück und zischte mir dicht ins Ohr: „Wartet. Wir wollen sehen, was er hier will und was mit den ganzen Gefangenen passiert.“

’Ganzen Gefangenen’? Da ich nur den Wirt und die Frau erblickt hatte, ging ich davon aus, dass die Schreibstube leer gewesen war, doch nun erkannte auch ich die zappelnden Gestalten. Ein weiterer Mann und eine etwas jüngere Frau, beide gefesselt, wurden aus dem Hausinneren gezogen und gezwungen, vor O’Hagan in die Knie zu gehen. Seltsam, denn die anderen beiden hatte man auf dem Karren fest gezurrt, bereit zur Abfahrt.

Da die Menschen um uns herum allesamt die Hälse reckten, um sie sehen zu können, blieb mir einige Zeit die Sicht versperrt, doch dann traf es Slade und mich wie einen Blitz. Fast zeitgleich zischten wir: „Mona!“

Die junge Halb-Ächaten hockte auf dem Boden, spuckte dem Gouverneur demonstrativ vor die Füße und bekam dafür einen festen Tritt in den Rücken. Der Soldat hinter ihr wies die Hexe an zu schweigen und als er erneut zutreten wollte, bäumte der Mann sich neben ihr abwehrend auf. Er schrie irgendetwas auf ächatisch und wollte sich gefesselt auf den Gerockten stürzen, doch ehe wir überhaupt verstanden, was er vorhatte, knallte er bereits wieder zurück. Mona schrie auf, warf die Arme schützend über ihn und sein Körper blieb reglos liegen. Ein verzweifeltes Bild, wie sie da auf dem Boden hockte, an ihm zerrte und flehte, dass er doch wieder aufstehen sollte. Natürlich reagierte ihr Bekannter nicht.

Der Kreuzer, der ihm mit einem Holzbalken gegen den Kopf geschlagen hatte, schrie: „Wagt es nicht, euch mit uns anzulegen!“, dann ging er bereits wieder seiner Arbeit nach und nagelte das nun blutige Stück an eines der Fenster. Die Ächatin weinte jämmerlich, presste sich an den scheinbar Toten und murmelte ausländische Sätze. Wie versteinert starrten alle auf die rote Pfütze, die sich um den Mann bildete und ich musste mich zusammenreißen, mich nicht zu bekreuzigen.

O’Hagans Blick jedoch war vollkommen unbeteiligt. Er sah zu, wie man weiteres Schreibgut auf den Karren hievte und die zwei Gestalten vor sich blickte er nicht einmal an. Hinter ihm erschienen vier weitere Männer, allesamt zu Pferd und mit Rüstungen, die sich deutlich von den anderen abhoben. Goldene Epauletten, verzierte Schwertscheiden und anderer Schmuck zeugten von ihrem hohen Stand. Jeder von ihnen hielt eine Fackel in den Händen und während der Gouverneur begann, zum Volk zu sprechen, umrundeten sie das kleine Gasthaus. Es schloss an andere Häuser an, aber das schien keinen zu stören, als man eine der vier Fackeln durch das letzte, offene Fenster ins Innere warf.

Der Gouverneur erklärte: „Hier haben wir das Sinnbild für Sünde: Samariter nennen sie sich. Diese erbärmlichen Kreaturen! Seht genau hin, Bewohner von Brehms! Werdet Zeuge des letzten Versuches, ihre Seelen zu reinigen!“

Wir verstanden kaum ein Wort und ich konnte nicht anders, als abermals ein Stück zurückzuweichen. Slade dachte wohl, man würde mich wegschieben, denn er hielt mich fest. Ich wollte diesen Mann nicht sehen, allein sein Anblick verpasste mir Gänsehaut. Immer wieder starrte ich vor mich, kniff die Augen zu oder versuchte Slade wortlos dazu zu bewegen, zu gehen. Mona weinte weiter, aber sie lebte. Wir hatten keinen Grund, hier zu stehen und dem Gouverneur zuzuhören.

Slade schien das anders zu sehen. Er renkte sich fast den Hals aus, darum bemüht, alles zu erkennen und jeden seiner Sätze zu verstehen. Mich erreichten O’Hagans Worte kaum. Er sprach vom Fegefeuer, von Verrat an Gott, von Läuterung und Erlösung. Alles Worte, die ich schon so oft gehört hatte und die meine Angst nur umso mehr bestärkten.

Erst Monas Schreien ließ mich aufsehen und zusammenfahren. Man hatte sie nach oben gezerrt und kaum stand sie, packte der Gouverneur sie an ihren Haaren und lenkte sein Pferd gekonnt auf und ab. Sie schrie, versuchte los zu kommen und stolperte unbeholfen mit, während er verkündete:

„Seht sie euch an, diese Hexe! Dieses Weibsbild!“, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ruckte er an ihrem Haar, dass es aussah, als würde die Ächatin einen makaberen Tanz vorführen. „Und denkt nicht, sie stammt aus Euren Reihen! Seht Ihr ihr Gesicht? Dunkel. Ein Abbild des Bösen! Eine Ächatin! Nun wisst Ihr, woher all die heidnischen Gedanken und Flüche kommen!“, er hielt an und zog ihren Kopf so weit in die Höhe, wie ihr Körper es zuließ. Ich erstarrte und biss voller Hass die Zähne zusammen. Im Hintergrund flackerte das Feuer im Innern der Gaststätte und der Rauch, der in die Luft stieg, wurde immer stärker. Wir sahen zu, wie O’Hagan voller Abscheu in die verweinten Augen der Frau sahen. Anschließend, wie er befahl, die Tür zur Schenke zu öffnen.

Die Soldaten im Umfeld waren verwirrt, denn sie hatten sie gerade erst vernagelt, aber ein bellender Befehl von Seiten des Gouverneurs reichte vollkommen aus, damit sie sich in Bewegung setzten. „Was hat er vor?“, hörte ich mich fragen, obwohl mein Inneres sich wissend so stark zusammenzog, dass es schmerzte.

