Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Prolog: Der Anfang aller Dinge (1987) ------------------------------------- Prolog - 1987 „Hören Sie, ich bin verheiratet“, wirft er leise ein, sucht seine Hand aus dem sanften Griff der jungen Damen vor ihm zu befreien. Aber wirklich flüchten möchte er gar nicht. Er ist im Begriff einen schrecklichen Fehler zu begehen, doch auch er kann sich nicht gegen dieses eine, durchaus einfache Gesetz der Natur des Menschen erwehren: Verbotenes ist begehrenswert. „Ich weiß“, flüstert sie ihm ins Ohr, streift den ersten Träger ihres Kleides von der Schulter. Makellose Haut enthüllt sich ihm und seine Lippen sind mit einem Mal trocken. Er kann nicht atmen. Nicht gehen, nur sehen und fühlen. „Wir sollten das nicht tun. Meine Kollegen…“ Ihr Zeigefinger unterbricht in. Kirschrote Lippen verziehen sich zu einem sündigen Kussmund. „Sollen nicht, aber wollen.“ Der Kuss ist fruchtig, süß und doch schmeckt er auch ein wenig bitter. Er kann nicht loslassen, nicht vergessen, dass er Frau und Kind hat, dass das hier Ehebruch bedeutet. Die Verantwortung auf seinen Schultern lastet schwer und sie ist eine junge, hübsche und äußerst begehrenswerte Dame, jedoch ungebunden. Frei. Ihre Berührungen sind samtig, erregend, warm und er streckt sich ihnen entgegen. Ausgehungert durch elf Jahre Ehe ist das Verlangen in ihm nun unstillbar erwacht. Es verzehrt ihn nach ihren festen Schenkeln, ihren kleinen, runden Brüsten und ihrem flachsblonden Haar, das sich unter ihr wie ein Teppich ausbreitet, auf dem sie sich zur Ruhe bettet. Die Kollegen im Nebenzimmer sind vergessen, als er sanft ihre feuchte Höhle erobert, sie an sich drückt, ihren Geruch aufsaugt als sei er die Luft zum atmen. Sie bewegen sich rhythmisch, so als ob sie diese eine Sache schon immer miteinander getan hätten. Zärtlich fahren ihre Finger immer wieder durch seine verschwitzten Haare. Sein Ohr streifen Liebkosungen, Beteuerungen und Anfeuerungen für mehr. Der billige Schreibtisch auf dem sie halb liegt, halb sitzt, knarrt leise, ein Becher mit Stiften gefüllt, fällt klappernd zu Boden, Papiere verrutschen. Es ist ein einziges Klischee, wenn sie seine Angestellte wäre. Tatsächlich ist sie die Cousine eines Arbeitskollegen. Wenn das jemals raus kommt, dann ist nicht nur seine Ehe zum scheitern verurteilt, sondern auch seine Stellung innerhalb der Anwaltskanzlei. Wenigstens kennt er dann seine Rechte. „Gott, ich komme…“, keucht er atemlos, stöhnt enttäuscht auf, als sie ihn von sich stößt. Ihre roten Lippen lächeln ihn an und er will sie noch einmal küssen. Langsam, ein wenig zittrig steigt sie von dem Schreibtisch herunter, legt ihre zierlichen kleinen Hände auf seine Brust, streicht den Schweiß hin und her, drückt ihn schließlich in den schwarzen Ledersessel. „Noch will ich dich nicht gehen lassen“, spricht sie leise, als sie ihm das kürzlich gezogene Automatenkondom überstülpt. Dann spreizt sie ihre Schenkel, klettert auf seinen Schoß und er genießt ihr Keuchen, als er sich in ihrer heißen Enge wieder findet. Das Leder knarzt unangenehm unter den heftigen Bewegungen, doch jenseits der Tür kann man die gedämpften Geräusche eines kleinen Saufgelages vernehmen. Diese Arbeitsreise ist nicht in allen Punkten das, was sie eigentlich sein sollte. „Sehen wir uns hiernach wieder?“ Sein Atem ist unruhig, er stöhnt laut, nickt aber heftig. „Ja, ja, bitte!“, ruft er ihr zu, hört sie lachen, dann stößt sie spitze Schreie aus, als er immer und immer wieder den richtigen Punkt in ihr erwischt. Ihre langen Nägel reißen ihm das Hemd auf, bohren sich in seine Schultern, die Lippen fest aufeinander gepresst gibt er ihr und sich den letzten Rest. In dieser Nacht gibt er sich lange der verbotenen Süße hin, kostet immer wieder von seiner jungen Herzdame und fühlt sich so frei und beschwingt wie schon seit langem nicht mehr. Vergessen sind die Gedanken an seine Frau, an seinen achtjährigen Sohn. Er lebt für diesen Moment. Auch wenn er weiß, dass er bald verflogen sein wird. --- Kapitel 1: "Komm nie wieder zurück!" (1992 & 1993) -------------------------------------------------- 1. Kapitel - 1992 & 1993 Der Stoff des Bettbezugs kratzt an meiner nackten Haut, klebt daran. Ich bin schweißüberströmt und habe jegliches Zeitgefühl verloren. Es sollte nur kurz dauern, aber jetzt erscheint es mir als wären wir schon eine Ewigkeit dabei. „Oh, Raphael, bitte…“, höre ich ihn hinter mir flehen, nicke ihm zu und bewege gleichzeitig meine Hüften. Eine Einladung die er richtig versteht und der er direkt nachkommt, indem er meine Pobacken auseinander zieht und sich mit einem kräftigen Stoß in mir versenkt. Ich stöhne auf. „Fuck, so fucking hot…“, keucht er. Ich muss lachen. Aber dann bleibt auch mir nicht mehr genug Luft um noch irgendetwas zu sagen, stattdessen beginne ich haltlos zu stöhnen und keuchen, imitiere seine Bewegungen, schaukle ihn hoch zu seinem Höhepunkt. Mein Kopf ruht auf der Matratze, meine Hände klammern sich um das Bettgestell. Das hier habe ich so dringend gebraucht. Drei Wochen ist das letzte Mal her. Verdammt, ich bin jung und notorisch notgeil. Ich halte es nie lange ohne Sex aus. Da ist es blöd gelaufen, dass ein erneuter Streit mit meinem Vater zu einem Hausarrest geführt hat. Aber das bedeutet ja nicht, dass mich Zack nicht zu Hause besuchen kann. „Zack, mehr, komm schon!“, fordere ich, werfe ihm einen lüsternen Blick zu, den er mit kräftigeren Stößen beantwortet. Genießerisch schließe ich die Augen, lasse mich von diesem Gefühl davontragen. Doch plötzlich stoppt alles. Irritiert wende ich mich um, doch Zack sieht mich nicht an. „Was…?“ Ich schaue ebenfalls zur Tür und ziehe scharf die Luft ein. „Oh Mist… Jamie… Scheiße Zack, beweg deinen Arsch!“, keife ich, erleichtert darüber, dass Zack dem sofort nachkommt. Hastig werfe ich ihm die Bettdecke über, greife selbst nach meinen Unterhosen. Allerdings komme ich nicht mehr dazu sie zu ergreifen, denn eine schallende Ohrfeige hält mich davon ab. Wie ein Titan steht mein wütender Vater vor mir. Grimmig funkelt er mich an. „Du kleine miese Ratte!“, presst er mühsam hervor. Jamie steht noch immer im Türrahmen, seine Augen füllen sich mit Tränen. Nie hat mich mein Vater vor ihm geschlagen. Zum ersten Mal muss mein kleiner Bruder das miterleben. „Nicht vor Jamie, verflucht!“, gebe ich zurück. Ziehe mir schnell eine Unterhose und Jeans an. Schützend stehe ich vor Zack, damit mein Vater nicht auch auf ihn losgeht. Nicht dass das nicht schon einmal passiert wäre. „Das hättest du dir früher überlegen sollen! Bevor du diese Schwuchtel hier rein gelassen hast!“ „Zufällig bin ich auch eine Schwuchtel, Wichser!“, schreie ich nun offen, ducke mich unter dem nächsten Schlag weg, schubse Zack zur anderen Seite von der Matratze und packe in derselben Bewegung meinen Koffer, der schon seit geraumer Zeit fertig gepackt neben meinem Bett steht. „Wag es noch einmal und ich schlage zurück, Arschloch! Ich hau ab!“ „Du bleibst gefälligst hier!“ „Fick dich!“ Ich rausche an Jamie vorbei aus meinem Zimmer, die Treppen hinunter, meinen Vater immer hinter mir wissend. Zack hat jetzt genug Zeit sich anzuziehen und dann schnell zu verschwinden. „Verflucht, bleib hier! Wo willst du denn hin, hä?“ „Mir egal! Nur weit genug von dir und all dem Scheiß hier weg!“, rufe ich über meine Schulter zurück. An der Haustür angekommen, nehme ich den Autoschlüssel meines Vaters, reiße die Tür auf und schmeiße meinen Koffer nach draußen. Dann suche ich noch schnell die letzten Sachen zusammen. Als ich mich wieder umwende steht Jamie vor mir, schaut mich mit hilflosen Augen an. Sein Blick ist flehend, er weint. „Es tut mir leid“, flüstere ich, ziehe meinen kleinen Bruder in meine Arme. „Ich komm wieder, okay? Ich hol dich ab, wenn ich was gefunden habe und dann kümmere ich mich um dich, ja?“ Ich spüre sein Nicken an meiner Schulter, seine kleinen Finger, die sich in meiner Haut vergraben. Noch immer trage ich kein Shirt. Der Schweiß ist längst abgekühlt. Sein weiches Haar kitzelt meine Nase, doch länger kann ich nicht bleiben. Mein Vater kommt die Treppen heruntergepoltert, meine Mutter hinter ihm. „Ich muss gehen.“ Damit lasse ich Jamie los, haste aus der Tür und in den Wagen meines Vaters hinein. Der Koffer ist schnell hinein geworfen worden. Und gerade als ich den Motor gezündet habe und angefahren bin, sehe ich meine Eltern aus der Tür kommen. Ein Stück lang rennen sie mir nach, aber ich gebe schnell Gas und fahre ihnen davon. Im Rückspiegel kann ich gerade noch Jamies kleine Gestalt ausmachen. Dass ich weine, bemerke ich erst als ich auf die Bundesstraße abbiege. Ich trete das Gas durch, schalte hoch und mache mir nicht die Mühe die Tränen wegzuwischen. Auch wenn ich es immer wusste, auch wenn ich immer nur auf diesen Tag gewartet habe… es tut weh zu wissen, dass man alles zurück lässt was man einst geliebt hat. „Oh fuck, Jamie…“, knalle ich meinen Kopf gegen die Lehne, setze den Blinker und überhole einen Volvo vor mir. Was aus Zack geworden ist interessiert mich schon gar nicht mehr. Mehr als ihn habe ich meinen kleinen Bruder geliebt. Ein Grund warum Zack immer wieder davor stand mit mir Schluss zu machen. Jetzt habe ich das wohl getan. Ich fahre gut drei Stunden über die Autobahn. Ein wirkliches Ziel habe ich nicht. So genau habe ich mir das nicht überlegt. Irgendwo eine Bude finde und dann arbeiten. Als was ist mir egal. Hauptsache Kohle. Seit vier Jahren habe ich immerhin schon auf diesen Moment hingespart und das was ich jetzt habe sollte für die erste Zeit reichen. Nach einer weiteren Stunde fahre ich ab, durchkreuze blindlings alle Ortschaften. Ich suche etwas Größeres. Keine Großstadt, aber zumindest so groß, dass es ein Ghetto-Viertel hat. Da stellt keiner Fragen und ich finde bestimmt eine Wohnung. Es dauert bis zur frühen Abenddämmerung bis ich etwas gefunden habe. Eine heruntergekommene Gegend, das Tor zum richtig miesen Slum. Mit dem Auto falle ich natürlich direkt auf. Schließlich fährt hier keiner einen BMW. Ich halte an, als ich an einer Ecke eine Gruppe von Jugendlichen entdecke. Mir ist mulmig zumute, aber dennoch steige ich aus, schließe ab und gehe langsamen Schrittes auf sie zu. Sie haben mich bemerkt und warten auf mich. Ziemlich unheimlich die Gegend. „Sieh mal an, wen haben wir denn da?“, spricht einer von ihnen mich an, tritt nach vorne und mustert erst mich, dann die Karre. Ihn scheint es zu irritieren, dass ich in einer verwaschenen Jeans, Turnschuhen und ohne Oberteil bei ihnen aufkreuze und trotzdem einen BMW fahre. „Ich suche eine Wohnung. Gibt es hier in der Gegend was?“ Mit einem Schlag fangen sie alle an zu lachen. Sie machen sich über mich lustig, nur der Kerl vor mir, steht ungerührt da, mustert mich noch immer und gebietet mit einem Handzeichen schließlich Ruhe. Anscheinend bin ich an den Big Boss geraten. „Ein Streuner wie ich sehe“, kommentiert er. „Am Ende der Straße, auf der linken Seite, ist ein Wohnungsblock. Da sind noch einige Buden frei. Nichts besonderes, aber auch nicht so heruntergekommen. Ich stell dich dem Vermieter vor.“ Ich nicke ihm zu, dankbar dafür, dass mein neues Leben gar nicht mal so schlecht anfängt. Dann geht sein Blick wieder zum Auto. „Was ist mit der Karre?“ „Die will ich schwarz verkaufen. Brauch’ nur den Koffer der drin ist.“ „Schwarz? Wem gehört die Karre denn?“ „Meinem Vater.“ Erneutes Lachen, auch der Chef lacht dieses Mal mit. Er legt einen Arm um mich und zieht mich zu der Gruppe. Jetzt wirken sie gar nicht mehr so feindselig auf mich. Aus der Nähe betrachtet sehen sie alle ziemlich normal aus. „Okay, ich bin Thomas. Und das sind meine Jungs. Stell ich dir später alle vor.“ Die anderen nicken mir zu. „Hol deinen Koffer und dann gibst du mir die Schlüssel, ich kümmer mich darum, dass dein Auto den Besitzer ganz unauffällig wechselt. Und dann gehen wir zusammen zum Vermieter und schauen mal, ob wir nicht etwas für dich finden.“ Thomas streckt mir die Hand hin und ich ergreife sie ohne zu zögern. Sicherlich ist das naiv, aber auch ohne das Auto sollte ich genug Geld haben. Und es wird bestimmt noch eine Weile dauern bis mein Vater das Fehlen seiner Kreditkarte bemerkt. --- Gemeinsam mit Thomas und Erich hocke ich meiner Wohnung auf der Couch und wir rauchen eine nach der anderen. Heute ist einfach nichts passiert und alle anderen sind unterwegs um irgendetwas zu tun. Langeweile macht sich breit. „Hast du’s eigentlich schon gehört?“, stupst Thomas mich an. „Was?“, frage ich verwirrt. Ziehe an meiner Zigarette und zocke Erich dann den Aschenbecher ab. Der lacht nur und schnippt seine Asche demonstrativ auf den Boden. „Die Kaschemme in der du arbeitest soll verkauft werden. Macht sich nicht mehr so gut und der Alte hat wohl keinen Bock mehr auf die Gegend hier. Gab ja auch Stress mit den Bullen wegen Drogen und so was.“ „Und?“ „Ist doch die Chance was Eigenes anzufangen. Du wolltest doch eh einen Laden aufmachen.“ „Klar“, gebe ich sarkastisch zurück, boxe ihn in die Seite. „Ich bin siebzehn, Alter. Und der Olle hasst mich, der wird mir seinen Laden nie verkaufen.“ „Dann gib einfach mir das Geld und ich kaufe es.“ Ich schnaufe, drücke meine Zigarette im Ascher aus, reiche ihn Erich wieder, der ihn festhält, mir dabei fest in die Augen sieht. In ihnen sehe ich den Spott. Er war noch ein Typ großer Worte. „Ich kaufe es“, sagt er jetzt und sowohl ich als auch Thomas starren ihn verwundert an. „Du?“, hakt Thomas nach, lehnt sich dann aber zurück, zieht an seiner Kippe und scheint ernsthaft darüber nachzudenken. „Hm… keine schlechte Idee. Dich kennt er nicht, du bist alt genug und du lässt dich nicht übers Ohr hauen. Perfekt!“ Thomas springt auf. Er ist völlig außer sich und total begeistert von seiner eigenen schwachsinnigen Idee. „Klasse, Alter! So wird es gemacht. Raphi gibt die dir Kohle und du kaufst den Schuppen. Und dann geht die Party richtig ab!“ „Ich hole dich ja nur ungern aus den Wolken zurück“, werfe ich missmutig ein, ziehe Thomas wieder zurück auf die Couch. „Aber ich habe nicht einmal ansatzweise so viel Kohle um den Laden zu kaufen, geschweige denn ihn danach umzubauen und neu einzurichten. Das kostet ein Vermögen.“ Erich zuckt mit den Schultern, steht auf und kramt in seiner Hosentasche nach seinem Handy. Verwirrt starre ich ihn an, während Thomas ihn mit leuchtenden Augen anstrahlt. „Mein Held!“, ruft er, schlägt Erich auf die Schulter, ruft noch unverständliches Zeugs, ehe er aus meiner Wohnung rauscht und die Türe hinter sich zuknallen lässt. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass ich in einem Film mitspiele, der total an mir vorbeizieht. „Hi Dad“, höre ich Erich gerade sagen, wende mich wieder zu ihm um. „Hm, noch nicht… Ja… Gut… Ich hab ein Projekt gefunden. Ich geh gleich hin und schick dir die Summe. Ja… Okay… Grüß Mum und die kleine Made… Tschau.“ „Ähm…“, stammle ich, doch Erich klopft mir nur auf die Schulter, schnappt sich seine Jacke und seine Kippenpackung, ehe er mit einem letzten Schlenker seiner Hand zur Tür raus verschwindet. Ich wurde gerade von einem Lastwagen überrollt. Oder einem Zug. Vielleicht auch von beiden. Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung was meine bescheuerten Freunde da schon wieder ausgeheckt haben. --- Vierte Fassung - und endlich die Richtige Kapitel 2: Weihnachten auf zwei Planeten (1993) ----------------------------------------------- 2. Kapitel – 1993 Die diesjährige Weihnachtszeit nutze ich schon früh zum Geschenkkauf. Immerhin stehe ich seit einem Jahr auf eigenen Füßen und ich bin mir nicht sicher, ob Jamie meine Briefe jemals gelesen hat. Mein Erzeuger hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach abgefangen und im Kamin verbrannt. Die Menschenmassen ziehen an mir vorbei, eilig und ohne einander anzusehen. Jeder mit seinen eigenen Gedanken und Dingen, die es noch zu erledigen gilt. Ein hektisches Zeitalter. In sieben Jahren gibt es ein Millennium. Warum mir das gerade jetzt einfällt, weiß ich nicht so genau. Aber der Gedanke stimmt mich positiv und ich blicke mit einem Lächeln in eines der Schaufenster. Es ist ein Modegeschäft und die Schaufensterpuppen tragen winterliche Kleidung. Der neuste Trend, wie ich annehme. Aber auch verflucht teuer und außerhalb meines Budgets. Auch wenn ich solche Klamotten nie tragen würde. Viel zu aufgesetzt und eitel. Ich persönlich mag es eher schlicht. Während ich dastehe und den Herrenwintermantel genauer begutachte, muss ich unwillkürlich an Zack denken. Ich habe ein paar Mal versucht ihn anzurufen, aber jedes Mal hat er aufgelegt. Oder ich konnte seine Stimme im Hintergrund hören, wie er brummte, man solle auflegen, er sei nicht da. Das tut mir weh, aber ich bin selber schuld. Ich habe ihn verletzt. „Vielleicht sollte ich ihm auch etwas kaufen…“, murmle ich. „Aber nicht zu teuer. Er macht es vermutlich eh kaputt.“ Mit einem schmunzeln wende ich mich von dem Schaufenster ab. Dabei fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Auf einer Bank sitzt ein kleiner weinender Junge, der scheinbar leise nach seiner Mama ruft. Rasch überquere ich die Straße, setze mich neben ihn und reiche ihm ein Taschentuch. Er sieht mich mit großen Augen an. „Hey“, sage ich. „Ich bin Raphael.“ „C-Chrissy“, schluchzt er und ich muss mir ein Lachen stark verkneifen. Er kann ja nicht ahnen, dass er sich mit einem Mädchennamen vorstellt. Ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Hast du deine Mama verloren?“ Er nickt. Schnieft leise und wischt sich die Nase am Ärmel ab. „Na na, schau mal. So geht das.“ Ich nehme das Taschentuch, das er noch immer in der Hand hält und putze ihm damit die Nase. Danach reibe ich seine Jacke so gut es geht sauber. Das alles lässt mich an Jamie denken. Der konnte sich auch nie die Nase richtig putzen. „Hm, dann lass mal sehen was wir da machen“, überlege ich laut. „Hast du einen Rucksack dabei?“ „Den hat Mama.“ „Hm. Weißt du denn wo du wohnst?“, hake ich nach, doch der Kleine schüttelt den Kopf. Vermutlich kennt er sich hier nicht aus. Oder seine Eltern haben nie mit ihm geübt wie er seine Adresse aufsagt. „Okay. Wo warst du mit deiner Mama denn zuletzt?“ „In dem großen Kaufhaus.“ „Dann gehen wir dahin zurück und suchen deine Mama.“ Als ich ihm meine Hand hinhalte, greift er zögerlich danach, doch schließlich schenkt er mir ein atemberaubendes Lächeln. Wirklich süß der Kleine. Gemeinsam kämpfen wir uns also durch die Menschenmassen. Das Kaufhaus liegt nur knapp fünf Straßen weiter. Wir schweigen, aber ich streichle immer wieder sanft mit meinem Daumen über seine Hand, damit er keine Angst hat. Jamie kommt mir wieder in den Sinn und nur mit Mühe unterdrücke ich die aufsteigenden Tränen. Mein Bruder fehlt mir. „Ey, Raphi!“ Überrascht wende ich mich um, schlage bei Thomas ein, der, mit Einkaufstüten bepackt, hinter mir aus einem Geschäft getreten ist. Kurz darauf kommt eine ältere Frau zu uns, die Thomas als seine Mutter vorstellt. „Wen hast du denn da an der Hand?“ „Chris. Er hat seine Mutter im Kaufhaus verloren. Ich wollte wieder dahin zurück. Vielleicht sucht sie da nach ihm, dann könnte man sie über eine Durchsage verständigen.“ „Gute Idee. Kommt mit zum Auto, dann fahre ich euch hin“, bietet Frau Vogel an, schenkt Chris eine Süßigkeit aus ihrer Tüte und führt uns allesamt zu ihrem Wagen, der um die Ecke auf dem kleinen Parkplatz steht. Thomas und ich verstauen die Einkaufstüten, während Chris von Thomas’ Mutter auf der Rückbank angeschnallt wird. „Ich sitz vorne.“ Ich grinse nur, lasse mich neben dem Jungen in den Sitz fallen und streiche ihm einmal sanft über den Kopf. „Keine Angst, Chris. Wir finden deine Mama schon.“ Die Fahrt zum Kaufhaus dauert nicht lange. Thomas erzählt mir von seinen Weihnachtsplänen und Frau Vogel lädt mich spontan zu ihrer kleinen Weihnachtsfeier am fünfundzwanzigsten Dezember ein. Ich sage zu. Das ich Heiligabend oder die anderen Feiertage zu Hause verbringen werde, ist eher unwahrscheinlich. Zu viert betreten wir das Gebäude, bahnen uns dann unseren Weg zum Servicepoint, der sich direkt im Erdgeschoss befindet. Ich trete näher und die Frau hinter dem Schalter sieht zu mir auf. „Hi“, grüße ich knapp, deute dann auf Chris. „Der Kleine hat seine Mutter verloren. Vielleicht könnten sie eine Durchsage machen, damit wir wissen ob sie noch hier ist?“ „Natürlich“, stimmt sie zu. „Wie heißt er denn?“ „Chris.“ Sie nickt mir kurz zu, lehnt sich zum Mikrofon vor, drückt den Knopf. „Die Mutter des kleinen Chris’ soll sich bitte am Servicepoint im Erdgeschoss melden. Ich wiederhole: Die Mutter des kleinen Chris’ soll sich bitte am Servicepoint im Erdgeschoss melden.“ „Danke.“ Ich beuge mich zu dem Jungen hinab, streichle ihm durch die Haare und ermutige ihn dann, dass seine Mutter bestimmt gleich hier sein wird. Thomas und seine Mutter halten derweil etwas weiter abseits Ausschau, doch eine lange Zeit tut sich überhaupt nichts. Die Dame macht noch einmal eine Durchsage. Immer noch rührt sich nichts. „Chris!“ Wir fahren gemeinsam herum, sehen eine junge Frau, die aus dem Fahrstuhl auf uns zu rast, die Arme weit ausgebreitet. Der Junge kreischt auf, läuft seiner Mutter entgegen, die ihn in ihre Arme reißt, an sich drückt und immer wieder überschwänglich küsst. „Oh, mein Junge, mein Junge!“, höre ich sie sagen. „Alles gut, mein Schatz? Geht es dir gut? Gott, bin ich froh! Mein Schatz!“ Frau Vogel und Thomas treten näher heran, schieben mich sanft nach vorne, bis die Frau zu mir aufsieht und mich mit einem strahlenden Lächeln bedenkt. „Hast du ihn gefunden?“ Ich nicke. „Vielen, vielen Dank!“ Sie schüttelt meine Hand. „Ich hab nur einen Moment nicht aufgepasst, da war er schon weg. Danke, wirklich! Was kann ich für dich tun?“ „Schon okay. War nicht so wild.“ „Nein, bitte. Ich will mich erkenntlich zeigen.“ Ich winke ab. „Lassen Sie, ist schon okay.“ Damit wende ich mich an Chris, verabschiede mich von ihm und gebe Thomas ein Zeichen den geplanten Rückzug anzutreten. „Warte!“ Ich drehe mich noch einmal um. Chris kommt auf mich zu, greift nach meinen Händen und schaut mich von unten her an. „Danke, dass du meine Mama gefunden hast.“ „Schon gut. Ich hab dir ja gesagt, dass alles in Ordnung kommt.“ Chris nickt heftig, lacht mich freudig an und läuft schließlich zu seiner Mutter zurück, die ihn wieder in die Arme nimmt und an sich drückt. Sie hat Tränen in den Augen und die Frau vom Servicepoint reicht ihr ein Taschentuch. „Los, Abflug!“, ruft Thomas mir zu. Er ist schon vorgegangen und hält mir die Tür auf. Seine Mutter ist nicht mehr zu sehen. „Meine Mum wollte jetzt nach Hause fahren und Apfelkuchen backen. Kommst du mit?“ „Hm... eigentlich brauch ich noch ein Geschenk für Jamie“, werfe ich nachdenklich ein. „Alter, so ein Unsinn!“ Thomas gibt mir einen Schlag auf den Hinterkopf. „Du fährst dieses Jahr nach Hause, verstanden? Oder ich prügle dich dahin!“ „Schon gut“, wehre ich ab, trete an ihm vorbei ins Freie. --- „Muuuum! Tommy hat schon wieder unsere Burg kaputt gemacht!“, kreischen die beiden Zwillinge unisono, deuten dabei anklagend auf meinen lachenden Freund, der sich auf den Boden herumrollt. Ungefähr so wie sein Hund vor einigen Minuten. „Thomas, lass doch bitte die Zwillinge in Frieden. Wie alt bist du eigentlich?“, ruft Marianne – wie ich verlegen ihr Angebot sie zu duzen angenommen habe -, streckt dabei ihren Kopf aus der Küchentür und deutet dabei mit dem Kochlöffel auf Thomas, der sich noch immer nicht eingekriegt hat. „Neunzehn, Mum“, antwortet er schließlich. „Ehrlich!“ Doch ihr Blick bleibt skeptisch. Sie murmelt etwas unverständliches, zieht wieder in die Küche ab und lässt ihre Kinder mit mir allein. Oder eher andersrum. Ich komme mir gerade etwas verloren vor. Ausgesetzt auf einem fremden Planeten. „Hey, Raphael, spielst du mit uns?“ „Was wollt ihr zwei den spielen?“ Es ist irritierend wie die beiden absolut synchron sprechen können. Als wären sie eine einzige Person. Gruselig. „Tommy-Kloppen.“ Ich blinzle verwirrt, werfe einen Blick auf meinen Kumpel, der endlich aufgehört hat zu lachen. Er reißt alarmiert den Mund auf, als ich den beiden Zwillingen zunicke. „Nein, nein, hey…“, ruft er laut, versucht rückwärts zu krabbeln. „Raphi, das ist unfair. Drei gegen einen! Komm schon! Argh!“ Damit haben wir uns auf ihn gestürzt, während ich seine Beine festhalte und ihn an einer möglichen Flucht hindere, hauen die beiden Jüngeren mit zwei Kissen auf ihn drauf. Von Thomas kann man nur unterdrückte Laute hören. Auch Ruben kommt angetapst, wedelt freudig mit dem Schwanz und schleckt mir einmal durch das Gesicht. „Bah! Ruben! Ist ja eklig“, lache ich, nehme eine Hand von Thomas um den Golden Retriever zu streicheln. „Dabei hab ich doch heute geduscht.“ „Hier ist ja was los. Wie im Zirkus.“ Die Ankunft des Hausherren wird von den Geschwistern vollkommen ignoriert. Langsam stehe ich auf, reiche ihm eine Hand und stelle mich vor. „Oh, Raphael, ja. Thomas erzählt einiges von dir.“ „Tatsächlich?“ „Ja. Aber nur Gutes.“ Ich atme erleichtert aus. „Wo ist denn meine reizende Herzdame.“ „In der Küche. Kuchen backen.“ Er nickt verstehend, zwinkert mir zu und dreht sich auf dem Absatz um. Bernhard verschwindet wieder aus dem Wohnzimmer. Ich blicke ihm nachdenklich nach. Doch ein Kissen reißt mich aus meinen Gedanken. „Was grübelst du denn da?“, fragt Thomas, seine beiden Brüder im Nacken gepackt und auf Abstand haltend. „Nichts weiter.“ „So, ihr Maden“, wendet er sich an die Zwillinge. „Ab in die Küche. Geht Mama helfen. Und du kommst mit mir. Wir verziehen uns mal in ruhigere Gefilde.“ Er entlässt die beiden Kleinen, setzt ihnen noch einen liebevollen Tritt nach und führt mich dann durch den Flur zu seinem Zimmer. Dort lasse ich mich auf sein Bett fallen. Thomas schließt die Türe, setzt sich neben mich und bietet mir einen Keks an. „Hat meine Mum gebacken. Keine Sorge.“ Ich schmunzle, greife mir einen und beiße genüsslich hinein. Wirklich lecker. Im Nu hole ich eine ganze Hand nach, was Thomas zum lachen bringt. Dann ist es still zwischen uns. Wir hängen jeweils unseren eigenen Gedanken nach. „Wirst du dieses Jahr nach Hause fahren?“ „Ist nicht mehr mein zu Hause“, antworte ich mürrisch. „Ich weiß. Trotzdem… fährst du?“ „Denk schon. Ich will Jamie wieder sehen.“ „Soll ich dich fahren?