Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 12: Wenn zwei sich streiten... -------------------------------------- Ich hatte damit gerechnet, dass jemand die Ladentür aufschließen würde, ein Geöffnet-Schild an die Scheibe hing, sich gemächlich umsah und dann ein Liedchen pfeifend ins Lager trottete. In dieser Zeit könnte ich seelenruhig zum Hinterausgang und das Weite suchen, ohne dass jemand mich bemerkte. Stattdessen riss die Tür so stark auf, dass die Glocke darüber förmlich schrie und in einer heftigen Diskussion vertieft stürmten Vater und Sohn hinein. Der Junge voran, der Ältere hinter her. Es krachte, als der Ausgang sich von selbst wieder schloss und etwas wurde auf den Tresen gefeuert. Erschrocken stolperte ich zurück und schlich rückwärts einige der Stufen wieder hinauf. Da es heller Tag war, gab es keinen Schatten, in dem ich mich verstecken könnte. Das Lager, der Vorraum und das obere Stockwerk waren übersichtlich und erhellt, nur der Bereich zwischen den Räumen und die Treppe lagen noch im Dämmern. Aber sollte man den Vorhang aufziehen, war auch das vorbei. Oben angekommen eilte ich so leise es ging um die Ecke und verharrte mit rasendem Herzen mit der Wand des Treppenaufganges im Rücken. Hilflos starrte ich auf die zwei Betten vor mir, dann zum Fenster. Würde ich zu ihnen gehen, würde ich meinen Schatten direkt in den Treppenbereich werfen. Ich musste ausharren, bis sie wieder weg waren. „Nein!“, schrie der Sohn währenddessen wutentbrannt und stürmte ins Lager. Ich konnte hören, wie er nach etwas suchte. „Ich werde das so machen, wie ich es gesagt habe! Da redet mir keiner rein, auch du nicht!“ „Aber Junge, so denk doch nach!“, versuchte der Vater ihn zu überzeugen. „Da ist so viel Arbeit, du bist doch kaum noch bei der Sache! Du schaffst das doch gar nicht. In den Ruin treibst du uns!“ „Nein, habe ich gesagt!“ „Du vermaledeites Kind, so sei doch vernünftig!“, etwas schepperte. Der scheinbar recht jähzornige Mann hatte irgendwas umgeworfen, was wie eine Holzkiste klang, doch sein Sohn ließ sich nicht überzeugen. Abermals sprach er: „Nein, Vater, ich werde nicht auf dich hören. Ich führe diesen Laden jetzt und ich tue es, wie ich es für richtig halte. Hör endlich auf mich zu behindern oder ich werfe dich raus!“ „Das kannst du nicht! Das ist mein Haus!“ „Es war dein Haus.“, der Junge ging an ihm vorbei zur Treppe. Ich hielt den Atem an, obwohl man mich erst sehen konnte, wenn man das obere Zimmer betrat und schloss die Augen. Mein Puls war so stark, dass ich ihn selbst in meinem Kehlkopf spürte. Auf der ersten Stufe hielt er inne, denn sein Vater brüllte: „Du wirst es nicht wagen mich hinaus zu werfen! Das wagst du nicht!“ „Ach nein?!“, wahrscheinlich drehte Luke sich auf der Stufe herum. Nun war seine Stimme etwas ruhiger, gelassener. Man merkte ihm an, dass er keine Lust hatte, diese Diskussion zu führen. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Worte öfters gefallen waren und er sie leid war. „Ich sag dir was: Es ist mir gleich, wo du landest! Du verfluchter Säufer. Du treibst uns in den Ruin, nicht ich. Ich bügele die Falten gerade, die du fabriziert hast. Wer hat denn den Kredit aufgenommen?! Wer hat eintausend Fässer Salz gekauft, ohne sie zahlen zu können?! Wer hat versucht gefälschte Perlenketten zu verkaufen?! Ich?! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“ „Luke William Caviness, wage es nicht, so mit deinem Vater zu sprechen!“ „Und warum nicht?!“, Luke ging eine Stufe wieder hinunter und erleichtert atmete ich auf. „Du bist doch nur ein alter, versoffener Narr! Du siehst nicht, was du tust, du bist völlig verrückt! Verrückt!“, diesmal antwortete der Vater nicht und Luke blieb einige Sekunde lang stehen. Ich sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass er umdrehte und ganz hinunter ging. Wieder sah ich zum Fenster, das verlockende, kleine Loch in der Wand mit der schmutzigen Scheibe und den Schneeresten davor. Fünf kleine Schritte, mehr nicht. Das und ein großer, gewaltiger Schatten direkt vor den beiden. Luke wollte hinauf, doch dann polterte es laut, denn der Alte hatte ihn gepackt und hinunter gezerrt. Ihm war der Geduldsfaden nun endgültig gerissen und ich konnte anhand der Tonkulisse erkennen, wie sein Sohn gegen die Wand am Treppenende knallte. Na wunderbar., dachte ich ironisch. Als Einbrecher Mordzeuge zu sein war schon immer mein Traum. Der Alte Mann schrie kaum verständlich und total außer sich: „Du wirst das nicht tun! Ich habe so lange gespart, du wirst das Geld nicht für diesen billigen Scheiß ausgeben und wenn ich dich windelweich prügeln muss!