Nachdem die Tür geöffnet war, beförderte O’Hagan die schreiende Mona ins Innere. Sie stolperte, fuhr sofort herum und wollte hinaus, doch natürlich waren die Katholiken schneller und auch stärker. Während einer gegen die Tür drückte, nagelten zwei andere sie wieder zu und fast jeder um uns herum hielt den Atem an oder schlug schockiert die Hand vor den Mund. Eingreifen tat allerdings niemand.

Kreischen, Knistern von etlichen Flammen und ein wenig Hufgeklapper, da eines der Pferde nervös wurde. Mehr gab es nicht.

Das und ein Arm, der mich mit sich zog. Slade erklärte ernst: „Wir sollten gehen. Robin muss erfahren, was hier vor sich geht.“, er klang mehr drängend, als bittend. Wahrscheinlich wusste er, was ich für Mona empfunden hatte und wollte mir dieses Spektakel ersparen. Zu spät, denn ich hielt inne. Mein Körper war wie versteinert. Es war ein weiterer Ruck nötig, damit ich mich bewegte.

Abermals zischte Slade: „Falcon, wir müssen gehen.“, und nur langsam sah ich ihn an. Ich zitterte, als wäre mir kalt.

Mona... Ist es meine Schuld?

Das war alles, was in meinem Kopf zu hören war. Robin hatte sie wegen mir in eine andere Stube geschickt. War es meine Schuld, dass sie nun starb?

Der Dieb hauchte: „Es gibt nichts, was wir tun können. Wir sind zu spät, Falcon. Nun reißt Euch zusammen, wir müssen die anderen warnen.“

Ich konnte nicht anders, als zu nicken, völlig abwesend. Bewegen tat ich mich jedoch nicht. Es wirkte, als wären meine Augen gebannt. Verflucht dazu, die schwarze Rauchsäule zu beobachten und Monas verzweifeltem, unmenschlichem Gekreische zuzuhören.
 

...Ist es meine Schuld?

Wiedersehen macht Feinde

Wie ein Meer aus Statuen, aschfahl, standen die Zuschauer dieses grausamen Bildes und starrten allesamt nach vorn. Nicht nur die umliegenden Passanten, nein, auch manche der Blauröcke und Kreuzer konnten nicht glauben, was O'Hagans Männer gerade getan hatten.

Die Flammen streckten sich in den Himmel, züngelten, zischten und irgendwo darunter waren deutlich Monas Schreie. Das Flehen und Brüllen der Ächatin klang so schmerzerfüllt und panisch, dass es wirkte, als käme es nicht von dieser Welt. Es war nicht menschlich, und keine der Hexenverbrennungen, die ich erlebt hatte, kamen dem gleich.

Vielleicht wegen der fremden Sprache, die ich nicht verstand oder aber, weil es sie war, Mona, der ich beim Sterben lauschte.

Slade umfasste meinen Arm fester um mich mitzuziehen, doch ich riss mich los und einige Sekunden sahen wir uns an. Er schien es nicht fassen zu können, dass ich stehen blieb. Ich wiederum weigerte mich, warum auch immer. Wir waren machtlos. Weder konnten wir so viele Soldaten niederschlagen, noch mitten im Gefecht die Tür aufreißen. Dass ich obendrein nicht O’Hagan in die Arme laufen wollte, war wohl offensichtlich. Ich fürchtete diesen Mann, nun noch mehr als zuvor. Dennoch, obwohl es völlig sinnlos war, zischte ich: „Wir können sie nicht zurück lassen, sie ist eine von uns!“

„Und was schlagt Ihr vor?!“, Slade bewegte seine Hand so aggressiv, dass einer der Schaulustigen sie zu spüren bekam und sich mürrisch zu uns drehte, allerdings mussten wir ihn so unglaublich finster angestarrt haben, dass er fast sofort wieder weg sah. „Seid vernünftig, Falcon! Sie ist tot! Und wenn wir bleiben, sind wir es auch!“, wieder packte er mich, doch ich fuhr zurück.

„Und da wundert Ihr Euch, dass man Euch Verräter schimpft?!“

Wieder starrten wir uns an. Die ersten Männer mit Eimern kamen, um das Feuer zu löschen, aber man hielt sie zurück und Proteste wurden laut. Keiner, so erklärte man, durfte Hand am Feuer Gottes legen. Dass dieses allmählich auch auf das Nachbargebäude überging, interessierte die Vertreter des Allmächtigen scheinbar nicht.

„Also schön, Annoncer, dann bleibe ich.“, der Dieb unmittelbar vor mich flüsterte so leise, dass ich ihn vor lauter Beschwerden und Verwünschungen kaum verstand. „Aber ich werde denen nicht helfen, meinen Strick zu seifen, damit ihrs wisst! Sagt, was Euch vorschwebt oder bleibt allein hier!“

Aber was hatte ich ihm schon zu sagen? Eine Idee hatte ich nicht, auch keinen grandiosen Plan. Genau genommen hatte ich nicht mal den Hauch einer Ahnung, was wir tun sollten. Stattdessen starrte ich wieder zum lodernden Haus. Monas Schreie waren verklungen, man hörte nur noch Klopfen. Der Qualm und der Gestank nach Feuer und brennendem Holz brannten in meiner Nase. Ich kannte beides nur zu gut. Wahrscheinlich hatte Slade Recht, wir kamen zu spät. Doch damals hatte ich nicht den Mut, mir das einzugestehen.

Stattdessen beobachtete ich, wie ein Weib völlig aufgelöst zum Wirtshaus rannte, dabei schreiend „Mein Junge...! Oh Gott, mein Junge ist noch im Haus...!“, doch natürlich hielt man sie zurück. Alles, was O'Hagan für ihr Jammern übrig hatte, waren ein kühler Blick und der Befehl, sie festzunehmen. Wir konnten sehen, wie ihre Welt zusammenbrach, einfach so, in wenigen Augenblicken. Sie sackte zu Boden, wimmerte und wand sich so voller Verzweiflung, als wäre sie selbst es, die in dem Gemäuer Qualen erlitt. Das sollte Gerechtigkeit sein? Das sollte Gottes Wille sein?