“, fragt Thomas weiter, greift nach einem Keks und schiebt ihn sich in den Mund. Er kaut genüsslich und ignoriert vollkommen das Rufen seiner Mutter. „Meine Eltern haben sicher nichts dagegen, wenn wir uns für eine Weile das Auto leihen. Und dann wärst du mit deinem Alten nicht alleine.“ „Hindert ihn trotzdem nicht.“ „Ach komm schon. Lass mich dich fahren. Ich mach mir Sorgen um dich.“ Überrascht setze ich mich auf, starre ihm sprachlos ins Gesicht, während er selbst nur resignierend die Schultern hebt. „Was hast du denn gedacht, Mann? Ich bin dein Freund. Klar mache ich mir Sorgen, wenn ich dich zu einem Schläger fahren lasse“, erklärt er. „Und zu einem krass abgewiesenen Ex-Freund.“ Ich lache, ziehe ihn zu mir und umarme ihn. Etwas länger als normalerweise. „Danke, Alter.“ „Ist doch klar.“ Die Tür wird aufgerissen und Marianne kommt wie ein Tornado reingestürmt. „Wie oft soll ich dich denn noch rufen, taube Nuss? Das Essen ist fertig, Abmarsch!“ Sie macht sich absolut nichts daraus, dass sie ihren Sohn gerade aus der Umarmung eines Schwulen gerissen hat. Und dafür mag ich sie nur noch mehr. Auch das warme Lächeln das sie mir schenkt, nimmt mich immer mehr für sie ein. --- Die mehrstündige Autofahrt in ehemals heimische Gegend ist die reinste Tortur. Auch ein netter Heiligabend im Kreise der Familie Vogel konnte mich nicht wirklich aufbauen. Trotzdem habe ich die erneute Kabbelei zwischen Thomas und seinen Brüdern sehr genossen. Und auch wenn sich mein Kumpel alle Mühe gibt, gibt es nichts, was es mir in diesem Moment einfacher machen könnte. Ich leide stumm vor mich hin, während Thomas irgendeinen Hardrocksong mitgrölt. Sein Navigationsgerät der Marke TomTom führt uns mit akribischer Sicherheit zu meinem alten Zuhause und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf meine Gefühle. Langsam aber sicher kommt in mir ein Brechreiz hoch. „Sind gleich da“, informiert mich Thomas während des Gitarrensolos. Ich kann nur nicken und undefinierbare Laute ausstoßen. Besorgt schaut er zu mir rüber, klopft mir dann auf die Schulter. „Ganz ruhig. Wird schon schief gehen.“ Wie Recht er hat. Eine weitere qualvolle halbe Stunde später biegen wir schon in die Straße ein. Thomas sucht sich einen Parkplatz gegenüber dem Haus, stellt den Motor ab und spricht mir einmal mehr Mut zu. Letztendlich steigen wir aus, ziehen automatisch unsere Jacken enger, denn es weht ein furchtbar kalter Wind. „Was zum Teufel…?!“, stoße ich aus, deute auf den BMW meines Vaters, der vollkommen intakt dasteht und mich schier zu verhöhnen scheint. „Was macht der Wagen hier?“ „Meine Eltern haben ihn kurz nach deinem auftauchen letztes Jahr hierher zurückgefahren“, antwortet Thomas. „Hast du echt geglaubt wir wären die Mafia oder so was, dass wir einen BMW verscherbeln?“ Er lacht. Mir jedoch gefriert das Blut in den Adern. Thomas hat mich angelogen. Der Wichser hat seine Wichskarre wieder. Dabei wollte ich ihm den Wagen extra abjagen um ihm noch eine auszuwischen. Und Thomas’ Eltern wissen jetzt wer mein Vater ist. Kacke! „Das hättest du nicht tun sollen“, knurre ich, werfe einen wütenden Blick zu meinem Freund, der beschwichtigend die Hände hebt. „Wenn wir es nicht getan hätten, dann hätte dein Alter einen Grund gehabt dich anzuzeigen. Und die Bullen hätten dich schneller eingesammelt als dir lieb gewesen wäre. Ich glaube kaum, dass es das ist was du wolltest, oder?“ Ich bin noch immer wütend, aber ich nicke zerknirscht. Er hat es nur gut gemeint und ich kann ihm und seinen Eltern wahrscheinlich echt dankbar sein, aber es kotzt mich trotzdem an. Am liebsten würde ich ihm eine Delle rein treten. „Lass es!“, warnt Thomas, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. „Mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist, okay? Schau lieber mal zur Tür.“ Ich wende mich um, schon auf das Schlimmste gefasst, als ich die Statur meines kleinen Bruders wahrnehme. Er ist größer geworden, die Haare sind länger, aber er hat noch immer das kleine Kindergesicht von früher. Auch wenn er jetzt schon neun ist. „Jamie… oh mein Gott, Jamie!“, schreie ich, laufe auf ihn zu, packe ihn und ziehe ihn fest an mich. Sein Schluchzen dringt an meine Ohren, ich sauge den Duft ein, der von ihm ausgeht. Ich hab meinen kleinen Bruder wieder. „Jamie, Himmel! Geht es dir gut?“ „Ja“, jappst er, heult laut auf, gräbt seine Finger in meine Jacke und will wohl nie wieder los lassen. „Ich hab dich vermisst, geh nicht wieder weg. Bitte. Geh nicht wieder weg.“ „Jamie, ich… kann nicht. Tut mir Leid“, spreche ich leise, löse mich von ihm und wische ihm die Tränen von den Wangen. „Ich kann nicht hier bleiben. Es ist nur für heute.“ „Nein! Warum? Warum läufst du wieder weg?“ „Das ist nicht mehr mein Zuhause. Ich habe jetzt eine eigene Wohnung, Freunde, einen Job. Alles was ich immer wollte.“ „Und was ist mit mir? Du hast versprochen, dass du mich mitnimmst!“ „Das werde ich“, versuche ich ihn zu beschwichtigen, ziehe ihn wieder in meine Arme. „Das werde ich. Versprochen. Ich werde dich mitnehmen. Aber nicht heute.“ „Wann dann?“, fragt er leise, schlingt seine Arme um meinen Nacken. „Wenn du älter bist.“ „Wann?“ Ich muss lachen. Er ist hartnäckig und richtig stur. Langsam aber sicher wird Jamie älter. Der süße Junge in ihm scheint sich zu verabschieden. Wenn ich nur da sein könnte um das mitzuerleben. „An deinem sechzehnten Geburtstag. Wenn ich dich gefahrlos zu mir holen kann. Sechzehn, hörst du?“ „Wie lange ist das noch hin?“ „Rechne es dir aus. Du bist jetzt neun Jahre.“ Er verzieht missmutig das Gesicht, als er es sich ausgemalt hat. „Das ist erst in sieben Jahren! Das ist viel zu lange, ich will jetzt mit.“ „Es tut mir leid. Das geht nicht, Jamie“, widerspreche ich ihm, lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Das gäbe zu viel Ärger. In sieben Jahren, okay? Freu dich doch drauf.“ Millennium. Jamie zieht eine Schnute. Er schmollt. Doch ich kann nichts daran ändern. Wenn er sechzehn ist hat er rechtlich gesehen die Möglichkeit auszuziehen. Auch das weglaufen ist dann einfacher. Zwar haben meine Eltern mir nie jemanden hinterher geschickt, aber selbst wenn sie es getan hätten, hätte ich beim Sozialamt genug Gründe vortragen können, weswegen man mir eine eigene Wohnung genehmigt hätte. So habe ich meinen Eltern auch noch zusätzliche Kosten erspart, denn wäre mein Auszug auf offizieller Ebene geschehen, hätten sie mir eine Wohnung und meine Unterhaltskosten auszahlen müssen. Ich bin für mich selbst aufgekommen. „Raphael, bist du das?“ Ich richte mich auf, schaue in das abgezehrte Gesicht meiner Mutter. „Mum“, nicke ich ihr zu. Ich schiebe Jamie hinter mich, gehe nur zögerlich auf sie zu. Weder eine Umarmung, noch ein Handschlag. Eine Berührung wäre mir unerträglich. „Ist das dein Freund?“ Sie deutet auf Thomas, der ans Auto gelehnt dasteht und zu uns herüber blickt. Ich schüttle den Kopf. „Ein Freund. Mein bester Kumpel.“ „Es tut gut dich zu sehen. Komm doch rein, bitte.“ „Nein“, lehne ich ab. „Ich hab mir geschworen nie wieder ein Fuß in dieses Haus zu setzen.“ „Ach Raphael, bitte. Komm nach Hause zurück. Ich flehe dich an.“ Ihr Gesicht wirkt müde und zerfurcht von den Jahren ihres Leidens. Aber es erweicht mich nicht mehr. Sie hatte die Wahl. Und nun muss sie mit ihrer Entscheidung leben. Schließlich wusste sie worauf sie sich einlässt. „Es war deine Entscheidung. Er oder ich“, gebe ich unerbittlich zurück, streiche Jamie dabei beruhigend über den Kopf. „Du hast ihn genommen und mich verloren. Fairer Deal.“ „Das ist nicht fair“, widerspricht sie. „Das ist Erpressung! Warum muss ich mich zwischen meinem Mann und meinem Sohn entscheiden? Warum tust du mir das an?“ „Ich?“, schreie ich wütend, bemerke wie Thomas sich vom Auto abstößt und auf uns zukommt. Ich winke ab und er bleibt zurück. „Ich habe nichts getan, hörst du, gar nichts! Er hat mich nicht geliebt und er hat auch dich nicht geliebt! Wir waren nie mehr als eine soziale Verpflichtung für ihn! Du hast doch keine Ahnung wie er hinter deinem Rücken über dich spricht! Du willst es gar nicht hören!“, keife ich völlig außer mir, bin sogar kurz davor zu einer Ohrfeige auszuholen. Einzig und allein Jamies Anwesenheit hält mich davon ab. Ich will nicht so sein wie mein Vater. Ich bin kein Schläger, aber es macht mich rasend zu sehen wie meine eigene Mutter noch immer die Augen davor verschließt was für ein Scheusal mein Erzeuger ist. Ich weiß selbst gut genug, dass es auch eine andere Zeit gab. Eine Zeit, in der mein Vater mich liebte und sie auf Händen trug, aber das ist lange vorbei. Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich keine gute Erinnerung mehr an ihn und seit ich acht bin hat er mich geschlagen. Acht lange Jahre habe ich das ertragen, aber dann war es genug. Und meine Mutter hat weggesehen. Sie kam danach zu mir, sagte mir, ich solle ihn nicht reizen, er wäre ja nur überarbeitet und es würde alles wieder gut werden. Aber das ist es nie. Es wurde schlimmer. Und das sie täglich zur Flasche greift scheint sie auch nicht zu realisieren. Sie ist nie betrunken, aber sie stürzt mehrmals am Tag ein Weinglas hinunter. „Ich liebe dich, das weißt du“, spreche ich leise und der Drang sie zum umarmen wird übermenschlich. Aber ich darf mich nicht noch einmal einlullen lassen. „Zusammen können wir es schaffen. Gemeinsam in eine schöne Wohnung ziehen, ich gehe arbeiten und Jamie besucht weiterhin die Schule. Und du ruhst dich einfach aus, bis es dir besser geht. Wir könnten…“ „Was redest du da schon wieder?“, unterbricht sie mich forsch. Ihre Augen schauen gequält zu mir auf. Ihre ganze Gestalt ist eingesunken. Von ihrer einstigen Schönheit ist nichts mehr übrig. „Wir haben es hier gut. Ein schönes Haus und…“ „Sei still!“, schreie ich, schlage mit voller Wucht gegen die Häuserwand. Ich höre meine Knochen knacken, spüre den Schmerz, das betäubende Gefühl, das mein Gehirn überflutet als ich realisiere, dass ich mir die Finger gebrochen habe. „Wenn du nicht endlich aufwachst ist es bald zu spät!“ Ich zittere am ganzen Körper, es bringt mich fast um sie so zu sehen. Noch viel fahler als vor zwei Jahren. „Ich werde dir Jamie wegnehmen, hörst du? Wenn du bei ihm bleibst, komme ich wieder und hole mir Jamie!“ „Nein!“, kreischt sie, stürzt auf mich zu, krallt ihre dünnen Finger in meine Jacke. „Nicht meinen Jungen! Nicht mein Kleiner! Warum tust du mir das an? Er ist mein Sohn!“ „UND DAS BIN ICH NICHT?!“ Jegliche Beherrschung ist gewichen. Ich spüre nur noch Wut und Abscheu. Jamie weicht zurück, flüchtet sich hinter Thomas, der ihn beschützend in den Arm nimmt. „BIN ICH ETWA NICHT DEIN SOHN?!“ Nebenan geht die Tür auf und Ute – die Nachbarin - kommt heraus, starrt verwirrt zu uns herüber. „Raphael? Oh mein Gott…“, ruft sie aus, doch ich ignoriere sie. „ER MACHT DICH KRANK, VERSTEHST DU DAS NICHT? ER HASST DICH!“ Ute stolpert die Treppen vor ihrem Haus herunter, rennt zu uns herüber, packt mich bestimmt und zieht mich von meiner Mutter weg, die unter meinen Worten immer kleiner geworden ist und sich beinahe apathisch hin und her wiegt. „Raphael, nicht! Hör auf, du machst es nur noch schlimmer!“ „ES KANN GAR NICHT MEHR SCHLIMMER SEIN! ICH HABE KEINE FAMILIE MEHR!“, schreie ich sie an, hole zu einem Schlag aus, den Thomas jedoch abfängt. Ute zuckt erschrocken zurück, erholt sich jedoch schnell und sieht mir fest in die Augen. „Er hat Krebs, Raphael. Dein Vater hat Krebs. Er wird sterben, hörst du?“ Ihre Worte gehen in dem Rauschen meines Blutes unter, das mir in den Kopf schießt als ich von dem Schmerz meiner gebrochenen Hand und meines verletzten Herzens ohnmächtig werde. --- Aktueller Verwirrtheitsgrad: (in Prozent anzugeben) ;P Kapitel 3: Ein Scheißhaufen namens "Leben" (1993 & 1994) -------------------------------------------------------- 3. Kapitel – 1993 & 1994 Ein schwerer Kopfschmerz ist das Erste, das mir wieder klar zu Bewusstsein kommt. Danach folgen langsam die unmittelbaren Dinge, die mich zu umgeben scheinen: das quietschende Geräusch von Schuhen auf Linoleumboden, entfernte Stimmen, das Rascheln von Papier und dann und wann das Knarzen eines Möbelstücks. Meine Augenlieder scheinen mit Blei beschwert, denn meine ersten Versuche meine Augen zu öffnen scheitern kläglich. Alles dreht sich und ich sehe selbst im Dunkeln noch bunte Lichter tanzen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir tatsächlich den Kopf gestoßen habe. Ich würde behaupten, dass es Stunden gedauert hat, bis es mir gelingt langsam aber sicher der Welt meine Aufwartung zu machen. Zunächst starre ich jedoch mit verschwommenem Gesichtsfeld an eine weiße Decke. Und mehr als das bin ich nicht in der Lage zu tun. Ich fühle mich so betäubt und schläfrig, dass ich einfach nur an diese Decke starren kann. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, wessen Decke das ist. Meine, die von Thomas, vielleicht sogar die meiner Eltern. Oder Utes. Sinnlos über den Besitzer einer weißen Decke zu sinnieren ist nicht gerade die Art von Beschäftigung die ich gewohnt bin. So konzentriere ich mich darauf wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen und zumindest den Kopf zu drehen. Daraus sollte sich schließen lassen, wo ich mich befinde. „Hey, du bist wach.“ Die sanfte Stimme an meinem Ohr erschreckt mich im ersten Moment, doch dann fokussiere ich mein Gegenüber und könnte vor Überraschung und Glück glatt noch einmal in Ohnmacht fallen. „Zack!“ Der Blondschopf lächelt mich milde an, streicht mir einige verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht und rückt mit seinem Stuhl etwas näher an mein Bett. Krankenhausbett, wie ich jetzt eindeutig identifizieren kann. Mein Zimmergenosse hängt mit einem gebrochenen Bein halb in der Luft. „Wie geht es dir?“ „Benebelt“, antworte ich gequält, versuche mich aufzurichten, doch Zacks warme Hände halten mich davon ab. „Man hat dich in eine Vollnarkose gelegt, also nicht bewegen. Außer zum pissen.“ „Vollnarkose?“ „Klar. Hast dir deine Hand ordentlich zertrümmert. Gab ein richtiges Gemetzel da drin und die Ärzte mussten jede Absplitterung rausziehen und irgendwie wieder alles zusammenpuzzeln. Die hatten bestimmt viel Spaß da drin.“ Zacks Lachen ist eine Wohltat für mich. Und ich würde gerne seine Hand halten, aber meine Eigene ist noch ein wenig taub. „Keine Panik, das Gefühl geht schnell wieder weg. Scheinbar bist du kein Freund von einer Vollnarkose, aber na ja, es gibt Schlimmeres, oder?“ Ich nicke zustimmend, sinke langsam etwas tiefer in die Kissen und bemerke tatsächlich, dass es mir allmählich leichter fällt mich zu bewegen. „Was machst du eigentlich hier?“, frage ich ihn. „Spast!“, wirft er mir entgegen. „Auf dich aufpassen, ist doch klar!“ „Und wo ist Thomas?“ „Der quatscht draußen mit seinen Eltern und dem Arzt“, gibt Zack mir Auskunft, legt die Zeitung – die er bis dato in Händen gehalten hat – auf meinen Nachttisch, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet mich eine Weile nachdenklich. „Dein Alter hat Krebs.“ „Ich weiß“, murmle ich, schaue auf meine Finger. Meine linke Hand steckt in einem festen Gips. Es fängt sogar schon an zu jucken. „Ute hat es mir gesagt.“ „Und?“ „Keine Ahnung“, gebe ich ehrlich zu und erinnere mich an das, was vor wann auch immer langer Zeit stattgefunden hat. Mein Vater hat Krebs, tatsächlich. „Ich würde gerne glauben, dass es nur eine Mitleidsmasche von ihm ist.“ „Schmink’s dir ab. Der hat so sicher Krebs wie ich einen geilen Arsch.“ Ich starre Zack einen Moment lang an, dann lachen wir beide. Das hat mir gefehlt. Diese Ungezwungenheit mit ihm. Seine Präsenz, seine warme Stimme, seine Art und Weise die Dinge zu sehen. „Dabei hab ich den Hintern hergehalten“, erwidere ich und erneut müssen wir lachen. Es kommt mir fast wie eine Ewigkeit vor, dass wir beide von meinem Vater erwischt wurden. Tatsächlich ist es nur ein Jahr her. „Was wirst du jetzt tun?“, ergreift Zack schließlich wieder das Wort, sieht mich abwartend, aber auch neugierig an. Ich weiß, dass ich mit meiner Antwort alles entscheiden könnte. Lasst mich nur bloß die Richtige finden. „Erstmal von hier verschwinden. Ich will nach Jamie sehen. Nicht das ihm dieser Bastard noch was getan hat und dann…“ Ich seufze. „Ich weiß nicht. Nach Hause fahren und einfach weiterleben. Irgendwie geht das schon.“ „Hm“, ist alles was Zack dazu äußerst. Ich wende mich zu ihm, strecke eine Hand nach ihm aus und bekomme seine Finger zu fassen, drücke sie und sehe von unten zu ihm auf. „Ich liebe dich, Zack“, flüstere ich. „Das habe ich immer. Bitte… komm mit mir mit!“ Die Sekunden die verstreichen sind die reinsten Nadelstiche auf meiner Haut. Alles schwirrt in meinem Kopf und ich will nur, dass er Ja sagt. Einfach Ja. Bitte… „Nein.“ Seine Stimme ist ruhig, gefasst und seine Augen strahlen nur noch matt zu mir herunter. Sein Lächeln ist verschwunden, er steht da wie eine Statue. Abweisend und kalt. Ich nehme beiläufig war wie sich die Zimmertüre öffnet. „Ich liebe dich, Raphael, mehr als du dir vorstellen kannst, aber ich werde einen Fehler nicht zweimal begehen. Und du warst ein Fehler. Du bist alles was ich will, aber… ich bin nicht alles was du willst. Du willst Jamie. Und das ist okay. Nur für mich ist kein Platz mehr.“ Langsam beugt er sich zu mir, flüchtig berühren sich unsere Lippen, ein Stromstoß erfasst meinen Körper, doch dann schwebt sein Gesicht schon wieder über mir, sein sanftes, wenn auch trauriges Lächeln trifft mich mitten ins Herz, und als er sich zum gehen wendet, reißt er es mir mit aller Gewalt heraus. Es ist Marianne die meine Tränen bemerkt und zu mir stürzt. Sie nimmt mich in den Arm, wiegt mich wie ein kleines Kind und streicht mir immer wieder über den Kopf. Ich rieche ihren Duft, sauge ihn ein, denn er verheißt Geborgenheit. Mutterliebe. In genau diesem Moment stürzt mein Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Ich realisiere zum aller ersten Mal, dass mir nichts mehr geblieben ist. Mein Vater hasst und missachtet mich, meine Mutter ist gefangen in ihrem eigenen Alptraum und mein Bruder muss alleine in dieser Hölle leben, aus der ich mich befreit habe. Doch die Freiheit ist nicht süß und lieblich. Sie schmeckt bitter. Ich kann sie mit niemandem teilen. Nun, da mich auch Zack abgewiesen hat, bleibt mir nichts aus meinem alten Leben. Alles ist verloren und dieser Schmerz ist so heftig, dass ich fürchte daran zu sterben. Wäre sterben denn so schlimm? Was denkt ein Mann, der todkrank ist? Denkt er an Reue, an Vergebung? Könnte ich ihm vergeben? Alles in mir schreit Ja. Ja, ich würde ihm vergeben, ich würde alles tun, wenn er mich nur lieben würde. Alles für einen sanften Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er mich sieht, ein freundliches Wort oder eine Umarmung. „Er hat Krebs…“, schluchze ich laut, kralle mich in Mariannes Bluse. Ich schreie und tobe, verfluche mich und die ganze Welt. Ich bin so außer mir, dass ein Arzt und zwei Schwestern kommen um mich zu beruhigen, doch ihre Berührungen sind mir verhasst. Ich stoße alles von mir. Alles. Bis auf die Wärme einer Mutter, die nicht meine eigene ist. --- Der Raum ist lichtdurchflutet, die hohen Decken lassen ihn riesig erscheinen, ein Gefühl von Weite. Die Wände fliehen und alles wirkt majestätisch. Unvorstellbar. „Und hier willst du wohnen?“, frage ich lieber noch einmal nach, erhalte aber nach wie vor ein kräftiges Nicken als Bestätigung. Von einem mächtigen Froschgrinsen ganz abgesehen. Ich kann es mir noch immer nicht wirklich vorstellen. Thomas ist der Inbegriff des Chaos, der jeden kleinsten Quadratzentimeter dazu nutzt um seinen Müll darauf abzuladen. Und genau dieser Kerl will in eine Bude des alten Stils mit hohen Decken und großen Fenster, so richtig schicke Scheiße. „Krass“, sage ich, drehe mich noch einmal rund herum. Wenn die Decken nicht wären, dann wäre die winzige Wohnung tatsächlich noch viel kleiner. Ein Schlafzimmer, ein Wohnraum, eine kleine Küche und ein minimalistisches Bad ist alles. Alles ist eng aneinander gequetscht und ich persönlich würde das Gefühl kriegen in einer Gummizelle zu hausen. „Ist ja deine Sache.“ „Oh das wird so geil, ich sag’s dir! So cool!“ Thomas strahlt über das ganze Gesicht. „Habt ihr euch entschieden?“, fragt die junge Studentin, die in diesem Augenblick wieder zu uns getreten ist. Noch ist es ihre Wohnung, aber Thomas ist bereit alles zu unterschreiben um sie zu bekommen. „Er, nicht ich“, wehre ich grimmig ab, schiebe die Hände in die Hosentaschen und ziehe ergeben die Schultern hoch. „Mach halt!“ „Oh yes, ich nehm’ sie!“ „Klasse!“ Die junge Frau strahlt über das ganze Gesicht und dann besprechen sie und Thomas wann sie sich noch einmal treffen um die letzten Formsachen abzuklären. „Dann kann ich ja packen.“ Lachend reicht sie uns beiden die Hand, verabschiedet uns und gemeinsam treten wir in den kalten Februar hinaus. Fröstelnd ziehe ich meine Jacke enger, stapfe mit großen Schritten voran und versuche Thomas’ nerviges Gesinge zu ignorieren. „Wann ziehst du Zuhause aus?“ „Wenn alles klappt, dann Mitte des Jahres“, antwortet Thomas, legt mir einen Arm um die Schulter, doch ich schüttle ihn ab. Schweigend gehen wir weiter und ich weiß was in seinem Kopf vorgeht. „Ich bin keiner von denen“, sagt er wie zur Bestätigung meiner Gedanken. Als ich mich umdrehe sehe ich das Verletzte in seinen Augen. Ich seufze. „Ich weiß“, gebe ich ihm zu verstehen. „Aber ich kann nicht anders.“ „Doch, du kannst.“ Gequält kneife ich meine Augen zusammen. Ich erinnere mich nur ungern an die Zeit zurück. Es liegen nur wenige Monate dazwischen und das ist mir eindeutig noch zu früh. „Du bist nicht wie dein Alter, Rapha.“ „Ach nein? Und wer außer meinem Vater hätte das Haus dermaßen demoliert? Wohl nur sein Sohn, oder?“ Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf, reibe mir meine linke Hand, die nie mehr so funktionieren wird wie früher. An der Hauswand zertrümmert und später am Mobiliar. „Wer kann dir das verübeln? Dein Leben ist ein Scheißhaufen!“, wirft Thomas ein, kommt auf mich zu und packt mich grob am Arm. „Du hast immer alles ertragen, so lange. Ist doch wohl normal das du mal ausrasten musstest!“ „Ich will nicht so werden wie er“, schluchze ich leise, Tränen laufen mir über die Wangen. Einmal mehr kann ich das Gefühl nicht ertragen am Leben zu sein. „Wirst du auch nicht.“ Thomas’ Umarmung ist ein sicherer Halt. Wir stehen hier mitten auf der Straßen, aneinandergeklammert, ich laut heulend, aber die Blicke der Passanten interessieren keinen von uns. „Du bist nicht allein, glaub mir. Ich bin da und Erich ist da, die Jungs auch. Und die Mädels gehen mir seit Wochen auf den Sack mit ihren Fragen. Hör auf dich zu vergraben, Rapha, komm mal wieder raus aus deinem Panzer, dann merkst du schon, dass es Einige gibt die dich vermissen.“ Langsam richte ich mich auf, wische mir die Tränen weg, straffe mich und ziehe Thomas meinerseits in eine Umarmung. Tatsächlich ist er immer da, wenn ich ihn brauche. „Danke.“ „Aber klar.“ Sein Grinsen bringt pure Erleichterung mit sich. Wir gehen weiter, bis wir vor unserem Wohnungsblock stehen. Er hält mir die Tür auf und ich trete in den kalten, dunklen Flur. Doch nur wenige Augenblicke später fällt der erste Lichtstrahl auf uns herunter, als beim ersten Treppenabsatz eine Wohnungstür geöffnet wird und Marianne im Rahmen steht. „Kommt rein ihr zwei. Ich hab’ frischen Kakao gemacht.“ Thomas nickt mir zu, verschwindet in der Wohnung, während ich unschlüssig davor stehe. Marianne sieht mich einfach nur an. So stehen wir regungslos da. Einander ansehend. Dann mache ich den ersten Schritt und ihre ausgestreckten Arme kommen mir entgegen. Als mein Gesicht an ihrer Brust ruht wird mir unerträglich warm, doch ich will mich nicht lösen. Es ist ein gutes Gefühl. Letztendlich habe ich verstanden, was es bedeutet nach Hause zu seiner Familie zu kommen. --- Kapitel 4: Millenium (2000) --------------------------- 4. Kapitel – 2000 (Millennium) Schnaufend schleppt sich Jamie die Treppen zu meiner Wohnung hoch, in den Händen balanciert er einen voll gepackten Karton aus dem vereinzelt Bücher herausfallen. Ich hätte nie gedacht, dass sich mein kleiner Bruder mal zu einer Leseratte entwickeln würde. Tatsächlich lernt man nie aus. „Wie viele Stufen noch?“, höre ich ihn jammern und muss lachen. Er ist und bleibt ein kleines Weichei. Vielleicht habe ich ihn zu nachsichtig behandelt. „Woher soll ich das wissen?“ „Ich denke du joggst sie jeden Tag rauf und runter“, mault er, lehnt sich prustend an den Handlauf, schiebt den Karton auf sein eines Bein und wischt sich mit der freien Hand den Schweiß aus den Augen. „Heißt nicht, dass ich sie auch jeden Tag zähle, Dumpfbacke“, necke ich ihn, schreite demonstrativ zwei Stufen auf einmal nach oben. Das fast tägliche Jogging zahlt sich nach vier Jahren also doch aus. „Sherlock Holmes wusste es.“ „Bin ich Watson, oder was?“, frage ich irritiert und wundere mich im Stillen darüber was zum Teufel meinen Bruder so umgepolt hat, dass er – freiwillig – die englischen Originalausgaben von Doyles Sherlock Holmes liest. Mit Sicherheit ist er zeitweise von Aliens entführt worden. „Scheinbar schon. Der wusste es auch nicht.“ „Ach leck mich!“, murmle ich. „Komm schon, nur noch zwei Absätze. So viel kann ich dir sagen.“ Hinter mir höre ich ihn gequält aufstöhnen, doch dann packt er seinen Karton fester und beginnt mit dem restlichen Aufstieg. „War ja nicht meine Idee alle meine Bücher mitzunehmen, was, Bruderherz?“ Darauf erwidert er nichts und ich eile ihm lachend in meine Wohnung voraus. „Und der Gewinner ist: Raphaeeel Montegaaaa!“, schreit Thomas ausgelassen, Martinas Kochlöffel wie ein Mikrofon haltend. Er tanzt ausgelassen auf meinem Sofa herum, grölt dabei die deutsche Nationalhymne und grinst von einem Ohr zum anderen. „Martina!“ „Ja?“ Sie kommt aus der Küche angelaufen, wirft einen verwirrten Blick zwischen mir und Thomas hin und her. „Was ist denn?“ „Du hast was in den Nudelsalat getan, gib es zu“, beschuldige ich sie scherzhafter Weise und sie verzieht ihre Lippen zu einem süßen Schmollmund. Dann schwingt sie vor mir das Küchenmesser, an dem noch Reste der Fleischwurst hängen, die sie gerade geschnitten hat. „Wag es nicht noch einmal meinen preisgekrönten Nudelsalat in den Dreck zu ziehen, Mister, oder ich sehe mich gezwungen dir den Fehdehandschuh hinzuwerfen!“ Ich lache, hebe in totaler Kapitulation die Hände, während Thomas sie anstarrt als sei sie eine grüne Kuh, oder plötzlich lila angelaufen. „Was machst du?