Der Wächter des Drachen von Xanderle (Fortsetzung von "Drachenherz" und "Die Söhne des Drachen") ================================================================================ Kapitel 20: Der Erzengel ------------------------ Die Anreise des Erdkönigs war - von ein paar Blasen an den Füßen seiner Sänftenträger einmal abgesehen - Agni sei Dank ohne Zwischenfälle von statten gegangen. Ebenso planmäßig und reibungslos verlief dementsprechend auch der abendliche Empfang für ihn und sein Gefolge. Die Musik war inspirierend, das Essen hervorragend und die Gespräche angeregt. Besonders das Gespräch zweier junger Männer. „Nun, Hoheit, ich hoffe Eure Schwester Aya noch kennen lernen zu dürfen. Ich habe schon viel über sie gehört. Sie soll sehr ...“ Yoshio Saburo, Graf von Nobu, machte eine etwas hilflose Geste. „Ja.“ Lee musste grinsen. „Ist sie. Ziemlich sehr sogar.“ „Außerdem hat sie erst kürzlich einen Namensvetter meines Onkels geheiratet“, rettete der junge Adlige sich auf sicheres Terrain. „Euer Onkel heißt Takeru?“, fragte Lee. „Oh, nein, nein. Ich meine den Familiennamen. Der Familienname der Erzherzöge von Iweh und ihrer Sippe lautet ebenfalls Nezu. Zugegebenermaßen ist es im Erdkönigreich ein weit verbreiteter Name. Nezus gibt es praktisch in allen Formen und Farben und in jeder Volksschicht.“ „Verstehe. Es verhält sich also wie mit Chang oder Wu.“ „Nicht ganz so schlimm, aber ähnlich“, erwiderte der Graf. „Ursprünglich bedeutete der Name glaube ich Mauerwerk, oder Festung. Daher nehme ich stark an, dass der Stammvater aller Nezus schlichtweg ein einfacher Maurer war. Eine Theorie, die unter der Familie meiner Mutter jedoch nur wenig Anklang fände.“ „Das kann ich mir vorstellen!“, feixte Lee. „In der Feuernation ist der Name eher unüblich, daher nehme ich an, der Hauptmann ist ein Landsmann von mir?“ „Das ist er in der Tat. König Nuro hält meinem Vater regelmäßig vor, ihm den besten Kämpfer des Erdkönigreichs vorzuenthalten. Er hat sogar schon versucht, uns Hauptmann Nezu abzukaufen.“ „Bitte?“, lachte Yoshio. „Wirklich wahr! Alle zwei Jahre veranstalten sie hier einen freundschaftlichen Wettkampf. Mein Vater und Euer König lassen ihre besten Soldaten und Kämpfer gegeneinander antreten. Und jedes Jahr geht es gleich aus, egal WEN Nuro anschleppt, am Ende steht nur noch Hauptmann Nezu. Und meistens noch Han Osaru. Bin gespannt, wer dieses Jahr die Ehre hat, von meinem Schwager auf den zweiten Platz verwiesen zu werden. Vorletztes Jahr bot Nuro meinem Vater nach dem Turnier das gesamte Herzogtum Ying und eine nahezu schwindelerregende Summe an, um Takeru auszulösen. Als mein alter Herr sich weigerte, hat Nuro ihn richtiggehend angebrüllt. Der Hauptmann sei ein stolzer Sohn der Erdnation; dort gehöre er gefälligst hin und nicht zu einem Haufen hinterlistiger, feuerspuckender Wegelagerer!“ „Er ... hat ihn angebrüllt?“ „Ja.“ „Euren Vater?“ „Ja!“ „Und er hat ihn Wegelagerer genannt?“ „Genau genommen uns Alle.“ „Alle Achtung!“ „Nicht wahr?“ „Was tat Euer Vater?“ „Er lachte nur, legte Nuro die Hand auf die Schulter und meinte, sie könnten sich den Ruhm des Sieges ja teilen. Die Erdnation könnte sich rühmen, den besten Kämpfer zwar hervorgebracht zu haben, aber entdeckt hätte ER ihn. Ich wette, dieses Jahr fängt das Ganze von vorn an.“ „Seine Majestät kann bei Bedarf sehr hartnäckig sein.“ „Und mein Vater ziemlich bockig.“ Die beiden Männer lachten. Dann fiel Lee eine Bewegung in der Menge auf „Ah! Dort drüben steckt Aya ja. Samt legendärem Eheanhängsel. Dann werde ich Euch der entfernten `wenn-überhaupt-Verwandtschaft´ mal vorstellen. Bitte mir zu folgen.“ Als Yoshio Prinz Lees Schwester erblickte, stockte ihm für einen kurzen Moment der Atem. Diese Frau war tatsächlich so schön wie man behauptete. Graziös, mit einem hellen, ansteckenden Lachen schien sie fast zu leuchten. Sie nickte zu etwas, das Außenminister Wu gesagt hatte. „Meine Güte!“, murmelte Yoshio. „Tja, ist eben bestes Erbgut, wenn ich mal so sagen darf.“ Plötzlich drehte Aya Nezu sich um und wandte sich an einen Mann, der dicht bei ihr, jedoch ein wenig im Hintergrund stand. Um sie inmitten des Lärms besser zu verstehen, beugte der Hüne sich nach vorn. Yoshio Saburo erstarrte zur Salzsäule. „Was ist?“, wollte Lee wissen. Doch der Graf stand nur wie angewurzelt da und starrte Hauptmann Nezu an. „Der Erzengel?“, flüsterte Yoshio. „Erzengel?“ Lee legte den Kopf schief. „Hm. Den Vergleich hatten wir bisher noch nicht. Aber auch sehr hübsch. Wir hier nennen ihn zärtlich den Blutwolf. Oder - vorzugsweise wenn er eine Meile weit weg ist - Master Gargoyle.“ „Äh ... was?“ Yoshio blickte seinen Begleiter an, als bemerke er ihn erst jetzt. Lee war langsam etwas irritiert. Zugegeben, sein Schwager war imposant und konnte einem wenn er wollte auch ordentlich Angst einjagen, aber diese Reaktion ... „Ist alles in Ordnung?“, fragte er misstrauisch. „Ja! Ja, natürlich.“ Graf von Nobu straffte sich. „Ihr ... könntet Ihr mich jetzt vorstellen?“ Lee nickte. Schließlich wäre es, sollte der Kerl einen Knall haben, ohnehin das Sicherste, ihn in Takerus Nähe zu verfrachten. Die Killerqueen würde sofort spüren, wenn Gefahr drohte. Yoshio hatte sich als er Herrn und Frau Nezu vorgestellt wurde allerdings wieder voll im Griff. Seltsam war nur, dass er sich immer noch mehr für Takeru Nezu zu interessieren schien, als für dessen bezaubernde Gemahlin. Und das, wo ihm bei Ayas Anblick vorher noch fast die Augen aus dem Kopf gefallen wären. Lee beschloss, Yoshio Saburo unter Beobachtung zu halten. Lange hatte er sein Opfer jedoch nicht zu observieren, denn der Graf reiste am übernächsten Morgen mit dem ersten Schrei der Taubenhähne ab. Allerdings nicht, ohne diskrete Erkundigungen über den Blutwolf eingezogen zu haben. Numatzu, Zwei Tage später „Ähm ... Verzeihung. Yuna Nezu?