Es war ein abstraktes Schauspiel, ein Sinnbild der Grausamkeit und das Schlimmste daran war, dass es niemanden wirklich zu interessieren schien. Irgendwann ließen die Soldaten das Weib einfach liegen und die Umstehenden nahmen sich ihrer an. Man umarmte sie, versuchte sie zu beruhigen, aber kein Wort dieser Welt könnte ihren Schmerz wohl lindern.

Und dann geschah es.

Mein Körper ruckte, ich ging einfach los ohne nachzudenken und wies Slade an, mir zu folgen. Dieser zögerte. Man sah, dass er damit gerechnet hatte, dass wir gehen würden. Stattdessen steuerte ich die weinende Mutter an. Er haderte mit sich selbst, sah erst zu mir, dann zurück. Mit einem gefluchten „Dieser vermaledeite Annoncer...!“, folgte er mir dann aber dennoch.

Ich konnte nicht so tun, als ginge mich all das nichts an. Ich war nicht, wie all diese Menschen. Ich war keiner von ihnen, ein Außenstehender, der zusah und bedauerte. Ich war ein Samariter. Vielleicht war es besser, Robin und die anderen zu warnen, ja. Aber ich war nicht den Samaritern beigetreten, um weiterhin nur stumm zuzusehen. Selbst wenn es Folter und Tod bedeutete, wenn ich nun eingriff: Ich konnte sagen, ich habe etwas getan! Und war es nicht das, was ich immer gewollt hatte? Etwas tun? Etwas unternehmen, etwas verändern?

Ich erreichte die kauernde Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter und versicherte: „Wir retten Euren Jungen und wenn nicht, so werden wir ihn zumindest rächen...!“, dann lief ich einfach weiter. Mein Begleiter staunte nicht schlecht über die Worte, die Versprechungen und ich hörte ihn noch lauthals brüllen: „Falcon! Habt Ihr den Verstand verloren?!“

Es war mir gleich.

Wir bahnten uns den Weg frei zu einem der zwei Nachbargebäude, jedoch nicht jenes direkt am brennenden Haus sondern dieses, das auf der anderen Seite einer engen Gasse lag. ohne auf die anderen zu achten, rüttelte ich an der Tür der Wohnung, die im Erdgeschoss lag. Sie war verschlossen, es gab kein Hineinkommen. Die Soldaten beobachteten uns misstrauisch und auch einige andere reckten die Halse. Auf Slades gereizte Frage, was ich bitte vorhätte, gab ich zu: „Das weiß ich noch nicht.“, und mit eine genervten „Was frage ich auch?“, trat er die Tür einfach auf.

Es handelte sich um das Haus einer recht ansehnlichen Familie. Direkt vor uns zeigte sich eine Treppe, überall waren Vorhänge oder Bilder. Es gab einen kleines Tisch mit Blumen darauf und sogar einen bunten Teppich. Noch war das Feuer auf der anderen Seite der Gasse, aber sobald der Wind drehte, würde auch all das hier den Flammen zum Opfer fallen.

Bereits jetzt war überall Qualm und es roch bedrohlich nach Hitze und Tod.

Ohne weitere Fragen zu stellen begleitete Slade mich nach oben, die Umhänge vor Mund und Nase gezogen und mit verkniffenen Augen. Es knisterte neben uns, hinter der Wand, aber dennoch deutlich. Die altbekannte Ruhe hatte sich über mich gelegt und während ich mich fragte, was Nevar an meine Stelle tun würde, erreichten wir das Obergeschoss. Ob er mich auslachen würde? Wahrscheinlich. Einst hatte er mir einen Vortrag darüber gehalten, dass uns nur Menschen etwas bedeuteten, die wir kannten. Weder kannte ich diese Frau, noch ihren Sohn – aber Mona, sie kannte ich. Hielt ich mich für einen besseren Menschen, wenn ich wenigstens den Jungen des Weibsbildes retten könnte? Vielleicht, aber war das wirklich so schlecht, wie Nevar es immer darstellte?

Von oben war das Feuer deutlich sichtbarer. Wir konnten durch die Fenster auf das Haus blicken, dass nur gut zwei Meter von uns entfernt stand. Zwar war die Gasse eng, aber noch weit genug, um die Flamen fern zu halten, vorerst. Wir erblickten die geschlossenen Fenster und den Anfang des Daches, so wie das zuckende Feuer, dass nach allem griff, was sich in der Nähe befand.

Slade hustete etwas und spuckte aus, ehe er den Oberkörper hinaus steckte und nach rechts sah. „Wir können da entlang.“

„Ihr begleitet mich?“, ich ließ den Umhang sinken und spürte beim Einatmen die Asche in der Luft. Slade schien meine Frage zu ignorieren. Er drehte nur den Kopf und versuchte, mehr zu erkennen. „Weit ist das Feuer nicht, aber wir haben nicht viel Zeit, also eilt Euch. “, und noch ehe ich widersprechen konnte, war er draußen und kletterte nach oben. Ich blieb einige Sekunden stehen und für einen Augenblick war mir, als wäre Nevar gerade vorausgegangen und hinter mir randalierten die Rotrocke im schwarzen Kater. Damals hatte ich es nur mit Mühe und Not aus dem Fenster geschafft und das Klettern auf das Dach war ein förmliches Fiasko gewesen. Bogenschützen, bröckelnde Wände und fliegende Steine.