“ „Ihn zum Duell herausfordern“, erklärt Jamie knapp, wuchtet seine Kiste über die Schwelle und bricht dann auf ihr zusammen. „Um die Beleidigung zurückzuweisen und ihm eine Lektion zu erteilen. Ging meist tödlich für eine der Parteien aus.“ „Äh hä“, brummt Thomas lediglich, kratzt sich am Kopf und beweist einmal mehr, dass er voll im Leben steht und keinerlei Ahnung von historischer Geschichte hat. Das habe ich zwar auch nicht unbedingt, aber zumindest solche Sachen weiß ich. „Na komm, hilf mir mit den letzten Sachen, sonst klappt mir mein Brüderchen noch vollends in der Mitte zusammen“, klopfe ich Jamie auf die Schulter, ziehe gemeinsam mit Thomas wieder nach unten ab, um auch den Rest von Jamies Zeug in meine Wohnung zu schaffen. Die Arbeit geht schweigend von der Hand, denn sowohl Thomas als auch ich haben nicht viel zu erzählen. Letztendlich ist der große Tag eingetroffen und Jamie – sechzehn geworden – kann bei mir einziehen. Ich habe mein Versprechen also gehalten. Sieben Jahre ist es nun her, seit ich das letzte Mal bei meinen Eltern war. Und damals habe ich auch nur meine Mutter gesehen, sie angeschrieen. An diesem Tag habe ich tatsächlich alles aufgegeben. Mein altes Leben und meine Hoffnung auf einen Neuanfang mit ihr und Zack. Jetzt starte ich in das neue Jahrtausend mit meinem kleinen Bruder. Er ist alles was ich habe und je haben wollte. Ich bin froh, dass er hier ist. „Wow, Erich…“, schrecke ich zurück, als der schweigsame Kerl plötzlich vor mir auftaucht und mich nur unverschämt gelassen angrinst. „Alter, erschreck mich nicht so“, beschwere ich mich, drücke mich an ihm vorbei in die Wohnung und stelle meine Last ab. Thomas kommt nur wenige Momente nach mir, haut aber sogleich wieder ab um den nächsten Karton zu holen. Erich hält mir einen Packen Blätter hin. Ich wische mir meine verschwitzten Hände an meiner Jeans ab, greife nach den Papieren, überfliege sie kurz. Es ist die Jahresbilanz unseres Clubs. Sieht gar nicht so schlecht aus. Das neue Jahr kann also gut beginnen. „Klasse“, freue ich mich, Erich hängt sich von hinten an mich. „Und wenn das mit dem Koch und der Küche klappt, dann haben wir bestimmt bald noch mehr Umsätze. Sollen wir vielleicht ein Restaurant draus machen?“ Erich schüttelt den Kopf. Damit ist die Sache auch schon wieder entschieden. Ich lege keinen Einspruch ein, denn immerhin ist mein Kumpel der Inhaber des Ladens, hat somit das finanzielle Risiko und die Entscheidungsgewalt, vor allem ist er aber ein Finanzgenie und kann schneller als ein Computer Zahlen ausrechnen. Auf ihn ist Verlass. „Was ist das?“, fragt Jamie, als er gerade aus dem Schlafzimmer kommt, seine Haare mit einem Handtuch abtrocknend. Er steckt nur in seinen Shorts. „Die Jahresbilanz unseres Ladens.“ „Zeig mal“, greift mein kleiner Bruder direkt danach und pfeift einmal anerkennend. „Krasse Scheiße… so viel Kohle.“ „Und der Großteil davon landet bei den Ausgaben des nächsten Jahres. Wir bauen um, dass wird eine ganze Menge kosten.“ „Was baut ihr um?“ „Die kleine Küche, die noch vom Vorbesitzer stammt. Wir haben uns überlegt, dass wir die modernisieren und in dem Teil auch renovieren und dann mit dem Verkauf von Kleinigkeiten beginnen. Snacks. Einfache Gerichte“, erkläre ich, nehme die Blätter an mich und verstaue sie in einem Ordner, der im Regal steht. Ich nicke Erich zu, der uns noch einen Wink dalässt und gleich darauf wieder verschwindet. „Macht doch ein Restaurant draus.“ Ich lache. „Hab ich auch gesagt, aber Erich will nicht.“ Jamie hebt nur die Schultern trocknet sich ab und sucht in den ganzen Kisten nach neuen Anziehsachen. Aber bei den ersten fünf tun sich nur Bücher auf. Er liest definitiv zu viel. „Rapha, komm her zu mir“, ruft Martina nach mir und ich gehe zu ihr. Sie legt einen Arm um meine Schulter und hält mir ihre Zeichnung von meiner Wohnung hin. Da ich keine Ahnung habe wie ich Jamies Zeug in meine winzigen vier Wände bekommen soll, hat sie sich darum gekümmert. „Sieht das gut aus, was meinst du?“ Ich betrachte ihr Gekritzel, entziffere die einzelnen Möbelstücke und lasse mir sagen, wo genau sich was befindet. Kritisch schaue ich mich in dem Wohnzimmer um. „Bist du sicher, dass noch ein Regal in die Ecke passt, wenn wir die Couch dahin schieben? Sieht mir viel zu eng aus…“ „Das müssen wir ausmessen. Aber ich denke das haut hin.“ „Hm… meinetwegen. Wenn es passt, dann passt es“, gebe ich als Antwort. Martina lacht auf, steckt sich ihre langen kastanienfarbenen Haare nach hinten und gibt das Zeichen zum Angriff. Jamie und ich verschieben auf ihre Anweisung hin die Möbel, rücken, ziehen und zerren alles in eine Form, während Thomas schließlich von seinem letzten Gang zurück kommt und somit alle Kisten oben angelangt sind. --- „Er hat es getan! Raphael, er hat es getan!“ Laut rufend stürmt mein kleiner Bruder in die Wohnung, schmeißt seine Jacke achtlos auf den Boden und bricht letztendlich in lauten Jubel aus. Er kommt auf mich zugestürzt, umarmt mich überschwänglich und hält mir dann die flache Hand hin. „Er hat eine Bemerkung zu meinem Namen gemacht, also Hand drauf.“ „Was hat er denn gesagt?“, will ich zuerst wissen und löse mich von der aufgeschlagenen Zeitung vor mir. „Er meinte, dass ich ein netter Junge wäre und man sich keine Sorgen um meine Zukunft machen müsste, wenn ich nur halb so gut kochen könnte wie Jamie Oliver – das Reden sei ja kein Problem mehr“, zitiert er triumphierend, wackelt auffordernd mit seinen Fingern. Trotzdem bekommt er einen Klaps auf den Hinterkopf. „Tz, ich hatte Besseres erwartet.“ „Zick nicht rum, Flosse her!“ Grinsend schlage ich bei ihm ein. Er drückt meine Hand feste, umarmt mich kurz und stößt ein wahres Siegesgeheul aus. Anscheinend ist sein Tag gut gelaufen. „Oh, wie geil ist das denn?“, wirft er sich mir gegenüber auf den Küchenstuhl. „Ich hab eine Ausbildung und einen Job in deinem Schuppen. Ich bin gesegnet, Alter!“ Über Jamie kann ich wirklich nur den Kopf schütteln. Er hat eine Entwicklung um mehr als 180° Grad gemacht. Aus dem ruhigen, weinerlichen Jungen mit den Kulleraugen ist ein großer, schlaksiger Kerl mit großer Klappe und übersprießendem Optimismus geworden, der scheinbar alles durchboxt was er sich in seinen Dickschädel gepflanzt hat. „Willst du Kaffee? Ist noch ein Rest da“, biete ich ihm an, falte meine Zeitung und fingere dann auf dem Schrank nach meinem Geschenk für ihn. Schließlich muss man ihn belohnen, wenn er seine Sache so gut gemacht hat. „Nein danke. Was machst du da?“ „Hier“, reiche ich ihm das etwas schwere Packet, sehe amüsiert dabei zu wie seine Augen immer größer und runder werden. „Ein kleines Geschenk zum Ausbildungsbeginn.“ „Mann, wär’ doch nicht nötig gewesen.“ Er mustert es kritisch, dreht es immer wieder hin und her, entscheidet sich dann aber für die gute alte Reißer-Methode und holt so einen dicken gold-braunen Einband ans Licht. „Äh…“ „Du hältst ihn falsch rum“, gebe ich ihm einen Hinweis und als er den kleinen Wälzer herum dreht, erstreckt sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Und es wird noch breiter, als er den Deckel aufschlägt und meine geschriebenen Zeilen überfliegt. „Oh, Rapha, echt… danke, Mann!“ „Schon gut. Ich dachte, du könntest es brauchen“, winke ich ab und bin froh, dass ich mit diesem Kochbuch offensichtlich ins Schwarze getroffen habe. Aber es ist ja auch nicht irgendeins. Nein, vielmehr ist es leer. Und es wartet nur darauf, dass Jamie seine ersten Rezepte darin aufschreibt und ausprobiert. „Alter Falter“, haucht er andächtig, gleitet mit seinen Fingern über das Leder und die goldenen Lettern darauf. „Ich bin so froh, Mann. So froh, dass ich hier bin.“ „Ich auch, Jamie. Ich auch“, erwidere ich und einen Moment lang sehen wir uns schweigend an. Acht Jahre waren wir voneinander getrennt, hatten nur sporadischen Kontakt und doch verstehen wir uns noch immer wortlos. Ich hatte befürchtet, dass es nicht mehr so sein würde, aber zum Glück habe ich mich geirrt. Die Stille hält an und jeder hängt seinen Gedanken nach, dann erhebe ich mich jedoch und stelle meine leere Tasse auf die Spüle. „Wann hat das eigentlich mit dir und Martina angefangen?“ „Angefangen hat noch gar nichts“, brummt Jamie. „Seit ein paar Wochen treffen wir uns, das ist aber auch schon alles was wir tun.“ „Den Rest will ich auch gar nicht hören“, entgegne ich lachend, öffne den Kühlschrank und schaue in beinahe gähnende Leere. Offenbar habe ich das Einkaufen vergessen. „Gehen wir in den Supermarkt?“ Jamie nickt, steht auf und wir werfen uns in Schuhe, Jacken und Schals. Auf Handschuhe verzichten wir. Es ist ein recht milder Winter dieses Jahr und die Hoffnungen auf weiße Weihnachten sind schon vor Monaten gestorben. „Kannst du dich noch an meinen Besuch vor zwei Jahren erinnern?“ „Klar. Hattest damals ja einen riesigen Koffer dabei.“ „Ja genau… ich dachte ich könnte dich überrumpeln und dann wäre ich da geblieben. Na ja, egal. Ich bin auf jeden Fall damals Martina auf der Straße begegnet und sie hat mich erkannt. Wir kamen ins Gespräch und sie hat mir erzählt wie sie dich und die Jungs kennen gelernt hat und was in den letzten Jahren so abgegangen ist.“ „Sie ist wirklich eine redselige Person“, stimme ich ihm zu und kann nur grinsen. Martina ist eine Freundin von Natalie, die wiederum mit Thomas sehr eng befreundet ist. Ich vermute ja schon seit Jahren, dass da was zwischen den beiden läuft oder schon gelaufen ist, aber Thomas streitet es ab. Auf einer Party von Natalie habe ich Martina dann kennen gelernt und heute gehört sie auch irgendwie zum inneren Kreis der Clique. „Schon. Aber wirklich nett. Sie war auch der Grund, warum ich schlussendlich wieder nach Hause gefahren bin.“ „Warum das?“ „Na hör mal!“, begehrt Jamie jetzt auf, boxt mir in die Seite. „Seit damals Weihnachten habe ich anderthalb Jahre nichts mehr von dir gehört. Nur die mickrigen Karten zum Geburtstag und so was. Da hab ich mir Sorgen gemacht! Schließlich war die Begegnung mit Mutter nicht gerade friedlich…“, nuschelt er leise, sieht mich mit traurigem Blick an. Ich lege einen Arm um ihn, ziehe ihn zu mir und ignoriere die gaffenden Blicke der Passanten. Durch den engen Kontakt zu Thomas bin ich das längst gewohnt. „Tut mir leid, Jamie.“ „Ich frage mich nur warum. Hab ich was falsch gemacht?“ „Oh Gott, nein!“, ziehe ich ihn fester an mich. „Du warst damals erst neun, es tut mir leid, du konntest es nicht verstehen. Es gab viele Gründe. Ich musste nachdenken.“ „Worüber?“ Langsam löst Jamie sich aus meiner Umarmung und starrt mich abwartend an. „Rapha, ich bin kein kleines Kind mehr, auch wenn ich so viel jünger bin als du. Und ich bin doch dein Bruder! Du kannst mit mir reden, bitte!“ „Nicht hier“, wehre ich ab, ziehe ihn in den Supermarkt hinein und für wenige Stunden des Einkaufens ist das Thema vergessen. Wir schlendern durch die Straßen, schleppen die Tüten, machen hier und da kurzen Halt, ehe wir in unsere Wohnung zurückkehren. Unsere Wohnung. Es fühlt sich gut an, dass zu sagen, denn viel zu lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Pünktlich zu Jamies sechzehntem Geburtstag bin ich wieder nach Hause gefahren. Meine Mutter hat geschrieen und geweint, aber ich konnte ihr nicht vergeben, habe mein Versprechen erfüllt und Jamie mit mir genommen. Meinen Vater habe ich auch damals nicht gesehen. „Soll ich einen Tee kochen?“ „Gerne.“ Ich lasse mich auf das schmale Sofa fallen, ziehe eine Decke über mich und versinke einmal mehr in meinen düsteren Gedanken. Seit meinem Auszug habe ich meinen Erzeuger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Acht Jahre ist das also schon her und dabei war ich zwei Mal im Haus. Einmal habe ich es ganz und gar auseinander genommen. Wollte er mich nicht sehen? Vermutlich nicht. Auch wenn ich erwartet hätte, dass er wenigstens kommen würde um mich zu schlagen oder anzuschreien. Aber nichts ist passiert. Kein einziges Mal hat sich etwas geregt. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war beide Male abgeschlossen, ich kann also nur vermuten, dass er sich dorthin zurückgezogen hat. Ob er gehört hat was ich gesagt habe? Wusste er, dass ich Jamie holen würde? Es gibt viele Fragen, die ich ihm gerne stellen würde, aber ich bezweifle, dass ich dazu jemals die Chance, geschweige denn eine Antwort erhalten werde. „Hier.“ „Danke. Setz dich zu mir.“ „Hatte ich vor, Bruderherz. Kommt jetzt die Stunde der Wahrheit?“ „Alles was du wissen willst“, verspreche ich ihm, puste, wirble die Oberfläche meines Tees auf, ehe ich vorsichtig daran nippe. Es herrscht Schweigen. Aber ich weiß genau, dass Jamie sich nur seine Fragen zurecht legt. „Weißt du, dass Vater Krebs hat?“ „Ja.“ „Er sieht scheiße aus“, spuckt mein kleiner Bruder verächtlich aus. „Er hat direkt mit Chemo und all dem Zeug angefangen. Alle Haare verloren und sich einen Rollstuhl angeschafft. Er verlässt sein Zimmer kaum noch und kämpft vermutlich im Stillen mit seinem Tumor. Mum kümmert sich um ihn. Ich wurde kaum noch beachtet, auch von ihr nicht.“ „Dafür hat sie aber ordentlich gekeift, als ich dich abgeholt habe.“ „Hat mich auch überrascht, wenn ich ehrlich bin.“ Wir versinken erneut in Stille. Das schmerzverzerrte Gesicht meines Bruders ist ein Messerstich in meinem Herzen und einmal mehr frage ich mich, was wir verbrochen haben, dass unsere eigenen Eltern nicht fähig sind uns zu lieben. Wann war der Punkt, an dem er angefangen hat mich zu hassen? „Was ist noch passiert?“, fragt Jamie dann. „Das letzte Mal habe ich dich gesehen, als du aus dem Krankenhaus entlassen wurdest und Thomas’ Mum dich mitgenommen hat. Aber du warst schon davor so anders.“ Ich atme mehrmals tief und kontrolliert ein und aus. Ich spüre, dass ich noch nicht bereit bin mich dieser Befragung zu stellen. Aber mehr als das weiß ich, dass Jamie an einem Punkt ist, wo er diese Antworten braucht. Erneut stelle ich ihn über alles andere. „Zack war da.“ Jamies Kopf ruckt hoch und er starrt mich mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen an. Er weiß, dass ich seit meiner Flucht keinen Kontakt mehr zu Zack hatte. „Ich habe ihn gebeten mitzukommen. Er hat abgelehnt“, fasse ich es so kurz wir nur möglich zusammen. Ich will nicht darüber sprechen, denn noch immer leide ich darunter, dass ich ihn nicht haben kann. Die Zeit mit Zack war viel zu kurz und überschattet von der Gewalt meines Vaters und ich hatte gehofft einen ruhigen Neuanfang machen zu können, mit meinem Bruder UND Zack. Das er mich trotz seiner Gefühle für mich abgelehnt hat, ist für mich total unverständlich. Liebeskummer ist einfach nicht meine Sache. „Rapha, das tut mir leid.“ Jamie schlingt seine Arme um mich, drückt mich fest an sich, aber es spendet mir keinen Trost. Ich liebe ihn, meinen kleinen Bruder, aber ebenso liebe ich Zack. Und manchmal ist Bruderliebe nicht ausreichend. „Er hat sein linkes Auge verloren.“, erzählt er dann. „Ich weiß.“ „Weißt du auch warum?“ „Ja.“ „Sagst du’s mir?“ „Nein.“ Vier Jahre ist dieses Ereignis nun schon her, aber es verfolgt mich bis heute in meine Träume. Oftmals wache ich schweißgebadet auf und schreie Zacks Namen. Einmal mehr habe ich lernen müssen, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann. „Willst du sonst noch was wissen?“, frage ich schwach, stelle meine Tasse beiseite, ziehe die Decke höher und vergrabe mein Gesicht in dem warmen Stoff. „Ich will dich nicht quälen“, wirft Jamie besorgt ein. „Schon gut.“ „Hm… wie hast du eigentlich diesen Laden gekauft?“ Ich lache befreit. Die finsteren Themen sind überstanden und wir verfallen in alltägliches Geplauder. Ich erzähle Jamie von Thomas’ zunächst hirnrissiger Idee, die dann jedoch immer festere Umrisse angenommen hat, bis schließlich das Okay von Erich kam. „Sein Vater ist Immobilienhändler und die ganze Familie schwimmt nur so im Geld“, kläre ich meinen kleinen Bruder auf, der erstaunt den Mund aufreißt. Es ist wirklich schwer zu glauben, wenn man den schweigsamen Erich kennt, der mit all seinen Marotten einfach nicht wie ein Millionärssöhnchen wirken will. „Er hat es mir nie genau erklärt, aber Thomas meinte, dass Erich so wie ich eines Tages einfach im Viertel aufgetaucht ist und gemeint hat, er hätte keinen Bock mehr auf Zuhause. Seitdem gammelt er hier mit uns rum.“ „Krasse Scheiße!“, stöhnt Jamie auf, kneift sich einmal in den Arm. Ich muss grinsen. „Hab ich auch gesagt.“ Ich setze mich etwas gemütlicher hin. „Auf jeden Fall hat er dann mit dem Besitzer des Ladens mehrmals gesprochen, seinen Vater andauernd angerufen und schließlich sind sich alle Parteien einig geworden und Erich hat den Schuppen gekauft. Über die Summe schweigt er sich bis heute aus.“ „Ultra großer Mist, dass glaub ich ja nicht. Was ein Freak!“ „Von der Idee bis zum endgültigen Kauf hat es zwei Jahre gedauert, weil der Besitzer sich lange nicht sicher war, ob er den Laden wirklich aufgeben will. 1995 haben wir mit dem Umbau begonnen. Und ein Jahr später konnten wir eröffnen“, beende ich die kurze Geschichte, trinke meinen Tee aus und lächle meinen Bruder milde an. „Mir gehört der Laden also nicht wirklich, ich bin nur Chef. Erich macht die Finanzen und den rechtlichen Kram und entscheidet auch was alles getan wird und was nicht, aber er hat mir viel freien Raum gelassen und so konnte ich den Laden meiner Träume gestalten und Kohle damit verdienen.“ „Dann bist du ja auch steinreich!“, ruft Jamie erschrocken aus, seine Augen glänzen vor Freude und ich sehe es schon förmlich vor mir, wie er durch die Geschäfte tingelt und das Geld im großen Stil ausgibt. Allerdings muss ich seine Träume platzen lassen. „Nicht wirklich“, revidiere ich also. „Ich verdiene tatsächlich nicht schlecht, weil der Laden so populär ist, aber ich hab im Grunde nichts davon. Ich bezahle meinen Lebensunterhalt, jährlich geht auch ein gewisser Betrag an Erich zurück, dann habe ich für dich ein Konto eröffnet auf das ich monatlich einzahle und der klägliche Rest landet wieder im Schuppen.“ „Ich dachte Erich zahlt alles?“, hakt Jamie verwundert nach. „Tut er auch. Aber wenn ich was Neues ausprobieren will, zahle ich das meistens von meinem Geld. Wenn Erich die Idee gefällt, dann krieg ich die Kosten erstattet, wenn nicht, dann nicht.“ „Scheiße, wie kompliziert“, brummt Jamie, knufft mich in die Seite, wir balgen miteinander und ich spüre wie sich ein warmes Gefühl von Kopf bis Fuß in mir ausbreitet. Ich schlinge meine Arme um meinen kleinen Bruder, vergrabe meine Nase in seinen langen Haaren und seufze erleichtert. „Du hast ein Konto für mich eröffnet?“ „Hm-hm“, brumme ich, schmeiße die Decke über uns, kuschle mich näher an ihn. Auch ein Mann meines Alters – schließlich bin ich schon vierundzwanzig – braucht ab und an Streicheleinheiten und Kuschelzeiten. „Wofür?“ „Egal. Ist deine Entscheidung. Ich wollte nur, dass du abgesichert bist und über genug Rücklangen verfügst um deine Ziele umzusetzen. Ich hatte nur wenige Ersparnisse und wenn ich Thomas und Erich nicht getroffen hätte, die mir nicht nur eine Wohnung sondern auch meinen Job vermittelt haben, wäre ich aufgeschmissen gewesen“, erkläre ich. Jamie schmiegt sich an mich, gemeinsam sitzen wir auf der Couch und keiner sagt ein Wort. Wir haben genug geredet und jetzt zählt nur noch, dass wir zusammen sind und damit beginnen können die Vergangenheit hinter uns zu lassen. --- Die Neujahrsparty ist ausgelassen und fröhlich. Der Grill dampft auch zu dieser späten Stunde kräftig und die Jungs begraben sich unter Tonnen von Würsten, Steaks und allem anderen Fleischartigem, das sie von irgendwoher rankacheln. Die Mädchen sind in Gruppen verteilt über die Wiese verstreut, man hört ihr schrilles Lachen und Gackern. „Bier?“ „Danke“, nehme ich an, greife die Flasche, die Thomas mir reicht, ehe er sich neben mir auf die Decke wirft, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Auch wenn keinerlei Schnee liegt, ist der Boden gefroren. Wir stoßen an, trinken einige Schlucke, ehe Thomas sich an meine Schulter lehnt und tief aufseufzt. Sein Blick klebt an einem Mädchen, dass ich nur flüchtig kenne. Scheinbar hat er einen Korb bekommen. „Ich fang’ nächstes Jahr übrigens wieder eine Ausbildung an“, teilt er mir leise mit. „Keine Lust mehr auf deinen Büroalltag?“ „Scheiße, das war langweilig! Die Ausbildung war kein Brüller und zwei Jahre in dem Schuppen haben wirklich gereicht. Die übernehmen mich eh nicht und mein Traum ist es nun auch nicht.“ Ich nicke verstehend. Fachangestellter für Bürokommunikation klingt schon nach absolutem Brechreiz. Man kann es Thomas also kaum verübeln, wenn er lieber was anderes machen will. Und mit seinen sechsundzwanzig Jahren hat er auch noch relativ gute Chancen was zu bekommen. „Und was machst du?“ „Ich wird’ Erzieher.“ In großem Bogen spucke ich den Schluck Bier aus, den ich gerade eben noch genommen hab. Mit einer Serviette wische ich mir das Kinn, starre meinen grinsenden Kumpel verständnislos an. „Was? Bist du bekloppt?“ „Ich kann das, glaub mir! Ich habe zwei Brüder!“ „Ich hab auch einen, aber das macht mich nicht zum Erzieher“, verdrehe ich die Augen, stoße Thomas von mir, der sich einige Male total sinnlos über den Boden rollt, ehe er sich wieder neben mich setzt. „Du solltest mich unterstützen, Alter“, beschwert er sich grinsend. „Tu ich doch“, entgegne ich, verpasse ihm daraufhin eine Kopfnuss, die ihn gequält aufstöhnen lässt. „Ich dreh dir den Kopf gern wieder richtig.“ „Ach komm, so schlimm wird es nicht.“ „Hm“, gebe ich nur wenig überzeugt von mir. Dann hebe ich resignierend die Schultern. „Ist ja deine Sache. Wenn es wirklich dein Ding ist, dann hab ich auch nichts dagegen. Aber wehe du missbrauchst mich für irgendwas.“ „Ich muss dich nicht missbrauchen“, strahlt Thomas von Ohr zu Ohr, streicht mir einmal sanft über die Wange. „Du gibst dich doch freiwillig her, Süßer.“ Gerade will ich zu einer Antwort ansetzen, als ich zwei Arme spüre, die sich von hinten um mich schlingen und nahe an einen Körper ziehen. Ein vertrauter Geruch nach Zigaretten steigt mir in die Nase. „Der gehört mir, such dir ein anderes Spielzeug.“ „Och komm schon, Alter! Du siehst ihn schließlich jeden Tag im Laden! Ich will auch mal wieder ein bisschen Zeit mit meinem Schnuckel verbringen“, widerspricht Thomas, packt mich am Arm, zieht mich aus Erichs Umarmung und strubbelt mir durch die Haare. „Ich hab für ihn bezahlt“, führt Erich das nächste Argument ins Feld. Ich schnappe empört nach Luft, ramme meinen Ellbogen in seinen Magen und verpasse auch Thomas einen Schlag, der ihn umhaut. „Ich liebe euch auch Jungs, aber ich steh nicht so auf Dreier“, mokiere ich mich, stehe auf und will gerade gehen, als Thomas meinen Fuß zu fassen bekommt und mich von den Beinen holt. Die Bierflasche werfe ich in hohem Bogen von mir, ehe ich unsanft auf der Erde aufkomme. „Sag bloß du magst mich nicht mehr“, jammert Thomas über mir, kriecht mit seinen kalten Fingern unter mein Hemd. Ich schaudere und versuche mich wegzudrehen, als Erich mich an meinen Handgelenken packt und mir frech ins Gesicht grinst. „Leute, nein, kommt schon! Gnade!“, schreie ich halb panisch. Ich fange Jamies belustigten Blick auf, als mich meine beiden Freunde hochheben und ein Stück über die Wiese tragen. Ich ahne was sie vorhaben. „Hilfe!“, rufe ich, aber die versammelte Mannschaft lacht nur und ergötzt sich an dem Schauspiel. Mein verräterischer Bruder steht bei seiner angebeteten Martina, dich sich kaum noch auf den Beinen halten kann. „Macht keinen Scheiß, kommt schon!“, flehe ich Thomas an, der allerdings nur johlt und sich in Position bringt. Ich drehe meinen Kopf um dem Unvermeidlichen ins Gesicht zu sehen. Vor mir fällt das Gelände steil ab und rund fünfzig Meter geht es einfach nur nach unten, bis man wieder auf eine flache Ebene trifft. Und genau da wollen mich meine Freunde jetzt runterrollen. Das wird schmerzhaft! „Einen letzten Wunsch, mein Liebster?“, fragt Thomas laut genug, dass ihn alle verstehen können. Die Bande lacht, einige treten näher und werfen einen Blick nach unten. Es ist wirklich eine steile Abfahrt und unten befinden sich noch ein paar andere Feiernde, von denen einige zu uns raufschauen. „Wenn du mich lieb hast, dann lässt du den Unsinn“, versuche ich ein letztes Mal mein Glück, aber Thomas schwingt als Antwort nur meine Beine hin und her, bis auch Erich einfällt und sie mir somit den nötigen Anschwung geben. „Jamie, Hilfe!“, rufe ich, doch da haben mich die beiden auch schon losgelassen. Ich pralle hart auf der Erde auf, fange an zu rollen und die Welt verschwindet in einem einzigen Strudel aus Farben. Kleine Steinchen bohren sich durch meine Kleidung und bei jedem Hubbel spüre ich einen neuen blauen Fleck. Meine Rufe gehen in einem undeutlichen Geschrei unter, dann werden Stimmen lauter und ich bemerke wie ich auf eine Gruppe von Leuten zurolle, die eiligst versuchen sich und ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Dann pralle ich gegen etwas, meine Tour endet abrupt und mein ganzer Kopf schwirrt. Ich versuche mich zu erheben, aber ich taumle, falle zu Boden und bekomme keinen festen Stand. Alles wirbelt um mich herum und noch immer sehe ich nur Kreise. Über mir höre ich meine Freunde schreien und kreischen. Ich schüttle den Kopf, öffne und schließe die Augen, langsam klärt sich meine Sicht. Erneut versuche ich aufzustehen, aber ich trete auf etwas Weiches, stürze zu Boden und reibe mir stöhnend das Kinn. „Bist du okay, Mann?“, werde ich gefragt, dann packen mich zwei kräftige Hände, ziehen mich auf die Beine und halten mich fest, bis ich aufhöre zu schwanken und die Welt endlich wieder still steht. „Danke, alles Bestens“, antworte ich. „Blaue Flecken verschwinden ja wieder.“ Er lacht, lässt mich los und seine Leute kommen näher, klopfen mir aufmunternd auf die Schulter. Einer drückt mir ein Bier in die Hand, lacht tief und deutet zum Hügel, von dem ich gerade gekommen bin. Ich blicke rüber und sehe wie sich nun auch ein paar meiner Kumpels herunterrollen. Lautes Geschrei und Gelächter ist zu hören. „HEY, RAPHA! ICH KOMM ZU DIR!“, höre ich Thomas brüllen. „NEIN! BLEIB GEFÄLLIGST OBEN, ARSCHLOCH!“, schreie ich zurück, aber da reißt er schon die Arme hoch, legt sich auf den Boden und lässt sich von Jamie Starthilfe geben. Dann ist er nur noch eine einzige lange Farbstange, die Undefinierbares kreischt. „Verrückte Kerls“, kommentiert einer der Jungs, die neben mir stehen. „Wer seid ihr?