“ „Ja?“ Yuna wischte die staubigen Hände an ihrer Schürze ab und sah den Fremden fragend an. Er war recht jung, hatte ein ruhiges, ehrliches Gesicht, welches bei den Fräuleins bestimmt hoch im Kurs stand, und ein offenes Lächeln. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Ich, äh ... komme in einer delikaten Angelegenheit.“ „Delikat? Aha. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ „Mein Name ist Yoshio Saburo. Ich habe einige Fragen an Sie.“ „Fragen? Was für Fragen?“ „Also ich ... Waren Sie mit Takeo Isamu Virgil Nezu verheiratet?“ „Was?“, hauchte Yuna. Mit einem Mal war sie unendlich blass geworden. Woher kannte der Fremde den vollständigen Namen ihres verstorbenen Mannes? Plötzlich wirkte dieses Gesicht gar nicht mehr so offen und ehrlich. „Waren Sie?“ „Ich wüsste nicht, was Sie das anginge!“, antwortete sie abweisend. „Oh ... Also ... Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte Ihnen nichts Schlechtes! Ich komme im Auftrag des Erzherzogs von Iweh“, improvisierte Yoshio. „Der Herzog?“ Yuna versteifte sich. „Was will der Herzog von mir?“ „Nichts! Ich meine ... Es handelt sich um dringende Familienangelegenheiten. Daher muss ich wissen, ob Sie die Ehefrau Takeo Nezus waren.“ „Ja.“ Yuna schob ihr Kinn vor. „Takeo war mein Mann. Aber mit dem Herzog habe ich nichts zu schaffen!“ „Es geht um das Erbe“, warf Yoshio hastig ein. „Das Erbe? Machen Sie Witze?“ Yunas grüne Augen begannen zu brennen. „Das Erbe? Takeo war enterbt worden, als er mich heiratete. Und nach seinem Tod ...“ Ihre Stimme versagte. „Mir wurde mehr als deutlich gemacht, dass weder ich noch das Baby Anspruch auf den Schutz seiner Familie hätten.“ „Von wem stammte diese Aussage?“ „Von wem?“ Yuna lachte hart. „Von Takeos Vater. Akio. Dem ehrwürdigen Erzherzog höchstpersönlich. Direkt nachdem er mir ins Gesicht geschleudert hatte, sein einziger Sohn sei auf seiner Reise in die Feuernation von Aufständischen getötet worden. Er stand einfach da und hat es mir ... mitgeteilt.“ Als alte Erinnerungen auf sie einstürmten, schlang Yuna schützend die Arme um sich. „Er war so kalt! Es hat ihm nichts bedeutet, seinen Sohn zu verlieren. Nur weil dieser es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen und mich zu heiraten.“ Sie nahm einen zitternden Atemzug. „Er verlangte sogar von mir Takeos Namen abzulegen. Aber ... das konnte ich nicht. Es war das Einzige, was mir geblieben war. Sein Name und sein Kind. Ich nahm meinen zwei Jahre alten Sohn und zog nach Ba Sing Se, wo es so viele Nezus gab, dass wir nicht weiter auffielen. Wenn der Herzog mir jetzt vorwerfen will, ich hätte seinen kostbaren Namen beschmutzt, dann bei den Göttern ...“ „Nein! Darum geht es nicht. Es geht um ebendiesen Sohn. Ihren Sohn. Hauptmann Nezu.“ „Und warum? Warum sollte der Alte plötzlich Interesse an Takeru haben? Und WARUM sollte uns das interessieren?“ „Ihr Sohn“, sagte Yoshio eindringlich. „Ist der Erbe des Herzogtums von Iweh.“ Yuna sog scharf die Luft ein. „Nein!“, zischte sie. „Mein Sohn ist Takeru Nezu. Hauptmann der königlichen Leibgarde Seiner Lordschaft Zuko II. Und er weiß sehr gut, WER er ist! Auch ohne einen Stammbaum. Wir brauchen nichts vom Herzog! Er soll seinen Erben sonst wo suchen und uns in Ruhe lassen!“ „Sie ... Sie wollen Takeru sein Erbe verweigern?“ „Ich? Ich verweigere ihm gar nichts! Sein Großvater war derjenige, dem ich versprechen musste, dem Jungen nichts über seine Abstammung zu erzählen. Ich sah auch wirklich keinen Grund, ihm eine lange Ahnenreihe kaltherziger Mistkerle vorzubeten. Der einzige, von dem ich Takeru erzählte, war sein Vater. Takeo war ein wundervoller, ehrlicher und großherziger Mensch. Er wäre unendlich stolz auf seinen Sohn. Und das ist das einzige, was für mich zählt!“ Yuna hielt inne. Schon lange war sie nicht mehr so aufgebracht gewesen. Anders war auch nicht zu erklären, wieso sie ihre Vergangenheit mit einem Wildfremden erörterte. Vielleicht hatte sie ihr Geheimnis zu lange mit sich herumgeschleppt. Oder die Erwähnung des Herzogs von Iweh hatte zuviel der alten Bitterkeit an die Oberfläche gebracht. „Wie dem auch sei“, meinte sie nun ruhig. „Sie können Seiner Hoheit ausrichten, es existiert kein Erbe. Ganz so, wie er es wollte.“ „Da wäre nur ein kleines Problem“, antwortete Yoshio. „Akio ist längst nicht mehr der Erzherzog. Er starb vor mehr als zwanzig Jahren.“ „Dann wir sein Nachfolger ja mehr als erleichtert sein, zu hören, dass mein Sohn nichts von seinem Anspruch auf den Titel weiß. Lassen Sie die Sache auf sich beruhen!“ „Ich fürchte, das kann ich nicht.“ „Sie KÖNNEN es nicht?“ „Nein. Ihr Sohn ist der letzte legitime Erbe derer von Iweh.“ „Fein!“, fauchte Yuna. „Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen. Takeru wird weder sein jetziges Leben noch seine Stellung jemals aufgeben. Für nichts auf der Welt! Guten Tag!