„Diesmal nicht.“, flüsterte ich zu mir selbst, wie um mich zu beruhigen. Langsam setzte ich einen Fuß auf das Fenstersims, atmete tief ein und schloss kurz die Augen. „Diesmal werde ich nicht versagen...!“

Es war schwer, sich das Geschosssims entlang zu schieben, während es hinter einem knisterte. Fast ununterbrochen fürchtete man, dass es doch eine Flamme schaffte, nach einem zu greifen. Wir zogen uns am Fensterrahmen hoch und dann gegenseitig auf die Dachschräge. Nun, noch eine Etage höher, wirkte alles umso bedrohlicher. Der Wind wehte den Qualm zu uns und die dicken, schwarzen Säulen ragten hoch in den Himmel. Es rieselte und regnete Asche und Steine, die teuren Tonziegel zerplatzten durch die Hitze und die erste Außenwand begann immer mehr abzusinken. Wenn man die Augen fest zusammenkniff und zwischen die Flammen starrte, meinte man, bereits die Dachbalken zu erkennen.

Da waren wir nun, ein Stockwerk höher und doch keinen Schritt weiter. Ich konnte nicht anders, als aufzuzittern und mich am Schornstein hinter mir zu halten. In den letzten Monaten war ich oft mit Slade auf den Dächern gewesen, aber nie so verschwitzt und mit dieser Aussicht.

„Und jetzt?“, wollte dieser wissen, noch immer den Stoff schützend vor dem Gesicht.

„Wir müssen rüber.“, ich zwang mich, aufrecht zu stehen und schwankend starrte ich auf das Dach der anderen Seite. „Springen?“

„Ich hoffe, Ihr macht Witze?“, aber auch der Straßendieb stand langsam auf, hielt sich ebenfalls am Schornstein und wippte kurz bedrohlich nach hinten. Die Ziegelsteine unter uns gaben nach und rutschten unter unseren Füßen haltlos Richtung Abgrund. Als wäre das nicht genug stolperte ich leicht und eine der Tonplatten ratterte lautstark zum Rand. Laut klirrend knallte sie auf den Boden, irgendwo weit unter uns.

„Heiliger Jesus.“, hauchte ich erschrocken und schloss kurz die Augen. Alles schien zu schwanken, die Höhe machte mir zu schaffen. Es fühlte sich kurzzeitig so an, als wäre ich wieder auf See.

„Ich springe nur, wenn Ihr es zuerst tut.“, hörte ich Slades Stimme neben mir sagen, begleitet von einem leichten Husten. Dann spürte ich, wie er langsam wieder näher kam und sich an mit festhielt. „Ich kenne euch Annoncer! Große Klappen und wenn ich drüben bin, seid Ihr weg!“

„Als ob Ihr mich so kennen gelernt hättet!“, verteidigte ich mich und versuchte, ihn los zu werden. „Feige, das seid ihr, mehr nicht!“

„Nun zappelt nicht so! Soll ich stürzen, verdammt?!“

„Dann lasst mich los! Himmel, was tun wir hier überhaupt?! Wir müssen verrückt sein!“

„Wir?!“, allmählich wurde Slades Stimme förmlich hysterisch. Er klammerte sich an den Schornstein und hustete abermals, etwas stärker. Die Rauchsäulen wehten zu uns herüber, als wollte das Haus uns vertreiben. Für einen Moment waren wir blind. „Wohl eher Ihr! Annoncer!“

Er spuckte aus und als würde ich auf ein Zischen der heißen Ziegel warten, starrte ich auf den weißen Schleim. Es zischte nicht einmal ansatzweise. Stattdessen lief er einige Millimeter nach unten und hing dann tropfenförmig am Ziegelwerk. Als ich wieder aufsah, lachte ich lauthals: „Also schön?! Dann bin ich verrückt!“, und kaum war das ausgesprochen, wurde mein Lachen lauter. „Ja, ich bin verrückt, völlig wahnsinnig! Aber ich sag Euch was: Das Tollhaus ist nichts Neues für mich, also, Gott verdammt noch mal, dann kann ich auch da rüber springen und verkohlen! Selig sind die geistig Armen! Der Herr steht hinter mir!“, ich hatte selbst nicht daran geglaubt, dass ich den Sprung schaffen würde. Der Trick war wohl einfach gewesen, dass ich nicht nachdachte, sondern einfach handelte.

Mein Körper ging einfach in die Hocke, holte einen Schritt aus und mit einem lauten „Amen!“, machte er wie von selbst einen Sprung. Für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen, nur, um danach noch schneller zu laufen und mich laut krachend gegen die Ziegel zu werfen. Sie versagten ihren Dienst, ich rutschte, schlitterte am Bauch hinunter und drehte mich unbeholfen auf den Rücken. Mit mehr Glück als Verstand schaffte ich den Halt und spürte schmerzhaft mein blutiges Kreuz. Dennoch, ich lachte. Ich lachte, bis mir der Brustkorb schmerzte und ich vor lauter Ruß kaum Luft bekam. Was genau ich so lustig fand, konnte ich nicht sagen. Entweder die Tatsache, dass es wieder die Blasphemie war, die mich weiter gebracht hatte oder aber dieses absurde Bild.

Ich konnte hören, wie der Dieb auf der anderen Seite irgendetwas fluchte und schrie, ehe auch er zu mir sprang, nach langem Zögern. Völlig außer Atem zogen wir uns gegenseitig auf die Beine. Es amüsierte mich und das wiederum machte mir Angst.

Irgendwo da unten waren O’Hagan und seine Männer, jagten gottesfürchtigen Menschen mit diesem Exempel eine Höllenfurcht ein und schimpften sich Vertreter des Herrn. Und währenddessen? Taumelten selbsternannte Gläubige, die sich wie die Ketzer einst Samariter nannten, über die Dächer und spielten Gnade des Allmächtigen.

Es war schwer ins Hausinnere zu kommen, vor allem, da die Gedanken in meinem Kopf mehr als nur rasten. Als wären die Panik meines Sprung, die Angst und die Unsicherheit tief in meinen Kopf gesickert und würden nun irgendwo in meinem Hirn zum Ausbruch kommen. Nach außen hin war ich ruhig und sah mich um, während Slade auf und ab lief, auf der Suche nach einer Dachluke. Im Innern allerdings durchströmten mich etliche Eindrücke.