“ „Ich bin Raphael“, stelle ich mich vor, ergreife die ausgestreckte Hand. „Und das sind Freunde von mir. Silvesterparty“, gebe ich dann Auskunft, trinke von dem Bier, dass ich in der Hand halte. „Ich bin Oliver“, stellt sich mein Gegenüber vor. „Chris, alles klar?“, höre ich hinter mir und wende mich um. Ein Junge kniet auf dem Boden, hält sich den Magen und gibt röchelnde Laute von sich. „Den hast du umgehauen“, klärt mich Oliver neben mir auf. Langsam trete ich auf den Knienden zu, lege meine Hand auf seinen Rücken und schaue ihm in die Augen, als er kurz seinen Blick hebt. Er sieht elend aus. „Sorry, Mann. War keine Absicht. Geht’s?“ Er nickt und erbricht sich keine Sekunde später. „Raphaaaa“, quietscht es, ich blicke mich um, erkenne Thomas wie er torkelnd durch die Gegend streift, die Hände weit von sich gestreckt. „Alter, hilf mir.“ Lachend gehe ich auf ihn zu, packe ihn an der Hand und drücke ihn an Ort und Stelle zu Boden. Dann schlage ich ihm mehrmals auf die Wange. „Selbst schuld. Du hast damit angefangen.“ „Aber das ist sooo lustig“, grinst er, sein Oberkörper dreht sich hin und her und seine Augen stieren konkret an mir vorbei, irgendwo ins Nichts. Er hat einen ordentlichen Dreher. Einige der anderen Jungs rollen den Berg gerade zum zweiten Mal herunter. Offenbar haben die alle zu viel getrunken. „Warte hier, okay?“ Damit kehre ich zu dem kotzenden Jungen zurück, der schon leicht glasige Augen hat. Der hat scheinbar auch zu viel gebechert. Ich streiche ihm die Haare aus dem Gesicht, ziehe ihn in Richtung Gebüsch, als für einen Moment nichts mehr aus ihm rauskommt. „Hab ich dir wehgetan?“, erkundige ich mich bei ihm. Er schüttelt den Kopf, deutet dann aber auf seinen Knöchel, auf dem man den schwachen Abdruck eines Schuhs erkennen kann. „Tut mir leid. Wir haben oben Eis in der Kühlbox.“ Ich kehre zu Thomas zurück, der sich in der Zwischenzeit bei Oliver und seinen Jungs vorgestellt hat und wieder eine Bierflasche in der Hand hält. „Ach ihr geht noch zur Schule. Wie süß“, höre ich ihn gerade sagen, gebe ihm einen Klaps auf den Kopf und erkläre Oliver dann, dass ich Eis für Chris’ Fuß hole. Thomas nutzt diese Gelegenheit um die gesamte Mannschaft zu uns einzuladen und gemeinsam stiefeln wir den Berg wieder hoch. „Bei uns in der Mannschaft stecken fast alle schon in einer Ausbildung drin“, erklärt Thomas den anderen, dann geht das große Who-is-who los und unsere Gruppe vergrößert sich um Olivers gesammelte Truppe. Ich seile mich ab, gehe zur Kühlbox und greife mir eine Hand voll Eiswürfel, die ich in einige Servietten verpacke. Jamie kommt auf mich zu, klopft mir auf die Schulter und ich erkläre ihm kurz die Sache mit Chris. Gemeinsam mit meinem kleinen Bruder laufe ich den Hügel wieder runter. Allerdings ist Chris nicht mehr da, wo ich ihn zurückgelassen habe. Stattdessen ist er vornüber in seine eigene Kotze gefallen. „Uh, wie eklig“, kommentiert Jamie passender Weise, zieht Chris auf freie Fläche. Ich nehme mir einen Eiswürfel, drücke den Rest Jamie in die Hand und streiche dann immer wieder über das Gesicht des Jungen, um so die Spuren seines Erbrochenen wegzuwischen. „Gib mir mal das Handtuch, das hinter dir liegt.“ Jamie tut wie ihm geheißen, drückt dann unseren provisorischen Eisbeutel wieder auf den verletzten Knöchel des anderen. Mit dem Handtuch wische ich Chris durchs Gesicht, mache ihn langsam sauber und schlage ihn dann vorsichtig wach. „Kannst du laufen?“ Ich bekomme keine Antwort. „Wir schleppen ihn am besten zu den anderen“, bestimme ich, greife unter Chris’ linken Arm, warte bis Jamie sich den anderen um den Nacken gelegt hat. Gemeinsam schleppen wir den halb bewusstlosen Jungen die Anhöhe rauf, tragen ihn ein Stück weiter und lassen ihn dann auf einer Decke liegen. Ich schaue mich in der Runde um und seufze schwer. Hier sind alle so besoffen, dass ich froh sein kann, wenn ich Chris nachher nicht nach Hause schleifen muss. --- Kapitel 5: Unfallopfer die keine sind (2000) -------------------------------------------- 5. Kapitel - 2000 „Möchtest du noch Kaffee, Rapha?“ „Nein, danke“, wehre ich ab, stürze den Rest der braunen Brühe hinunter und kaue an meinem Brötchen herum. „Ich muss los.“ Jamie nimmt mir meinen Becher und das Brettchen ab, stellt alles auf die Spüle und lässt das Wasser ein. Gerade als ein Klecks Spülmittel darin landet, rausche ich aus der Tür. Im Wohnzimmer sammle ich die schmutzige Wäsche ein, stopfe sie in den Korb in meinem kleinen Badezimmer und putze mir in Rekordzeit die Zähne. Bevor ich das Schlafzimmer verlasse, werfe ich noch einen Blick auf den schlafenden Jungen in meinem Bett. Das Kissen liegt vollkommen zerdrückt unter ihm, die Decke hat er kurzerhand runter getreten. Sein Gesicht liegt direkt in der Sonne und ein schwaches Lächeln zeichnet sich bei ihm ab. Ich trete näher an ihn heran, streiche ihm das zerzauste, leicht fettige Haar aus der Stirn, hebe die Decke auf und werfe sie ihm wieder bis zur Hüfte über. Einen Moment lang betrachte ich sein Profil. Es kommt mir seltsam vertraut vor. Diesen Gedanken schüttle ich ab und mache mich endlich auf den Weg zur Arbeit. Draußen liegt noch ein wenig Schnee, der unter meinen Schuhen knirscht. Ich verfluche mich dafür, dass ich meine Handschuhe nicht mitgenommen habe, denn jetzt friere ich mir die Finger ab. Auf dem Weg zum Club begegnet mir Bernhard Vogel, den ich allerdings nur flüchtig grüßen kann. Er ringt mir im vorbeigehen aber das Versprechen ab, mich in der nächsten Zeit mal wieder bei Familie Vogel blicken zu lassen. Guter Laune, renne ich durch die Straßen, biege um Ecken und renne dabei mehrmals fast jemanden um. Schließlich stehe ich aber vor dem BlackRaven, krame den Schlüssel aus meiner Tasche und schließe auf. Drinnen ist noch alles Dunkel. Ich belasse es dabei. Vorsichtig schlängele ich mich durch die Tischreihen ins Büro, schalte den Computer an und während dieser hochfährt, mache ich die ersten Handgriffe an der Bar. Ich hole die Flaschen rauf, räume sie ins Regal und fülle den Kühlschrank wieder auf, sehe nach ob noch genug Früchte für die Cocktails da sind. Erich kommt irgendwann herein, verschwindet im Büro und dann kann ich die ersten Tastaturgeräusche vernehmen. Ich selbst stelle die Stühle runter und wische die Tische ab. In nur einer Stunde wird wieder eröffnet. „Wo ist der Kleine?“, fragt Erich hinter mir. „Er kommt nach. Wir haben ein Unfallopfer zu Hause.“ Erich nickt, schaltet überall die Lichter an und kontrolliert mit routiniertem Blick die Einrichtung. Danach verschwindet er wieder am PC und widmet sich seinen administrativen Aufgaben. „Guten Abend!“ „Hallo Frank“, grüße ich den breitschultrigen Mann, der soeben das Lokal betreten hat. Er ist unser Türsteher, der in der letzten Zeit tatsächlich viel zu tun hat. Ob es an Weihnachten liegt oder einfach daran, dass die Bar für längere Zeit geschlossen war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Er verschwindet in den angrenzenden Umkleideraum und ich höre sein fröhliches Pfeifen. Im Dunkeln kann er einem Angst machen, aber er ist wie ein riesiger Teddybär. Beeindruckend groß, aber mindestens genauso plüschig. „Gibt es besondere Anweisungen für heute?“ „Nein. Alles wie gehabt.“ Frank nickt, lässt sich von mir mit einem dankbaren Lächeln eine Cola einschenken und dann versinken wir in einer angenehmen, wie auch nichts sagenden Unterhaltung. Er ist ein netter Zeitgenosse, aber wir stammen aus verschiedenen Welten. Frank ist sehr behütet aufgewachsen und er vertritt viele Ansichten, die ich nicht gutheißen kann. Privat kommt man sich so nicht näher, aber wir können in einem freundschaftlichen Ton miteinander reden und ein Arbeitgeber-Angestellten-Verhältnis hat auch nie geschadet. „Ich bin da!“ „Wo warst du denn, Jamie? Die Küche wartet!“, blicke ich auf, halte dann aber inne und starre den Jungen hinter meinem kleinen Bruder an. Missmutig verziehe ich die Augenbrauen. „Warum hast du ihn mitgebracht?“ Jamie tippt mir gegen die Brust, die Augen zu Schlitzen verengt. „Du wolltest doch nicht, dass er alleine zu Hause bleibt. Außerdem ist er aufgewacht, als du gerade zur Tür raus warst. Da habe ich ihn ein bisschen aufgepäppelt. Wo sollte ich denn sonst mit ihm hin?“ „Er sollte nach Hause!“ „So ein Unsinn!“, wehrt Jamie ab, zieht den Jungen zu sich heran. „Sieht doch ein Blindfisch, dass er gerade da nicht wieder hin will!“ „Wir sind kein Armenhaus, Jamie. Und Streuner kann ich gar nicht leiden!“, bleibe ich stur, winke Frank zur Arbeit. Der Hüne erhebt sich, dreht das Schild von ‚geschlossen’ auf ‚geöffnet’ und bezieht dann Stellung vor der Tür. Wir haben noch eine Viertelstunde, aber so genau nehmen wir es nie. Erich kommt aus dem Büro, nickt Jamie zu und reicht mir dann ein paar Papiere. Eine Bestellungsliste, wie ich feststellte. Eine Seite gebe ich an meinen Bruder weiter, der wutschnaubend in der Küche verschwindet. Ich seufze. „So ein Scheiß“, murre ich leise, werfe Erich einen gequälten Blick zu, doch mein stummer Freund lässt sich nur zu einem hämischen Grinsen herab. Klasse. „Chris, nicht wahr?“ „Äh… ja…“, bestätigt der Blondschopf. Wobei seine Haare eher einen hellen Braunton haben. In der Sonne wirkte es blond. Ich schüttle den Kopf. „Weißt du wie du von hier zu dir nach Hause kommst?“ „Ich denke schon…“ „Dann verschwinde“, maule ich ihn an, zapfe das erste Bier und stelle es dem verwunderten Jungen vor die Nase. Frank lässt nach und nach die erste Kundschaft herein und ich widme mich voll und ganz meiner Arbeit an der Theke, während Erich die Essensbestellungen aufnimmt und Jamie weitergibt. „Aber…“, legt Chris Einspruch ein, den ich mit einem grimmigen Blick unterbinde. „Nix da! Du hast bei uns gepennt, geduscht und du hast meine Klamotten an, dass reicht vollkommen an Nächstenliebe. Also sieh zu das du Land gewinnst.“ Damit ist diese Sache für mich gegessen und ich ignoriere es einfach, wie Chris wie ein bockiger Esel auf seinem Hocker sitzen bleibt. Die ersten zwei Stunden bin ich alleine, danach taucht Nadine auf, die für kurze Zeit in der Umkleide verschwindet und sich dann ebenfalls hinter den Tresen stellt und mit anpackt. Nadine ist ein unglaublich liebes Mädchen, die mir beim Vorstellungsgespräch sofort gefallen hat. Am Anfang war sie noch etwas ungeschickt, aber bereits nach der ersten Woche konnte ich sie als echte Bereicherung bezeichnen. Nach der Arbeit haben wir oft noch zusammen einen getrunken und sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen. „Du bist ja immer noch hier“, brumme ich einige Zeit später, als ich etwas Luft habe und mich wieder meinem schweigenden Problem widmen kann. Chris blickt beinahe störrisch zu mir auf. „Wenn ich gehen soll, dann brauche ich meine Kamera.“ „Deine Kamera?“, frage ich irritiert nach, denn weder heute, noch bei der Party habe ich bemerkt, dass er eine Kamera dabei hatte. Wäre natürlich ein absoluter Glücksgriff, wenn ich die bei der schwachsinnigen Aktion von Thomas und Erich platt gewalzt hätte. Kurzerhand erkläre ich meinen Bruder als meinen Lebensretter und statte ihm einen Besuch in der Küche ab. Jamie ist gerade dabei Fritten aus dem Fett zu ziehen und blickt eher überrascht zu mir auf. Dann strahlt er. „Sau geil diese Küche“, meint er. „Hast du eine Kamera bei Chris bemerkt?“, frage ich ihn rundheraus. Einen Moment überlegt er, doch schließlich erhellt sich seine Mine und ich will schon erleichtert aufatmen. Allerdings macht Jamie mir dann doch einen Strich durch die Rechnung. „Ja, einer von seinen Freunden hat sie mir in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle sie auf jeden Fall mitnehmen und wie einen Schatz hüten. Sie steht noch auf dem Regal im Wohnzimmer. Allerdings sah sie schon lädiert aus, als ich sie bekommen habe.“ „Mist!“, fluche ich, werde jedoch von Nadine gerufen und mache mich erst einmal wieder an die Arbeit. Zwischen einem Bier und einer Spezi teile ich Chris Jamies Antwort mit und seine Mine erhellt sich. „Klasse! Dann bleibe ich hier und hole sie später ab. Deine Sachen kannst du auch gleich wieder haben.“ Das passt mir gar nicht, aber ich habe letztendlich keine Wahl und stimme zu. Meine Aufmerksamkeit wird von Chris abgelenkt, als die Tür aufgerissen wird und ein stark betrunkenes Mädchen hereingestürmt kommt. Sie lallt lauthals irgendeinen Unsinn und holt sogar aus um Nadine eine zu scheuern, als sich Franks massiger Körper dazwischen schiebt und sie wieder nach draußen befördert wird. „Alles okay bei dir?“, frage ich zur Sicherheit bei Nadine nach und bemerke einen blutigen Kratzer an ihrer Wange. „Brennt ein bisschen, aber es geht“, lacht sie, wischt sich das Blut mit einer Serviette ab. „Halb so schlimm, ich kann ja noch arbeiten.“ „Rapha, penn nicht! Die Leuten wollen was zu trinken!“, schreit Jamie aus der Küche, deutet auf die voll besetzte Theke und ich beeile mich, den Bestellungen nachzukommen. Scheinbar hat Erichs neue Werbung sehr gut eingeschlagen, denn der Laden ist brechend voll. Auch draußen stehen die Leute beharrlich Schlange. Ich sehe die Überstunden förmlich anfliegen. „Kann mal einer Thomas anrufen?“ „Geht nicht, der ist auf einer Nachtwanderung!“ „Warum das denn?“, frage ich irritiert, schenke ein Bier nach dem anderen ein. „Das macht man so im Kindergarten“, grinst Erich mir zu, reicht Jamie die nächsten Bestellzettel und geht mir ein wenig zur Hand. Aber auch nicht wirklich lange, denn dann muss er schon wieder das Essen servieren. „Was ist mit Martina?“, gehe ich meine mentale Liste durch, doch auch diesmal verneint Jamie. Martina bereitet sich derzeit auf ihre Abschlussklausuren vor. Verdammtes Abitur. „Soll ich dir helfen?“ Verwundert drehe ich mich zu Chris um, der dasitzt und mich einfach anstarrt. Er hat Hundeaugen, denke ich in diesem Moment und will gerade zum sprechen ansetzen, als Nadine schon zustimmt und ihm eine Schürze zuwirft. „Was wird das?“, keife ich sie an, doch sie reagiert nur mit einem drohenden Zeigefinger. „Wir brauchen heute Hilfe und wenn er will, dann wird es ja wohl gehen. Ihr kennt euch doch! Ich zeig ihm einfach was er machen soll, dann klappt das schon!“ Jeglicher Protest bleibt mir im Hals stecken, als sich die beiden an die Arbeit machen. Viel zu schnell werde ich von den neuen Bestellungen abgelenkt. Erich legt eine andere Musik auf, hastet in seinem merkwürdigen Schritt durch die Reihen, stellt Teller ab, nimmt wieder welche auf. Mit einem Mal bleibt er vor mir stehen. „Tanzraum“, ist das Einzige, das er sagt. „Bloß nicht“, ist meine Antwort darauf. --- Es ist bereits fünf Uhr früh, als Frank den letzten betrunkenen Gast nach draußen und auf den Heimweg befördert. Jamie lehnt sich erschöpft an den Tresen, Erich kippelt auf einem Stuhl herum und Nadine ist mit Chris in ein leises Gespräch vertieft. Auch unter ihren Augen zeigen sich die ersten Ringe. „Feierabend“, verkünde ich und alle brechen in sich zusammen. Erich rutscht erschöpft vom Stuhl, Frank lässt sich auf einen leeren Bierkasten sinken, Jamie legt sich einfach platt auf die Theke, Nadine seufzt laut und reißt sich die Schuhe von den Füßen, während Chris die Augen schließt und sich die Schläfen massiert. „Gute Arbeit, Leute! War ein erfolgreicher Abend!“, spreche ich ihnen mein Lob aus. Erich nickt bestätigend, macht einen Schlenker mit der Hand, der mir andeutet, ich solle fortfahren. „Es gibt auf jeden Fall den vereinbarten Zuschuss und einen Urlaubstag extra.“ „Vielleicht sollten wir doch noch jemanden einstellen“, wirft Nadine ein, massiert sich die Fußsohlen und wirft einen fragenden Blick in die Runde. „Als Servicekraft auf jeden Fall. Wie ist es in der Küche?“ „Ein gelernter Koch schafft es bestimmt besser als ich. Ansonsten würde ich zwei Leute einstellen“, antwortet Jamie leise, stöhnt gequält auf und deutet auf seine Schultern. „Rapha, massier mich.“ Ich trete zu ihm, richte ihn auf und schwinge mich hinter ihn auf den Tresen, beginne mit meiner Massage. Dann spreche ich Frank an. „Brauchst du noch jemanden?“ „Nein. Bisher ist nichts passiert, ich glaube das wird auch so bleiben.“ „Und das Mädchen heute?“, meldet sich Erich nun zu Wort. „Die ist mir durch die Finger geschlüpft. Hat ihre Jacke dagelassen“, er zeigt seine Beute hoch. Ich winke ab. Noch ist tatsächlich nie etwas passiert, aber den Gedanken werde ich auf jeden Fall im Kopf behalten. „Wir sollten vielleicht direkt zwei neue Leute einstellen.“ Erich nickt, deutet auf seinen Kopf und lässt sich wieder erschöpft nach hinten fallen. Auch er hat sich eine innerliche Notiz gemacht. Keiner verspürt den Drang aufzustehen und aufzuräumen und so verplempern wir eine Stunde mit Nichtstun. Jamie lehnt sich irgendwann gegen mich, lächelt etwas verträumt zu mir herauf und spielt mit einer meiner Haarsträhnen. „Tut mir leid, Nadine“, entschuldigt sich Frank, bei der Blondine, die allerdings lachend abwinkt. Die beiden plaudern eine Weile miteinander, bis Frank sich schließlich verabschiedet und ich sie gemeinsam nach Hause schicke. Das Aufräumen schaffe ich zur Not auch alleine. Aber Erich und Jamie sind ja auch noch da. Und Chris. Missmutig werfe ich einen Blick zu dem Jungen herüber, der scheinbar ein friedliches Nickerchen hält. „Wir nehmen ihn heute wohl wieder mit zu uns, was?“, lacht Jamie leise. „Scheint so“, brumme ich ungehalten, gebe meinem kleinen Bruder einen Klaps auf den Bauch, der ihn zusammen zucken lässt. Es herrscht angenehmes Schweigen. Es war ein erfolgreicher erster Tag. Ich bin zufrieden. Erich erhebt sich etwas schwerfällig, macht sich an der Kasse zu schaffen und nimmt die heutigen Einnahmen mit sich ins Büro, in dem er sich kurzerhand einschließt. Er wird der Letzte sein, der heute geht. „Na kommt, räumen wir auf.“ Ächzend machen wir uns an die Arbeit. Jamie bringt seine Küche wieder auf Vordermann, während ich die Tische wische und die Stühle hochstelle. Bei dem Lärm wacht Chris schließlich auf. Er gähnt herzhaft, greift sich aber ohne jedes Wort den Besen und beginnt mit dem Auskehren des Lokals. --- „Braucht noch jemand was zu trinken?“ Chris und ich schütteln wortlos den Kopf. Keinem von uns steht jetzt nach etwas anderem der Sinn als nach dem warmen Bett. Jamie verabschiedet sich mit einem schwachen Winken auf die Schlafcouch. Ich öffne die Schlafzimmertüre, reiße mir augenblicklich das Hemd herunter und pfeffere es in die nächstbeste Ecke. Als ich an meinem Hosenknopf nestle, prallt Chris gegen mich, wirft mich nach vorne. Etwas unsanft lande ich auf meinem eigenen Ellenbogen. „Autsch.“ „Sorry, hab dich nicht gesehen“, entschuldigt sich Chris bei mir, rollt sich zur Seite sodass ich wieder problemlos atmen kann. „Wollte kein Licht machen.“ Wortlos knipse ich die Nachttischlampe an, werfe ihm einen grimmigen Blick zu, der allerdings an Härte verliert als ich ihn vollkommen entspannt daliegen sehe. Er hat die Augen geschlossen, atmet ruhig, während seine Finger ineinander verschlungen auf seinem Bauch ruhen. Er hat ein sehr schönes Profil. Erschrocken zucken wir zusammen, als mein Handy klingelt. Überrascht starrt Chris mich an. Ich greife nach dem Gerät, klappe es auf und bekomme bei der angezeigten Nummer beinahe einen Herzkasper. „Zack“, flüstere ich atemlos und kann sein Grinsen förmlich riechen. „Hi Rapahel! Wie schön, dass du noch wach bist!“ „Warum rufst du an?“ „Wollte dir nur zur Neueröffnung gratulieren. War es ein Erfolg?“ „Ja.“ „Freut mich für dich! Sag mal… kann ich dich besuchen kommen?“ Verdutzt starre ich auf den Teppich zu meinen Füßen. Ich höre wie Jamie hereinkommt, er entreißt mir das Handy und wirft mir einen wütenden Blick zu. „Zack, wie schön das du anrufst.“ Ehe ich ihn aufhalten kann, ist er wieder aus der Tür verschwunden und lehnt sich dagegen, damit ich ihm nicht folgen kann. Nach mehrmaligen Versuchen sie zu öffnen, lasse ich es bleiben. „DAS IST SCHEIßE, JAMIE!“, brülle ich, donnere meine Faust gegen den Rahmen, werfe mich in völliger Frustration neben Chris auf das Bett. „Verfluchte Kacke…“ Zack war nie gut auf Jamie zu sprechen, aber nachdem die beiden sich ein paar Mal getroffen haben, beruht das nun auch auf Gegenseitigkeit. Beide haben etwas dagegen, dass ich mich mit dem jeweils anderen beschäftigte. Eine starke Belastung für mich, denn ich will mich zwischen meinem Bruder und dem Mann, den ich liebe, nicht entscheiden. Ich zucke zusammen, als ich eine Hand auf meinem Arm spüre und reiße mich von dieser Berührung los. Aus zusammengekniffenen Augen sehe ich Chris an, der beschwichtigend die Hände hebt. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber…“, murmelt er. „Schon gut.“ Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis Jamie endlich wieder zurück kommt und mir mein Handy zurückgibt. Das Gespräch ist noch nicht beendet, also melde ich mich wieder. „Zack?“ „Jamie mag mich wohl genauso wenig wie ich ihn“, sagt Zack mit einem leisen Lachen. „Was hat er gesagt?“ „Er hat mich nur freundlich daran erinnert, dass er mir den Arsch aufreißen wird, wenn ich dir wieder wehtun sollte. Woraufhin ich ihm gesagt habe, dass ich ihm seinen kleinen Hals umdrehe, wenn er sich zwischen uns stellt.“ Bei diesen Worten durchzuckt es mich eiskalt und ich greife intuitiv nach Jamies Hand, der noch immer vor mir steht und sich jetzt auf meinen Schoß sinken lässt. Er lehnt seinen Kopf an meine Schulter. „Ich bring ihn um, wenn er dir nochmal wehtut“, flüstert er mit rauer Stimme. „Wirst du trotzdem kommen?“, frage ich Zack, drücke Jamies Hand fester. „Wenn du mich sehen willst.“ „Will ich.“ „Schön… Hast du nächstes Wochenende Zeit?“ „Ich muss arbeiten.“ „Dann sag mir einen Tag.“ „Hm… nächsten Monat habe ich vielleicht wieder Zeit. Ich melde mich bei dir, okay?“ „Tu das. Und Rapha?“ „Ja?“ „Ich vermisse dich.“ Ehe ich zu einer Antwort ansetzen kann, hat Zack auch schon wieder aufgelegt. Jamie nimmt mir das Handy aus der Hand, legt es auf den Nachttisch und schaut mich aus traurigen Augen an. Er küsst mich sanft auf Wangen und Stirn, streicht mir langsam durch die Haare. „Es reicht“, brumme ich, schiebe Jamie sanft von mir und werfe einen mahnenden Blick zu Chris, der das Schauspiel mit großen Augen verfolgt. „Chris muss schlafen.“ „Du auch. Und denk nicht mehr darüber nach“, erwidert Jamie, erhebt sich und wünscht uns beiden eine gute Nacht. Dann bin ich mit dem sprachlosen Chris alleine. „Seid ihr zusammen?“ Entnervt rolle ich mit den Augen, schubse Chris nach hinten auf die Matratze, ziehe mir endlich meine Hose aus und schlüpfe unter die Decke. „Wir sind Brüder, okay?“ „Dann habt ihr beide einen starken Bruderkomplex.“ „Halt endlich die Fresse!“, keife ich. „Du kennst uns nicht und hast keine Ahnung von unserem Leben, also halt bloß die Füße still, sonst schmeiß ich dich raus!“ Chris zuckt unter meiner wütenden Stimme zusammen, schlüpft schnell aus seinen Sachen und versteckt sich unter der Decke. Ein wenig ängstlich, aber genauso trotzig schaut er von unten her zu mir auf. „Tut mir leid“, sagt er, doch ich kaufe ihm das nicht ab. „Morgen bringe ich dich persönlich nach Hause“, entgegne ich ihm, drehe mich um, lösche das Licht und mache endlich die Augen zu. Auch Chris legt sich zurecht. Dann ist es still und ich lausche auf seinen ruhigen Atem. Bald folgt ein leises Schnarchen. Noch immer liege ich wach und denke an Zack. Ich will ihn. Und ich werde ihn immer wollen, egal was mir Jamie und auch Thomas ans Herz legen. Ich liebe ihn! --- „Guten Morgen.“ Jamie blickt auf, als Chris in die Küche geschlichen kommt und reicht ihm gleich eine frische Tasse Kaffee, die der andere jedoch dankend ablehnt. „Ich trinke nur Tee.“ „Rapha macht dir gleich Einen.“ „Mach ich?“, frage ich gelangweilt nach, erhebe mich jedoch artig, als ich Jamies vernichtenden Blick bemerke. Chris lässt sich prompt auf meinen Stuhl fallen und wird von meinem kleinen Bruder in ein Gespräch verwickelt. „Hast du gut geschlafen?“ „Ja, danke.“ „Prima!“, freut sich Jamie. „Deine Kamera ist übrigens im Wohnzimmer. Sie ist nicht verloren gegangen, aber sie sieht etwas lädiert aus. Tut mir leid.“ Ich spanne mich unwillkürlich an und überlege, wie viel mich so eine Kamera kosten wird und rechne schon mit Unsummen, als Chris beinahe teilnahmslos mit den Schultern zuckt. „Das ist okay. Sie ist ein Erbstück. Ich meinte eigentlich eine neue Kamera von Samsung. Die war in einer schwarzen Tasche, die ich dabei hatte.“ Jamie wirft mir einen fragenden Blick zu, den ich ebenso beantworte. An eine schwarze Tasche kann ich mich gar nicht erinnern. Ob Oliver und seine Leute vielleicht etwas darüber wissen? „Ruf mal Thomas an, vielleicht weiß der was davon.“ Jamie greift nach dem Telefonhörer neben sich, drückt die entsprechende Kurzwahltaste und trommelt dann in einer inneren Unruhe auf die Tischplatte. Er wirft Chris einen aufmunternden Blick zu. Ich fülle Wasser in die Tasse, halte unserem kleinen Anhängsel die verschiedenen Teesorten hin und er entscheidet sich letztendlich für schwarzen Tee. Beim Zucker verneint er, also stelle ich ihm die Tasse auf den Tisch und reiche ihm ein Messer und einen Teller. Ich verscheuche Jamie von seinem Stuhl, setze mich darauf und mein kleiner Bruder nimmt auf meinem Schoß platz. Er überlässt mir das Telefon, während er für mich ein Brot schmiert. Nach einer schieren Unendlichkeit meldet sich Thomas verschlafene Stimme. „Hast du die Nummer von Oliver?“, frage ich ohne Umschweife. „Was? Wer?“ „Oliver. Silvester. Nummer“, fasse ich kurz zusammen. „Hm… warte…“ Ich höre undeutliches Rascheln, dann ein Brummen. Endlich meldet sich Thomas wieder und verneint. Er habe keine Nummer von den anderen Jungs, könne sich auch an keine Tasche erinnern. Ich verabschiede mich und lege auf. „Thomas hat keine Nummer. Hast du keine? Du warst doch mit denen zusammen“, wende ich mich an Chris, der mich über den Rand seiner Tasse hinweg ansieht. „Ich habe sie zufällig getroffen.“ „Dann gehen wir nachher einfach noch mal in den Park und schauen da. Vielleicht haben wir Glück“, startet Jamie einen neuen Versuch. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir dort etwas finden werden, aber ein Blick kann durchaus nicht schaden. Auch wenn es mir missfällt, dass ich Chris dadurch noch länger um mich habe, als ich eigentlich wollte. „Ich mach das alleine“, murmelt Chris leise, schlürft an seinem Tee und schaut nervös zwischen uns hin und her. Entweder sind wir ihm nicht ganz geheuer oder er vermutet, dass wir kleine Jungs in die Bratpfanne hauen und essen. „Auf keinen Fall“, bestimme ich kurzerhand. „Ich hab gesagt, dass ich dich heute persönlich zu Hause absetze und das werde ich auch tun. Hast mir schon genug Probleme bereitet.