“ Scheinbar gelassen wandte Takerus Mutter sich um und ließ den Fremden stehen. Innerlich jedoch war sie in Aufruhr. Sie musste auf der Stelle packen gehen. Falls dieser Mensch auf die Idee käme, Takeru aufzusuchen, wäre es ratsam vor Ort zu sein, um die Wogen zu glätten. Burg Nezushiro, Iweh (nördlichste Provinz des Erdkönigreichs), am Abend des nächsten Tages Graf von Nobu stürmte die breite Treppe einer ausufernden, steinernen Empfangshalle empor. „Master Yoshio, wie schön Euch zu ...“ „Tag, Leo! Wo ist der Erzengel? Ich muss ihn sofort sprechen!“ „Seine Gnaden“, betonte der Bedienstete pikiert. „Sitzt zu Tisch.“ „Oh, gut. Stört mich nicht im geringsten, wenn er noch isst.“ „Ihr kommt wirklich ungelegen, Master Yoshio.“ „Ich weiß. Das tu ich doch immer. Aber es ist wirklich dringend, Leo.“ Ohne den altgedienten Butler weiter zu beachten, erklomm Yoshio die Treppe, immer drei Stufen auf einmal nehmend. „Aber ... Euer Lordschaft!“ Der junge Graf ignorierte den Einwand, klopfte an die riesige Flügeltür zum Speisezimmer und öffnete sie schwungvoll. Das Innere des altehrwürdigen blauen Salons, der schon seit Generationen als Speisesaal diente, war düster und muffig. Die einzigen Lichtquellen waren ein halbherziges Feuer im Kamin und ein fünfarmiger Kandelaber. Es roch nach altem Holz, noch älterem Stein und kalter Asche. Das träge Ticken einer riesigen Wanduhr verstärkte nur den Eindruck der Verlorenheit, die dieser Raum ausstrahlte. So war es schon immer gewesen. Seit Yoshio sich erinnern konnte. An diesem Ort schien die Zeit stillzustehen. Aus der Vergangenheit kroch sie durch kleinste Risse und Ritzen des porösen Mauerwerks, bis sie letztendlich zu lähmender, zäher Melancholie erstarrte, die sich wie ein staubiges Leichentuch auf alles und jeden senkte. Am Kopfende einer langen, schweren Tafel, deren stumpfes Nussbaumholz durch die Jahrhunderte fast schon versteinert schien, saß ein großer, schlanker, einschüchternder Mann. Der Herr all dieser Einsamkeit. Als er den ungebetenen Eindringling erkannte, lehnte der Erzherzog von Iweh sich zurück. „Yoshio“, knarzte er und legte seine Fingerspitzen gegeneinander. „Hoheit!“ Yoshio verneigte sich tief, wenn auch unvorschriftsmäßig kurz. „Was führt Dich her?“ Seine Gnaden griff nach dem Besteck und schnitt ein Stück Fleisch ab. „Möchtest Du mir beim Essen Gesellschaft leisten?“ „Vielleicht später.“ „Wie Du willst.“ Der Herzog aß ungerührt weiter. Erzengel. Diese Bezeichnung war überaus passend. Obwohl der kleine Yo erst sechs gewesen war, als er seinem Onkel diesen Spitznamen verpasst hatte. Es war für einen phantasiebegabten Knirps aber auch wirklich ein Kinderspiel gewesen, sich den grimmigen, hochaufgeschossenen Erzherzog mit einem lodernden Flammenschwert in der Hand vorzustellen, den hellen Schopf von der Sonne erleuchtet wie ein Heiligenschein. Heute war das ehemalige Weizenblond von Grau durchzogen. Grimmig war der Erzengel allerdings immer noch. „Onkel, ich muss Euch dringend sprechen!“ „Gut. Ich höre.“ Yoshio war schon immer direkter gewesen, als gut für ihn war. Aus eben diesem Grund war er auch der einzige in der Verwandtschaft, dessen Gegenwart der Herzog uneingeschränkt duldete. Jetzt allerdings schluckte der junge Mann trocken. Das Thema, welches er anzuschneiden gedachte war gelinde gesagt unerwünscht. Ein Tabu, das es nun zu brechen galt. „Onkel ... Eure Ehefrau; wie hieß sie?“ Takeo Isamu Virgil Nezu, Freiherr von Zyang, Vicomte von Tsu-Nung, Erzherzog von Iweh, erstarrte, schloss kurz die Augen und ließ sein Besteck sinken. „Wechsle das Thema!“, befahl er barsch und griff nach seinem Weinglas. „War ihr Name Yuna?“ Die Knöchel der kräftigen Finger, die um den Stil des eleganten Glaskelchs lagen, traten weiß hervor. „Du WAGST es?“ Seine Gnaden ballte die Fäuste. „Vor Jahren hatte ich Dir verboten, jemals wieder ein Wort über meine Familie zu verlieren!“ „Warum?“, stieß Yoshio aus. „Weil es zu schmerzhaft ist, wie Ihr immer behauptet habt? Oder etwa weil Ihr alle Welt glauben machen wolltet, sie wären tot?“ Diesen unbedachten Worten folgte erdrückende Stille. Als der Erzengel endlich aufblickte, tanzten unheilige Flammen über die eisige Oberfläche seiner Augen. Er erhob sich. „Hinaus!“, flüsterte er. „War Eure Trauer nur geheuchelt? All die Jahre?“ „HINAUS!“, brüllte Takeo. „Du wirst ihr Andenken nicht beschmutzen!“ „Beschmutzen?“ Yoshio betrachtete den Älteren eindringlich. Noch nie hatte er ihn so gesehen. So vollkommen außer sich. Takeo sank in seinen Stuhl zurück. „Lass sie ruhen!“ Die tiefe Stimme klang mürbe. „Ich bitte Dich, Yoshio, lass sie ruhen!“ „Aber ich muss es wissen, Onkel! War ihr Name Yuna?“ „Ja.“ Der junge Graf kannte seinen Onkel als vitalen, kraftstrotzenden Mann in den besten Jahren. Nun aber saß der Herzog von Iweh alt und gebeugt an seiner langen, kostbaren Tafel und starrte ins Nichts. „Ihr Name war Yuna. Und ihre Augen ... hatten die Farbe frischen Klees.“ Grüne Augen also? Yoshio straffte sich und holte tief Luft. „Sie ist nicht tot!“, murmelte er und griff nach der Hand seines Onkels. Abrupt wurde sie ihm entzogen. „Weder sie, noch Euer ...“ „Hör sofort auf damit!“ Na bitte. Da war er ja wieder, der Erzengel. „Onkel ...“ „Ich sagte, HÖR AUF! Deine Scherze sind weder komisch, noch angebracht!“ „Ich habe mit ihr gesprochen. Mit Eurer Yuna!“ „Nein!“ „Dunkelblond, grüne Augen ...“ „NEIN!“ „Doch, Onkel! Sie heißt Yuna Nezu, stammte ursprünglich aus Tsang Go ...“ „GENUG!“ „Lebte dann in Ba Sing Se. Und ihr Sohn ...“ „YOSHIO!“ „Was? WAS, Onkel? Wollt ihr gegen die Wahrheit anbrüllen?“ Yoshio setzte sich rücklings auf den Stuhl neben seinem Onkel, sodass er ihn ansehen konnte und beugte sich nach vorn. „Ich habe ihn gesehen. Euren Sohn. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt, so ähnlich ist er Euch. Danach suchte ich seine Mutter auf. Sie hat dunkelblondes Haar, hellgrüne Augen. Und ein kleines Muttermal. Hatte Eure Yuna eines? Ein Muttermal, neben der rechten Augenbraue, das geformt ist wie ...“ „Ein Herz“, flüsterte Takeo mit gesenktem Kopf. „Es war geformt wie ein Herz.“ „Ja! JA, verdammt noch mal. Ich habe sie gesehen!“ „Yoshio, wenn dies Deine Auffassung eines Scherzes ist ...“ „Scherz? Ihr solltet mich wirklich besser kennen Onkel! Ich weiß, wie sehr die Erinnerung an die beiden Euch schmerzt. Wie könnte ich damit Schindluder treiben?“ „Nein“ Der Erzengel hob langsam sein Haupt. „Das würdest Du nicht. Aber Du musst Dich irren! Sie sind tot.“ „Woher wisst Ihr das?“ „Mein Vater ...“ „Hat er sie nicht loshaben wollen?“ „Ja. Ich hegte sogar den Verdacht, er sei es gewesen, der dafür sorgte, dass das Haus damals Feuer fing.“ Takeos Kiefermuskeln zuckten. „Aber es besteht kein Zweifel an ihrem Tod. Ich habe sämtliche Nachbarn befragt und... Ich stand an ihren Gräbern.“ Seine Fäuste ballten sich hilflos. „Ich stand an ihren Gräbern und habe die Götter verflucht.“ „Zeugen können bestochen werden. Und Gräber enthalten nicht immer das, was sie sollten.“ „Aber ...“ „Woher sollte ich von dem Muttermal wissen, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, Onkel? Lasst uns nachsehen. Bitte! Sollte ich mich irren, dürft Ihr mich vierteilen, in Öl sieden, enterben und danach bis in alle Ewigkeit auspeitschen.“ „Es kann nicht sein“, raunte Takeo ein letztes Mal. „Es DARF nicht sein. Wenn sie leben ...“ „Was wäre dann?“ „Dann hätte ich sie im Stich gelassen. Meine Frau und meinen kleinen Jungen.“ „Onkel Takeo!“ Beruhigend legte Yoshio eine Hand auf die Schulter des Herzogs. „Ihr hieltet sie für tot. Was hättet Ihr denn tun sollen? Lasst uns erst einmal nachsehen, ob ich nun in Öl gesiedet werde, oder nicht.“ „Ja.“ Der Erzherzog erhob sich. „Lass uns nachsehen. LEOOO?“ Feuerpalast, am Abend des übernächsten Tages Aya Nezu hatte ein Problem. Ein Großes. Die Ausmaße dieses Problems konnte sie sogar bis auf den Letzen Jy genau beziffern. 362787 Jy. So viel waren anscheinend die neue Robe und drei Kimonos wert, die letzten Monat für sie gefertigt worden waren. Das war an und für sich nichts außergewöhnliches. Außergewöhnlich war nur der Adressat der Rechnungen. Takeru Nezu. Ihr Mann zahlte ihre Ausstattung? Seit wann? Und vor allem: WARUM? Die Hofschneider arbeiteten für den Hof. Logischerweise. Und so war es auch der Hof, der für die Kosten aufkam. Zumindest war Aya davon ausgegangen. Wie um alles in der Welt sollte Takeru für eine derart hohe Summe aufkommen? Hastig raffte sie die Rechnungen zusammen, rollte sie ein und versteckte sie in ihrem Ärmel. Die Dinger waren zwar aus purem Zufall in ihrer Korrespondenz gelandet, statt in der ihres Gatten, doch sollte Takeru dies herausfinden, wäre der Teufel los. Und schließlich wollte sie nicht an der unehrenhaften Entlassung eines gestressten Adjutanten Schuld sein. „Lyra, falls jemand mich sucht, ich bin bei Lu Ten.“ „Ja, gut.“ Als Aya Lu Tens Arbeitszimmer betrat, war ihr Bruder bereits in Gesellschaft. „Lee. Was tust Du denn hier?“ „Äh ... Arbeiten? Kommt durchaus auch mal vor.“ „Lee hilft mir, die Kostenvoranschläge für die neu geplante Universität zu überprüfen. Genau genommen lungert er in letzter Zeit häufiger hier herum.“ „Und arbeitet!“, ergänzte Lee pikiert. „Und arbeitet“, bestätigte Lu Ten gelassen. „Hast wahrscheinlich was falsches gegessen.“ „Hey, auch ich werde älter und spüre die Last der Verantwortung!“ „In der Tat“, brummte Lu Ten. „Ich werde mich bei Niha für diese wundersame Wandlung bedanken.“ „Hör auf, mich zu foppen, und kümmere Dich lieber um Aya. Sie sieht besorgt aus. Warum siehst Du besorgt aus?“, fügte Lee an Aya gewandt hinzu. „Ich ... äh ... es ist ... Es betrifft unsere Finanzen. Darum bin ich auch zu Lu Ten gekommen.“ „Soll ich gehen?“, wollte Lee wissen. „Nein.“ Lu Ten klang bestimmt. „Da wir uns die Arbeit teilen, gibt es keinen Grund, weshalb Du nicht über alle finanziellen Belange Bescheid wissen solltest. Es sei denn Aya hat etwas dagegen.“ Fragend sahen die Prinzen ihre Schwester an. „Es ist zwar eher privat. Aber ich ... Es ist so ..." Sie grub die Zähne in die Unterlippe. „Ich treibe meinen Mann in den Ruin!“, platzte sie schließlich heraus. „Was?“, lachte Lee ungläubig „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ Lu Ten schüttelte den Kopf. „Es ist aber so. Hier!“ Aya holte die Rechnungen aus ihrem Ärmel. „Aus irgendeinem Grund werden die Rechnungen für meine Garderobe an Takeru geschickt.“ „Nun ... natürlich.“ „Natürlich? Der Mann kann aber nichts dafür, plötzlich für die teuerste Seide der Welt zahlen zu müssen. Und ich habe nichts davon gewusst! Sonst hätte ich die Kimonos niemals ...“ „Aya, beruhige Dich. Takeru hat ausdrücklich verlangt, die Rechnungen für Deinen Unterhalt von nun an selbst zu übernehmen.“ „Aber er hat keine AHNUNG, was der Unterhalt einer Prin ... einer ehemaligen Prinzessin kostet.“ Aya ließ sich in einen Sessel sinken. „Hätte ich das nur gewusst. Ich hätte Baumwolle bestellen können. Oder einfach ein paar meiner alten Sachen ändern lassen.“ „Aya, die Tochter Zukos II kann nicht in Lumpen unter die Leute. Du bist immer noch eine wichtige Repräsentantin des Hofs.