Der Gestank von Verkohltem holte Erinnerungen zurück, die ich längst vergessen hatte. Ich meinte für einen Augenblick Pater Johannes viel zu lange Rede zu hören und mein Hemd klebte an meinem Körper, als wäre es in Wachs getränkt. Wann immer eine Flamme aufbegehrte, zuckte ich zurück und starrte sie an, wie ein Schlangenbändiger. In meinem Kopf arbeitete es. Ich meinte, verbranntes Fleisch zu riechen und für den Bruchteil einer Sekunde befand ich mich wieder in der Folterkammer. Gequält hielt ich mir die Schläfe und schüttelte den Kopf. Trotzdem hörte ich Domenico lachen und wie der Zuchtmeister mich anschrie. Ich spürte Mary-Anns weiche Haut und sah ihre wunderbaren Augen, roch Blacks Rumfahne und spürte seinen freundschaftlichen Schlag auf meiner Schulter. Das Feuer holte alles wieder zurück, als wären die Erinnerungen nie weg gewesen, als hätte ich diese Gefühle niemals verdrängt. Es wäre ein Wunder, wenn Slade nicht bemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte.

Wir schlüpften gemeinsam ins Hausinnere, kämpfen uns durch den Rauch und versuchten verzweifelt Luft zu holen. Überall war es dunkel und verqualmt. Es fiel uns schwer, uns zu orientieren, aber nachdem wir das erste Zimmer durchkämmt und den Hausflur erreicht hatten, fiel es uns deutlich leichter.

Während Slade sich darum kümmerte, die Türen zu öffnen, ob mit Tritten, Schlägen oder Rütteln, durchsuchte ich die offenen Räume nach weiteren Bewohnern. Jedes der Gästezimmer schien leer. Benutzte Betten, offene Schränke, verwüstete Zimmer und anderes zeugten von Durchsuchungen durch die Katholiken. Es gab keine Ecke, die sie nicht mehrmals umgedreht hatten und keinen Gegenstand, der noch am Stück vorzufinden war. Überall lagen Splitter, sowohl aus Glas, als auch aus Holz und zwischendrin gab es Stoffe oder Gehölz, das munter vor sich hin brannte.

„Ist noch jemand hier?!“, hörte ich Slade und mich rufen, als wäre ich nur ein Zuschauer des Geschehens. „Hallo?!“, aber keiner antwortete.

Auf halbem Wege, wir hatten gerade die Treppe ins untere Stockwerk erreicht, wollte der Dieb umdrehen. Ich wurde zurückgehalten, da er mich am Arm packte und mich anschrie: „Es wird zu gefährlich, Falcon! Wenn wir nicht raus gehen, kommen wir um!“

„Und Mona?!“, eine Antwort bekam ich nicht. Stattdessen knallte es lautstark und binnen weniger Sekunden stürzte etwas weiter ein Stück Dach zu uns hinunter. Funken und Flammen, mehr gab es nicht. „Wir können sie nicht zurück lassen!“

„Seid realistisch: Sie ist tot, Falcon! Tot!“, dieses Mal war ich derjenige, der schwieg. Seine Worte waren für mich bedeutungslos, fremd. Sie war nicht tot, das konnte nicht stimmen. Sie war nicht Mary-Ann.

Erneut zog Slade mich am Arm, deutlich bestimmender und verlangte: „Wir haben alles versucht! Kommt mit mir oder ich lasse Euch zurück!“

Das Knistern hinter uns wurde lauter und als wir die Treppe hinunter sahen, erkannten wir, dass die Flammen sich durch ihr Holz kämpften. Es fiel mir schwer zu atmen. Unser Pech war, dass an den Wänden Stofffetzen hingen. Die einst schöne Dekoration war das ideale Futter für das Feuer.

Ich wollte wissen: „Das würdet Ihr tun?!“, wir starrten uns an. Seine Augen waren unsicher, aber dennoch irgendwie entschlossen. Sein Blick schien mir zu sagen: Ihr seid ein erwachsener Mann und ich bin Euch zu nichts verpflichtet!

Doch ehe ich ihn verurteilen konnte, hörten wir ein Wimmern. Es war nur sehr leise und es hätte auch reine Einbildung sein können, doch dass er und ich fast zeitgleich den Kopf drehten, machte es unglaublich real. „Das Kind!“

Wir kämpften uns fast gleichzeitig vorwärts zu einem der Zimmer, aus dem wir nun deutlich lautes Schreien und Weinen hören konnten. Ein herunter gekrachter Holzbalken versperrte uns den Weg, doch gemeinsam stießen wir ihn weg und traten die Tür auf.

Ein Junge um die Acht Jahre saß zusammengekauert in der hintersten Zimmerecke, hielt sich das Gesicht zu und schrie mit voller Kraft. Immer wieder holte er weinend Luft, stieß alles hinaus, was er konnte und das so laut, dass ich meine eigene Stimme nicht mehr hörte. Ohne zu zögern nahm Slade das Kind auf den Arm und ich verstand.

„Ich bringe ihn raus!“, erneut sah er mich an. Dann legte er mir die Hand auf den Arm und murmelte ein „Viel Glück, Falcon.“

Ich erkannte, dass, wenn ich ihn bitten würde, würde er bleiben. Ich könnte ihn überzeugen und ihm ein schlechtes Gewissen machen. Doch wollte ich das? Dies hier war allein meine Angelegenheit, also ließ ich ihn gehen. Slade verschwand, ohne noch einmal zurückzusehen und binnen weniger Sekunden bereute ich für einen kurzen Augenblick meine Denkweise.

Ich war allein. Er ließ mich zurück, einfach so. Die Hoffnung, dass wir in der letzten Zeit eine Art Brüder geworden waren, schwand einfach so dahin. Trotzdem empfand ich keine Wut. Ich dachte nicht daran, ihm zu folgen, auf keinen Fall.