“, ich hörte Keuchen, allem Anschein nach hielt der Mann seinen Sohn noch immer fest. „Du wirst diesen Plunder nicht loswerden! Du wirst darauf sitzen bleiben und wir werden alles verlieren!“ „Du bist betrunken, du alter Narr!“, es krachte erneut, diesmal etwas weiter rechts zum Lager hin. Ich riskierte es, ging in die Hocke und spähte vorsichtig um die Ecke. Die zwei standen im engen Flur und Luke hatte sich gerade los gerissen. Wütend rückte er seine Kleidung wieder zurecht. Er sah genauso aus, wie beschrieben: Schlank, kurzes, braunes Haar, im Nacken kürzer als auf dem restlichen Kopf, kein Bart, einfache Kleidung. Seine Stiefel waren fleckig von der Nässe des Schnees und überall auf dem Boden waren nun Schlamm und Schmutz. Hätte ich Spuren hinterlassen, wären sie spätestens jetzt nicht mehr sichtbar gewesen. Luke baute sich kalt vor seinem Vater auf. Man sah ihm an, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Anders als sein Gegenüber war Luke ruhig, wenn er wütend würde. Umso mehr seine Wut stieg, desto kälter wurde er. Sein Vater hingegen wurde laut, aggressiv, handgreiflich und jähzornig. Zwei Seiten die zueinander nicht passten, die nicht zueinander passen konnten. Umso mehr sich Luke aufstellte, desto kleiner wurde die Gestalt seines Vaters, der ohnehin recht klein und dick war. Er ging mir wohl bis zum Kinn, doch ich konnte mir vorstellen, dass er zu Kindeszeiten mächtige Wirkungen auf seinen Sohn hatte ausüben können. Nun jedoch war er nichts weiter, als ein dicker, alter Herr, mit von Äderchen besetzter Nase, schütterem Haar und wässrigen Augen. Zischend machte Luke ihm klar: „Wenn du mich noch einmal anfasst, dann…“, doch weiter redete er nicht. „Dann was?!“ Der Sohn zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich bin nicht du, ich habe Respekt vor meiner Familie. Aber solltest du nicht endlich aufhören, dich so aufzuspielen, dann werfe ich dich raus. Ich nehme dir das Geld weg, das ich verdiene…! Und ich zeige dich an wegen Betruges, Diebstahls und Verleumdung!“ „Das wäre dein Ruin!“ „Aber wenn ich dich damit los werde, ist es mir die Sache wert!“, und mit diesen Worten stieß Luke ihn beiseite und stapfte zum Verkaufsraum. Der Vater ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen sofort zufolgen und dabei zu schimpfen: „Du wirst Bankrott gehen! Dein ganzer Laden wird in Verruf kommen, niemand wird hier kaufen! Niemand!“ „Ja, ja, mach du nur. Dir hört niemand mehr zu.“ „Du wirst schon sehen, Junge, was du davon hast! Dein alter Herr ist nicht irgendjemand! Du bist in Gedanken ganz woanders, das merken auch deine Kunden und dann- ha! – ist es aus!“, sein Sohn hörte ihm nicht mehr zu. Ich versteckte mich wieder hinter der Wand und lauschte, wie er nach hier und nach dort ging, um das eine oder andere zusammen zu packen. Er hatte beschlossen, nicht hinauf zu kommen. Wahrscheinlich fürchtete er, so wie ich, den alten aus Versehen hinunter zu stoßen. Die ganze Zeit über sprach der Vater auf sein Kind ein, in der Hoffnung, auf Antwort zu stoßen. „Du bist missraten und undankbar, Luke, hörst du?! Ich bin dein Vater, ich wollte nur dein Bestes und du?! Du wirfst alles zum Fenster raus! Ich habe jahrelang dafür gekämpft, jahrelang! Hart gearbeitet! Ich habe diesen Laden mit meinen eigenen Händen erbaut! Ich habe die ersten Waren gekauft und hier versteigert, ich habe dafür geblutet du verfluchter Bengel! Wenn deine Mutter das wüsste, dich anschreien würde sie! Sie hatte wenigstens Grips, aber du?! Du bist verrucht, total verkommen, besessen! Hängen sollten sie dich, auf den Marktplatz, damit du lernst aus dem, was du hier tust! Jahrelang habe ich mich um dich gekümmert, viel zu sanft war ich mit dir, da sieht man es ja wieder! Bei den Jungen heute braucht man eine feste Hand, ich habe es immer gesagt. Immer!“ Und irgendwann dann knallte die Ladentür wieder zu. Luke hatte alles genommen, was er gebraucht hatte und nun war er hinausgegangen, ohne seinen keifenden Vater weiter zu beachten. Ich lauschte eine Zeit lang, wie dieser vor Wut schnaubend Selbstgespräche führte und sinnlos im Vorraum auf und ab ging, dann entschloss ich mich, das Weite zu suchen. Ich musste hinaus, ehe er auf die Idee kam, vielleicht zu mir herauf zu kommen, außerdem wollte ich Luke verfolgen. Langsam und leise schlich ich mich Stufe für Stufe hinunter, bis ich das Ende der Treppe erreichte und dort hielt ich inne, um zu gucken. Der Vorhang war wieder zugezogen, jedoch sah man die Beine des Vaters unten durch. Er stand am Tresen und den Geräuschen nach, trank er