“ Missmutig verzieht Chris die Lippen, erwidert allerdings nichts. Von Jamie bekomme ich allerdings einen Klaps gegen die Stirn. „Sei gefälligst nett.“ „Ich bin nett!“ „Garstiger Gnom!“, zischt Jamie, erhebt sich von meinem Schoß und räumt seine Tasse weg. Dann verschwindet er aus der Küche. Ich seufze lediglich und schüttle den Kopf über meinen kleinen, schnell eingeschnappten Bruder. Ich frühstücke in Ruhe zu Ende, erhebe mich und räume den Tisch ab, während Chris noch immer schweigend dasitzt und seine nun leere Tasse festhält. Wie schon zweimal zuvor fällt mir sein hübsches Profil auf. Seine Wangen wirken weich, beinahe noch kindlich, während sein Kinn einen sehr markanten Zug aufweist. Das Haar ist unregelmäßig geschnitten, was zur selben Zeit merkwürdig und anziehend wirkt. Die Nase passt genau zwischen die braunen Augen, deren Wimpern beinahe feminin wirken, so lang wie sie sind. „Ist die Kamera wichtig?“, frage ich leiser als beabsichtigt. „Ich arbeite mit ihr. Ich bin Fotograf.“ Überrascht hebe ich eine Augenbraue. Chris wendet sich mir zu, lächelt sanft und reicht mir seine Tasse, die ich ihm ohne jeden Kommentar abnehme und wegräume. Ich lehne mich an den Küchentresen und denke noch einmal über eine mögliche Rückerstattung nach. Wenn er damit arbeitet, dann ist es beinahe unabdingbar ihm die Kamera zu ersetzen. „Ihr seid ja immer noch hier!“, stürzt Jamie wieder in die Küche. Er hat Jacke, Schuhe und Handschuhe angezogen und seine Tasche in der Hand. Ich bringe ihn jeden Tag zur Schule, scheinbar hat er auf mich gewartet. Ich wuschle ihm kurz durch die Haare, gehe ins Schlafzimmer und ziehe mich richtig an. Chris folgt mir und wir schweigen wieder. Normalerweise macht mir eine solche Situation nichts aus – immerhin bin ich mit dem faststummen Erich befreundet -, aber irgendetwas an Chris macht mich nervös. Etwas fluchtartig verlasse ich den Raum, stoße fast mit Jamie zusammen, als ich den Flur hechte und dort nach meiner Jacke greife. „Ist was?“ „Nein, alles klar.“ Chris kommt uns nach, lächelt sanft, als Jamie ihm seine Kamera in die Hand drückt und er sie zärtlich streichelt. Er ist scheinbar jemand, der in seinem Beruf aufgeht. Der Weg zum Park dauert fast eine halbe Stunde zu Fuß und da Jamie Unterricht hat, liefere ich ihn in der Schule ab, verabrede mit ihm wie es morgen nach meiner Arbeit laufen wird und mache mich mit Chris im Schlepptau erneut auf den Weg. Wieder einmal redet keiner von uns ein Wort. Mit einem Mal höre ich ein Klicken neben mir, wende den Kopf und starre geradewegs in eine Kameralinse. Und noch einmal ein Klicken. Brummend packe ich Chris am Arm, ziehe ihn nahe zu mir, funkle ihn böse an. „Was soll denn der Scheiß?“, frage ich missmutig. „Du bist wunderschön.“ Meine Kinnlade klappt nach unten. Der veralbert mich doch. Ich komme mir wie ein Fisch auf dem Trockenen vor - und er erklärt mir gerade herzallerliebst, ich solle doch einfach atmen lernen. „Sag mal hakt’s bei dir, oder was?“, entrüste ich mich, greife seinen Arm fester. „Das tut weh!“, beschwert er sich auch gleich darauf. Als ob mich das jucken würde. „Ist mir doch egal! Du hast einen Vogel echt! Ich bin froh, wenn ich dich nachher los bin!“, gifte ich ihn weiter an, zerre ihn unsanft über die Wiese, schleife ihn regelrecht hinter mir den Abhang herunter und zu dem Gebüsch wo ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich verfluche diese Begegnung jetzt schon. „Sieh selbst nach deinem Scheiß“, grummle ich patzig, krame nach meiner Zigarettenschachtel, während Chris sich auf alle Viere begibt und sich durch das Gebüsch schlängelt. Dornen reißen ihm die Haut auf, doch er gibt keinen Laut von sich. „Wo ist sie nur?“, höre ich ihn murmeln, aber weder ich, noch seine verlorene Tasche antworten ihm. Ist vermutlich uns beiden zu doof. Ich an der Stelle der Tasche würde auch nicht zu so Einem zurückkommen wollen. „Entweder hat sie ein Penner mitgenommen oder sie ist vom Reinigungsdienst in den Müll geworfen und abtransportiert worden“, sage ich leichthin, doch er reagiert nicht darauf. Stattdessen pflügt er sich weiter durch das Gestrüpp. Mit einem lauten Seufzen trete ich zu ihm, packe ihn und ziehe ihn wieder auf die Beine. Ich betrachte seine zerschrammten Arme und Hände. Als ich auch einen provisorischen Blick auf sein Gesicht wage, kann ich nicht anders als ihm einen Klaps gegen die Stirn zu geben. „Ey, was soll das?“, mokiert er sich, doch ich deute nur an ihm vorbei. „Echt raffiniert, wirklich“, meine ich, trete an ihm vorbei, strecke mich und angle mir schließlich eine schwarze Tasche aus dem Geäst eines nahe stehenden Baumes. „Ist sie das?“ „Ja!“, ruft Chris freudig aus, reißt die Tasche an sich, kontrolliert ihren Inhalt und wir beide sind mehr als nur erleichtert, als wir seine Kamera unversehrt vorfinden. Mit routinierten Handgriffen schaltet er das Display ein, geht die gemachten Bilder nach Fehlern durch. „Was macht die Tasche denn auf einem Baum?“, frage ich ihn, schaue dabei über seine Schulter und sehe eine Reihe von belanglosen Bildern. Die hat er alle auf der Straße gemacht. Irgendwelche Passanten, mehr ist nicht drauf. Dann wechselt die Szene und man kann den Park aus verschiedenen Blickwinkeln sehen. „Da habe ich sie aufgehängt, damit ich sie nicht bei dem Trubel verliere.“ „Hat ja funktioniert. Warte mal!“ Er stoppt bei einem Foto, reicht mir seine Kamera und neugierig betrachte ich das Bild. Ich sehe mich selbst. Scheinbar hat Chris mich von hier unten fotografiert, die Froschperspektive deutet darauf hin. Hinter mir kann man den Mond sehen, dessen Hof verwischt leuchtet. Meine Hände habe ich in meinen Hosentaschen vergraben und irgendwie wirke ich nachdenklich. Vergeblich versuche ich mich an diese Szene zu erinnern. „Wie hast du das gemacht?“, frage ich nach. „Das war vor der Party. Ich saß hier unten und wollte eigentlich den Mond ablichten, aber dann standest du auf einmal im Bild“, murmelt Chris leise, so als ob es ihm peinlich wäre. Jetzt erinnere ich mich aber auch wieder. Ich bin vor all den anderen angekommen und wollte den Platz reservieren. Allerdings fällt mir nicht mehr ein ob ich tatsächlich über etwas nachgedacht habe. Ich schalte durch die nächsten Bilder, die abwechselnd Oliver und seine Freunde oder meinen eigenen Trupp zeigen. Manchmal sind auch Einzelaufnahmen von Personen drauf. Das letzte Bild zeigt Oliver, wie er mit einer hässlichen Grimasse in einen Burger beißen will. Danach kommt eine verschwommene Aufnahme. „Das war dann wohl dein Absturz“, grinse ich Chris an, der rot anläuft und sich wegdreht. „Was machst du mit den Bildern?“, händige ich ihm die Kamera wieder aus, die er vorsichtig in seiner Tasche verstaut. „Ein paar werde ich wohl entwickeln, die anderen lösche ich wieder.“ „Hm.“ Mehr sage ich dazu nicht. Jetzt wird es allerhöchste Eisenbahn den Kerl nach Hause zu bringen. Gemeinsam schlendern wir durch die Straßen. Ich habe jetzt keine besondere Eile mehr, da ich weiß, dass ich Chris gleich abliefern kann. Wir verlassen das Viertel in dem ich wohne, durchqueren die Fußgängerzone und kommen so am anderen Ende der Stadt raus. Oder zumindest fast. Zu Fuß braucht man für diesen Weg etwas mehr als eine halbe Stunde. Allerdings ist es schon ein Unterschied, denn hier beginnt beinahe schlagartig das vornehme Viertel. Schicke Reihenhäuser und neue Bauten. Bei uns ist alles schon etwas älter und heruntergekommener. Man sieht die Spuren der Weltkriege in meinem Viertel. Die Stadt hatte in der Vergangenheit Projekte zur Erneuerung, aber die Bürger haben sich erfolgreich gewehrt. Für viele ältere Menschen befindet sich in diesem Ortsteil ihr ganzes Leben. Sie wollen es nicht anders. „Welche Straße?“ „Heinrich-Heine-Allee“, murmelt Chris, seine Augen versteckt er unter seinem unregelmäßigen Haarschnitt. Er hat absolut kein Rückrad. Bei einem Schaufenster bleibe ich stehen und betrachte mir die Einlagen genauer. Nach eingehender Betrachtung, betrete ich den Laden und lasse den verdutzten Chris unschlüssig stehen. Ich grüße die Verkäuferin, dann schlängele ich mich durch die Regale und greife mir nach kurzer Zeit zwei Computerspiele raus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Spiele die Zwillinge haben wollten, aber ich bin mir fast sicher, dass es diese waren. Da ich allerdings nichts von Falschkäufen halte, zücke ich kurz entschlossen mein Handy und rufe bei Familie Vogel an. Marianne meldet sich und ich spreche mit ihr über die Spiele. Sie bestätigt meine Vermutung und legt mir nahe, die Spiele da sein zu lassen wo sie sind. Ich widerspreche ihr lachend, verabschiede mich und gehe mit meiner Eroberung zur Kasse. Schnell sind die Sachen bezahlt und eingetütet. Chris sieht mich mit großen Hundeaugen an. „Was ist?“, blaffe ich unfreundlich, doch er hebt nur die Schultern und setzt den Weg fort. Ich trete neben ihn, schiebe die Tüte von meiner linken in meine rechte Hand, damit sie nicht störend zwischen uns hängt. Offenbar hat Chris das als Einladung verstanden, denn er hakt sich bei mir unter. Auf meinen grimmigen Blick erhalte ich nur ein strahlendes Lächeln. „Bei dir piept es ganz gewaltig“, murre ich, doch mein Begleiter lacht nur. Gemeinsam biegen wir in seine Straße ein und gehen diese fast bis zum Ende durch, bis Chris endlich anhält und auf eines der Häuser zeigt. Es ist eines dieser Reihenhäuser. Nichts Besonderes, auch nichts besonders Auffallendes. Hübsch ist es dennoch. „Dann auf! Geh klingeln!“, fordere ich ihn auf, aber Chris schüttelt nur den Kopf. „Ich will nicht“, meint er trotzig. „Wie alt bist du denn? Drei?“, schnauze ich, nehme die drei kleinen Stufen in einem Satz und klingele noch ehe Chris mich am Arm festhalten kann. Er wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, den ich mit erhobener Augenbraue beantworte. Von drinnen höre ich Schritte, etwas poltert, dann gibt es ein Klicken im Schloss, die Türkette wird gelöst und endlich geht die Haustür auf und eine Frau mittleren Alters steht vor mir und sieht mich überrascht an. „Hi“, grüße ich knapp, schiebe Chris dann nach vorne. „Ihr Sohn.“ Beinahe sofort geht ein Ruck durch die Frau, sie stürzt vorwärts, reißt Chris in ihre Arme, drückt und küsst ihn, während sie immer wieder überschwängliche Ausrufe macht. „Ich hab mir Sorgen gemacht, Chris! Gott sei dank ist dir nichts passiert!“ „Mum, lass los!“, beschwert sich der Kleine, drückt seine Mutter von sich und richtet in einer störrischen Haltung seine Kleidung. Die eigentlich mir gehört. Verdammt. „Vielen Dank!“, wendet sich die Frau jetzt an mich. Ich werfe einen raschen Blick auf das Namensschild an der Klingel. Berger. „Nicht der rede Wert, Frau Berger.“ „Wollen Sie nicht reinkommen? Ich habe gerade Kaffee gemacht.“ „Vielen Dank, aber ich muss wieder weiter.“ Sie nickt verstehend, reicht mir aber eine Geschäftskarte mit dem Hinweis, dass ich mich jederzeit bei ihr melden soll, wann immer mir etwas einfallen sollte, wie sie mich doch noch entlohnen könne. Als sie ihren Sohn ins Haus ziehen will, wehrt dieser ab und bittet um einen Moment allein. Ich verdrehe die Augen und gehe auf Abstand zu ihm, den er allerdings mit zwei Schritten wieder überbrückt. Er steht direkt vor mir und sieht mich etwas verunsichert an. „Sehen wir uns noch mal wieder?“ „Nur wenn ich es nicht verhindern kann.“ „Das ist gemein!“, mault er. „Das ist ehrlich“, gebe ich zurück, klopfe ihm einmal auf die Schulter und wende mich zum gehen. Doch er packt mich am Arm, zieht mich zurück. Ich brumme ungehalten. „Was denn noch?“ „Ich hab’ deine Sachen“, grinst er. „Behalt’ sie.“ „Ich weiß wo du wohnst.“ Langsam wird es mir etwas ungemütlich. „Und du bist zu blöd um wieder dahin zu finden“, versuche ich ihn einzuschüchtern, doch dieses selbstsichere Grinsen verschwindet nicht, wird nur eine Spur fester. Irgendetwas ist mit der heutigen Jugend schief gelaufen. Der ist doch nicht normal! „Lass mich los.“ „Erst wenn du mir versprichst, dass wir uns wieder sehen.“ „Warum willst du das so unbedingt?“, frage ich ihn nun stark verwundert. Denn wer würde schon freiwillig jemanden treffen wollen, der alles in allem ein recht unfreundlicher Arsch ist? „Ich mag dich.“ Diese Antwort haut mich glatt um. Ich starre Chris einfach nur wortlos an. Sowas passiert mir ja nicht alle Tage und gerade ist meine ganze Schlagfertigkeit ins Nirgendwo entschwunden. Ich versuche mich gegen die Vorstellung zu wehren, dass ich in nächster Zeit wieder mit dem Knirps zu tun haben werde, aber auf der anderen Seite reizt es mich unheimlich, mehr über den Jungen herauszufinden. So jemand wie Chris ist mir wahrhaftig noch nie begegnet. „Chris…“, spreche ich leise, räuspere mich und muss einmal tief durchatmen, bevor ich es wieder wage etwas zu sagen. Doch im ersten Moment, strecke ich nur meine Hand nach ihm aus, greife in seinen Nacken und ziehe ihn näher zu mir. Seine Augen funkeln erwartungsfroh und im Sonnenlicht wirken sie fast golden. „Mach doch was du willst“, brumme ich schließlich, wende mich von Chris ab und marschiere geradewegs nach Hause. Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich Frau Berger hinter einem der Vorhänge. Ihr Blick hat etwas Ablehnendes. --- Puh, Rapahel ist weich geworden, oder? - Und Chris? Er erinnert mich an SpongeBob. Ô.Ô Kapitel 6: Ein Abschlussball für die Gefühle (2000 / 03) -------------------------------------------------------- 6. Kapitel – 2000 (März) Etwas niedergeschlagen mache ich mich über die Erdbeertorte her, die Jamie heute nach seinem Unterricht mit nach Hause gebracht hat. Auch wenn ich ein absoluter Tortenfan bin, kann mich das derzeit nicht besonders gut aufheitern. Seit ich von Zack bereits die dritte kurzfristige Absage erhalten habe, vergrabe ich mich in meiner Arbeit und bade in meinem Selbstmitleid. Keine Entschuldigung hilft mir über den Schmerz in meiner Brust hinweg. Ich will ihn nur endlich wieder in die Arme schließen können. „Ich hoffe du bist heute Abend besser drauf“, nölt Jamie neben mir, steckt seine Gabel in das Tortenstück vor ihm und wirft mir einen besorgten, wenn auch leicht vorwurfsvollen Blick zu. „Ich hab dich vor ihm gewarnt!“ „Lass es“, bitte ich ihn leise, schiebe meinen Teller von mir und seufze einmal. Ich greife nach meiner Zigarettenpackung und will mir eine Kippe herausnehmen, als ich frustriert feststelle, dass bereits keine mehr da ist. „Du hältst nur unnötig an der Vergangenheit fest. Warum konntest du dich von allem lösen, nur von ihm nicht, zum Teufel?“, keift Jamie und ich bemerke wie er ernsthaft wütend auf mich ist. Ruckartig stehe ich auf, pfeffere meine Zigarettenpackung von mir und funkle ihn zornig an. Auch wenn er mein über alles geliebter kleiner Bruder ist, so hat er dennoch kein Recht auf diese Art und Weise mit mir zu reden. „Ich habe mich überhaupt nicht gelöst, okay? Und schon gar nicht von meiner Vergangenheit! Halt dich aus diesen Dingen raus, denn du hast keine Ahnung!“ „Ach nein?!“, brüllt Jamie mir nun entgegen. Auch er ist aufgesprungen. „NEIN!“ Damit rausche ich aus der Küche, knalle die Türe hinter mir zu. Ich bin aufgewühlt, schrecklich nervös und irgendwie auch orientierungslos. Schon seit zwei Monaten geht das so zwischen mir und Jamie. Das Zusammenleben bekommt uns scheinbar kein bisschen. Der April steht vor der Tür, aber ich habe in den vergangenen Wochen weder Zack zu Gesicht bekommen, noch mich mit Jamie versöhnt oder mich auch nur einmal im Back Raven blicken lassen. Erich hat neue Leute eingestellt und mir die Verantwortung für den Laden übertragen. Allerdings werde ich nur dann gebraucht, wenn einer krank wird oder er zu seiner Familie fährt, was er in letzter Zeit recht häufig getan hat. Auch Thomas habe ich nur selten gesehen, weil er mit seiner neuen Ausbildung voll auf beschäftigt ist. Und mein kleiner Bruder treibt sich oft mit seiner Angebeteten herum sodass wir uns nur ab und an über den Weg laufen und dann auch gleich miteinander streiten. Ich komm mir so überflüssig vor. Und einsam bin ich ebenfalls. Lustlos schnappe ich mir meine Jacke, türme aus der Wohnung, die mir in diesem Moment so eng vorkommt und mir die Luft abzuschnüren scheint. Ich kann einfach nicht mehr atmen. Mein Handy klingelt wiederholt in meiner Hosentasche, aber ich habe keine Lust mit jemandem zu reden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es mein kleiner Bruder, von dem ich gerade die Schnauze voll habe. Ziellos wandere ich durch die Straßen, gehe durch die Fußgängerzone und schlendere einfach umher, doch nichts scheint mich wirklich abzulenken. Als mir das Gedränge zu groß wird mache ich mich auf den Weg zu einem nahe gelegenen kleinen Park. Als ich den Eingang erreiche, seufze ich erleichtert und auch befreit auf. Ich rutsche auf dem nassen Gras ein Stück weit hinunter und suche mir im Schutz der Bäume eine Nische, in der ich mich verkriechen kann. Früher habe ich das auch so gemacht. Wenn mir die Dinge zu viel wurden, habe ich mir immer eine Ecke gesucht, in der ich mich verstecken konnte. Zumeist in meinem Kleiderschrank, der schön dunkel war und eine beruhigende Wirkung auf mich hatte. Heutzutage bin ich allerdings zu groß für den Schrank. Ich wünschte, dass ich noch Zigaretten hätte, aber ich bin ohne Geldbörse aus dem Haus gegangen und kann mir keine ziehen. Mein Leben verläuft derzeit in unkontrollierbaren Bahnen. Nichts scheint mehr so recht zu funktionieren. Müde lehne ich mich zurück, lasse die Wolken an mir vorbeiziehen und bemerke wie beiläufig die schwarze Front, die sich rasch auf mich zu bewegt. Regnen wird es also auch noch. Ehrlich, beschissener könnte es gar nicht sein. Vermutlich stundenlang sehe ich der Dunkelheit zu wie sie sich vor meinen Augen ausbreitet. Ich will nicht über mein Leben nachdenken. Denn ich weiß, dass mich alle Überlegungen nur wieder zu einem einzigen Punkt führen werden. Und meinen Vater würde ich am liebsten aus meinem Kopf streichen. Anders als Jamie behauptet hat, habe ich rein gar nichts hinter mir gelassen. Ich lebe einfach nur. Jeden Tag flüchte ich mich in die Routine meiner Arbeit, vermeide so jeden schwachen Moment. Sobald ich allerdings im Bett liege und auf den Schlaf warte, verfolgen mich die Dämonen der Vergangenheit und ich erlebe immer und immer wieder die Schläge und Demütigungen. Ich habe Alpträume, aus denen ich schweißgebadet aufwache. Deswegen schläft Jamie auch auf der Couch im Wohnzimmer. Ich kann es vor ihm geheim halten und ihm die Stütze sein, die er braucht. Auch er träumt hin und wieder schlecht, wälzt sich im Bett und ruft sogar manchmal nach unserer Mutter, aber ich bin jedes Mal bei ihm und wecke ihn auf. Mein Schlaf ist nur leicht. Ein erneutes Handyklingeln reißt mich aus meiner Grübelei und geistesabwesend melde ich mich. Auch wenn ich mir kurz darauf vor Ärger auf die Zunge beiße. „Rapha, mein Gott, wo bist du?“, keucht Jamie in den Hörer und ich vernehme schnelle Schritte im Hintergrund. Mehrere. „Mir geht es gut.“ „Wirklich?“, hakt er noch einmal nach. „Komm nach Hause, ich mache mir Sorgen!“ „Ist gut. Ich komme“, lege ich auf, erhebe mich mit steifen Gliedern, die ich einmal in alle Richtungen hin ausstrecke. Jetzt erst bemerke ich meine kalten Finger. Ich vermeide den Blick auf die Uhr. Eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Eher schlurfenden Schrittes mache ich mich auf den Heimweg. Es hat mir nichts gebracht mich zu verstecken. Keines meiner Probleme hat sich auch nur um einen Deut verändert. Mit schwerem Herzen biege ich nach einer halben Ewigkeit in meine Straße ein und zucke bei dem markerschütternden Schrei zusammen, der beinahe gleichzeitig mit meinem Auftauchen ertönt. „RAPHA!“, brüllt mein kleiner Bruder, stürmt mir entgegen und reißt mich fast von den Füßen, als er sich mir überschwänglich in die Arme wirft. Ich drücke ihn fest an mich und erinnere mich mit einem Mal daran, dass er erst zarte sechzehn Jahre alt ist. Er kommt mir manches Mal so erwachsen vor, doch im Grunde ist er noch ein Kind. „Es tut mir leid“, flüstere ich ihm ins Ohr, küsse sein Haar. „Nein“, heult er und ich spüre die ersten Tränen auf meiner Schulter. „Mir tut es leid. Ich hätte dich nicht dauernd so anmachen dürfen.“ „Schon gut“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Du bist eben wie ich“, lache ich dann, streiche ihm die Tränen von den Wangen. „Ich mach mir doch auch nur Sorgen um dich.“ Jamie lacht, schmiegt sich an mich und murmelt immer wieder seine Entschuldigungen. In diesem Moment bin ich glücklich und alle Schwere weicht aus meinen Gliedern. Ich habe einfach vergessen, dass ich einen Bruder habe, dem ich viel bedeute und für den ich da sein muss. Er vergöttert mich ebenso wie ich ihn. Kein Wunder, dass wir uns da ins Gehege kommen, wenn wir dauernd versuchen alles richtig zu machen. „Verzeih mir, Jamie, ich lauf nicht wieder weg, versprochen“, raune ich ihm zu, spüre sein Nicken. Gott, ich liebe diesen Jungen wie keinen anderen Menschen. Ohne meinen Bruder wäre ich ein nichts. „Okay, okay, es tut euch beiden leid, alles ist wieder in Butter. Also hört endlich auf oder ich fang auch noch an zu heulen“, mischt sich Thomas ein, drängt sich an meine Seite, versetzt mir einen freundschaftlichen Rippenstoß und für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht tatsächlich etwas in seinem Augenwinkel habe aufblitzen sehen. „Mensch, Alter, mach das nie wieder!“, beschwert er sich jetzt bei und ist redlich darum bemüht eine saure Miene zu ziehen. „Hast mir einen halben Herzkasper beschert.“ „Schon gut!“, wehre ich ihn ab, betrete endlich die Wohnung und gehe geradewegs ins Schlafzimmer durch. „Ich zieh mich jetzt um, dann können wir gehen.“ --- In dem großen Tanzsaal herrscht ein reger Betrieb und bei jedem Schritt stößt man bei jemandem an. Eltern, Lehrer, Schüler und das Personal der Veranstalter, drängen sich hier ebenso wie Freunde und Ehrengäste. Während Erich sich bereits nach wenigen Momenten auf das kalte Büffet gestürzt hat, stehen Jamie, Thomas und ich da wie angewurzelt und versteinert. Noch nie waren wir bei einem Abschlussball dabei und sind wohl alle recht aufgeregt. Zumal wir außer Martina und uns selbst niemanden kennen. Der offizielle Teil ist bereist vorbei. Gäste durften dem nicht beiwohnen, denn er war einzig den Betroffenen und deren Eltern vorenthalten. Das gemeinsame Vergnügen bei Wein, Weib und Gesang steht jedoch jedem offen, der eine Eintrittskarte vorzeigen kann. Als eine kleine Brünette auf uns zukommt und uns ein schüchternes Lächeln zuwirft ist es um Thomas geschehen und er nimmt sich ihrer sehr fürsorglich auf der Tanzfläche an. Jamie und ich werfen uns daraufhin nur einen eindeutigen Blick zu. „Hallo Jungs!“, strahlt Martina uns an, dreht sich einmal um die eigene Achse und präsentiert auf diese Weise ihr weinrotes Ballkleid, das nicht nur meinem Bruder den Atem raubt. Auch ich bin ganz bezaubert von ihr. Ihre Haare hat sie in einem verspielten Knoten aufgesteckt, eine Blütenspange hält das ganze zusammen. Einige Locken sind sehr charmant um ihren Hals drapiert. Sie wirkt beinahe wie Aschenputtel, das hinter dem Ofen hervorgekommen ist. „Du bist wunderschön“, bestätige ich ihr meinen Eindruck, küsse sie auf die Wange und belächle sanft wie sie zu strahlen beginnt. Meinem Bruder bleibt ganz unmännlich jeder Laut in der Kehle stecken. Ich versetze ihm einen Stoß, schubse ihn in ihre Richtung und wünsche ihnen viel Spaß beim tanzen, ehe ich mich zurückziehe und allein einen Rundgang durch den Saal antrete. Irgendwo in einer Ecke kann ich Erich ausmachen. Mit einem voll beladenen Teller in der Hand. Schweigsam, gerissen und total verfressen. So wie immer also. Ich verschränke die Arme vor der Brust, blicke zu dem Meer aus tanzenden Menschen, die vergnügt und ausgelassen scheinen. Eine Gruppe von Mädchen – oder jungen Damen – steht in meiner Nähe, ich höre sie kichern und miteinander tuscheln. Dann kommt eines auf mich zu, legt mir ihre Hand auf den Arm und schaut beinahe keck zu mir auf. Ich überrage sie um einen ganzen Kopf. „Entschuldige, aber… hm… würdest du mit mir tanzen?“ Ihre Wangen ziert eine blasses rot, verlegen schlägt sie die Augen nieder. Die Hand liegt jedoch noch immer auf meinem Arm. „Sicher“, antworte ich knapp, nehme ihre Finger zwischen meine, geleite sie auf die Tanzfläche und ignoriere dabei wie sie sich siegessicher noch einmal zu ihren Freundinnen umdreht. Mädchen. Das Lied klingt langsam aus, ich ziehe sie zu mir, lege ihr eine Hand auf die Hüften, die andere umschließt sanft, aber bestimmt ihre Finger. Das neue Stück ertönt. Ein Walzertakt. Ich mache den ersten Schritt nach vorne und sie strauchelt ein wenig, doch ich halte sie fest an mich gedrückt und lenke sie durch diesen Tanz. Meine Freunde hätten mich dafür ausgelacht, aber ich habe sehr früh mit Tanzstunden begonnen, als ich in diese Gegend gezogen bin. Ich brauchte eine sinnvolle Beschäftigung und habe einmal auf einem etwas versprengten Heimweg ein kleines Tanzstudio entdeckt, dass ich fortan regelmäßig besucht habe. Heute habe ich nur gelegentlich Zeit dafür. „Oh“, entfleucht es meiner Tanzpartnerin überrascht, als ich sie in eine elegante Umdrehung führe und schließlich wieder fest in meine Arme ziehe. Tatsächlich scheint eine Frau dafür wie gemacht zu sein. Ihr zierlicher Körper schmiegt sich perfekt in die Drehungen und die flatternden Stoffe ihres Kleides geben dem ganzen einen sehr sinnlichen Ausdruck. „Darf ich ablösen?“ Ich wende den Kopf und erstarre beinahe als ich das verhalten grinsende Gesicht von Chris blicke, der ein wenig abseits von uns steht, uns aber bei keiner Bewegung aus den Augen lässt. Seine Kamera hängt nicht um seinen Hals. Ich schicke meine Partnerin in eine Drehung, greife nach Chris, ziehe ihn kurz zu mir, mustere ihn von oben herab und stoße ihn von mir um das Mädchen wieder aufzufangen, die sich mit einem leisen Keuchen enger an mich schmiegt. Sie wirft Chris einen verwirrten Blick zu. Die letzten Töne des Stücks werden angeschlagen und ich lasse den gemeinsamen Tanz ruhig ausklingen, bleibe schließlich stehen und hole einmal tief Luft. Dann wende ich mich um und peile den Getränkestand an. „Raphael, warte!