Ich hatte bei Mary-Ann versagt – bei Mona würde ich siegen!

Als ich umdrehte und die Treppe hinunter ging, erfasste mich eine Art von Energie und Entschlossenheit, die mich fast ängstigte. Wann immer es aufflackerte, hielt ich mir den Umhang vor das Gesicht, zurückweichen tat ich jedoch nicht.

Ich gönnte es weder Slade, noch O’Hagan, das ich jetzt verlieren würde. Man kann sagen, es ging mir weniger um Mona, als um meine Ehre und meinen Stolz. Ich wollte nicht versagen und umkehren. Aber ich wollte auch nicht hier bleiben und sterben. Vielleicht war sie tot, ja, aber wenigstens konnten wir ihren Leichnam angemessen beerdigen.

Im Erdgeschoss war es wesentlich schlimmer, als weiter oben. Das Feuer wütete, angefacht durch die Fackeln. Durch die verriegelten Fenster und Türen kam kein Sauerstoff hinein, sie begehrten auf, nach oben, durch die Decke und die Treppenaufgänge. Alles war schwarz und zugleich hell, die Hitze trieb mir den Schweiß aus den Poren und der Ruß ließ mich kaum atmen. Mehrmals musste ich inne halten, geblendet, verschwitzt und verdreckt. Ich fürchtete, vor lauter Husten nicht atmen zu können.

Bis ich Mona fand schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Die Luft war so wenig vorhanden, dass es mir schwindelte und kaum erblickte ich sie, sackte ich zu Boden und jappste nach Luft. Es war, als würde meine Lunge keinen Sauerstoff kriegen, egal, wie tief ich die Luft einzog. Alles, was ich erreichte, waren noch mehr Ruß und Qualm, was den Hustenreiz nur umso mehr verstärkte.

Die Ächatin lag regungslos mitten auf dem Fußboden, zwischen Trümmern und kokelnden Papierfetzen. Selbst jetzt fand ich sie wunderschön und anmutig. Sie hatte leichte Verbrennungen und verzweifelt rüttelte ich an ihr. Immer wieder hörte ich, wie ich ihren Namen rief, aber vergebens. Nach etlichen Versuchen legte ich mein Ohr auf ihren Brustkorb, doch einen Puls konnte ich nicht mehr hören – ich war zu spät.

Wäre ich rechtzeitig gekommen, wenn ich draußen nicht gezögert hätte? Wenn ich gesprungen wäre, ohne inne zu halten? Hatte ich wieder versagt, nur, weil ich feige gewesen war? So wie damals?

Ich wollte ihren schlanken Körper anheben, aber er rutschte mir einfach aus den Händen und wie eine übergroße Puppe lag sie in meinen Armen. „Mona!“, flehte ich verzweifelt. „Bitte wach auf! Wir müssen hier raus!“, nichts geschah. Sie konnte mich nicht mehr hören.

Ich hatte versagt, genauso wie damals, verloren, einfach so. Wieder hatte O’Hagan mir etwas genommen, was ich lieben gelernt hatte – meine Heimat, mein neues Leben, meine Freunde. Alles, was ich mir in den letzten Monaten mühevoll aufgebaut hatte war im Begriff, einfach so kaputt zu gehen. Brehms’ Häuser brannten, die Menschen fürchteten um ihr Leben und die Samariter ergriffen die Flucht oder starben.

O’Hagan.

Der Gedanke an diesen Mann ließ so viel Wut in mir aufkeimen, dass ich es zumindest schaffte, Mona ein wenig nach oben zu ziehen. Ich könnte sie liegen lassen und fliehen. Ich könnte sie zurücklassen. Vielleicht würde ich dann überleben? Aber ich wollte es nicht. Ich gönnte es O’Hagan nicht, ihre Leiche unter dem Schutt dieser Häuser zu begraben. Mit Mühe und Not zerrte ich sie an den Handgelenken bis zum Treppenansatz, dann die ersten drei Stufen hinauf. Dort brach ich auf die Knie und hustete so stark, dass ich würgen musste und mir Tränen in die Augen schossen. Ich konnte nicht aufgeben, es ging einfach nicht. Lieber würde ich sterben. Hier, in diesem Haus, mit ihr zusammen. Vielleicht war es auch besser? Dann würde O’Hagan mich nicht kriegen, niemals!

Erneut zerrte ich an ihr, schaffte sogar eine weitere Stufe, doch kaum ließ ich los, sackte sie einfach zurück.

Es war sinnlos.

Ich schaffte es nicht hinaus, nicht mit ihr, aber war es gerecht? Sie wäre die zweite Frau, die ich einfach allein mit ihrem Tode zurückließ. Und alles war die Schuld dieses verdammten Mannes...!

In meinem Hinterkopf staute sich so unglaublich viel Hass an, dass ich nicht wusste, wohin damit und wütend schlug ich gegen das Geländer. Er war schuld! Er war schuld, an allem! Nicht Black, nicht Blackburn, er, er allein! Er hatte beschlossen, dass Mary-Ann sterben musste! Er hatte beschlossen, dass man Black hängte und er hatte dafür gesorgt, dass ich als Pirat, nein, als Mörder angeklagt und gesucht wurde! O’Hagan hatte mein Leben ruiniert, immer und immer wieder. So sehr, dass ich mich der Inquisition verpflichtet hatte – und selbst jetzt, danach, machte er mir noch alles kaputt!

Würde ich hier sterben, hätte er gewonnen. Würde ich hier sterben, hatte er gesiegt. Ich hatte nicht so lange immer und immer wieder aufs Neue überlebt, damit er jetzt doch noch als Sieger dastand!