murmelnd etwas. Seine Beine warfen lange, dunkle Schatten zu mir. Ich schlich in das Lager zurück, dem Matsch so gut ausweichend, wie es ging, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. Wie erleichtert ich war, die Kälte um mich zu spüren, nun hatte ich es geschafft. Mit einigen, schnellen Schritten eilte ich zur Mauer, auf keinen Fall wollte ich dem Mann auf dem Weg zur Erleichterung begegnen. Kaum hatte ich die Hälfte hinter mir gelassen, kam mir Tommy freudig entgegen. Ich wusste mit Hunden nichts anzufangen, als Kind hatte ich sogar große Angst vor ihnen gehabt. Er sprang und hüpfte zu mir herauf und warf mich fast um. Unbeholfen fuhr ich über das Fell seines Kopfes, doch ich hatte nicht das Gefühl, als würde er es mögen. Dann sah ich den Fremden. Er hatte auf mich gewartet und kam mir nun entgegen, wieder einen Halm im Mund und auf dem Rücken ein deutlich vollerer Ledersack. „Da seid Ihr ja.“, war seine Begrüßung. Ich antwortete nicht, sondern ging mit ihm zur Mauer. Bereits unterwegs schlüpfte ich aus meinen Stiefel und band sie fest. Schmunzelnd fragte er: „Ganz schöner Krach gewesen da drin. War das Licht also an?“ „Nicht richtig.“, dann ließ ich mir hinauf helfen. Wieder warf er den Sack über die Mauer, diesmal klimperte er leise, als läge Metall darin. Neugierig betrachtete ich das Lederstück, ehe ich ihm hinauf half und gemeinsam mit ihm die Mauer wieder hinunter sprang. Als ich auf der anderen Seite stand, kam es mir vor, als wäre ich nie drüben gewesen. Die kalten Steine waren vor mir, der hechelnde Hund dahinter und irgendwo Joshua und seine Flasche Alkohol. Es wirkte irreal und absurd, dass ich dort gewesen war, zudem hatte ich kaum etwas in Erfahrung bringen können. Ich wusste nun lediglich, dass der Sohn den Laden führte und nicht der Vater und dass die zwei in einem recht zerstrittenen Verhältnis lebten – was meiner Meinung nach untertrieben ausgedrückt war. Zudem war Luke von irgendetwas unheimlich angetan, was selbst dem Vater aufgefallen war. Nur was? Der Fremde reichte mir die Hand, nachdem ich meine Schuhe wieder angezogen hatte und grinste: „Viel Erfolg noch und danke für die Hilfe. Lief recht gut für einen Annoncer.“ Zögernd nahm ich an und schüttelte sie. Er hatte einen sehr festen Händedruck, ein Zeichen für starkes Selbstbewusstsein. Als wir losließen, schmerzten meine Fingerknochen etwas. „Wir sind gar nicht so faul, wie man behauptet.“, verteidigte ich mich. „Es gibt drei Dinge, an denen man einen Annoncer erkennt.“, erklärte er mir und warf sich den Sack über die Schulter. „Als erstes der Akzent. Ihr redet so gedehnt und gelangweilt.“, nun warf er den Sack ein Stückchen hoch, da er verrutscht war und versuchte, eine bequeme Haltung zu finden. „Als zweites Eure Langsamkeit. Ihr seid total gelassen, wie Schnecken.“ „Und als drittes?“, hakte ich nach. Er grinste besonders breit und deutete mit einem Kopfnicken zu den braunen Schlieren. „Euer Gestank. So was da ziehen Annoncer magisch an.. Also dann, auf Nimmer.“ „Auf Nimmer.“, wiederholte ich verwirrt über die seltsamen Abschiedsworte und etwas beleidigt aufgrund seiner Behauptungen. Er hörte gar nicht mehr zu, sondern hatte sich abgewandt und war losgegangen. Seufzend sah ich ihm nach. Also gab es auch in Brehms seltsame Gestalten, so wie in meiner Heimatstadt. Allem Anschein nach waren wohl doch alle nur Menschen, egal, wo sie wohnten. Ich beschloss später über ihn nachzudenken, wenn überhaupt. Auf keinen Fall wollte ich mir bewusst machen, was er dort weg schleppte. Lieber wollte ich zu Luke, der sicher gerade seinen Karren beladen hatte, um die Händler abzuklappern. Vielleicht hatte ich Glück und er würde sich mit der mysteriösen Person treffen. Dann könnte ich die ersten Informationen bezüglich der Samariter sammeln und Nevar beim nächsten Treffen sogar Fortschritte vorzeigen. Schweigend stapfte ich durch den Schnee die Gasse entlang, in die Entgegengesetzte Richtung zum Ladenausgang hin. Ich konnte mir Zeit lassen, denn bei diesem Schnee kam man mit Karren nur schwer voran, zudem würde er tiefe Spuren hinterlassen. Es würde nicht lange dauern und ich hätte Luke eingeholt. Am Ende der Gasse jedoch, ich war gerade auf die Straße getreten, hielt man mich an. Ich wusste erst gar nicht, wie mir geschah. Zwei Hände packten mich an der Schulter und ich fuhr herum, mit dem schlimmsten rechnend. Keuchend und hechelnd standen mir die zwei Statuenbewacher gegenüber. „Ihr?!“, fragten sie verwirrt. „Ihr?“, fragte ich zeitgleich. Dann fasste sich der Dickere von ihnen und fragte ernst: „Ein Einbruch wurde gemeldet. Habt Ihr etwas gesehen?!