“, werde ich nach nur wenigen Schritten festgehalten. „Bitte“, setzt Chris flüsternd nach und etwas widerwillig drehe ich mich zu ihm um. Sein Blick ist klar und starr auf mich gerichtet. Nichts scheint ihn zu bewegen. Reglos verharrt er auf der Stelle. „Warum bist du hier?“, bringe ich schließlich hervor, reiße mich von seinem Griff los und bedeute ihm mit einem Nicken mir zu folgen. Er setzt mir nach, schreitet dicht neben mir durch die Reihen der anderen Gäste. „Ich bin Fotograf“, antwortet er. Ich erwidere nichts darauf, schenke mir stattdessen ein Glas Bowle ein und leere es in einem Zug. Zu meiner Überraschung ist sie tatsächlich alkoholischer Natur. Ein Grund, weswegen ich gleich ein zweites Glas folgen lasse. „Dann geh endlich und mach deine Bilder“, knurre ich ihn nach dem letzten Schluck an. „Hab ich schon. Von dir“, ist seine strahlende Erwiderung, die mich entnervt aufseufzen lässt. Ich trete auf ihn zu, dränge ihn mit meinem ganzen Gewicht nach hinten, sperre ihn zwischen mir und der Wand in seinem Rücken ein, lege meine Hand nahe seinem Gesicht auf den kalten Stein und funkle ihn von oben herab bedrohlich an. „Hör auf mir nachzulaufen“, grolle ich, komme ihm dabei immer näher, bis er vollkommen dazu gezwungen ist zu mir aufzusehen. Seine Brust hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus und ich kann etwas in seinen Augen flackern sehen. Eine Sekunde zu spät registriere ich seine Hand, wie sie sich langsam hebt und sich zärtlich auf meine Wange legt. Als ich den Druck seiner Hüften spüre, entferne ich mich ruckartig von ihm, schüttle auch die Berührung seiner Finger ab. Ich weiche seinem Griff aus, dränge mich durch die umstehende Masse, erblicke meinen Bruder und seine Angebetete und nehme direkten Kurs auf sie. Mit einem grimmigen Blick packe ich Martinas Handgelenk, woraufhin sie erschrocken aufschreit. Ungerührt ziehe ich sie hinter mir her auf die Tanzfläche und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter, atme ihren süßen Duft ein und lasse mich in ihren geschmeidigen Bewegungen einfach fallen. „Hey“, spricht sie leise. „Sieh mich an.“ Ich schüttle den Kopf, schließe die Augen und versuche meine aufkommende Wut zu unterdrücken. Ich weiß nicht einmal weshalb ich wütend bin. Oder auf wen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit und ich versuche eiligst Chris aus meinem Kopf zu streichen. Zweimal, halte ich mir vor. Nur zweimal innerhalb von drei Monaten bin ich ihm begegnet, aber jedes Mal wenn ich ihn sehe, regt mich etwas an ihm auf und kitzelt mich unangenehm in meinem Innersten. „Raphael“, haucht Martina mir ins Ohr, umfasst mein Gesicht mit ihren zarten Händen und zwingt mich mit unerwartet starkem Griff dazu, ihr in die Augen zu sehen. Erschrocken zieht sie Luft ein, wischt mir über die Wangen und hält mir dann ihre Finger vor. Sie glänzen. „Warum weinst du?“, fragt sie, wobei ihre Stimme einen gefährlichen Schlenker macht. „Ich weiß es nicht“, gebe ich offen zu und schmiege mich wieder in ihre Umarmung. Der ganze Lärm, all die Leute… ich ertrage es nicht länger. Ich bin müde. Entsetzlich müde. Ich würde nichts lieber tun als in Martinas Schoß einschlafen und wissen, dass ich nie wider aufwachen muss. „Oh Gott, warum?“, hauche ich gebrochen aus, schlinge meine Arme fester um ihren Körper, sauge wie manisch den Duft ihres Parfüms ein und bin wie von Sinnen als ich weiter einen Fuß vor den anderen setze und sie in diesem Tanz führe. „Shhh“, macht Martina nur, zieht mich immer weiter in meinem Taumel. Erst als mir kalte Märzluft entgegenschlägt bemerke ich, dass sie mich aus dem Saal nach draußen geführt hat. Sie leitet mich um die Ecke und ergeben lasse ich mich auf einer Bank nieder. Als ich den Blick hebe um den Nachthimmel zu betrachten ist es mir, als würden die Sterne auf mich runterfallen, unendlich schnell kommen sie auf mich zu und bringen alle alten Schmerzen mit sich, die auf mich niederprasseln wie tausende Nadeln. Ich weine aus keinem bestimmten Grund und vielleicht auch wegen hunderter Dinge. Es sind Tränen, die ich nur einmal in meinem Leben zugelassen habe. Es ist acht Jahre her, dass ich mit dem Auto meines Vaters herkam, zutiefst verletzt und von aller Welt verlassen. Nichts von alledem habe ich jemals verarbeitet. Ich habe es nur fein säuberlich in mir aufgestapelt zu einem hohen Turm, dessen Spitze mir gerade entgegenfliegt. Ich fühle mich mit einem Mal wie ein Kind, das gestürzt ist. Und ich frage mich, ob es jemanden gibt, der mich aufhebt und mir sagt, dass alles wieder gut wird. Das auch meine Wunden heilen. „Lass es heilen“, flüstere ich atemlos dem Mond entgegen, der in einem sanftkalten Licht erstrahlt. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, aber ich kann ihn nicht fassen. „Oh Gott… lass es heilen.“ „Rapha!“ Wie in Zeitlupe wende ich mich der Stimme zu, die mich gerufen hat. Es kommt mir wie ein Traum vor, als ich die Gestalt des Mannes vor mir sehe, den ich schon seit meiner Kindheit immer geleibt habe. Sein warmer Körper schmiegt sich an mich, zarte Finger streichen über mein Gesicht und eine liebevolle Stimme haucht immer wieder meinen Namen. Ich schmecke seine Lippen auf meinen, spüre seine Haare an meiner Haut. Ich fühle mich vollkommen. „Du bist hier“, höre ich mich sagen. Mein Blick bleibt unfokussiert und unscharf. „Ich wollte dich überraschen. Hör auf zu heulen“, neckt er mich sanft und ein erstes Lächeln bricht sich durch meine verhärteten Züge. Wieder sind da seine Finger. Leicht wie ein lauer Wind streicheln sie über mich hinweg. „Er hat Krebs“, murmle ich. Langsam klärt sich meine Sicht, die Tränen versiegen und ich nehme die ersten Geräusche meiner Umwelt wieder war. Das fröhliche Geplauder der Menschen, die Musik, zu der auch ich getanzt habe und hin und wieder klapperndes Besteck. „Er wird sterben.“ Das blühende Leben umgibt mich und erst jetzt begreife ich den Sinn meiner Worte. „Ja.“ „Glaubst du er kann mich jetzt lieben?“ Ich sehe zu ihm nach unten, knete dabei unruhig meine Hände und wünsche mich innerlich an einen ganz fernen Ort. Eine neue Welt, nur für mich. Und Jamie. Vielleicht auch für ihn, wenn er mich begleiten will. „Ich weiß es nicht. Denk nicht darüber nach. Ich bin doch für dich da“, höre ich seine verführerische Stimme und spüre wie er sich zu mir nach vorne lehnt. Ich fange seine Lippen ein, stehle ihm einen Kuss und lasse seine Hände meinen Rücken streicheln. Diesen Mann habe ich immer geliebt. „Zack…“, hauche ich gegen seinen sinnlichen Mund, schlinge meine Arme um seinen Nacken und berausche mich selbst an dem Gefühl seiner Nähe. Er hat mir gefehlt. „Ich bin hier. War ich schon immer.“ „Ich liebe dich“, stoße ich aus, küsse immer und immer wieder seine Lippen, ziehe ihn noch viel näher an meinen Körper heran und gehe gänzlich in dieser Art von Geborgenheit auf. „Ich liebe dich!“ „Ich wünschte es wäre so.“ --- Als ich die Augen aufschlage fehlt mir jede Orientierung. Brummend drehe ich mich auf die Seite und stelle dabei erleichtert fest, dass ich in einem Bett liege und ich direkt auf eine Digitalanzeige schaue, die mir verrät, dass es drei Uhr in der Früh ist. Ich taste nach dem Lichtschalter, finde ich nach einem quälend langen Moment auch endlich und knipse die kleine Lampe an. Das Bett neben mir ist zerwühlt, aber leer. Mit tauben Gliedern richte ich mich auf, wanke zur Tür an der ich schwach einen Zettel ausmachen kann. Ich reiße ihn ab, halte ihn ins schwache Licht und entziffere die hässliche Schrift meines Bruders. Schlaf dich aus. Bin auf M’s Abschluss. Z war da. Wir reden später. Mit einem unhörbaren Fluch auf den Lippen zerknülle ich den Zettel und werfe ihn achtlos beiseite. Tatsächlich ist meine Erinnerung etwas verschwommen und ich kann mich nur an schemenhafte Bruchstücke erinnern. Ich habe getanzt. Und Chris war da. Zack auch? Warum Zack? Stöhnend werfe ich mich aufs Bett, raufe mir die Haare und verfluche mich dafür, dass ich mich kaum noch an Einzelheiten des Abends erinnern kann. Ich weiß, dass ich kaum etwas getrunken habe und trotzdem habe ich ein Art Filmriss. Kurz bin ich dazu verleitet meinen kleinen Bruder anzurufen, doch schließlich entscheide ich mich dagegen. Wenn er noch auf der Party ist, dann will ich ihn und Martina nicht stören. Die beiden sollen ihre Chance kriegen. Lange Zeit starre ich einfach nur an die Decke, versuche krampfhaft eine Erinnerung zu Tage zu fördern, doch alles in mir wehrt sich dagegen, also gebe ich auf. Ich sehe Martina in ihrem Ballkleid vor mir und habe auch ihr Parfüm in der Nase, auch die Musik klingt mir noch im Ohr nach, aber sonst ist vieles Dunkel. Doch immer und immer wider schleicht sich eine Szene in meine Gedanken, die mir Angst macht. Auch Stunden später kann ich noch den Druck eines fremden Körpers auf meinem eigenen spüren, höre ich den schnellen Atem und entsinne ich mich der Sanftheit von zarten Fingern. Wem sie gehören, kann ich allerdings nicht sagen. Auch wenn ich daran glauben will, dass Zack mich so berührt hat. Ich bete darum und mache mir einmal mehr Hoffnungen darauf, dass er mein Flehen erhört und zu mir zurückkommt. Der Glanz seines verbliebenen Auges dringt intensiv durch die Dunkelheit meiner Gedanken. Ich erschaudere darunter und bilde mir ein etwas in der Küche rumoren zu hören. Als ich mich aufrichte um nachzusehen, öffnet sich die Türe des Schlafzimmers und Jamie wankt herein. „Uh… Rapha…“, stößt er undeutlich hervor, kommt wie ein Zombie angetorkelt und lässt sich dann mit seinem vollen Gewicht auf mich fallen. „Scheißkerl“, höre ich ihn noch flüstern, bevor mir sein tiefer Atem verrät, dass er eingeschlafen ist. Unter einigen Mühen rolle ich ihn von mir herunter, befreie ihn aus Schuhen und Jacke und stecke ihn dann unter die Decke. Dem Drang nachgebend schleiche ich dann in die Küche, die ich zu meiner Enttäuschung dunkel und verlassen vorfinde. Langsam kehre ich ihn mein Schlafzimmer zurück, lege mich ebenfalls unter die Decke, lösche das Licht und schließe meinen schnarchenden kleinen Bruder in die Arme. --- War es verständlich? ._. Wer sich wegen Raphaels BlackOut wundert... ich spreche bei diesem Phänomen aus eigener Erfahrung. Es gibt eine bestimmte Zeit in meinem Leben an die ich mich gänzlich nicht erinnern kann. Musik: Loveless - Michiyuki & Anastasia - Es war einmal im Dezember Kapitel 7: Ritter ohne Fehl und Tadel (2000 / 08) ------------------------------------------------- 7. Kapitel – 2000 (August) „Uh, so heiß“, raunt Dennis in mein Ohr, drängt sich näher an mich heran und lässt seine Hüfte zügellos an meiner kreisen. Sein flammendrotes Haar hängt ihm in verschwitzten Strähnen in die Stirn und aus seinem Mund strömt der Geruch unzähliger Cocktails und Biere. Ungerührt bewege ich mich zu dem schnellen Rhythmus der Musik, verdränge meine Umgebung, konzentriere mich alleine auf die Reibung zwischen unseren Körpern. Ich weiß nicht mehr wie lange mein letztes Mal her ist. Jahre sind es mit Sicherheit schon. „Komm weg hier“, flüstert Dennis, sein Blick ist lusttrunken. Ich packe sein Handgelenk, zerre ihn hinter mir her durch die Reihen der Tanzenden, in Richtung der Toiletten, an diesen vorbei in einen dunklen Gang. Schon von weitem kann man mehr oder minder verhaltenes Stöhnen und Keuchen hören. Hier interessiert es niemanden wer man ist und woher man kommt. Es zählt nur der Sex. Grob drücke ich Dennis gegen eine freie Stelle an der Wand, verbeiße mich in seinem Hals und entreiße ihm so den ersten Laut. Seine Finger krallen sich in meinen Rücken, in das Hemd das ich trage. Unentwegt schabt er mit den Kuppen darüber, doch ich lasse ihm nicht genug Zeit um es mir ausziehen. Permanent malträtiere ich ihn mit Zähne und Zunge, reiße ungeduldig an seinem Shirt, ziehe es ihm aus und schleudere es von mir. Soll er es später suchen. Meine Hände bewegen sich fahrig auf seiner Brust, reizen die empfindsamen Stellen. Ein kehliger Ton ist zu hören, als ich mich auf die Knie sinken lasse und immer wieder seinen Hüftknochen küsse. Seine Hose ist so weit, dass ich sie ihm problemlos ausziehen kann. „Gott, mehr…“, haucht er und seine Stimme zittert unkontrolliert. Fordernd reckt er sich mir entgegen, doch ich missachte diesen Umstand, kümmere mich lieber noch immer um seine blanke Haut. Seine Hände fahren in meine Haare und er versucht mich an die entsprechende Stelle zu drücken, was mir ein unwilliges Knurren entringt. Ich erhebe mich, fixiere seine im halbdunkeln schimmernden Augen. Er ist nichts Besonderes. Einer von vielen, die sich in solchen Clubs an mich ranmachen. Alle wollen sie nur das Eine. Und auch ich bin heute deswegen hier. Gewaltsam drehe ich ihn herum, presse sein Gesicht an die Wand und schiebe mit einem Ruck seinen Tanga so weit nach unten wie gerade nötig. Als ich mit meinen Fingern sein Rückgrad nachzeichne, sinkt er wie von unsichtbaren Fäden geführt nach unten. Die Arme hält er über seinem Kopf verschränkt, seine Kehrseite ist mir einladend zugewandt. Ich beuge mich über ihn, schiebe zwei meiner Finger an seinen Lippen vorbei in seine warme Mundhöhle. Und während er leidenschaftlich daran saugt und leckt, ziehe ich seine Beine weiter auseinander, greife ihm schließlich an die Hoden, massiere sie eingehend sodass er ein haltloses Stöhnen nicht mehr unterdrücken kann. Neben uns ertönt ein erstickter Schrei und man sieht eine Silhouette zu Boden gehen. Niemand achtet darauf. Ich schrecke ein wenig zurück, als ich heiße Lippen in meinem Nacken spüre, doch ich brauche keinen Blick nach hinten um zu wissen, dass ich in dieser Dunkelheit eh kaum etwas erkennen würde. Ich ziehe den neu gewonnenen Partner nach vorne, drücke ihn auf die Knie und lasse ihn an meiner Stelle dafür Sorgen, dass sich Dennis’ Prachtstück nicht einsam fühlt. Bei einem leisen Aufschrei entgleiten meine Finger Dennis’ Lippen und ich setze sie sogleich an seinem Hinterteil an, dringe mit ihnen in ihn ein. „Ah“, stöhnt er auf, drängt sich näher an mich heran. Wie wild beginnt er nach vorne und hinten zu stoßen, als ihm die Liebkosungen von beiden Seiten wohl zu viel werden und er sich nicht entscheiden kann. Ohne jede weitere Verzögerung, befreie ich mich von dem lästigen Stoff meiner Hosen, positioniere mich hinter ihm und dringe mit einem kräftigen Stoß in ihn ein. Er wirft den Kopf in den Nacken, seine Augen rollen nach oben und ein halb ächzender Schrei ist meine Antwort. Ich berausche mich an diesem Gefühl aus Hitze und Enge. Dennis’ Hände klammern sich an meine Oberschenkel. Immer tiefer lasse ich mich in diesen Strudel ziehen, verliere ich mich in dem Zusammenspiel unserer Körper. Lange braucht es nicht und zumindest Dennis ist erlöst. Doch weder ich, noch unser dritter Mitspieler, lassen von ihm ab. Gefangen steht er zwischen uns, keucht leise und wird nur noch von meinem festen Griff um seine Hüften aufrecht gehalten. Meine Gedanken verschwinden in den Wirren der Gefühle die auf mich einströmen. Auch wenn es mich für diesen kurzen Moment fortbringt, von all den Problemen und Sorgen die mich quälen, so weiß ich doch ganz genau, dass es nur vorübergehend ist. Es ist keine Lösung. So sehr ich mir auch wünsche, dass es eine wäre. Ich löse mich von Dennis, bringe es mit der Hand zu Ende und ziele bewusst auf den Boden. Ohne Kondom ist es mir zu gefährlich und jemanden zu bespritzen liegt ebenfalls nicht in meinem Sinn. Schließlich würde ich das bei mir auch nicht wollen. Warum also bei anderen tun. Da Dennis noch immer schwach auf den Beinen ist, ziehe ich ihm seine Hose hoch und bringe ihn an die Bar zurück. Wo der andere Kerl hin ist, interessiert mich herzlich wenig. „Setz dich“, sage ich bestimmend, drücke ihn auf einen Hocker und ordere eine Cola. Er sieht fertig aus, aber ein schalkhaftes Grinsen ziert sein Gesicht. Also wird es ihm bald besser gehen. Ich ignoriere den Zettel den er mir hinhält, zahle meine letzten Getränke und mache mich auf den Weg zum Ausgang. Immer wieder werde ich dabei angefasst, angesprochen oder zeitweise auch festgehalten, aber mir hat es gereicht. Ich habe bekommen was ich wollte. „Bis bald“, sagt der Türsteher. „Ich hoffe nicht“, erwidere ich, schlüpfe in meine Jacke und ziehe sie fest um mich. Auch wenn es eine warme Nacht ist und ein Shirt schon zu warm wäre, fröstle ich. Einen Moment bleibe ich an der Tür stehen, greife nach meinen Zigaretten und stecke mir eine davon an. Zum Glück hat der Aufpasser etwas Feuer für mich. Seufzend stoße ich den ersten Rauch aus, mustere die vorbeiziehenden Männer. Alle sind auffallend aufreizend angezogen und schon vor der Tür ist die Stimmung ordentlich angeheizt. Ein Grund, warum ich für gewöhnlich nie in solche Clubs gehe. Es ist einfach zu ordinär und eindeutig und verpasst der Szene einen unangenehmen Stempel. Ich ziehe wieder an meinem Glimmstängel. Die Gespräche versuche ich so gut es geht auszublenden. Die Zigarette zertrete ich unter meinem Schuh, will mich gerade abwenden, als ich eine mir bekannte Stimme höre. Erschrocken fahre ich herum, suche in dem Gedränge nach der entsprechenden Person, kann aber niemanden ausmachen. „Ein neues Gesicht? Nur immer rein“, höre ich da den Schrank neben mir sagen und drehe mich um. Tatsächlich, da steht er. Ohne langes nachdenken, greife ich nach seinem Handgelenk und ziehe ihn aus der Schlange heraus. Die Proteste seitens seiner Begleiter überhöre ich. „Was machst du hier?“, frage ich ihn, sehe wütend in sein erschrockenes Gesicht. „Was… ich… wollte nur mit Freunden weg“, antwortet er verdutzt. „Wie lange kennst du die denn?“, hake ich nach, schlage die Hand weg, die nach ihm greifen will und brumme etwas Unfreundliches, was den anderen einzuschüchtern scheint. „Sie haben in der Agentur gearbeitet“, erklärt er mir verunsichert, wirft einen Blick nach hinten zu den zwei jungen Männern, die uns verwirrte, aber auch verärgerte Blicke zuwerfen. Wenn sie in der Agentur gearbeitet haben sind sie wohl Möchtegern-Models oder so was. Zumindest sehen sie danach aus. „Vergiss es!“, bestimme ich eindeutig, wende mich zum gehen und ziehe den überforderten Chris einfach hinter mir her. Er stolpert fast, legt jedoch keinen Protest ein und versucht so gut es geht mit mir Schritt zu halten. „Was denkst du dir nur?“, frage ich ihn, kann dabei nicht verstecken wie wütend ich bin. „Sowas sind keine Freunde! Das nennt man Arschlöcher oder Schwanzdenker! Du kannst nicht einfach mit denen mitgehen, ist doch klar was die von dir wollen!“, rede ich mich in Rage, stapfe weiter vorwärts, überquere die Straße und bringe genügend Abstand zwischen uns und den Club, ehe ich Chris zu mir heran ziehe und gegen die nächstbeste Hauswand drücke. „Die wollten dir nur an die Wäsche, Chris! Mit solchen Typen geht man nicht mit!“, fauche ich aufgebracht, funkle ihn grimmig an und stutze als ich sein Lächeln sehe. Ich trete ein paar Schritte zurück und mustere ihn eingehend. Er ist normal gekleidet, trägt sogar eine leichte Jacke und wirkt alles in allem sehr züchtig. Sein Haar hängt ihm wie immer wild im Gesicht. In seinen Augen spiegelt sich das Licht der Straßenlaterne, was sie dunkler erscheinen lässt, als sie tatsächlich sind. Ich staune über diese Augen. „Was hast du denn in dem Club zu suchen gehabt?“, höre ich ihn nun fragen. „Geht dich nichts an“, wehre ich ab, verfehle damit aber meilenweit mein Ziel. Er drückt sich von der Wand ab, tritt näher an mich heran und fixiert mich eingehend von unten. Sein Blick ist herausfordern und ich weiß was er sagen wird, bevor er es tatsächlich tut. „Aber mir machst du Vorschriften?“ „Du bist schließlich noch ein Kind! Ich bin erwachsen und kann auf meinen Arsch ganz gut alleine aufpassen!“ Sein Gesicht verzieht sich wie unter einem Schlag und er bringt wieder etwas Abstand zwischen uns, auch wenn er mir drohend seinen Finger unter die Nase hält. „Ich bin kein Kind, alles klar? Ich bin sechzehn!“ „Toll“, sage ich sarkastisch und klatsche ein paar Mal in die Hände. „Hervorragend! Aber ich bin vierundzwanzig und damit immerhin schon volljährig, was du nicht gerade von dir behaupten kannst.“ „Du bist so ein Arsch!“, keift er. „Schön das du es endlich einsiehst“, antworte ich mäßig beeindruckt. Mit einem wilden Schnauben drängt Chris sich an mir vorbei, versetzt mir einen Stoß gegen die Schulter und will schon um die Ecke biegen, als ich ihn erneut zu packen kriege. „Du gehst da nicht hin“, warne ich ihn erneut, ernte dafür aber nur einen spottenden Blick. Er nimmt mich ebenso wenig für voll wie ich ihn. Gleichstand. „Ich mache was ich will!“, legt er Widerspruch ein. „Und du scherst dich gefälligst zum Teufel!“ „Den hab ich vor mir“, kann ich mir nicht mehr auf die Zunge beißen. Chris fährt wütend zu mir herum und schneller als mir lieb ist habe ich mir ein saftige Ohrfeige eingehandelt. Es brennt auf meiner Wange und der Schmerz ist tatsächlich unangenehm. Chris hat sich scheinbar nicht zurück gehalten. „Arschloch!“, zischt er. „So nennt man das doch.“ Ich bleibe stumm, reibe mir über die schmerzende Haut. Chris’ gesamter Körper bebt und zittert. Er hat den Blick abgewandt und ich kann nur erahnen, dass er sich auf der Lippe herumkaut. Seine Hand ist zu einer Faust geballt hinter dem Rücken versteckt. Er schämt sich für seinen Schlag. Langsam mache ich einen Schritt auf ihn zu, doch er weicht augenblicklich zurück. „Nein! Komm nicht näher“, warnt er schwach, auch wenn seine Augen angriffslustig funkeln. Ich greife seinen Arm, biege ihn unangenehm zur Seite und sehe wie er vor Schmerzen das Gesicht verzieht. Langsam komme ich ihm näher, greife auch seinen anderen Arm und hindere ihn so an jeder Gegenwehr. Ich dränge ihn an die Mauer zurück. Eine Zeit lang stehen wir uns schweigend gegenüber und als ich spüre wie er seine Muskeln entspannt, lasse ich ihn los. Vorsichtig berührt er meine Wange, wendet verlegen den Blick ab. Ich greife unter sein Kinn, zwinge ihn dazu mich anzusehen. „Tut mir leid“, flüstert er. „Ich wollte eigentlich nicht… also…“ „Schon gut“, stoppe ich ihn, streiche von seinem Kinn zu seiner Wange, zu seinem Haaransatz und die erste Strähne landet zwischen meinen Fingern. Wie hypnotisiert streiche ich ihm durch die wilde Mähne. Ich fahre seine Ohrmuschel nach, lege meine Hand in seinen Nacken, kraule ihn und erinnere mich daran, dass ich so was ähnliches schon einmal getan habe. Erschrocken über mich selbst will ich mich von ihm zurückziehen, doch nun ist er es, der mich packt und festhält. Sein Gesicht ist gerötet und auch sein Atem geht schon viel schneller als gewöhnlich. Chris ist verlegen, dass sehe ich ihm an, aber dabei strahlt er noch immer eine überraschende Selbstsicherheit aus. „Hör nicht auf“, bittet er leise, geht einen Schritt auf mich zu, verkrallt sich in meiner Jacke und bettet seinen Kopf auf meine Brust. Reglos bleibe ich stehen, gefangen in seiner Wärme und seinem Duft. Ich weiß nicht was es ist, aber Chris riecht so verdammt gut, dass es beinahe schwindelerregend ist. Plötzlich sind laute Schritte zu hören und alarmiert sehe ich auf, schiebe Chris dabei hinter mich. Keine Sekunde später rauschen Chris’ Freunde um die Ecke. Sie fluchen lautstark als sie mich sehen. „Hast du den Arsch offen?!“, brüllt mir einer der beiden entgegen. „Du kannst nicht einfach mit ihm abziehen und uns stehen lassen!“ „Euch gibt es also nur im Dreier-Pack?“, frage ich spöttisch, trete nach vorne, bedeute Chris aber zurück zu bleiben. „Bist wohl ein ganz Lustiger, was?“, keift nun der andere, bringt sich in Position. „Schert euch weg! Ich lass' euch bestimmt nicht an ihn ran“, warne ich sie, zähle innerlich bis drei und wie auf ein Kommando stürzt der Erste auf mich zu, holt zum Schlag aus und verzieht das Gesicht zu einer hässlichen Fratze, als er mein Knie in seinem Unterleib spürt. „Kinderficker“, knurre ich ungehalten, weiche dem nächsten Schlag aus, kann aber meinerseits auch keinen Treffer landen. Ich packe das Bein des zweiten Kerls, schmeiße ihn zu Boden, doch schon im nächsten Moment ist er aufgesprungen. „Hört auf!“, höre ich Chris hinter mir rufen, doch das bringt es nicht mehr. Der andere ist wie von Sinnen und stürmt wieder auf mich zu. Ich blocke seinen Schlag, versetze ihm einen Tritt in die Rippen, taumle dann aber selbst nach hinten, als ich seine Faust kassiere. Keuchend krümme ich mich, breche vollends zusammen, als er mir einen gezielten Schlag in den Nacken gibt. „Wichser“, höre ich ihn murren. „Was ist das für ein Penner, Chris? Komm weg hier!“ „Nein, lass mich!“ „Wir wollten und doch vergnügen, also komm schon!“ Er zieht Chris hinter sich her, hilft seinem Kumpel beim aufstehen und tritt ungerührt an mir vorbei. Ich nutze diese Chance und ziehe ihm das Bein weg sodass er unliebsamen Kontakt mit dem Asphalt macht. Langsam rapple ich mich hoch, packe Chris am Arm und ziehe ihn bestimmt von den beiden weg. Ohne mich noch einmal umzusehen renne ich durch die Straßen. Man soll aufhören wenn es am Schönsten ist. Chris’ Keuchen liegt mir im Ohr, als ich ein paar Wohnblocks weiter endlich anhalte und mir eine Verschnaufpause gönne. Im Licht einer Straßenlaterne ziehe ich mir die Jacke aus und das Hemd darunter hoch. Missmutig betrachte ich den riesigen Bluterguss. Der Kerl hatte einen ganz prächtigen Haken. „Scheiße“, murmle ich leise, ziehe mein Hemd wieder zurecht und werfe Chris dann einen Blick zu. „Hab ich es dir nicht gesagt?“ „Aber ein bisschen spät, oder?“ „Werd jetzt nicht frech!“, maule ich ihn an. Setze mich wieder in Bewegung und verfluche mich im Inneren dafür, dass ich mich überhaupt eingemischt habe. Im Grunde könnte es mir doch egal sein, wenn Chris von zwei Kerlen flach gelegt wird und vielleicht auch noch die Prügel seines Lebens bezieht. Auf der anderen Seite kann ich einen kleinen Jungen wie ihn nicht einfach in sein Verderben schicken. Seine zarten sechzehn Jahre ziehen Vergewaltiger doch an wie Motten das Licht. Einmal in dem Club, wäre er da wohl nie wieder raus gekommen. Gemeinsam erreichen wir meine Wohnung, die ich aufschließe um Chris gleich darauf hinein zu bugsieren. Alleine lasse ich ihn auf keinen Fall den Weg nach Hause antreten und ich selbst bin zu müde um das jetzt noch zu machen. Im Wohnzimmer werfe ich meine Jacke auf das Sofa und schleudere meine Schuhe achtlos von mir, ehe ich nach dem Zettel greife, der an der Tür hängt. Er teilt mir mit das mein kleiner Bruder bei Martina schlafen wird. „Wehe die ficken miteinander“, grolle ich bösartig, knülle den Zettel zusammen und werfe ihn über die Schulter. Ohne weiter auf Chris zu achten, streife ich mir das Hemd ab, öffne meine Hose und suche in der Küche nach ein paar Eiswürfeln. Natürlich habe ich keine mehr. Noch in der Küche ziehe ich mir die Hose aus, lasse sie auf den Fliesen liegen und stapfe nur noch mit Socken und Boxershorts bekleidet durch die Zimmer. Als ich das Licht im Schlafzimmer anmache, liegt Chris schon im Bett. Er öffnet die Augen, als ich hereinkomme und schmunzelt amüsiert. „Hast du dir in die Hose gemacht?