“ Wie immer konnte Lu Tens Argumenten wenig entgegengesetzt werden. „Außerdem,“, warf Lee jetzt ein. „Nachdem er die Wohnung des Kommandanten gekauft hat, dürften für ihn DAS hier nur Kondu-Nüsse sein.“ „Er hat WAS?“, hauchte Aya. „Eure Wohnung gekauft“, bestätigte Lu Ten die Aussage seines Bruders. „Agni! Ich ... Warum SAGT mir so was denn niemand?“ Aya war aufgesprungen und lief händeringend im Zimmer auf und ab. „Ich ruiniere ihn!“, jammerte sie wieder. „Ich lach mich tot!“, schnaubte Lee. „Du weißt wohl nicht, wie viel ...“ „Oh, ich weiß ziemlich genau, wo hoch der Monatssold eines Kage ist! Damit kann man gerade mal ein Zehntel einer meiner Roben zahlen.“ „Ich glaube, was Lee sagen wollte ist: Du weiß wohl nicht ganz über die finanzielle Situation Deines Gatten Bescheid. Er ist ziemlich wohlhabend.“ „Stinkreich trifft‘s wohl eher. Das weiß doch jeder.“ „Bitte?“ Begriffsstutzig blickte Aya von einem zum andern. „Im Alter von dreizehn Jahren hat Takeru Nezu ein nicht unerhebliches Vermögen überschrieben bekommen, welches er seit seinem achtzehnten Lebensjahr selbständig verwaltet und stetig vermehrt hat“, referierte der Kronprinz. „Ist er nicht drollig, wenn er wie ein Notar klingt?“ „Ich verstehe momentan überhaupt nichts“, gab Aya zu. „Dann lass mich mal“, grinste Lee. „Nach Deiner Rettung vor den Wespen ...“ „Bienenfalter!“, warf Lu Ten, stets der Pedant, unwillkürlich ein. „Ja doch. Jedenfalls war Papa sehr, sehr dankbar und ausnahmsweise mal nicht geizig. Takeru bekam einen ziemlichen Batzen Geld für seinen Heldenmut. Und ... na ja, es stellte sich heraus, dass Deine Killerqueen ein ziemlich gutes Händchen für Investitionen hat. Dazu kommt, dass er, sobald er dem Militär beitrat, für Kost, Logie und Klamotten nie etwas berappen musste. Du hast Dir einen Kerl geangelt, der reich ist wie Krösus.“ „Ja. Und bedauerlicherweise können wir nur die Zinsen und Gewinne seiner Geschäfte besteuern, nicht das Vermögen selbst.“ „Reich?“, echote Aya. „Ja. Hast Du das nicht gewusst?“ „Sieht sie so aus?“ Lee verdrehte die Augen. „Meine Garderobe ist ... kein Problem?“ „Nein. Nicht mal die Kosten für die Wohnung haben ihm ein Sorgenfältchen abgerungen.“ „Und warum weiß ich davon nichts?“ „Wahrscheinlich, weil Du Dich eher für die inneren Werte des Mannes interessiert hast. Oder seine schicke Uniform. Was weiß ich“, mutmaßte Lu Ten. „Hey!“ Lee schlug seinem Bruder kräftig auf die Schulter. „Das war ja WITZIG. Es besteht noch Hoffnung für Dich, mein Großer.“ Auf dem Weg zurück in die eigene Wohnung, die tatsächlich eigeneres Eigentum war, als sie es eigentlich vermutet hatte, wurde Aya aufgehalten. „Pri ... Frau Nezu?“ Um die Ecke schlitterte keuchend ein völlig aus der Fasson geratener Diener. „Ja?“ „Ihr ... werdet ... Arbeits ... zimmer ... Lordschaft ... wartet.“ „Mein Vater erwartet mich in seinem Büro?“, übersetzte Aya. „Ja! ... Dringend!“ Ach was. Arbeitszimmer Seiner Lordschaft, gute zwanzig Minuten vorher General Iroh saß in einem großen Ohrensessel direkt neben dem gemütlich prasselnden Kaminfeuer, blickte konzentriert auf ein Pai Cho-Brett, führte seine Teetasse an die Lippen und nahm laut schlürfend einen großzügigen Schluck. „Hmmmmm“, brummte er. „Onkel, der Stein bewegt sich nicht durch bloßes Anstarren.“ „Hmmm.“ „Ihr seid in der Zwickmühle.“ Zuko verschränkte triumphierend die Arme. „Entweder Ihr verliert jetzt, oder in drei Zügen.“ „Ich glaube nicht an Zwickmühlen, mein Junge.“ „Ja. Wohl eher ans schummeln. Wenn Ihr wirklich denkt, ich hätte nicht bemerkt, wie mein treusorgendes Eheweib während Eures Hustenanfalls einen meiner Steine verschoben hat, dann ...“ „ICH?“ Jin, sah von ihren Farbmustern auf und straffte sich. Die Wirkung verpuffte allerdings dank ihrer überschaubaren Körpergröße ins Nichts. „Also, ich würde nie ...“ „Mit meinem Onkel konspirieren? „Ja. Nein! Also ... ich kam nur zufällig mit dem Ellbogen an das Spielbrett“, versuchte Mylady ihr Glück. „Sollst Du schwindeln, Kobold?“ „Äh ... manchmal vielleicht schon.“ „So. Manchmal?“ „Nur wenn die vorliegende Situation es erfordert.“ „Die vorliegende Situation erfordert, dass Du Deine Wettschulden bezahlst, mein Herz“, meinte Mylord milde. „Ich habe gewonnen, also darf ich eine Woche lang ...“ Es klopfte. „Um diese Zeit?“, murmelte Iroh. „Ja?“, rief Zuko, nichts Gutes ahnend. Ein Diener betrat das Arbeitszimmer. „Bitte um Verzeihung, Euer Durchlaucht, aber im Vorzimmer sind zwei Männer, die partout darauf bestehen, vorgelassen zu werden.“ „Sie bestehen darauf?“ Zukos Augenbraue zuckte in die Höhe. „Und wer zum Teufel sind diese tollkühnen Draufgänger?“ „Der eine behauptet, er sei der Graf von Nobu, Herr.“ „Nobu ...“ „Oh, war das nicht dieser nette junge Mensch aus dem Erdkönigreich?“, schaltete Jin sich ein. „Wir lassen bitten!“ Nachdem die Tür wieder zugezogen worden war, wandte Mylord sich an seine Gemahlin. „WIR lassen bitten, Jin? Wirklich?“ Jin verdrehte die Augen. „Oh, hab Dich doch nicht so. Der Graf weiß doch, wie wichtig Du bist; auch ohne dass Du ihn zehn Minuten zappeln lässt.“ Zuko öffnete den Mund, schloss ihn mangels guter Argumente jedoch wieder. Manchmal war dieses Weib klüger, als gut für ihn war. Die zärtliche Hand, die liebkosend über seine Wange strich, entschädigte ihn dafür. „Entschuldige, Drache. Du kannst ihn ja immer noch böse anfunkeln, um Dich für die Störung zu revanchieren.“ Die Tür öffnete sich erneut. „Graf Nobu und ... jemand“, leierte der stur geradeaus blickende Türsteher. „Jemand?