“ „Ähm...“, ich stockte, denn ich war mehr als nur überrumpelt und natürlich fühlte ich mich angesprochen. Unsicher murmelte ich: „Nun ja, wo wurde denn eingebrochen?“ Der Ältere kam dem Dicken zuvor. Er rückte seine Mütze zurecht, die durch das Rennen an Halt verloren hatte und stammelte aufgebracht: „Im Kupfer-Fach-Geschäft, gleich hier um die Ecke. Ihr kommt doch aus der Richtung?“ Kupferfachgeschäft. In meinem Hinterkopf hörte ich den Stoffsack des Fremden klimpern. „Ähm...“, abermals stockte ich, denn tatsächlich kam ich von dort. Der Fremde war in dieses Geschäft eingebrochen und es war offensichtlich, dass sie ihn suchten. Ehe ich etwas sagen konnte, ergänzte der Dickere: „Der Verkäufer kam gerade in das Geschäft und siehe da, man war in seinem Lager!“ „Das ist wirklich schrecklich! Ich habe tatsächlich etwas gesehen!“, übertrieben nickend sah ich von einem zum anderen. „Einen Mann, etwa so groß wie ich. Er hatte einen Ohrring und kam mir entgegen, als ich-…“ „Einen Ohrring?!“, unterbrach mich der Ältere nun. „Hier etwa?!“, und dabei zeigte er an seine Ohrmuschel. Als ich abermals nickte, schnaubte sein Partner verächtlich. „Wieder dieser Slade…! Wo ist er hin gegangen?“ „Da entlang. Ich glaube aber-…“, doch kaum hatte ich meinen Finger auch nur ansatzweise in die völlig falsche Richtung bewegt, rannten die beiden unbeholfen weg. Sie rutschten und watschelten, mehr als dass sie wirklich liefen und es war ein recht amüsanter Anblick, als sie sich nicht entscheiden konnten, wer denn als erstes in die enge Gasse sollte. Kopfschüttelnd ging ich weiter meinen Weg, sie würden diesen Slade nicht finden und selbst wenn, wären sie wohl so mit Streiten darüber beschäftigt, wer ihn nun festnehmen sollte, dass er in aller Ruhe das Weite suchen konnte. Ich wiederholte den Namen leise um ihn mir einzuprägen: „Slade.“ Grinsend stellte ich fest, dass sie mich gar nicht gefragt hatten, weswegen ich eigentlich von dort kam. Ich folgte den Straßen und lief um den Häuserblock herum zur Vorderseite. Luke war allem Anschein nach verschwunden, tiefe Reifenspuren im Schnee zeigten mir jedoch, wohin er mit seinem Karren gegangen war. Sie führten aus der Gasse neben dem Eingang hinaus tiefer in die Stadt hinein. Kurz überlegte ich, ob ich ins Ladeninnere gehen sollte, um mir alles etwas näher anzusehen, doch der düstere Blick des Händlers an der Fensterscheibe ließ mich weiter gehen. Ich wunderte mich nicht, dass sie gezwungen gewesen waren, Schulden zu machen. Wenn jemand sich so in den Verkaufsraum stellte, flohen die Kunden eher, als dass sie angelockt wurden. Die Stadt wirkte in manchen Teilen fast wie tot auf mich, während ich schweigend durch die Gassen schlenderte und den Spuren folgte. Manchmal passierten Luke und ich – nur etwas entfernter voneinander – belebte Marktstraßen, meistens jedoch folgten wir Abkürzungen durch schmale Pfade, durch welche er gerade so hindurch passte. Nicht lange und ich holte ihn ein. Luke lief mehrere Meter vor mir und ich beschloss, so viel Abstand wie möglich zu nehmen, um nicht aufzufallen. Drei Stunden lang lief ich ihm hinter her oder Umwege voraus, wenn ich wusste, wo er die Gasse verlassen würde. Irgendwann begannen meine Hände zu frieren und ich bekam unheimlich schlechte Laune. Bis dorthin hatte ich mich als geduldigen Menschen bezeichnet, aber als dann sogar die vierte Stunde anbrach, war ich nicht mehr zu besänftigen. Er klapperte einen Laden nach dem anderen ab und sprach mit fast jedem Verkäufer gut eine viertel Stunde lang, über Gott und die Welt! Wie konnte ein einfacher Mann so viel mit anderen reden, meist über die unsinnigsten Themen?! Meine Zehen wurden taub, vom Rest meines Körpers ganz zu schweigen. Ich war der festen Überzeugung, dass meine Ohren und Finger irgendwo am Wegesrand liegen mussten. Aufgrund des Winters wurde es früh dunkel und die Gestalt von Luke wurde immer mehr zu einer schwarzen Silhouette, dann trat er den Heimweg an. In naiver Hoffnung, es würde doch noch irgendetwas passieren, folgte ich ihm zurück bis zum Laden, nur um zu beobachten, wie er den Karren verstaute, mit einer Plane vor der Witterung schützte und zurück ins Haus ging. Das war mein erster Spionage-Tag und er sollte nicht der letzte sein, der so ablief. Ich kehrte auf die andere Stadtseite zurück zur Rum-Marie, erschöpft, hungrig und vor allem müde. Meine Muskeln schmerzten durch die Kälte, meine Waden vom langen Laufen und mein Kopf noch immer von den harten Schlägen durch Morgans Wut. Zu meiner Erleichterung war dieser noch nicht zurückgekehrt und ich