“, fragt er lachend, deutet dabei auf meine versauten Shorts. Unansehnlich zieht sich ein großer feuchter Fleck durch den Stoff und verfärbt ihn dunkelblau. „Das passiert, wenn du in solche Clubs gehst“, antworte ich grinsend. „Dann konntest du also auch nicht auf deinen Arsch aufpassen.“ „Wäre der Fleck in diesem Fall nicht eher hinten?“, schieße ich zurück und genieße es zu sehen wie das Lachen auf seinem Gesicht zu Eis gefriert. Ich verschwinde im Bad, ziehe die Short aus, werfe sie in den Wäschekorb und steige unter die Dusche. Das warme Wasser lässt mich wohlig aufseufzen und eingehend beginne ich mich zu waschen. Immer wieder geht mir durch den Kopf was ich an diesem Abend getan habe. Meine Gedanken flattern zwischen Dennis und Chris hin und her und ich bin mir nicht sicher welche Tat ich mehr verdammen soll. Ich hatte beide Male gute Gründe. Schließlich schiebe ich alles von mir, stelle die Dusche aus und trockne mich ab. Ich habe keine Lust darauf mir solche Gedanken zu machen. Da ich vergessen habe neue Unterwäsche mit zu nehmen, gehe ich vollkommen nackt ins Schlafzimmer zurück, ignoriere Chris und suche in meiner Schublade nach einer neuen Shorts. „Raphael?“ „Hm?“ „Danke.“ Überrascht wende ich mich um. Chris hat seinen Blick nicht abgewandt, sieht mir direkt in die Augen, auch wenn wieder eine beachtliche Röte auf seinen Wangen liegt. Ich gehe zu meiner Seite des Betts, lösche im vorbeigehen das Licht und lege mich unter die Decke. Gerade als ich mich richtig hingelegt habe, bemerke ich wie Chris sich unruhig hin und her bewegt. Ich bin mir selbst unschlüssig was ich an diesem Abend noch alles zulassen soll. Chris’ Anwesenheit reizt mich auf eine unangenehme Art und Weise. Ich will ihn von mir stoßen, suche gleichzeitig aber seine Nähe. „Komm her“, sage ich mit rauer Stimme, strecke meinen Arm nach ihm aus und ziehe ihn zu mir heran, als er ein wenig näher gekommen ist. Seine nackte Haut reibt an meiner eigenen, seine Haare kitzeln mich sanft an meiner Schulter. Er schmiegt sich an mich, sein Arm liegt locker um meine Hüfte, während seine Lippen immer wieder meine Halsbeuge berühren. Sein Atem streift warm und schwer mein Ohr sodass sich meine Nackenhaare aufstellen. „Was wird das?“, frage ich ihn leicht amüsiert. „Weiß nicht“, nuschelt er, gleitet dabei mit seiner Zunge über meine Schulter. Ich greife mit meiner rechten nach dem Lichtschalter, knipse die Nachttischlampe an und betrachte den Jungen in meinem Arm. Er wirkt etwas benebelt, abwesend fast. Seine Hände zittern und seine Brust hebt und senkt sich unter unregelmäßigen Atemzügen. „Scheiße“, fluche ich leise, drücke Chris von mir und stehe ruckartig auf. Ich weiche seinem verwirrten Blick aus, schnappe mir mein Kopfkissen und fliehe ins Wohnzimmer. Fahrig ziehe ich die Schlafcouch aus, hole mir eine zweite Decke und lege mich schließlich hin. Aber an Ruhe ist jetzt nicht mehr zu denken. „Gott…“, hauche ich atemlos, drehe mich um und beschließe Chris von nun an so weit von mir zu stoßen wie ich nur kann. Seine Nähe ist einfach zu gefährlich. Für uns beide. --- Ein sanftes Streicheln weckt mich am nächsten morgen und verwirrt stelle ich fest, dass ich nicht in meinem Bett liege. Ich wende den Blick und starre geradewegs in das grinsende Antlitz meines kleinen Bruders. „Morgen, Pascha“, lacht er, kuschelt sich unter die Decke, nimmt dann wieder seine Streicheleinheiten auf. Seine Finger kreisen von meiner Brust zu meinem Bauch, über meine Arme. Immer wieder dieselbe Strecke. „Du warst bei Martina“, stelle ich fest. „Ist was passiert das ich wissen sollte?“ „Hm…“, spielt er den Nachdenklichen, während er mich dabei keine Sekunde aus den Augen lässt. „Wir haben zusammen gekocht und gegessen, einen Film angesehen und dabei miteinander gekuschelt und als sie mich auf der Couch zurück gelassen hat, schien sie sehr amüsiert zu sein.“ Ich nicke schwach, drehe mich auf den Rücken. Die Müdigkeit steckt noch immer in meinen Gliedern, ebenso ein schwaches Ziehen in meiner Beinmuskulatur. Solche Anstrengungen wie gestern bin ich nicht mehr gewöhnt. „Und sollte ich etwas über deine Nacht wissen, Brüderchen?“, fragt Jamie leise, tippt mir dabei auf den Bluterguss, was mich schmerzhaft zusammenzucken lässt. „Kleine Prügelei mit zwei Kerlen.“ „Und weswegen?“ Ich brumme nur Unverständliches, drehe mich von meinem Bruder weg und will mir die Decke über den Kopf ziehen was allerdings erfolgreich verhindert wird. Jamie lehnt sich über mich, sein Gesicht nah an meinem. Ich kann sein Grinsen förmlich hören. „Ist es etwa wegen dem süßen Schnuckel in deinem Bett?“ Als ich nicht antworte lacht er. „Ich hab also Recht. Du alter Angeber“, neckt er mich. „Aber es ist sicherlich mehr passiert, nicht wahr? Schließlich hast du dich das letzte Mal auch nicht einfach in mein Bett geflüchtet als er da war.“ „Ich will nicht drüber reden“, murre ich leise. „So? Aber ich will darüber reden! Los! Sag schon!“, hakt Jamie nach, schmeißt sich mit voller Wucht auf mich, zieht meinen rechten Mundwinkel beinahe schmerzhaft nach außen. Ich rolle mich unter ihm weg, verschränke seinen Arm hinter seinem Rücken und stelle ein Knie darauf. Seine Proteste gehen im Kissen unter, ebenso sein halb unterdrücktes Lachen. „Sei nicht so frech zu deinem großen Bruder, oder ich leg’ dich übers Knie.“ Er sagt etwas, das vollkommen untergeht. „Was? Ich soll dich übers Knie legen?“, frage ich lachend nach, übersehe geflissentlich sein Kopfschütteln und mache mich an die Arbeit. „Das mach ich doch gerne!“ Damit setze ich mich neben ihn auf das Bett, hebe ihn mir auf die Schenkel und schlage ihm immer wieder aufs Hinterteil. Mit Nachdruck zwar, aber nicht zu schmerzhaft. Jamie strampelt wild hin und her, aber jede Flucht ist aussichtslos. Das hat er verdient und sicherlich auch gebraucht. Hier kommt durch, dass ich acht Jahre Erziehung nachzuholen habe. „Gibst du auf?“, frage ich, erhalte ein kräftiges Nicken als Antwort. „Das ist schön. Aber ich nicht.“ Und setze meine Behandlung damit fort. „Morgen…“, ertönt es leise von hinten und ich halte leicht erschrocken inne. Chris steht im Türrahmen des Schlafzimmers, sich die Augen reibend und ungeniert gähnend. Ich entlasse Jamie aus meinem Griff, der sich prustend herumrollt und mir einen Schlag gegen die Stirn gibt. „Morgen, Chris! Schön, dass du da bist! Kaffee?“ „Tee“, kommt die direkte Antwort, gefolgt von einem charmanten Lächeln, das auch nicht verschwindet, als er mir direkt in die Augen sieht. Ich hingegen wende den Blick ab. Jamie krabbelt vom Bett herunter, winkt Chris hinter sich her in die Küche. Ich verschwinde schnell im Schlafzimmer, suche mir frische Sachen heraus, streife sie mir über und schlüpfe letztendlich in ein Paar ausgelatschte Turnschuhe. Gerade als ich den letzten Knoten festziehe, kommt Jamie aus der Küche und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Was wird das?“, fragt er, zieht eine Augenbraue nach oben. „Ich bin morgen früh wieder da“, antworte ich schlicht, stecke mein Portmonee und meine Schlüssel ein und verlasse dann die Wohnung. --- Kapitel 8: Zu Hause ist es doch am Schönsten (2000 / 08) -------------------------------------------------------- 8. Kapitel – 2000 (August) Ich erwische Marianne gerade noch an der Tür, die sie hinter sich und den Zwillingen zuzieht. Johannes und Lars sind in eine ihrer üblichen Kabbeleien verstrickt, was ihre Mutter nur noch mit einem schwachen Einwurf kommentiert. „Hi, Jungs“, grüße ich die beiden Racker, die mich strahlend in Empfang nehmen und sogleich um mich herum rennen und ihr Spiel fortführen. „Marianne“, nicke ich der überraschten Frau zu, die mich kurz in ihre Arme zieht. „Na so was! Was treibt dich denn hierher?“ „Eine kleine Bitte“, entgegne ich. „Schieß los!“, fordert sie mich auf, greift abwesend einen ihrer Jungs am Arm und zieht ihn zu sich. „Schluss ihr beiden!“, keift sie, reicht ihren Schlüsselbund nach unten und schickt ihre Söhne zum Auto. „Kann ich mir den Wagen von deinem Mann ausleihen? Nur für heute!“ „Hm, sicher.“ Sie macht den entsprechenden Schlüssel von ihrem Bund ab, reicht ihn mir, wirft mir dabei einen ernsten Blick zu. „Mach keinen Unsinn.“ Ich komme mir ertappt vor, schüttle dann aber den Kopf. Sie ringt mir noch das Versprechen ab, auf mich aufzupassen und sie sofort anzurufen, wenn etwas nicht stimmen sollte, dann lässt sich mich in die Garage gehen. Ihr eigener Wagen steht davor und mit einem letzten Blick auf mich, fährt sie los. Das Garagentor ist offen und so betrete ich sie, schließe den Wagen auf, setze mich rein und starte den Motor. Einen Moment zögere ich noch, dann aber fahre ich an, biege auf die Straße ab, ehe ich erneut anhalte, zurückgehe und die Garage wieder verschließe. Ohne weitere darüber nachzudenken, fahre ich erneut an. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, aber ich bin mir sicher, dass ich es nie herausfinden werde, wenn ich es nicht ausprobiere. Mehr als schief gehen kann es nicht und in der Zwischenzeit konnte ich mich gegen fast alle Eventualitäten wappnen. Das Radio tönt leise im Hintergrund, es herrscht der stetige Wechsel von Musik und Nachrichten, doch auf keines achte ich besonders. Die Fahrt über die Autobahn zieht sich in die Länge, da ich mich peinlichst an alle Geschwindigkeitsvorgaben halte. Ich habe es nicht sonderlich eilig. Die nächste Ausfahrt ist meine. Danach folgt noch eine Fahrtzeit von etwa einer halben Stunde. Es rückt immer näher, wirkt dadurch nur umso bedrohlicher. Immer wieder wische ich mir die Hände an meiner Hose ab. Der Schweiß macht es mir schwer das Lenkrad zu halten. Es wird immer unerträglicher und heftiger als beabsichtigt schalte ich das Radio aus. Viel zu früh biege ich in die Straße ein, in der ich einst gewohnt habe. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des verhassten Hauses komme ich zum stehen. Der Motor erstirbt, es wird still um mich herum, auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass ich deutlich meinen Herzschlag vernehmen kann. Es ist kurz nach elf. Nichts regt sich. Sogar die Fenstervorhänge hängen starr. Während ich auf das dunkelbraune Holz der Haustür starre erinnere ich mich daran wie ich zum ersten Mal von meinem Vater ausgesperrt worden bin. Stundenlang stand ich draußen, habe gegen die Tür gehämmert und innerlich darum gebeten, dass er nur Jamie nichts antun würde. Das hätte ich mir nie verziehen. Mein Vater hatte mich in meinem Zimmer beim rauchen erwischt. Ich setze mich aufrecht hin, als ich meine Mutter herankommen sehe. Sie trägt zwei Leinenbeutel, die randvoll sind mit ihren Einkäufen. Im ersten Moment will ich aus dem Auto springen und zu ihr eilen, doch ich halte mich zurück. Ich kann nicht vergessen, wie sie sich verhalten hat, als ich Jamie besucht habe. Diese Erinnerung schmerzt. Sie hebt den Blick nicht vom Boden, ihre ganze Haltung ist eingesunken und ihr kastanienbraunes Haar ist fast vollkommen ergraut. Innerhalb der letzten Jahre ist sie mit einem Schlag alt geworden. In einer Woche ist ihr einundfünfzigster Geburtstag. Ich beobachte sie, wie sie die Tür aufschließt und im Haus verschwindet. Eine tiefe Sehnsucht will mich in ihre Arme treiben, aber es wird nie das sein, das ich mir von ihr erhoffe. Nie wieder wird sie die Mutter sein, die ich einst abgöttisch geliebt habe. Tränen steigen in mir auf und ich halte sie nicht zurück. Die Trauer überwältigt mich und ich schluchze laut auf. Der Damm ist gebrochen, es gibt kein Halten mehr für mich. Mein ganzer Körper wird geschüttelt, immer wieder schlage ich gegen das Lenkrad, einmal treffe ich sogar die Hupe. Es ist mir vollkommen egal. Als ich mich endlich beruhigen kann, ist es weit nach ein Uhr. Ich achte nicht mehr auf die Zeit. Irgendwann lege ich eine CD ein, starre unentwegt auf mein ehemaliges Zuhause, lasse mich von meinen Erinnerungen davon treiben und erlebe die Schmerzen meiner ganz persönlichen Hölle noch einmal. Nichts ist verheilt. Als sich die Beifahrertür öffnet, rucke ich erschrocken hoch und staune nicht schlecht, als sich Zack neben mir in den Sitz fallen lässt, die Türe zuzieht und sich nach hinten lehnt. Sein Blick geht stur gerade aus. Er streckt seine Hand nach mir aus und ich ergreife sie fest, drücke sie an meine Brust, sinke ebenfalls wieder zurück an die Lehne. „Du bist schon lange hier“, sagt er leise. „Hab dich schon vor Stunden hier stehen sehen als ich vom Training gekommen bin.“ „Ich weiß gar nicht was ich hier mache“, flüstere ich, lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und hauche meinen warmen Atem dagegen, damit sie beschlägt. „Klar weißt du das“, widerspricht Zack sanft, kramt in seiner Hosentasche nach seinen Zigaretten. Er drückt eine aus der Packung heraus, klemmt sie zwischen seinen Lippen ein, fördert sein Feuerzeug zu Tage und steckt sie sich dann. Der Geruch nebelt uns augenblicklich ein. „Und warum bist du hier?“, frage ich nach einer Weile. „Aufpassen das du dir nichts antust.“ Wir schweigen längere Zeit. Mechanisch wende ich meinen Kopf, als im Haus einige Lichter angehen. Es ist das Arbeitszimmer meines Vaters. Er ist also da. Die ganze Zeit schon hing sein Schatten über diesem Ort. „Zack, warst du bei Martinas Abschlussball?“ „Ja“, lautet seine schlichte Antwort. Ich höre wie er einen weiteren Zug nimmt. Nur wenige Momente später stößt er den Rauch mit einem zischenden Laut aus. „Jamie hat mir ordentlich eine verpasst.“ „Tut mir leid.“ Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel nicken. Er kurbelt das Fenster herunter, schnippt den gerauchten Stummel nach draußen und atmetet mehrmals tief die frische Luft ein. Schließlich schließt er das Fenster wieder, tippt mit dem Fingernagel gegen die Scheibe. „Willst du rein?“ „Denke nicht.“ „Wäre vielleicht besser. Man soll ja über alles reden und so einen Scheiß.“ Spöttisch sehe ich ihn von der Seite her an. Er hebt nur die Schultern. Wir schweigen uns wieder eine ganze Weile an. Nichts tut sich in dem Haus, in dem ich einmal gelebt habe. Zacks Worte spuken mir im Kopf herum und ich bin hin und her gerissen zwischen meinen zerrissenen Gefühlen und meinem kühlen Verstand. Die Zeit bleibt nicht stehen, drängt unerbittlich weiter nach vorne, die Sonne verwandelt sich in einen rotglühenden Feuerball. Mit einem Blick auf Zacks Uhr erkenne ich, dass es bereits sieben Uhr ist. Langsam geht auch dieser Sommertag zur Neige. Ich hätte nicht gedacht, dass ich schon so lange hier sitze. Ich greife in meine Jackentasche, doch weder in der linken, noch in der rechten finde ich mein Handy. „Hast du dein Handy mit?“, frage ich Zack deshalb, der allerdings stumm den Kopf schüttelt. Ich schiebe meinen Sitz ein Stück weiter nach hinten, starre aus dem gegenüberliegenden Fenster. Mein Blick ist finster und ich habe die Augenbrauen fast schmerzhaft zusammen gezogen. „Hey, Rapha…“, murmelt Zack so leise, dass ich mir im ersten Moment nicht sicher bin, ob er tatsächlich etwas gesagt hat. Als Antwort gebe ich ein undefinierbares Brummen von mir. „Lass uns ficken.“ Erschrocken sehe ich zu ihm, doch sein Blick ist vollkommen ruhig. Seine Haare hängen ihm auf der linken Seite ins Gesicht. Er hat sie wachsen lassen, damit sie die hässliche Narbe verdecken, die er dort seit dem Unfall hat. Ihm fehlt das linke Auge. Ich strecke meine Hand nach seinem Gesicht aus, streiche den Vorhang beiseite und betrachte eine Weile das vernarbte Gewebe. Es ist bereits vier Jahre her. Dennoch mache ich mir dieselben Vorwürfe wie am ersten Tag. „Es tut mir leid“, flüstere ich, meine Stimme ist nur ein schwacher Hauch. „Mir auch.“ Seine Antwort ist ein stich ins Herz, auch wenn ich nicht genau sagen kann, worauf er sich bezieht. Ob er nur diesen Tag im speziellen oder unsere ganze Bekanntschaft im Allgemeinen meint. Aber alleine das er etwas mit mir bereuen muss, ist ein Schlag ins Gesicht. Ich kann nicht sagen, warum es gerade in diesem Moment ist, aber ich spüre, dass es für mich und Zack keine Zukunft geben wird. Vielleicht auch nie gegeben hat. „Zack, ich… komme nicht mit dir“, ringe ich mir schließlich ab. „Ich muss da rein.“ „Ja.“ Er senkt zum ersten Mal den Blick, er wirkt verletzt, auch wenn ein leichtes Lächelns seine Mundwinkel erreicht. „Ich liebe dich, Raphael.“ Er steigt aus. Das Zuschlagen der Autotüre ist wie der Riegel der sich nun zwischen und geschoben hat und uns davon abhält ein Wir zu bilden. Tränen steigen erneut in mir auf. Lange sehe ich Zack nach, wie er sich dem Sonnenuntergang zuwendet und darin verschwindet. Seine hoch aufragende Gestalt ist beinahe wie ein Symbol der Stärke. Er lässt den Kopf nicht hängen, die Schultern sind straff nach hinten gezogen und die Hände hat er locker in den Hosentaschen versenkt. Wie so vieles andere wusste er, dass es dazu kommen würde. Ich frage mich, warum ich es nicht gesehen habe. Von einer zaghaften Entschlossenheit beseelt, öffne ich die Tür, steige aus und schließe das Auto hinter mir ab. Ich überquere die Straße, erklimme die wenigen Stufen zur Eingangstüre und klingele. Nicht einmal regt sich in mir der Gedanke zur Umkehr. Ich höre leise Schritte, dann das zurücknehmen einer Türkette, ehe mir schließlich geöffnet wird. Das elende Abbild meiner Mutter steht vor mir, starrt mich aus getrübten Augen an. „Hallo“, sage ich leise, warte auf ihre Reaktion. „Raphael…“, haucht sie leise, wendet den Blick ab und schaut wie erschrocken über die Schulter. Es ist, als würde sie erwarten meinen Vater hinter sich zu sehen. „Was machst du hier?“ Diese Frage alleine schmerzt mehr als jeder Dolchstoß. Jede noch so kleine Hoffnung auf Mutterliebe ist in mir vernichtet und ich hänge auch den allerletzten Traum an den Nagel, wappne mich erneut gegen alles, was da kommen mag. „Ist Vater zu Hause?“, bringe ich nur mühsam hervor, trete nach vorne, an ihr vorbei ins Haus hinein. Sie würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn ich es nicht täte. Ihre schwachen Einwände ignoriere ich vollkommen, steige die Treppe hinauf, wende mich nach rechts und klopfe an die schwere Türe. „Herein“, tönt es von drinnen. Beherzt greife ich nach der Klinke, drücke sie hinunter und lasse die Tür aufschwingen. In den Raum selber, trete ich nicht hinein. Noch von früher hallen die Worte meines Vaters in mir nach, dass ich sein Arbeitszimmer unter keinen Umständen zu betreten habe. Ich habe mich immer daran gehalten und spüre auch jetzt den harten Griff seiner Persönlichkeit. „Vater“, grüße ich knapp, lasse ihn keine Sekunde aus den Augen. Er sitzt in seinem Arbeitssessel hinter dem schweren Schreibtisch. Ein Rollstuhl steht daneben, der – ebenso wie sein fahles Gesicht – das Ausmaß seiner Krankheit beschreibt. Sein Haar ist merklich zurückgegangen und von der breiten Statur ist kaum noch etwas vorhanden. Er wirkt abgemagert. Sein Blick ist jedoch noch immer genauso scharf und unerbittlich wie früher. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann tu es auch. Ich hasse Verzögerungen“, murrt er laut, wirft mir einen finsteren Blick zu, ehe er in einer fließenden Bewegungen seine Unterschrift auf ein Schriftstück setzt. „Du arbeitest noch?“ „Man kann immer arbeiten“, antwortet er ohne dabei aufzusehen. Die Autorität die er auch in diesem kümmerlichen Zustand noch ausstrahlt ist überwältigend, hält mich gefangen und macht es mir beinahe unmöglich etwas zu sagen. Auch nach all diesen Jahren noch, bin ich ihm nicht gewachsen. Meine Neugier ist groß und so sehe ich mich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben in diesem Zimmer um. An allen Wänden stehen oder hängen Regale und Schränke, voll gestopft mit Büchern und Aktenordnern. Kaum ein Bild hellt die Stimmung auf. Auch Pflanzen gibt es hier nicht. Der Boden ist mit einem schweren Teppich belegt und es gibt nur eine einzige Sitzmöglichkeit, die derzeit mein Vater in Anspruch nimmt. Er zwingt seine Besucher also zum stehen. Mehr gibt es nicht. Nur noch den Schreibtisch und die sich darauf befindenden Papiere und Akten. Ansonsten ist alles so unpersönlich wie nur irgend möglich. Der raue Geschäftsmann springt einen förmlich an. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, als was genau mein Vater eigentlich in der Firma arbeitet. „Jamie ist bei mir eingezogen.“ Etwas anderes bringe ich nicht raus. Mein Vater schweigt. „Er macht eine Ausbildung als Koch und arbeitet nebenher. Vermutlich hat er bald auch eine Freundin“, rede ich weiter, lehne mich Halt suchend an den Türrahmen. Keines meiner Worte entlockt meinem Alten eine Mimik. „Ich habe ein Konto für ihn eröffnet, also brauchst du dich nicht um seinen späteren Unterhalt zu kümmern.“ Noch immer herrscht eisiges Schweigen von seiner Seite aus. Nur mühsam zwinge ich die aufwallende Wut hinunter, reiße mich zusammen und fahre fort in meiner Schilderung wie es meinem kleinen Bruder geht. Ich zähle seine Noten auf, die Dinge die er mag und nicht mag und auch alles andere was mir einfällt, doch bei meinem Vater regt sich nichts. „Dich interessiert das gar nicht, nicht wahr?“, brause ich schließlich auf. „Was willst du?“, lautet seine Gegenfrage und ich bin versucht ihm an die Gurgel zu gehen. „Sag mir warum“, fordere ich, ziehe endlich seinen Blick auf mich. „Sag mir warum du uns so gottverdammtnochmal hasst! Warum?!“ Ich bemerke, dass ich zittere. Mein ganzer Körper entzieht sich meiner Kontrolle und ich fühle mich hilflos im Angesicht des Mannes, der mich gezeugt, aber niemals geliebt hat. Und der dennoch der Mann ist, der mein ganzes Leben bestimmt. Seine Fesseln halten. „Ich hasse euch nicht.“ Sein Blick hängt fest in meinem. Seine Hände ruhen auf dem Füller, den er auf den Tisch gelegt hat. Es scheint, als würde ihn das alles gar nichts angehen. Nichts von dem was um ihn herum passiert, interessiert ihn auf irgendeine Weise. Das ganze Leben prallt an ihm ab. Entsetzt weiche ich einen Schritt zurück, muss mich abwenden um ihn nicht all zu deutlich sehen zu lassen, wie sehr mich diese Erkenntnis trifft und mitnimmt. Ich habe immer geglaubt, dass er uns alle hasst, dass er ein verbitterter Mann ist, dem irgendetwas in seinem Leben widerfahren ist, was er nicht verwunden hat. Doch die tatsächliche Wahrheit ist, dass es ihn nicht kümmert. Wir sind ihm egal, sein Leben ist ihm egal, sein Beruf ist ihm egal. Einfach alles. Alles was ein Leben ausmacht, ist ihm egal. Er ist leer. Wie eine Vase, die niemand mit Blumen schmückt. Starr und leer. „Mein Gott…“, hauche ich, sehe rasch zu ihm herüber. Er sitzt wie versteinert da und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er in den vergangenen Momenten überhaupt geblinzelt hat. „Gibt es sonst noch etwaige Nichtigkeiten, die du mir mitzuteilen gedenkst?“ Seine Stimme ich schneidend. Nicht eine einzige Emotion schwingt darin mit und dennoch fährt sie in mich wie ein Blitz. Alles setzt für einen Moment aus und ich wünschte es gäbe einen Stuhl auf den ich mich setzen könnte. Doch wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum er keinen weiteren hat. „Du bist nicht mal wütend“, stelle ich nachträglich fest. Es erstaunt mich selbst, denn der Vater, den ich in meiner Erinnerung bewahre, ist jähzornig, launisch und cholerisch. Doch selbst davon ist nichts mehr zu sehen. „Nicht einmal mehr das.“ Ich zucke unter einer plötzlichen Berührung zusammen. Meine Mutter steht unerwartet neben mir, ihre Hand ruht auf meinem Rücken, ihr Blick ist ein stummes Flehen. Ihre Finger sind stark, nachdrücklich weisen sie mich an zu gehen. Dann spricht sie es tatsächlich aus. „Lass deinen Vater in Ruhe arbeiten. Du weißt doch, dass du ihn nicht stören darfst.“ Sie ist gefangen in einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Auch wenn der Ton ein ganz anderer ist, so stammt dieser Satz dennoch aus einer Zeit, in der sie die warmherzige, liebevolle Mutter war, die ich mir heute nur noch wünschen kann. Es ist eine schiere Ewigkeit her, dass ich vier oder fünf Jahre alt war. „Ich geh’ schon“, antworte ich ihr knapp, sehe sie zufrieden nicken und einmal mehr zerreißt es mir das Herz. Ich wende mich ein letztes Mal meinem Vater zu, der sich noch immer kein Stück weit bewegt hat. „Ich habe mich gefragt, ob ich dir jemals verzeihen könnte, wenn du mich darum bitten würdest. Ich würde es. Aber du niemals, nicht wahr?“ Seine Reaktion ist das Ergreifen seines Füllers. Mit Tränen in den Augen und einem riesigen Felsen im Herzen, drehe ich mich weg von diesem Bild, stürme die Treppe hinunter und aus dem Haus. Ich renne beinahe vor ein Auto, das mit quietschenden Reifen anhält. Ich flüchte in meinem eigenen, geliehenen, Wagen. --- Ein stetiges Pochen reißt mich aus meinem unruhigen Schlaf und völlig erschöpft blinzle ich in einen neuen Morgen hinein. Mein Nacken ist steif, meine Beine völlig taub und auch meine Finger fühlen sich nicht besser an. Ich bin im Auto eingeschlafen. Erneut klopft es, ich wende träge den Kopf und sehe direkt in das besorgte Gesicht Mariannes, die mir mit einem Wink näher bringt den Türriegel zu lösen. Ich folge dem, sie öffnet die Autotür und hockt sich neben mich auf den Boden. In ihren Händen hält sie eine dampfende Tasse Schokolade. „Geht es dir gut?“, fragt sie leise, reicht mir das Getränk und als sich meine Finger um das heiße Porzellan schließen, seufze ich wohlig auf. Ich nicke abwesend. Während Marianne um das Auto herumgeht und sich schließlich auf den Beifahrersitz sinken lässt, nutze ich die Gelegenheit um meine Beine unter dem Lenkrad hervorzuziehen und genüsslich auf dem Gehweg auszustrecken. „Hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, als ich dich heute Morgen so hier habe sitzen sehen. Ich dachte du atmest nicht mehr. Warst steif wie eine Puppe“, sagt Marianne, wobei kein Vorwurf in ihrer Stimme mitschwingt. Nur ehrliche Sorge. „Tut mir leid.