“ Zukos Augen verschmälerten sich. Seine Geduldsspanne ebenfalls. „Es ist fast acht Uhr abends und ich empfange JEMANDEN?“ „Furchtbar aufregend, oder?“ „Jin!“ Iroh kicherte leise in sich hinein und verschob klammheimlich seinen weißen Lotusstein. „Euer Hoheit, Mylady, General Iroh!“ Yoshio Saburo betrat das Arbeitszimmer und verbeugte sich ehrerbietig vor jedem der Anwesenden. Hinter ihm, auf der Türschwelle, verharrte ein großer, dunkler Schatten. „Graf.“ Zuko erhob sich betont träge. „Euer Besuch kommt unverhofft.“ „Ich weiß, Mylord. Verzeiht bitte meine Unverfrorenheit, aber die Angelegenheit ist sehr dringend. Zudem ist sie ... familiärer Art. Ich fürchte, das wird eine Menge Staub aufwirbeln“, fügte er murmelnd hinzu, als rede er mehr mit sich selbst, als mit den Anwesenden. „Familiär?“ Wieder wölbte sich die Braue Seiner Lordschaft. „Wenn Ihr Euch um Zirah bemühen wollt, muss ich Euch leider mitteilen, Ihr kommt außerhalb der üblichen Geschäftszeiten.“ „Was? Nein! Ich ... äh, es geht um Euren Schwiegersohn.“ „Hauptmann Nezu?“, fragte Zuko gefährlich leise. „Was ist mit ihm?“ „Nichts. Also ...“ „Yoshio!“ Zum ersten Mal meldete sich jener geheimnisvolle `jemand´ zu Wort, der immer noch die Türschwelle belagerte. „Ich halte das für keine gute Idee. Zuerst einmal sollte ich diese Yuna in Augenschein nehmen!“ Die tiefe Stimme strahlte unmissverständliche Autorität aus. Zukos Nackenhaare begannen zu kribbeln. Unwillkürlich änderte er seinen Standort, um Jin im Zweifelsfall abschirmen zu können. „In meinem Palast wird NIEMAND in Augenschein genommen!“ Das Drachengrollen veranlasste Yoshio, schnellstens einzuschreiten. „Nein, bitte. So hat mein Onkel das nicht gemeint!“ „Onkel?“, murmelte Iroh im Hintergrund nachdenklich. „War das nicht ..?“ „Erklärt Euch!“, forderte Zuko. „Mylord, Lady Jin, General Iroh, darf ich meinen Onkel vorstellen? Seine Hoheit, der Erzherzog von Iweh.“ Endlich trat der Türschwellen-Belagerer ins Licht. Trotz der Wärme im Palast war die eindrucksvolle Gestalt in einen Umhang gehüllt. Natürlich nebst unvermeidlicher, weiter Kapuze, die nun allerdings widerwillig zurückgezogen wurde. Es dauerte eine klitzekleine Sekunde, bis es zu ersten Reaktionen kam. Zuko sog scharf die Luft ein. „Da brat mir doch einer ...“ Dem General fiel ein Pai Cho-Stein aus dem Ärmel. „Ohmeingott!“, hauchte Jin und plumpste zurück in ihren Sessel. Der Herzog runzelte befremdet die Stirn. Ein solcher Empfang war nun beileibe nicht das, was er gewohnt war. „Vater, oder nur ein Onkel?“, erkundigte Seine Lordschaft sich kühl. „Wie bitte?“ Die Stimme Takeo Nezus klang mindestens ebenso frostig. „Ich will wissen, ob Ihr sein Vater seid, oder nur ein Onkel.“ „Momentan weder das eine, noch das andere!“ Das Kinn des Herzogs schob sich unmerklich nach vorn. „Yoshio bestand darauf, hierher zu kommen. Mein Neffe ist der Meinung, ich müsste jemanden kennen lernen. Offensichtlich besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen mir und einem Eurer Offiziere.“ „Gewisse Ähnlichkeit sagt er!“, schnaubte Iroh Tatzu ungläubig. „Onkel Takeo, ich sagte Euch doch, ich bin zu neunundneunzig Prozent sicher! Eure Familie ...“ „Ich werde mich keinen falschen Hoffnungen hingeben, Yoshio. Zuerst will ich sie sehen!“ Der Graf beschloss, sich seine Verbündeten anderweitig zu suchen. „Euer Lordschaft,“ Er wandte sich an Zuko. „Mein Onkel war verheiratet mit einer jungen Frau namens Yuna. Der Sohn der beiden war gerade drei Jahre alt geworden, als mein Onkel in die Feuernation berufen wurde. Wieder zuhause musste er erfahren, dass ihr Heim abgebrannt war. Frau und Kind, so hieß es, seien den Flammen zum Opfer gefallen. „Ich stand an ihren Gräbern!“, fiel Takeo seinem Neffen brüsk ins Wort. „Das hier ist reine Zeitverschwendung.“ „Nein“, sagte Zuko ruhig. „Ist es nicht.“ Er betätigte den Klingelzug. Sekunden später streckte ein Assistent den Kopf ins Zimmer. „Cheng, teile bitte Yuna Nezu mit, wir wünschten sie zu sehen.“ Die scheinbare Ruhe des Herzogs begann zu bröckeln. „Das alles ist eine Farce!“, stieß er aus. „Es gibt hunderte Nezus und bestimmt tausende Yunas.“ „Ihr habt nicht gerade ein Allerweltsgesicht, Hoheit“, warf Iroh leise ein. „Ja“, bestätigte Zuko. „Von Eurem Auftreten ganz zu schweigen. Beides kommt uns jedoch geradezu lachhaft bekannt vor. Gibt es etwa auch ein Dutzend Takeru Nezus, die Euch wie aus dem Gesicht geschnitten sind?“ „Es kann nicht sein“ Der Erzherzog ballte die Fäuste. „Ich... ich hätte sie doch niemals so im Stich gelassen!“ „Vielleicht trinken wir erst mal einen Tee, bis Yuna kommt?“, schlug Jin pragmatisch vor. „Hervorragende Idee, mein Herz.“ Fünf Minuten später - es war Mylady tatsächlich gelungen, den Herzog in einen Sessel zu komplementieren - klopfte es erneut. Takeo sprang auf die Beine. Noch wäre Zeit, das Ganze aufzuhalten. Er sollte dies hier nicht tun! Wenn die Beschreibung, die Yoshio ihm gegeben hatte stimmte, würde diese Frau ihn an das erinnern, was er verloren hatte. Und wenn sie seiner Yuna wirklich ähnlich war ... Es würde Jahre brauchen, darüber hinweg zu kommen. Am besten schickte er sie weg, ohne sie auch nur anzusehen, am besten ... „Euer Gnaden?“ Yoshios Respekt vor der Gattin des Feuerlords wuchs enorm, als sie sachte die Hand auf den Arm seines Onkels legte. „Vielleicht sollten wir Yuna erst vorbereiten. Warum wartet Ihr nicht in ... in der Ecke dort?“ Jin wies in den dunkelsten Winkel des Raumes. „Diese Frau ist sowieso nicht ...