konnte beruhigt ins Bett gehen. Es verwunderte mich, dass man Morgan so lange festhielt, vielleicht bahnte sich aber auch etwas weitaus schlimmeres an. Ich stellt mir vor, wie er etliche Männer um sich scharte, aus Rache und Mordlust heraus und was passieren würde, würde ich aufwachen und die gesamte Meute würde plötzlich vor mir stehen. Dennoch war ich so dreist, dass ich es einfach heraus forderte. Es war mir gleich, ob er plötzlich vor mir stand und es war mir gleich, ob ich dann sterben würde. Ich wollte einfach nur schlafen. Am Morgen raffte ich mich auf und zwang mich, zurück zum Allerlei-Fachhandel zu gehen. Amy machte mir eine warme Suppe und auf dem Weg kaufte ich mir ein weiteres Hemd, um die Kälte zu ertragen. Ich konnte kaum laufen, jeder Muskel schmerzte und ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich mir mit dem Handrücken unter die Nase rieb. Ich war erkältet, ich wurde krank. Mittlerweile war die Sonne dabei, den vereisten Schnee zu schmelzen und von den Dächern tropfte das Wasser, als würde es regnen. Ich hoffte, dass es so warm blieb, denn würde alles erneut gefrieren, wären die Straßen von Brehms die Hölle. Erneut folgte ich Luke den gesamten Tag lang und sah ihm zu, wie er mit den vielen Menschen redete, diesmal in ganz anderen Teilen der Stadt. Zwar bekam ich dadurch viel von Brehms zu sehen, was ich selbst wahrscheinlich niemals erkundet hätte, dennoch war es nicht annähernd tröstend. Ich registrierte, dass Luke seine Fahrten immer erst gegen Mittag startete, zuvor ging er mit seinem Vater in einem nahe liegenden Gasthaus frühstücken. Da in dieser Zeit nicht viel Spielraum für heimliche Aktivitäten blieb, sondern nur für unwichtige Vater-Sohn-Streitereien die mich nicht interessierten, beschloss ich, mich in dieser Zeit etwas anderem zu widmen: Mir. Ich gönnte mir ein ausgiebiges Frühstück und zwar nicht irgendetwas, sondern frisches Brot. Dieses kaufte ich bei einem gewissen verfluchten Bäcker, rein zufällig natürlich. Diesen Bäcker zu finden war nicht schwer, denn er lag dem Handelsladen genau gegenüber und hieß Frankys Backstube. Es musste einen Grund haben, wieso Franky und Luke sich immer stritten und vielleicht würde für mich die eine oder andere Information abfallen, würde ich die richtigen Themen aufgreifen. Ich zog die Kapuze vom Gesicht, trat ein und hörte mir die Rassel an, die über der Tür mein Kommen ankündigte. Der Laden war leicht zu beschreiben: Ein Tresen und endlos viele Regale im Hintergrund mit den interessantesten Gebäcken. Eine Tür führte in ein Hinterzimmer, dort stand wahrscheinlich der Ofen und dort war wahrscheinlich auch Franky. Ich wartete einige Zeit, doch da niemand meine Ankündigung vernommen zu haben schien, öffnete ich die Tür erneut und schloss sie wieder. Wieder rasselten die kleinen, silberfarbenen Glöckchen, diesmal eindringlicher. Als erstes hörte ich ein lautes und gedehntes: „Ich komme!“ und war unsicher, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Als zweites hörte ich stampfende Schritte näher rücken. Eine sehr große und vor allem dickliche Gestalt trat in das Vorderzimmer, mit schwarzen Haaren, dunklen Schweinsäuglein, aber unheimlich freundlichem Gesicht. Es wirkte, als stünde vor mir eine Mischung aus Frau und Mann, denn der Kerl hatte recht weibliche Züge und sein dicker Bauch war so geformt, als würde er ein Kind unter seiner Schürze tragen. Lächelnd wurde ich gefragt: „Was darf es bitte sein?“ Ich stockte, denn er hatte wahrlich eine recht feminine Stimme, dann räusperte ich mich und sah mich etwas um. „Nun… Ich hätte gern ein einfaches Brot, recht klein, wenn es geht.“ „Aber natürlich, was denn für ein Brot?“, er deutete lächelnd auf die Regale um sich und fragte: „Domherrenbrot?“ „Oh nein.“, abwehrend hob ich die Hände. „Das kann ich mir wahrlich nicht leisten.“ „Ihr seht aus, als könntet Ihr es, mein Herr.“, spottete der Bäcker. „Nun gut, also kein Feinschmeckerbrot, meinethalben. Was dann? Vollkorn, Stadtbrot? Oder etwa Gersten- und Haferbrot für Euer Vieh?“, er sah an mir vorbei zur Tür, doch da ich kein Vieh zu haben schien, sagte er: „Wohl nein.“ „Nein, nein. Ein einfaches Bürgerbrot bitte. Aber ein frisches.“ „Ein frisches Stadtbrot, so, so. Aber es ist doppelt so teuer, dass wisst Ihr? Fünf Heller mehr, also einen halben Silberling.“, ich nickte nur. Der Bäcker drehte sich herum und griff in eines der Regale, um eine kleine, runde Teigkugel hinaus zu holen. „Wo kommt Ihr her, dass Ihr es Bürgerbrot nennt? Etwa aus dem Süden? Eine hässliche Gegend, ich hoffe doch nein?