Ich hatte mich gerade auf die Beine gekämpft, hustend und röchelnd, da registrierte ich eine Bewegung unmittelbar neben mir. Man packte mich, zerrte mich hoch und ich sah noch, wie der riesige Ächate Serdon nach Mona griff. Jemand zog mich mit sich, mehr grob als vorsichtig und ohne mich zu wehren ging ich einfach mit. Alles ging unheimlich schnell.

Auf dem Dach angekommen, verstand ich, dass nicht nur Slade zurückgekehrt war, sondern auch Robin, Serdon und die anderen.

„Er kriegt mich nicht...!“, flüsterte ich wie im Wahn. „Er besiegt mich nicht...!“ Ich lebte.

Jemand hatte ein Holzbrett auf die andere Dachseite geschoben und so verließen wir das brennende Haus. Alles wirkte unheimlich chaotisch. Dass auch das zweite Haus Feuer gefangen hatte, bekam ich kaum mit. Genauso wenig, dass alle ungemein hektisch waren. Während sie Mona trugen, schluchzte irgendwo der kleine Junge und kaum erreichten wir den Ausgang, stürmte die Menschenmasse zu uns, um zu wissen, wie es uns ging. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Hätte Slade mich nicht gestützt, wäre ich wohl vornüber und einfach zwischen die Leute gestürzt.

Die Mutter packte ihr Kind, presste es hysterisch an sich und bedankte sich weinend, immer und immer wieder. Währenddessen hockte Robin bei Mona und brüllte verzweifelt, dass sie ihr Luft zum Atmen lassen sollten. Die Soldaten wurden aufmerksam, fingen an sich uns zu nähern und ein mir fremder Mann, wahrscheinlich ein Samariter, trieb uns an, das Weite zu suchen. Panik.

Die Rot- und Blauröcke hatten Mühe, sich durch die Masse zu kämpfen, sonst wären wir wohl leichte Beute gewesen. Man hievte Mona wieder hoch, Slade zog mich am Arm, ich schwankte und alles schien sich zu drehen. Es tat gut, wieder zu atmen, allerdings brachte mein Durst mich fast um und meine Augen brannten. Mir war heiß und kalt gleichzeitig und meine verschwitzte Haut starrte vor Dreck. Aber ich lebte. Dieser Gedanke wiederholte sich wieder und wieder in meinem Kopf: Ich lebte, O’Hagan hatte verloren.

Da die Soldaten nicht rechtzeitig zu uns kamen, pfiff ihr Herr sie zurück und so konnten wir ungehindert fliehen. Wir hatten gewonnen, so schien es. Vielleicht war unsere Schreibstube in Rauch aufgegangen, unsere Bücher waren weg und vielleicht hatten die Samariter noch viele andere Verlust erleiden müssen – aber ich lebte. Als wäre das alles nur, weil O’Hagan speziell nach mir suchte, erfüllte mich Schadenfreude.

Mir war es gleich, dass sein Hass eigentlich allen Ketzern dieser Welt galt – für mich hasste er allein mich. Slade zog mich immer weiter, aber ich hielt einfach an und sah zurück.

Der Vertreter Gottes saß auf seinem Pferd, starrte desinteressiert zu uns hinüber und für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Er war eiskalt wie immer und wirkte auf seinem Tier wie aus Blei gegossen oder kühler, gefühlloser Stein. Meinen Blick nur streifend drehte er den Kopf wieder weg – doch dann verstand er und augenblicklich ruckte sein Kopf zurück.

Wir starrten uns an, jeder direkt in die Augen des anderen. Seiner Kälte wich Erkenntnis. Erst weiteten sich seine Augen, dann wurden sie zu hasserfüllten Schlitzen.

„Ich lebe!“, brüllte ich ihn krächzend an, aber wahrscheinlich verstand er mich nicht einmal vor lauter Lärm. „Hört Ihr?! Ihr kriegt mich nicht! Und Ihr werdet büßen! Gott wird Euch strafen, O’Hagan, er wird Euch strafen!“, Slade verstand die Welt nicht mehr. Er schrie mich an, panisch und erschrocken, dass ich den Verstand nun wohl endgültig verloren hätte und wohl verrückt wäre. Noch während er mich mit Gewalt weiter zog und noch während ich mir lachend und zugleich hasserfüllt die Seele aus dem Leib schrie, hob O’Hagan den Arm und keifte, dass sie mich fest nehmen sollten. Er verteilte Schläge und Tritte und verlangte mit aller Macht, die seine Stimme hergab, dass sie mich kriegen sollten. Ich durfte nicht entkommen, auf keinen Fall. Auf keinen Fall!

„Ich lebe! Ihr werdet niemals siegen, O’Hagan, niemals!“

„Fangt ihn! BRINGT MIR DIESEN BASTARD!“

„ICH LEBE!“
 


 


 


 


 


 

Sullivan O'Neil Band 2 - Ende
 


 


 


 

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06. April 2012
 

:) Ich danke Euch dafür, dass Ihr das Buch bis hier her gelesen habt. Ich freue mich wirklich unwahrscheinlich! Weiter geht es dann bald in Band 3 ;-D Bitte lasst mir doch einen Kommi da, damit ich weiß, dass es wirklich Leser gibt, die sich mit meinem Werk befassen. Außerdem würde ich unheimlich gerne wissen, wie ihr Sullivans Geschichte findet ♥
 

Liebe Grüße,
 

eure Joé ;-D



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  Pataya
2012-04-08T10:20:55+00:00 08.04.2012 12:20
ich war ja entsetzt, dass es jetzt schon das letzte kapitel ist. aber es geht ja weiter ^^ und es ist ein echt klasse ende.

leider wars dieses mal ziemlich kurz, aber das macht die spannung wieder wett. ^^ das kapi ist echt gut geworden. hab richtig mitgefiebert^^

hach, ich freu mich immermehr auf die hoffentlich bald erscheinenden bücher und natürlich darauf, dass du hier weiterschreibst. ^^

hab dich lieb. mach weiter so. aber überanstreng dich nicht.