“ Takeo zuckte hilflos mit den Schultern. „Ach, was soll´s.“ Nachdem die Protagonisten endlich verteilt waren, gab Zuko ein stummes Zeichen, worauf Jin zur Tür lief, um zu öffnen „Yuna! Danke, dass Du gekommen bist.“ „Selbstverständlich, Mylady.“ „Jin!“, verbesserte Jin automatisch. „Schließlich sind wir jetzt verwandt.“ Yuna lächelte. „Ich befürchte, das wird mich noch einiges an Überwindung kosten.“ „Ja, also ...“ Jin knetete ihre Finger. „Also komm erst mal herein. Da ist etwas ... jemand. Du darfst Dich aber bitte nicht aufregen!“ „Aufregen?“ Yuna trat ein und blickte neugierig in den Raum, wieder zu Jin und wieder in den Raum. „Über was soll ich mich aufregen?“ Takeo Isamu Virgil Nezu starrte die Neuangekommene an, wie eine Erscheinung. Yuna. Das konnte nicht sein! Und doch war es Yuna. Die klugen Augen, das etwas schüchterne Lächeln, das strahlend und wohltuend wie das Mondlicht werden konnte. Ihre Stimme ... Dies hier war eindeutig seine längst verloren geglaubte Liebe. „Ist etwas mit Takeru?“ „Nein! Nichts Schlimmes, es ...“ „Yuna?“ Der raue, fast gebrochene Klang dieser Stimme ließ Yuna herumwirbeln. „Was ...?“ „Yunicha ...“ Alle Farbe wich aus Yunas Gesicht. Eine halbe Ewigkeit blickte sie - ohne zu begreifen - in die Augen von etwas, das sie Nachts in ihren Träumen heimsuchte, mit Sehnsucht erfüllte, nur um sie leer zurückzulassen. Dann sank sie langsam, aber sicher zu Boden. Bevor irgendjemand reagieren konnte, bewahrten rettende Arme sie vor dem harten, marmornen Boden. „Yuna?“ Takeos Stimme wankte ungläubig. Die wettergegerbten, kräftigen Hände strichen sanft einige dunkelblonde Haarsträhnen beiseite. „Yuna ...“, flüsterte er. „Also doch der Vater“, murmelte Zuko. Er bekam einen Ellbogen in die Seite. „Sei nicht so gefühllos!“, schniefte Jin. „Gefühllos? Also ICH lasse jetzt nach einem Arzt schicken, gefühllos wie ich bin.“ Es brauchte fast eine halbe Stunde, Yuna Nezu aus ihrer Ohnmacht zu holen und noch einmal halb so lang, bis sie in der Lage war, mehr zu tun, als zu weinen. In diesen fünfzehn Minuten hielt ihr Ehemann sie an sich gepresst, steckte ihre sporadischen, kraftlosen Schläge ein und berauschte sich an einem Duft, den er seit Jahren entbehrt hatte. Seine Yuna! Aber wenn sie lebte, dann ... „Wo ist er?“, raunte er. „Wo ist unser Sohn?“ Es folgte Totenstille. „Ach Du Schreck“, murmelte Mylady. „Ja. Da kommt was auf uns zu“, brummte General Iroh. „Vielleicht sollten wir zuerst Aya einweihen“, schlug Zuko vor. „Gute Idee, mein Gebieter!“ „Gibt es ein Problem?“, wollte Takeo wissen. „Nun ja ...“ Jin zuckte mit den Schultern. „Euer Sohn besitzt gewissen Eigenschaften, die ihn, falls ihm seine Beherrschung abhanden käme - was erst ein einziges Mal vorkam, wie ich betonen möchte - zu einer ... unberechenbaren Variablen machen.“ „Ich fürchte, ich verstehe nicht.“ „Unser Sohn ist Hauptmann Nezu.“ Endlich hatte Yuna ihre Sprache wieder gefunden. „Ja. Und?“ „Der Hauptmann Nezu.“ „Sollte mir das etwas sagen?“ „Er kam wirklich nicht viel unter Leute, hm?“ „Zuko!“ „Ja doch“, erbarmte sich der Herrscher der roten Lande. „Herzog, Euer Sohn ist der beste Kage der Feuernation.“ „Kage?“ „Schatten“, half Jin. „Leibwächter“, stellte Zuko klar. „Wie gesagt: der Beste. Nicht zu schlagen, der Kerl. Und wir wollen ihn nicht in Rage erleben.“ 
„Oh nein, das wollen wir nicht“, bestätigte Iroh, legte den Kopf schief und wippte auf seinen Ballen. „Nicht, dass wir davon ausgehen. Der Junge pumpt Eiswasser durch seine Venen.“ „Ich sagte ja, er ist Euer Sohn.“ Yoshios klang lakonisch und ein bisschen selbstzufrieden. „Ja! Und ich weiß nicht einmal Ansatzweise, wie ich Dir dafür danken soll. Aber jetzt will ich ihn sehen!“ „Ich halte den Vorschlag mit Aya für die bessere Taktik", brummte Iroh. „Ich ebenfalls, Onkel.“ „Wer ist Aya?“, verlangte Takeo zu wissen. „Meine Tochter.“ Zuko verschränkte angesichts dieser eklatanten gesellschaftlichen Ignoranz die Arme. Hatte dieser Kerl im Exil gelebt? „Unsere Schwiegertochter“, ergänzte Yuna leise. „Er ist ... mit der Tochter des FEUERlords verheiratet?“ „Seit fast zwei Monaten.“ „Die beiden sind einfach zum niederknien!“, seufzte Jin. „Wie wahr, Kobold. Und sie ist wahrscheinlich die einzige, auf die er reagieren wird, sollte er, äh ... sich selbst nicht ganz im Griff haben.“ „Takeru hat sich immer im Griff“, verteidigte Yuna ihren Sohn. „Selbst wenn sein Vater von den Toten aufersteht?“, gab Iroh zu bedenken. „Selbst dann. Was glaubt Ihr denn, was er tun wird?“ „Verschwinden“, erwiderte Mylord trocken. „Ich rechne nicht damit, dass er hier das Mobiliar demoliert, aber er wird sich wohl kaum zu uns setzten um über den vorliegenden Sachverhalt zu plaudern. Ich lasse nach Aya schicken.“ Als Aya schließlich die Szenerie betrat blickte sie verwundert um sich. Normalerweise war das Büro ihres Vaters weniger bevölkert. Allerdings kannte sie die Anwesenden. Bis auf einen. Yuna hielt die Hand des Fremden umklammert, als befürchte sie, er könne sich jeden Moment in Luft auflösen. Das allein war schon außergewöhnlich genug, was Aya jedoch an ihrem Verstand zweifeln ließ waren seine Augen. Es waren, die seltsamsten, und doch schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie schillerten so hell, dass man fast den Eindruck bekam, die wechselten die Farbe. In einem Augenblick schimmerten sie kühl und silbern, im nächsten blitzten sie eisig blau. Ihr faszinierendes Farbspiel erinnerte sie an ... Es waren Augen, die in ein anderes Gesicht gehörten. Ein Gesicht, das sie besser kannte, als jedes andere auf der Welt. Ein Gesicht, das ihr mehr bedeutete als sie hätte sagen können. Ein Gesicht, in dessen um circa fünfundzwanzig Jahre älteres Spiegelbild sie nun fassungslos starrte. „Wer ...?