“, und mit diesen Worten hielt er es mir entgegen. Lächelnd schob ich ihm zehn Heller zu. „Ach, nein. Bloß nicht.“ „Aber Euer Dialekt lässt doch sehr darauf schließen.“, fuhr der Bäcker überzeugt fort. „Ihr wirkt wie einer aus dem Süden. Meine Güte, Bürgerbrot, was für ein Wort. Das klingt ja richtig vornehm!“ Lachend nickte ich. „Ja, für wahr. Man macht alles etwas besser, nicht wahr?“, dann musterte ich die Teigkugel in meinen Händen. Sie war fest, aber im Innern weich und es roch ungemein frisch. Im Kloster war es Pflicht gewesen, jedes Brot erst nach einem Tag zu essen, denn frisches stand einem einfachen Mönch nicht zu. Ich glaubte, das erste Mal ein völlig frisches Brot in den Händen zu halten. An der flachen Unterseite befand sich eine Art Siegel, FB, die Initialen für Frankys Backstube. Es gab nicht viele Bäckereien, die eigene Öfen hatten, die meisten ließen sich die Brote von größeren Bäckereien liefern und verkauften sie nur. In manchen jedoch war es anders. Manche, so wie Franky’s Backstube, hatten eigene Öfen, in denen man selbst gemachten Teig backen lassen konnte, so wie Mischungen anfertigen oder Gernsten- und Hirsebrei kochen. Diese Bäcker waren eigenständige Bäcker, mit eigenen Siegeln, durch die man all ihre Waren zu ihnen zurückverfolgen konnte. Als ich Franky wieder ansah, war er nicht wenig stolz und ich glaubte, er war noch nicht lange ein eigenständiger Bäcker. Seine dunklen Augen leuchteten etwas und seine ohnehin rötlichen Wangen glühten nun richtig. „Ihr seid eigener Bäcker?“, fragte ich und sofort erhob sein Kopf sich etwas. „Oh ja, das bin ich. Los- und Weißbäcker! Wenn der Herr also einen Teig zum backen hat, nur her damit, für nur fünf Heller backe ich ihn ihm.“ „Leider nein, aber wenn ich mal einen Teig haben sollte, dann weiß ich, wohin ich gehe.“, ich schmunzelte, denn mit Sicherheit würde ich niemals einfach so irgendwo einen Teig finden. Der Bäcker merkte nicht, dass ich mich ein wenig über ihn lustig machte. Er verschränkte seine Arme auf den Tisch und lehnte sich zu mir nach vorne, wie ein riesiger Hahn, der mir seinen Hühnerstall präsentieren wollte. „Ja, tut das nur, ich backe es am besten. Besser, wie jeder andere hier in der Gegend, Ihr werdet sehen.“ „Gibt es denn viele eigenständige Bäcker hier?“, hakte ich nach. Er winkte ab. „Ach, nein, nicht in diesem Viertel. Wegen der Brandgefahr, wisst Ihr? Ich bin der erste mit eigenem Ofen.“ „Dann ist es wohl nicht schwer, besser zu backen, als jeder andere.“, scherzte ich und biss eine Ecke von meinem Brot. Sie war knusprig und schmeckte stark nach Gerste, zudem befanden sich einige nicht richtig gemahlene Stücken im Innern. Das war das negative daran ein Bürger zu sein: Das Brot war weder gesalzen, noch richtig gemahlen. Dennoch genoss ich den Geschmack ungemein. Franky schmunzelte, diesmal merkte er meinen Spott und er nahm es als Herausforderung an. Er musste sich mit seinem neuen Können erst behaupten und wahrscheinlich war ich der erste, der seinem Protzen nicht beipflichtete. „Lacht Ihr nur. Wenn Ihr einen Teig habt oder einen Brei, dann werdet Ihr an mich denken.“ „Gewiss, das werde ich. Ganz bestimmt sogar.“, antwortete ich kauend. „Schmeckt es?“ „Ausgezeichnet, das gebe ich zu.“, ich schluckte den Bissen hinunter und sah kurz zur Tür. Die Sonne war dabei aufzugehen und ich überlegte mir, das restliche Brot aufzuheben, bis ich ein passendes Getränk dazu hatte. Lächelnd wandte ich mich wieder dem Bäcker zu. „Etwas trocken vielleicht.“ „Nun, ich braue auch, wenn Ihr also wollt? Fünf Heller der Krug.“ „So viel wie ein halbes Brot!“, stellte ich leicht erschrocken fest, nickte jedoch. Franky schien zufrieden und verschwand wieder, dann kam er mit einem vollen Krug zurück und stellte ihn mir vor die Nase. Ich zahlte erneut, diesmal nur fünf Heller und nahm einen kräftigen Schluck. Es schmeckte wunderbar, im Vergleich zu jenem Bier, das ich in der Rum-Marie bekommen hatte. Grinsend musterte Franky mein Gesicht. „Gut, was? Familienrezept.“ Ich nickte abermals, um ihn zu loben und etwas Sympathie zu gewinnen, dann begann ich ein Gespräch: „Wisst Ihr, ich bin Buchbinder nicht weit von hier und binde unter anderem die Bücher des Skriptoriums vom alten Pepe, einige Straßen weiter. Doch die Arbeit langweilt mich, ich will etwas Ernsthaftes machen. Etwas, das einen Sinn hat, versteht Ihr?“ Franky nickte eindringlich. „Natürlich.“ „Seht Ihr, deswegen suche ich eine neue Arbeit. Ist die Arbeit eines Bäckers schwer?“, ich biss erneut in mein Brot. Franky schenkte mir ein verschmitztes Grinsen. „Der feine Herr sollte bei seinen Büchern bleiben, die Arbeit bei einem Bäcker ist eine ganz schön harte Sache.