PAT
Von:  Pataya
2012-03-13T14:22:03+00:00 13.03.2012 15:22
hach ja, ich freu mich ja über ein neues Kapitel, aber musstest du die arme mona so quälen?

Kommt eigentlich bald wieder mal ein Kapi von der Gegenwart? Sprich: in der Son im Knast sitzt. Oder aber so n toller Brief an O'Hagan^^.

Lg, PAT

P.s.: du musst dich nicht in deinem Weblog bei mir bedanken, nur weil ich deine Geschichte lese^^ Ich muss eher dir danken, weil du so ne tolle Fanfiction schreibst.

Also: Danke dafür!^^

Hat sich denn schon was ergeben bezüglich deiner Veröffentlichung? Würde mich interessieren, wann ich die Bücher kaufen kann^^
Von:  Pataya
2012-01-16T07:54:24+00:00 16.01.2012 08:54
yeah, mary-ann. armes kleines ding. ich hoffe ja, dass es noch mehr bücher von ihr geben wird, damit sie nicht umsonst gestorben ist.

an sich zu den letzten beiden kapis: kann es sein, dass die kapitel kürzer werden oder kommt mir das nur so vor???

zum kapi 35: da meinte robin zu son, er solle früh schlafen gehen, da die beiden bei sonnenuntergang aufbrechen wollen. aber in diesem kapi gehen sie dann bei sonnenaufgang los. vllt kannste das ja noch ändern^^

ansoonsten fand ich wie immer klasse. schreib schön so weiter^^

lg, PAT
Von:  Funkenspiel
2012-01-06T19:01:17+00:00 06.01.2012 20:01
Ich liebe das Ende ;DDD

Ich werde nie wieder Fluchen!! --- "Zum Teufel mit diesem verdammten Zimmer!"

Ich kann nicht mehr xDD
Von:  Funkenspiel
2012-01-04T17:36:44+00:00 04.01.2012 18:36
Liebe an dieses Kapitel, wegen der Stimmung die es hat und wegen... ach wegen allem! Es ist einfach nur... unglaublich genial! *_*
Von:  Pataya
2011-04-19T12:48:22+00:00 19.04.2011 14:48
huihuihui....^^

tolltoll...schreib weiter ...:P..hehe, spaß beseite...nun zu den 2 kapiteln:

ich hatte echt große erwartugen an die Kapitel, da du dir ja so schön viel zeit gelassen hast^^ und du hast sie erfüllt. ich musste mich zwar erst einmal wieder reinlesen, aber nach dem 3. satz oder so, wusste ich wieder, wo du stehen geblieben bist. Ich fands gut, dass endlich mal ein paar dinge geklärt wurden, wie die sache mit der solter von son, als er als samariter abgestempelt wurde.
Ich hatte gedacht, du machst es auffälliger, die Sache mit der Person, die wieder mitspielt. Ehrlich, ich bin mir nicht sicher, wen du meintest, aber ich stelle die Vermutung an, dass es eventuell diese Erbse 'Matthew' ist, wobei ich mich nicht 100%-ig an sie erinnern kann. Sie war mit auf dem Schiff oder???
Am Besten fand ich wirklich das Ende, nicht weil das Kapitel zu ende ist. Das auf alle Fälle nicht, sondern den letzten Abschnitt. Vonwegen, er will nie wieder fluchen und dann verlucht er das "verdammte Bett". hehe^^ musste ich schmunzeln.
Um auf die drei neuen Namen einzugehen. Ich denke mal, dass Aarron eine nicht allzu große Rolle spielt, wobei ich das bei Isabelle und Theodor nicht sagen kann. Ich denke mal, dass die beiden noch eine ziemlich wichtige Rolle spielen werden und sich im besten Falle noch Nevar und Son anschließen werden.

Hmm....joa, was noch....
achso, ja...lies dir das letzte Kapitel noch mal durch und schau nach Kommata, da fehlen einige, wobei es aber nicht weiter gestört hat beim Verstehen des Textes. Ansonsten waren die Kapitel wieder richtig klasse, ich mag deinen Schreibstil. Kann es sein, dass er sich langsam n bissl ändert? Nicht zum Negative, auch nicht zum Positiven, halt einfach nur n bissl anders^^

achja, noch eine Frage, die sich mir so aufgedrängt hat. Siehst du die Stadt Brehms als so eine Art Venedig an?

Sop, genug zugetextet, schöne Restwoche noch, ansonsten noch schöne Osterfeiertage^^.

Von:  Pataya
2010-10-06T11:45:08+00:00 06.10.2010 13:45
tolltoll...*in die hände klatsch, wie ne blöde*

klasse^^, schade, dass du jetzt erst ma ne pause machst, aber dann freu ich mich umsomehr, wenn wieder ein kapi da ist^^

gaaaaaanz liebe Grüße und fühl dich geknuddelt

Pat ^^
Von:  Pataya
2010-09-03T07:31:18+00:00 03.09.2010 09:31
Hi,
als erstes muss ich dir sagen, ich hab jetzt in den letzten 2 wochen (ohne we) deine geschichte, band1 und 2 - bis zu diesem Kapitel -, gelesen und zweitens...ich finds einfach nur klasse. ich liebe ja historische romane und da ist deine geschichte genau das richtige. es ist so autentisch, dass ich mich beim lesen sofort hineinversetzen konnte. und das ist einfach großartig.

ABER: (jetzt das große aber^^...nur keine angst)... sullivan tut mir schon irgendwo leid. was der alles abbekommt. ich hoffe, er kann sich im Laufe der Geschichte noch n bissl mehr durchsetzten und bekommt mehr durchsetzungsvermögen^^

so. das wars auch schon von mir.

sry, das ich keine kommentare zu den anderen kapiteln geschrieben habe, ich hatte es als unnötig abgestempelt, da ich ja jetzt hier alles reingeschrieben habe, aber das ändert sich in zukunft^^

Lg, Pat..... neuerdings ein treuer leser

*schon aufgeregt auf das nächste akpitel warte*


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