“ „Aya ...“ Yuna stand auf, ging auf ihre Schwiegertochter zu und griff nach deren Hand. „Du siehst richtig“, flüsterte sie glücklich. „Das ist ... Takeo.“ „Sein ... Vater?“, hauchte Aya. „Ja!“ „Aber wie ...?“ „Das ist eine lange und ziemlich komplizierte Geschichte“ Aya blickte den Sprecher an. „Graf Nobu, nicht wahr?“ „Ja.“ Yoshio neigte den Kopf. „Wie nett von Euch, Euch an mich zu erinnern. Ich bin der Neffe des Erzherzogs.“ „Erzherzog?“ Ayas Verwirrung wuchs. „Welcher Erzherzog?“ „Er meint mich!“ Aya betrachtete den Unbekannten, der ihr so fremd und doch unerhört vertraut war. Selbst seine Stimme glaubte sie zu bereits zu kennen. Der gleiche, sonore Bass, aufgeraut durch Alter, Zeit und Jahre der Einsamkeit. Takerus Vater. Ohne Zweifel. Aber ... ein Herzog? „Darf ich vorstellen, Takeo Isamu Virgil Nezu, Erzherzog von Iweh, Freiherr von ...“ „Ich denk das reicht, Yoshio. Lass der Prinzessin erst einmal Zeit, die Sache zu verarbeiten.“ „Ich bin keine Prinzessin mehr“, murmelte Aya automatisch. Dann blinzelte sie verwundert. „Oh.“ Sie war jetzt scheinbar die Schwiegertochter eines Herzogs. Das machte sie zur ... „Prinzessin.“ Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Ich schätze dann bin ich doch wieder eine.“ „Ach Du liebe Zeit!“, wisperte Jin an ihren Gatten gewandt. „Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Glaubst Du, es wird ihm gefallen, plötzlich Prinz zu sein?“ „Nein.“ „Bei allen Feuern“, seufzte Iroh. „Das wird nicht leicht in seinen Schädel zu kriegen sein. Ganz zu schweigen von...“ „Ganz zu schweigen von was?“ Die Autorität der tiefen, ruhigen Stimme veranlasste sechs Personen dazu, sich ertappt zur Tür zu drehen. Sofort schrillten Takerus Alarmglocken auf. Und wie immer wenn Gefahr im Verzug schien, beschleunigten sich die Reaktionen des Hauptmanns auf geradezu gespenstische Weise. Es gab nur zwei Anwesende, die nicht zur Familie gehörten. Einer davon war Graf Nobu, der keine ernst zu nehmende Bedrohung darstellte, der andere ... Takeru sog scharf die Luft ein und starrte dem Fremden ins Gesicht. Dann verengten sich seine Augen zu eisigen Schlitzen. Die angespannte Stille im Raum dehnte sich bis zur Schmerzgrenze. Der einzige, der dies nicht bemerkte, war der Erzherzog von Iweh. Takeo Nezu war viel zu fassungslos. DIES war sein Kind? Der Knirps, der vor Vergnügen gekreischt hatte, wenn er ihn hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hatte. So hoch, bis Yuna ihn erschrocken gebeten hatte, vorsichtiger zu sein. Sein kleiner Sohn, der, als er ihn zuletzt gesehen hatte, gerade mal gelernt hatte halbwegs ordentlich einen Löffel zu handhaben? Sein Takeru, der immerzu auf seinen Schultern hatte sitzen wollen? `Droß wie Papa!´ Takeo wurde die Kehle eng, als die lachende Kinderstimme durch seine Gedanken zog. Sein kleiner, über die Maßen geliebter Junge, an dessen Grab er weinend zusammengebrochen war. „Junge ...“, flüsterte Takeo mit versagender Stimme. „Mein Junge!“ Während all dessen war Takerus Miene reglos geblieben. Der Soldat in ihm hatte den Sachverhalt innerhalb des Bruchteils einer Sekunde erfasst, analysiert und daraus die entsprechenden Schlüsse gezogen. Er wusste, wen er vor sich hatte. Die Gesichtszüge, die Größe, die Haltung. Oh ja, Hauptmann Nezu wusste ziemlich genau, wen er vor sich hatte. Er straffte sich. „Soll das ein Scherz sein?“, zischte er, während er drohend in das Abbild seiner eigenen Augen starrte. Augen, die sein Gesicht mit einer Intensität erforschten, die beinahe unverschämt war. „Nein!“ Yuna eilte auf ihren Sohn zu. „Takeru, das ist Dein ...“ Noch bevor sie aussprechen konnte, machte er auf dem Absatz kehrt. „Takeru!“ Aya vertrat ihrem Ehemann den Weg und legte sanft eine Hand auf seine Brust. „Möchtest Du nicht ...“ „Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Er ist Dein Vater!“ „Tatsächlich? Das ist kaum möglich, da ich ohne Vater aufwuchs“, antwortete er kühl und schritt weiter Richtung Tür. „Liebling!“ Sie griff nach seiner Hand „Ich bin sicher, wenn Du Dich beruhigst ...“ „Ich BIN ruhig!“, beschied Hauptmann Nezu seinem Eheweib knapp. „Falls Du etwas brauchst, ich bin in der Trainingshalle.“ Mit diesen harschen Worten wollte der wohl ehrerbietigste aller Ehemänner seine Frau einfach stehen lassen. „Hauptmann!“ Ruhig aber bestimmt hielt Zukos Stimme den Rückzug seines Offiziers auf. Takeru erstarrte in der Bewegung „Erbitte die Erlaubnis, den Raum zu verlassen!“, knirschte er. „Ich denke nicht, dass ...“ „Erlaubnis erteilt!“, fiel Aya ihrem Vater ins Wort. Sie hatte den Blick des Wolfes gesehen. Was in ihm brodelte war zu unberechenbar, um das Biest noch weiter zu reizen. Nachdem Hauptmann Nezu den Raum verlassen hatte, wandte Zuko sich milde verwundert an seine Tochter. „Möchtest Du mir das erklären?“ „Er muss jetzt alleine sein. Wahrscheinlich will er im Augenblick nicht einmal mich sehen.“ Ayas Blick fiel auf den Herzog, der immer noch fassungslos die Tür anstarrte, durch die gerade sein Sohn verschwunden war. „Er ist manchmal etwas schwierig“, erklärte sie entschuldigend. „Er ist ... ein Nezu“, antwortete Takeo mit leuchtenden Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)