“ „So?“, hakte ich scheinbar interessiert nach. Frankys Stolz wuchs ins Unermessliche. „Selbstverständlich. Habt Ihr Interesse bei mir in die Lehre zu gehen?“ „Nun, das kommt drauf an.“, ich wog den Kopf. „Ich möchte schon verdienen können und nicht nur schuften.“ Das brachte Franky zum Lachen. Er verließ mich kurz wieder und ich konnte hören, wie er an seinem Ofen herum hantierte. Als er zurückkam, war mein halbes Brot bereits verschwunden und mein Krug fast leer. „Ihr würdet als Lehrling anfangen, für drei Jahre.“ „Drei Jahre als Knecht?! Das ist Ausbeute!“, fluchte ich. Franky lachte und stemmte die Arme in die Hüften. „Ich weiß nicht, wo Ihr herkommt, dass Ihr das sagt, aber hier ist das eben so. Ihr seid drei Jahre Knecht, und dann dürft Ihr Teig machen oder mir aushelfen und wenn Ihr das zwei Jahre lang gut macht und die Prüfung ablegt, dann dürft Ihr Euch Meister nennen.“ „Also…“, fasste ich kauend zusammen. „…muss ich drei Jahre lang Mehl schleppen und Korn mahlen, dann zwei Jahre lang Teig kneten und Feuer im Ofen schüren und nach fünf Jahren erst bin ich Bäcker?“, als er nickte, schüttelte ich entschieden den Kopf. „Nein, danke. Da werde ich ganz krank vom ganzen Mehl und wofür? Ich bleibe bei meiner Buchbinderei.“ „Tut das nur.“, grinste Franky und machte es sich wieder bequem. „Ich sage ja: Das ist nur was für echte Männer.“ Ich schwieg und steckte mir den letzten Brotkanten in den Mund, während ich einen erneuten Blick zum Allerleiladen gegenüber warf, fast ein wenig nachdenklich. Dann drehte ich mich kauend und schmatzend zurück und sinnierte: „Oder ich werde Händler, wie die gegenüber. Das wäre doch was: Mit meinem Karren durch die Stadt ziehen und verdienen ohne Hör-Auf.“ „So ein Unsinn!“, Frankys Gesicht wurde etwas düster und auch er sah durch seine Scheibe hinaus zum Geschäft. „Das sind doch alles Betrüger und Halunken!“ „So?“, ich folgte seinem Blick, als wüsste ich nicht, wen er meinen würde. Der Bäcker beugte sich zu mir herunter und zischte leise: „Ja, das sage ich Euch…! Die da drüben zum Beispiel, beschissen haben die mich!“ „Womit denn das?“, fragte ich schockiert. Franky richtete sich wieder auf und verschränkte düster die Arme. Sein Gesicht verfinsterte sich ungemein und zwischen seinen schwarzen Augenbrauen bildeten sich tiefe Falten. Ich nippte an meinem Krug und hörte zu, als er knurrte: „Diese Mistkerle! Haben mir das Mehl weg gekauft, das ich mit holen wollte und dann haben sie zwanzig Brote in Auftrag gegeben damit. Und was dann?! Dann haben sie es abgeholt und für den dreifachen Preis verkauft! Mein Siegel, das haben sie abgekratzt! Behauptet, das wäre ihr Teig gewesen, dabei war ich es, der den Teig gemacht hat! Sie hatten nur das Mehl besorgt! Sogar mir haben sie eines verkauft, ist das nicht unheimlich dreist?!“ „Das ist doch Betrug!“, sagte ich aufgebracht, um ihn noch etwas anzuheizen. Franky schnaubte. „Mehr als das!“ „Habt Ihr das denn nicht gemeldet?“ „Natürlich habe ich das! Aber kann ich es denn beweisen? Diese Halunken, immer und immer wieder bescheißen sie mich!“, er sah mich aggressiv an und zischte: „Und nicht nur mich, die ganze Stadt legen sie rein! Früher, vor fünf Jahren, als Elisabeth - die gute Liz! - noch lebte, da war das anders gewesen. Da war Joshua noch ehrlich gewesen. Aber heute?“ „Joshua? Elisabeth?“, fragte ich verwirrt. Der Bäcker stieß wütend die Luft aus und etwas Mehl flog vom Tresentisch. „Der Besitzer des Ladens ist Joshua, Elisabeth war seine Frau. Gott sei Ihrer armen Seele gnädig.“, er bekreuzigte sich und sah wehleidig hinüber zum Geschäft, als wäre jene Tragödie, die bereits fünf Jahre her war, noch immer aktuell. „Sie starb an Fieber, ein gutes Weib. Ein Engel, das sage ich Euch. Aber seitdem sie fort ist, hat Joshua sämtliche Ehrlichkeit verloren.“ „Aber führt nicht der Sohn das Geschäft?“, wollte ich verwirrt wissen. Mit einem Mal begann der Bäcker zu lachen, als hätte ich einen unheimlichen Witz gemacht. „Der Sohn? Luke, der Lausebengel? Ein Einfaltspinsel ist das, dumm wie Stroh. Der schiebt den Karren und jeder weiß, wieso: Weil er dümmer ist, als mein Brot, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Den lässt der Vater nie an den Verkauf, versteht Ihr? Weil er sie bankrott machen würde. Kommt immer hier her und kauft etwas bei mir, daher weiß ich das. Ein mieser Charakter, ohne Frage.! Oh, wenn Liz nur wüsste, was sie mit ihrem Geschäft anstellen, die gute, alte Liz, sie tät das gerade biegen!“, seufzend schlurfte er zurück ins Hinterzimmer. Ich schwieg und blieb am Tresen stehen, aufmerksam hinaus sehend. Noch immer brannte kein Licht im Laden, also ließ ich mir mit meinem Krug noch etwas mehr Zeit und meine Gedanken kreisen. Der Bäcker kannte scheinbar die Familie Caviness sehr genau, aber wie genau wirklich? Gab der Junge sich dumm oder wirkte er so auf den Bäcker, aufgrund der Feindseligkeit? Angeblich hatte das Chaos mit dem Betrug erst vor fünf Jahren begonnen, seitdem die Mutter verstorben war. Ich rechnete. Luke war damals um die sechzehn Jahre alt gewesen, konnte also unmöglich begonnen haben, ein Geschäft zu führen. Der Vater hätte ihm wahrscheinlich nichts anvertraut, er war noch ein Kind. Oder aber der Vater war in tiefer Trauer gewesen und der Sohn hatte das Geschäft übernommen, damit sie es nicht verlieren würden. Das Geschäft hatte Elisabeth – Liz – gehört, etwas sehr ungewöhnliches, denn schließlich war sie eine Frau gewesen. Doch wem hatte sie es hinterlassen? Joshua oder Luke? Wer hatte sich darum gekümmert, wer war dazu eher im Stande gewesen? Oder hatte das Geschäft bereits zuvor Probleme gehabt, vor ihrem Tod? Laut den Unterlagen im Schreibtisch der Familie Caviness hatten sie vor sechs Jahren, also zwei Jahre vor Elisabeths Ableben, einen Kredit aufgenommen, den sie vor einem Jahr zurückgezahlt hatten. Das bedeutete, bereits unter Elisabeth hatten sie starke, finanzielle Probleme gehabt. So stark, dass sie sie erst nach fünf Jahren hatten bezahlen können. Entweder, sie waren an einen Betrüger als Geldleiher geraten, bei dem die Zinsen viel zu hoch gewesen waren oder aber sie hatten einen unglaublich hohen Kredit aufgenommen. Nirgends war der Name des Leihers verzeichnet worden und auch nicht der genaue Betrag, es gab lediglich ein Beweis-Dokument, dass sämtliche Schulden bezahlt worden waren. Wollte man den Betrag verheimlichen? Und wieso hatte Luke gesagt, dass der Vater den Kredit aufgenommen hatte, wenn doch Liz als Besitzerin des Ladens galt? Mir kam die Idee, dass Elisabeth bereits zwei Jahre vor ihrem Tod krank gewesen sein könnte und deswegen der Mann das Ruder in die Hand genommen hatte und mit einem Mal tat die Frau mir leid. Sie hatte mit ansehen müssen, wie das Geschäft, das sie mit ihren Händen erbaut hatte, durch die falsche Pflege ihres Mannes verkommen war. Vielleicht hatte er sogar angefangen zu trinken und sie hatte gemerkt, dass ihre Familie Banktrott gehen würde. Es war kein Wunder, dass sie keine Kraft mehr gehabt hatte, sich gegen das Fieber zu wehren. Aber wo stand der Sohn während dieser Zeit? War er hinter ihr und versuchte sie und den Laden am Leben zu erhalten? Das würde den Hass auf seinen Vater erklären, der ungeachtet das Lebenswerk seiner Frau zerstört hatte. Oder stand Luke abseits und hatte bereits als Junge seine eigenen, düsteren Pläne? Gab es vielleicht einen Komplizen? Einen Rivalen, einen zweiten Händler oder einen Onkel, der sich die Naivität des Kindes zu Eigen machen wollte? Jemand, der Elisabeth gehasst hatte und froh war, sie endlich los zu sein? Und wieso gab es im Haus nirgends die geringste Spur von Elisabeth, bis auf das Ehebett, in dem nun sogar Luke schlief, statt der Vater? Ich hatte weder alte Kleider gefunden, noch Schmuck, noch anderes. Nach fünf Jahren vielleicht nicht verwunderlich, aber wieso kümmerte es niemanden, dass das Kind in jenem Bett schlief, in welchem die Mutter verendet war? Als Franky zurückkam, war ich nicht annähernd schlauer als vorher, stattdessen spürte ich nur umso stärker meine Kopfschmerzen und genehmigte mir ein weites, kleineres Stück Brot zweiter Klasse. Es war hart und ich musste länger kauen, ehe ich die Bissen hinunter schlucken konnte. Der Bäcker genoss meine Anwesenheit, denn mein Hunger zeigte ihm, dass seine Brote gut waren. Er lehnte sich über den Tresen und fragte im Plauderton, wie, um seine düsteren Gedanken zum Schweigen zu bringen: „Sagt, kennt Ihr eigentlich die Geschichte vom alten Henry und Abigail?“ Ich sah ihn an und versuchte ernsthaftes Interesse zu zeigen, aber in Wahrheit wollte ich ganz andere Dinge von ihm wissen. Ich wollte wissen, woher er Liz kannte, wie genau sie verstorben war und wie die Familie damit klar gekommen war, doch nun hatte ich scheinbar keine Wahl. Unwissend schüttelte ich den Kopf und biss erneut in den harten Kanten. Da dies wohl eine lange Geschichte werden würde, lehnte auch ich mich an den Tresen. „Nun gut…“, begann Franky lächelnd und im Laufe der nächsten zehn Minuten sollte ich merken, dass ich mit meiner Vermutung nicht ganz falsch gelegen hatte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)