“ Und ich meine es tatsächlich so. „In meinem Alter sollte man sein Leben im Griff haben“, nippe ich an der Schokolade, verbrenne mir dabei prompt die Zunge. „Vorsicht, heiß!“, grinst Marianne, lehnt sich mit einem leisen Seufzen nach hinten. „Das ist Unsinn, Raphael“, sagt sie dann. Schweigend sitzen wir nebeneinander, ihre Hand ruht auf meinem Knie, streicht beinahe abwesend über den Stoff meiner Jeans, während ihre Augen einen unbekannten Punkt in der Ferne fixieren. „Alles okay?“, frage ich sie, lege einen Arm um sie und ziehe sie in ihrem Sitz zu mir herüber. Ich höre ein leises Aufschluchzen. Plötzlich bebt ihr ganzer Körper und mir schwappt ein bisschen der Schokolade über die Hand. „Was ist passiert?“, hake ich nach, stelle die Tasse nach draußen auf den Gehweg und nehme Marianne dann vollständig in den Arm. Ihre Hände krallen sich in mein T-Shirt und eine ganze Weile sitzen wir einfach nur nebeneinander und warten, dass sie sich wieder beruhigt. „Bernhard ist gestern Abend ausgezogen“, sagt sie schließlich, zieht ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischt sich damit über das nasse Gesicht. Einen Moment lang kann ich nichts sagen. Das ist eine wirklich schockierende Nachricht. So liebevoll wie die beiden immer gewirkt haben – auch in der letzten Zeit – hätte ich nie gedacht, dass es zu einer Trennung kommen würde. Ihre Ehe war perfekt. In meinen Augen. „Sag nichts“, schaltet sich Marianne in meine Gedanken. Ein schwaches Lächeln ziert ihre bebenden Lippen. „Wir wollten die Kinder nicht beunruhigen und haben ihnen nichts gesagt. Schon lange lief es nicht mehr so gut zwischen ihm und mir und wir haben uns einvernehmlich dafür entschieden, dass wir eine Trennung einlegen. Vorerst. Um zu sehen, wie es jetzt weitergehen soll.“ „Wollt ihr euch scheiden lassen?“ „Ich weiß es nicht.“ Ihr Blick wird weich, sie streicht mir über die Wange. „Ich liebe meinen Mann und ich werde alles für unsere Ehe tun was nötig ist. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass man Dinge nicht erzwingen kann. Er braucht Zeit, hat er gesagt. Und ich als seine Ehefrau werden sie ihm geben.“ „Warum hast du mir nichts gesagt? Ich wäre doch gekommen, ich…“ Ihr Zeigefinger auf meinen Lippen unterbricht mich. Sie ergreift meine Hände, drückt sie fest und schafft tatsächlich ein ehrliches Lächeln. „Raphael, ich habe dich bei den Kindern mit eingerechnet, verstehst du?“ Ich schüttle den Kopf. „Also wirklich“, seufzt sie theatralisch auf. Das Lächeln schwindet nicht eine Sekunde lang. „Bernhard und ich lieben dich wie einen unserer eigenen Söhne, die Zwillinge sehen zu dir auf und Thomas wäre ohne dich doch überhaupt nicht lebensfähig. Auch wenn du es vielleicht nicht weißt, aber du warst immer und wirst auch immer ein Teil dieser Familie sein. Hörst du?“ Ein Damm bricht in mir und nun sind es meine Tränen die fließen. Nie und nimmer hätte ich mit solchen Worten gerechnet. Ich werde in meinem Leben nie gut machen können, was diese Menschen für mich getan haben und immer noch tun, aber ich hoffe, dass ich ihnen wenigstens einen Teil zurückzahlen kann. „Und wenn ich nicht wüsste“, fährt Marianne fort. „das du und Jamie gut alleine zurecht kommt, dann hätte ich dich schon längst aus deiner Wohnung geholt und bei uns einquartiert. Ich hoffe du weißt, dass dir unsere Tür immer offen steht, Raphael.“ Ich falle ihr in die Arme, die mich sanft umfangen und mich hin und her wiegen, wie ein kleines Kind. Vielleicht bin ich auch genau das. Noch ein Kind, das im Körper eines Erwachsenen zu überleben versucht. Ihr Geruch und ihre Wärme sind Balsam für meine Seele und wir verbringen eine lange Zeit damit uns gegenseitig im Arm zu halten. Wir reden über viele kleine Alltäglichkeiten und sprechen über die Zwillinge und Thomas. Marianne erzählt mir von ihrer Schwangerschaft und wie sie Bernhard kennen gelernt hat und es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Es ist ein Moment der Eintracht. „Sieh nur wie spät es ist“, deutet sie schließlich auf ihre Armbanduhr, lacht und schüttelt den Kopf. „Wir sollten langsam mal die Jungs wecken und Frühstück machen.“ Mir gefällt dieses Wir. „Aber vorher erzählst du mir noch, warum du die Nacht in diesem furchtbar unbequemen Auto verbracht hast. Mir schmerzt schon jetzt der Rücken.“ „Ich war bei meinen Eltern“, eröffne ich ihr und sie erstarrt in der Bewegung. „Weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Vater sehen und mit ihm sprechen müsste.“ „Oh Raphael!“ Marianne ist sofort wieder voll bei mir, ergreift meinen Arm und lehnt sich an mich. Ihre Sorge ist wirklich rührend und ich begreife erst jetzt, dass ich in ihr tatsächlich eine Mutter gefunden habe, die mich liebt und mich beschützt. „Es ist spät geworden und als ich hier angekommen bin wollte ich euch nicht wecken, deswegen habe ich draußen geparkt und bin wohl eingeschlafen. Ich war hundemüde.“ „Das glaub ich dir“, pflichtet sie mir bei. „Ein Grund mehr, dass wir jetzt da rein gehen und Kaffee machen.“ Gemeinsam steigen wir aus, ich schließe den Wagen ab, nehme die nun abgekühlte Tasse auf und folge Marianne in die Wohnung, die ich zum ersten Mal als mein eigentliches Zuhause betrachte. „FRÜHSTÜCK“, hallt es laut durch alle Zimmer, als Johannes und Lars wie zwei Tornados in die Küche gefegt kommen. Und keine zwei Sekunden später hört man „RAPHA!“. Die beiden Zwölfjährigen fallen mir regelrecht um den Hals, drücken sich an mich, zerren an meiner Kleidung und schubsen einander gegenseitig zur Seite. Ich ziehe sie beide in meine Arme, zerwühle ihnen ihre Frisuren und necke sie wo ich nur kann. „Jungs, hinsetzen!“, geht Marianne dazwischen, stellt zwei Gläser mit Apfelschorle auf den Tisch und verweist ihre Söhne auf ihre Plätze. Die alltägliche Kabbelei um die frischen Toasts und die Schokolade sind in vollem Gange. Ich gehe Marianne beim Kaffee zur Hand. „Hallo? Ist jemand zu Hause?“, ertönt es aus dem Flur und ich kann mir gerade noch rechtzeitig die Ohren zuhalten, ehe die Zwillinge einen gellenden Urschrei loslassen um mitzuteilen, dass niemand im Umkreis von drei Kilometern noch schlafen kann. Grinsend biegt Thomas um die Ecke, verpasst seinen kleinen Brüdern jeweils einen Klaps auf den Hinterkopf, küsst und drückt seine Mutter, ehe er mich erblickt und in seine Arme zerrt. Ich vergrabe mich in seiner Halsbeuge und atme seinen beruhigenden Duft ein. Mein bester Kumpel hat mir eindeutig gefehlt. „Hey, hey, hey… alles okay, Mann?“, raunt er mir leise zu und ich nicke schwach. Sein Lachen ist eine reine Wohltat. Er klopft mir auf die Schulter, drückt mich wieder fest, ehe er sich dann von mir löst um mir einen besorgten Blick zuzuwerfen. „Wir müssen dringend quatschen. Meine Ausbildung hat mich echt lange genug von dir fern gehalten“, gesteht er verlegen ein. Dann dirigiert er mich zum Küchentisch und wir fallen beide auf unsere Stühle und beginnen zu essen. Die Unterhaltung an diesem Samstagmorgen ist einfach und gespickt mit den Dingen die im Leben nun einmal passieren. Thomas berichtet von seiner Ausbildung als Erzieher und er hat sichtlich Spaß daran. Johannes und Lars sind unverändert die Rabauken des Ganzen und stellen allerlei Unsinn an, während Marianne einfach die liebevolle Mutter ist, die sie nun einmal ist. Wir sind gerade mit abräumen beschäftigt, als es an der Tür klingelt und die Zwillinge losstürmen um sie zu öffnen. Ich reiche Marianne die Aufstriche, während Thomas die Spülmaschine einräumt. Wir alle sehen auf, als wir einen leisen Aufschrei vernehmen und plötzlich mein kleiner Bruder an meinem Hals hängt. Weinend. Eine Zeit lang schluchzt er ganz unverständliche Sachen vor sich hin und ich lasse ihn einfach gewähren. So stehen wir mitten in der Küche und lassen Marianne und Thomas um uns herum arbeiten. Johannes und Lars zeigen vollkommenes Desinteresse für Familiendramen und sind bereits wieder in ihrem Zimmer verschwunden um ihren Kleinkrieg auf eine neue Stufe zu heben. „Jetzt komm wieder runter“, meine ich nach einer Weile, schiebe Jamie von mir und sehe in sein tränennasses Gesicht. Marianne und ich werfen uns einen wissenden Blick zu. „Wir sind alle zu nah am Wasser gebaut“, kommentiert sie ruhig, schenkt eine frische Tasse Kaffee ein und stellt sie Jamie hin, der sie dankend annimmt. Als ob alle Kraft aus ihm gewichen wäre, lässt er sich auf einen der Stühle nieder. Wir anderen nehmen ebenfalls wieder Platz und ich greife nach Jamies Hand, während Thomas ihm beruhigend über den Rücken streichelt. Es dauert eine Weile, bis mein kleiner Bruder tatsächlich soweit ist um mir die erwarteten Vorwürfe zu machen. „Wenn es eins gibt, dass ich absolut nicht vertragen kann“, schaut er mich mit blitzenden Augen an. „dann ist es, wenn du einfach irgendwohin verschwindest, ohne mir zu sagen warum und wann du wiederkommen wirst.“ „Ich hab dir gesagt, dass ich heute morgen wieder da bin“, werfe ich zu meiner Verteidigung ein. „Es ist bereits MITTAG“, sagt Jamie eine Spur zu laut. Ich verfolge auf der Küchenuhr, wie sich der große Zeiger in diesem Moment auf die zwölf schiebt. Jetzt ist Mittag. „Oh, spar dir das, Rapha, wirklich!“, warnt mein Bruder, der meinem Blick gefolgt ist. „Entschuldige“, grinse ich ihn an, klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Während ich immer wieder behutsam über Jamies Rücken streichle, unterhalte ich mich mit Marianne und Thomas. Es ist reiner Alltag, aber es auch das absolute Glücksgefühl. Ich sitze neben meinem weinenden Bruder, der vor Sorge um mich fast umgekommen wäre, unterhalte mich mit meinem besten Freund, der mich auch nach dreißig Jahren noch am besten von allen verstehen würde und dabei halte ich die Hand einer Frau und Mutter, deren Herz größer ist als dieses ganze Universum. Das alles ist mein Zuhause. Und ich freue mich auf einen weiteren Tag darin. --- Kapitel 9: Jubiläum (2000 / 12) ------------------------------- 9. Kapitel – 2000 (Dezember) Lautes Stimmengewirr erfüllt die große Wohnung der Familie Vogel an diesem Abend und mit Sicherheit ist das keiner der Anwesenden gewöhnt. Trotzdem haben alle Spaß und das Abendessen geht harmonisch über die Bühne. Auch Johannes und Lars wissen sich dieses eine Mal wirklich zu benehmen. „Wer hat denn das Salz?“, ruft Thomas über das Getöse hinweg. Ich greife um eine große Salatschüssel herum, reiche ihm den Streuer und nehme dafür den Brotkorb entgegen, der zu Bernhard wandert, der am Kopfende sitzt. Wir tauschen einen kurzen wissenden Blick miteinander, ehe wir uns wieder in unserem Essen vergraben. „Wenn du willst, dann kannst du nachher mit uns die Böller anzünden“, bieten Johannes und Lars Martina großspurig an, was ihnen allerdings nur einen Klaps von Jamie und Marianne einhandelt. Je größer desto frecher. „Dein Glas ist ja leer“, bemerkt Marianne beinahe erschrocken, deutet dabei auf Chris, der überrascht aufblickt. „Willst du noch etwas, mein Lieber?“ „Ähm… Wasser, danke.“ Lächelnd steht Marianne auf, schaut einmal fragend in die Runde. Sie muss nichts sagen. „O-Saft.“ – „Auch Wasser“ – „Bier, bitte“ – „Ja, wir auch eins!“ – „Ihr zwei kriegt keins!“ Mit dieser letzten Ermahnung an ihre Zwillinge verschwindet Marianne in der Küche. Ich lasse mir von Martina die Schüssel mit dem Salat reichen, fülle meinen Teller erneut und will gerade in eines der Salatblätter stechen, als ich einen fast geifernden Blick von Johannes und Lars auffange. Fragend hebe ich eine Augenbraue. „Spielen wir nachher Fußball?“ „Ja, Fußball!“, bekräftigt Lars mit einem Nicken. „Von mir aus“, gebe ich zurück und habe den beiden damit den ganzen Abend gerettet. Das Essen nimmt seinen weiteren Verlauf, die gewünschten Getränke füllen die jeweiligen Gläser und es geht mit Freude und Humor auf die späteren Stunden zu. Keiner fühlt sich am Ende dazu befleißigt den Tisch aufzuräumen und auch Marianne schafft es einmal ihre Pflichten als Hausfrau zu vergessen und einfach mit ihrem Glas Rotwein sitzen zu bleiben. Die Gespräche haben einen ruhigeren Ton gefunden und es herrscht allgemein das Gefühl total voll gefressen zu sein. Natürlich bilden die Zwillinge mal wieder eine Ausnahme. „Wo ist eigentlich Erich?“, fällt es mir in diesem Moment auf. „Der feiert zu Hause“, gibt Thomas neben mir Auskunft, lehnt sich an meine Schulter an um keine Sekunde später aufzustoßen. „Lecker“, meine ich sarkastisch. „Sorry. Alter, bin ich fett…“ „Dann spiel eine Runde Fußball mit uns“, schlage ich ihm vor. „Nie und nimmer, dann kotz ich“, prophezeit mein bester Freund. Letztendlich kann er aber nicht an sich halten, als ich eine halbe Stunde später mit den Zwillingen draußen auf der Straße herumtobe. Thomas sprintet mit mir um die Wette, dribbelt mich aus, greift sich Lars im vorbeilaufen und schießt so das Führungstor. „Foul“, rufe ich lachend. „Lass meinen Mitspieler runter!“ Lachend setzt Thomas seinen fluchenden Bruder wieder auf die Erde und Johannes eröffnet die zweite Runde, zu der sich nun auch Bernhard und der mitgezogenen Chris gesellen. Fußball kann man das Ganze nicht mehr nennen, als sich die Zwillinge an die Beine ihres Vaters klammern und Thomas mich im Schwitzkasten hält, während ich einen Arm um Chris’ Hüfte geschlungen habe, damit mir dieser nicht abhaut. Der Ball liegt nur wenige Zentimeter von meinem Tor entfernt. „Bernhard“, rufe ich. „Rette uns!“ „Komme schon“, kommt es lachend zurück. „Dauert nur noch Lichtjahre.“ „Das muss schneller gehen“, feuere ich ihn an. „Mopsgeschwindigkeit.“ Ich höre Thomas hinter mir auflachen. „Ihr habt einen Marderschaden, Kapitän“, antwortet er, fasst meinen Arm und versucht so Chris aus meiner Umklammerung zu befreien. Ich drehe mich ein Stück nach rechts, kriege mit zwei Fingern Chris’ Hemd zu fassen, ziehe ihn so wieder zu mir. „So haben wir nicht gewettet“, knurre ich leise, als Thomas genervt aufstöhnt. „Gib auf!“ „Niemals!“ Chris versucht sich von mir loszureißen, doch ich packe nun auch mit der zweiten Hand zu, die bisher Thomas davon abgehalten hat mich zu erwürgen. Der greift allerdings um und schlingt seine Arme um meinen Brustkorb. „Hier geblieben“, murre ich Chris an, der mir einen kurzen Blick zuwirft. „Los, Chris, hier geht es um die Ehre!“, schnauft Thomas. „Mach das Ding rein!“ Langsam sehe ich Bernhard auf mich zukommen, der riesige und sehr unbeholfene Schritte nach vorne macht. Seine beiden Söhne stehen nun jeweils auf einem seiner Füße, halten sich an seinem Oberkörper fest und alle drei haben große Mühe damit das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Einige Minuten ringen wir alle noch um den Sieg, doch dann ist es Martina, die alles entscheidet, indem sie den Ball blindlings mit der Hacke nach hinten schlägt. Nur knapp geht er an den gegnerischen Torpfosten vorbei. Thomas und ich stöhnen auf. „Unentschieden“, keuche ich, stütze mich auf Chris ab, der praktischerweise noch neben mir steht und atme einmal durch. „Kleiner Verräter“, ziehe ich Lars in eine kurze, aber raue Umarmung, verpasse ihm eine Kopfzwiebel und schicke ihn dann zu seiner Mutter, die vor der Tür auf uns wartet. Gemeinsam räumen wir das Schlachtfeld, verziehen uns wieder in die gemütlich warme Wohnung und waschen uns abwechselnd im Bad Gesicht und Hände. Jamie reicht mir ein frisches Handtuch als ich raus komme, legt dann einen neuen Stapel auf die Toilette, ehe er mit mir Richtung Küche schlendert in der wir uns unsere Tassen Punsch abholen. Johannes und Lars haben sich mit Martina in eine ruhigere Ecke des Wohnzimmer verzogen und spielen irgendein Gesellschaftsspiel zusammen, bei dem Bernhard ihnen zusieht und auch hin und wieder einige Kommentare liefert, die mit Gemeckere seitens der Zwillinge belohnt werden. Aufseufzend wirft Marianne sich in den Sessel, streckt die Beine von sich und lacht befreit auf. Beinahe verschüttet sie dabei ihren Tee. Jamie hat sich neben mir auf das Sofa fallen lassen und wir genießen zu dritt das einfache Beisammensein. „Das Bad ist wieder frei“, meldet sich Chris nach einer Weile zurück. „Setz dich, mein Lieber. Nimm Platz“, bietet Marianne ihm an und er lässt sich lächelnd auf meiner anderen Seite nieder. Es ist kur vor elf und eine Stunde lang wollen wir alle nur noch eins: ausspannen. Jamie lehnt sich an meine Schulter, schließt seufzend die Augen. Ich ziehe eine Decke über ihn, was ihn lächelnd lässt. Langsam lasse ich meinen Kopf nach hinten auf die Lehne sinken, schiele zu Chris herüber, der abwesend aus dem Fenster starrt und dem Schneetreiben zusieht, das eingesetzt hat. Unsere Blicke treffen sich im Glas und sekundenlang sehen wir uns einfach nur an. Als ich meinen Arm hebe, werden seine Augen ein wenig größer. Ich umfasse seine Schulter, ziehe ihn zu mir heran und wende mich in dem Augenblick von ihm ab, in dem er den Kopf zu mir dreht. Ich begegne Mariannes wissendem Lächeln mit einem einfachen Schulterzucken. Es ist Silvesterabend. Das alte Jahr verabschiedet sich, ein neues Jahr wird willkommen geheißen. Für einen kurzen Augenblick herrscht eine totale Befreiung von allen Zwängen. Und heute ist davon schon früher etwas zu spüren. Ich fühle mich seltsam gelöst. „Rapha“, meldet sich Jamie mit einem Mal leise. „Wo bist du damals gewesen?“ „Daheim“, antworte ich flüsternd, spüre wie er sich ruckartig aufsetzt und mich kritisch mustert. Vielleicht sucht er nach den Spuren die meine Tränen hinterlassen haben. Er wird sie nicht finden. Sie sind versiegt und haben nicht einmal ein leeres Bachbett zurückgelassen. „Ich habe Vater gesehen“, fahre ich fort. „Er sitzt im Rollstuhl, hat kaum noch Haare und ist ganz abgemagert. Mutter hat einen krummen Rücken bekommen.“ Fast zeitgleich greifen zwei Hände nach mir. Jamies legt sich auf mein Gesicht, dreht dieses zu sich herum, während Chris unauffällig nach meiner eigenen greift und sie sanft drückt. Er scheint zu spüren, dass dieses Thema nicht ganz ohne ist. „Warum hast du nichts gesagt?“, fragt Jamie und ich sehe einen verletzten Ausdruck in seinen Augen. „Es gab nichts zu sagen. Es ist passiert“, erkläre ich, wende mich Marianne zu, die vollkommen entspannt in ihrem Sessel sitzt. Ihre hellen Augen ruhen auf mir. Sie lächelt. „Hat er irgendetwas zu dir gesagt?“ „Hm… nicht wirklich.“ Einen Augenblick überlege ich, ob ich Jamie erzählen soll, dass unser Vater nur noch eine leblose Puppe ist. Ich entscheide mich dagegen. Es würde nichts bringen. Jamie ist unbelasteter als ich und mehr um mich besorgt als um sich selbst. Als sich Chris an meine Schulter lehnt, sehe ich zu ihm herunter und begegne seinem sanften Lächeln. Zögernd streiche ich ihm das hellbraune Haar aus dem Gesicht, was ihn beinahe genießerisch die Augen schließen und mich leise lachen lässt. „Wie geht’s dir?“, frage ich ihn. „Gut“, antwortet er, sein Lächeln wird dabei breiter. „Soll ich dich später nach Hause bringen?“ „Eigentlich wollte ich bei dir bleiben.“ Sein Blick wird fragend. Ich weiß nicht genau warum, aber in diesem Moment erscheint mir nichts logischer, als das ich Chris zu mir nehme und er die Nacht an meiner Seite verbringt. Vielleicht werde ich ein wenig sentimental auf meine alten Tage, aber nach einem so schönen Silvesterabend habe ich einfach nicht das Bedürfnis danach alleine in meinem Bett zu liegen. Und Jamie wird nachher zu Martina mitgehen und dort übernachten. „Okay“, flüstere ich gegen seine Stirn, als ich mich vorlehne und einen sanften Kuss darauf setze. Ich mag das Gefühl von Chris in meinem Arm. Es ist sehr angenehm. „Okay.“ Nachdem die Zwillinge Martina großzügig haben gewinnen lassen, raffen wir uns nach und nach langsam auf, Thomas und Jamie schleppen den großen Karton mit den Böllern nach draußen. Auf der Straße stehen schon viele Nachbarn, die ihre Raketen bereits in den Himmel schießen. Die ersten Lichter regnen auf uns herab. Die komplette Familie Vogel samt meinem Bruder und Martina machen sich nun an den Aufbau der Böller und Knaller. Thomas setzt die erste Lunte in Brand und nur wenige Sekunde später hören wir ein lautes Zischen, verfolgen den Raketenflug und erfreuen uns an dem Anblick der gold-weißen Lichter. Es ist ein Schauspiel sondergleichen wie die Zwillinge nun eine Schnur nach der anderen anzünden und so ein riesiges Spektakel am Himmel entfachen. Gemeinsam mit allen anderen färben sie den Himmel in den verschiedensten Farben und Formen. Die beiden Frauen unterhalten sich leise, lachen gemeinsam und betrachten verträumt das nächtliche Schauspiel. Bernhard ist ganz Kind und sorgt mit seinen Söhnen unermüdlich für Nachschub. Jamie steht neben mir, betrachtet mit mir die anderen, während Chris – ganz Kameramann – ein Bild nach dem anderen schießt. „Noch zehn Minuten“, informiert mich mein kleiner Bruder. Abwesend nicke ich ihm zu. Das stete Klicken des Fotoapparats hallt in mir wieder, durchzuckt jede noch so kleine Ader. Ich bekomme eine Gänsehaut und frage mich, ob es tatsächlich nur wegen der Kälte ist. Schon eine ganze Zeit lang fühle ich mir, als wenn man mich in Wolle gepackt hätte. Es ist warm und kuschelig, aber vielleicht auch zu viel des Guten. Mir entgleitet die Realität. Oder zumindest das, was ich von ihr halte. Die Veränderungen der letzten Zeit… ich kann sie nicht einordnen. Gut oder schlecht, schwarz oder weiß… derzeit sehe ich alles grau in grau. Nichts ist so wie es sein sollte. Oder? „FROHES NEUES!“ Thomas fällt mir um den Hals, abwesend gebe ich den Wunsch und die Umarmung zurück, lasse mich von ihm necken und ärgern, ehe er sich dem Rest zuwendet. Der Reihe nach kommen sie zu mir, drücken mich. Ich lasse es an mir vorbeiziehen. „Auf ein gutes neues Jahr, Bruderherz“, steht Jamie vor mir, umarmt mich und schaut mit leuchtenden Augen zu mir auf. Es ist das zweite Silvester, das ich mit ihm verbringen kann und ich bin dankbar dafür. Ich lächle ihm zu, küsse seine Stirn und schiebe ihn dann in Richtung Martina von mir. Sein verlegenes Grinsen wird von einer stattlichen Gesichtsröte begleitet. Die anderen feiern ausgelassen, Sekt wird gereicht und die Zwillinge schicken die letzten Raketen gen Himmel, während Bernhard und Marianne züchtig nebeneinander stehen. Sie streiten sich nicht öffentlich, aber die Trennung wird dennoch deutlich. Immer wieder geht ein Blitzgewitter auf die anderen nieder. Chris hüpft um die Gruppe herum und schießt ein Foto nach dem anderen. Am Ende dieses Abends werden wir uns alle auf Bildern wieder finden können. Nur er selbst wird nicht zu sehen sein. Dieser Gedanke lässt mich stutzen. Als Chris an mir vorbeigeht um eine andere Position zu finden, packe ich ihn am Arm und ziehe ihn fester als beabsichtigt zu mir. Seine großen Augen starren mich von unten her an, sein warmer Atem streift meine Wange und plötzlich scheine ich ganz voll von ihm zu sein. Überall ist nur noch Chris. Selbst sein Haar kitzelt mich. „Lass mal jemand anderen fotografieren. Sonst gibst es kein Bild von dir“, meine ich leise, lasse ihn dabei nicht aus den Augen. Er bleibt stumm. Hängt weiterhin in meinem Arm und scheint zu wissen, dass ich noch etwas sagen will. Ob ich das wirklich will, weiß ich selbst nicht genau, aber ich will ihn in diesem Moment einfach noch nicht loslassen. Es ist alles Watte. Chris ist Watte. Und er ist warm. „Frohes Neues, Chris“, flüstere ich ihm ins Ohr, greife ihn fester, ziehe ihn noch näher zu mir, vergrabe mein Gesicht an seinem Hals, küsse die warme Haut unter meinen Lippen und atme seinen süßlich-herben Duft ein. Ich kriege nicht genug von all dem, ich brauche es wie die Luft zum atmen. Meine Hände werden wieder warm, mein ganzer Körper wird von einem leichten Zittern ergriffen. „Raphael…“, höre ich ihn gedämpft sagen. „Alles in Ordnung?“ Ich nicke schwach, doch alles in meinem Kopf dreht sich. Ich sehe bunte Wirbel vor meinen geschlossenen Augen und meine Beine werden langsam weich. „Du hast Fieber!“ Sein Aufschrei ist nur leise zu hören und ich habe nicht einmal bemerkt, dass er mir seine Hand auf die Stirn gelegt hat. Ich stehe auch nicht mehr so nah an ihm dran wie ich meinte. Alles rückt etwas weiter weg. Das Zittern wird stärker. „Ein Fieberanfall… Schüttelfrost hat er auch…“, höre ich Marianne neben mir sagen, dann werde ich von Chris und Thomas gepackt und in die Wohnung geschleift. Mir ist elend zu mute und es braucht eine Warnung von Thomas, ehe man mich neben den Büschen absetzt, damit ich mich übergeben kann. --- Als mich etwas Kaltes im Gesicht erwischt, schrecke ich hoch. Mein Kopf brummt fürchterlich und mir wird bei der schnellen Bewegung erneut schwindelig. Das Fenster steht einen Spalt offen. Vermutlich hat mich ein kalter Luftzug getroffen. Ich liege unter zwei dicken Decken begraben in einem fremden Bett. Neben mir liegt überraschenderweise weder Jamie noch Thomas. Auch nicht Marianne. „Chris?“, stupse ich den Schlafenden vorsichtig an, der daraufhin kleine Laute von sich gibt und langsam die Augen aufschlägt. „Du bist wach…“, stellt er verschlafen fest, greift hinter sich und zieht einen digitalen Wecker zu sich. Ich erkenne, dass es kurz vor Fünf ist. „Wo sind wir?“, frage ich. „Bei Frau Vogel“, antwortet er, setzt sich vorsichtig auf, gähnt herzhaft. „Sie und die Zwillinge sind zu dir in die Wohnung. Jamie und Martina haben Thomas mitgenommen. Geht es dir besser?“ „Ja. Hab aber einen Filmriss.“ Chris drückt sich das Kissen zurück, ehe er über mich hinweg greift und eine Flasche Wasser sowie eine Tablette zu Tage fördert. Er hält mir beides hin und ich bin einmal so artig und nehme die Medizin ohne einen Kommentar. „Du hast hohes Fieber bekommen, da haben wir dich zur Ambulanz gebracht. Du sollst dich schonen und das Antibiotikum aufbrauchen. Wenn es dir schlechter geht, oder die Medizin alle ist, sollst du zum Hausarzt gehen und dich durchchecken lassen. Es ist anscheinend nichts ernstes, nur ein plötzlicher Infekt, aber sicher ist sicher“, klärt Chris mich auf, während er die Decken ordnet, sich schließlich umzieht und wieder ins Bett schlüpft. Er war wohl zu müde gewesen, sich direkt in einen Schlafanzug zu werfen. Jetzt trägt er eine Hose, die mit Sicherheit Bernhard gehört, so groß wie sie ist. „Herr Vogel schläft im Zimmer der Zwillinge, falls etwas ist.“ „Marianne wollte wohl für Ruhe sorgen“, murmle ich leise und kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Zwillinge hätten mich zwar nicht sonderlich gestört, aber eine besorgte Mutter lässt nichts an einen kranken Schützling kommen. Auch Chris lacht verhalten, rückt ein Stück näher zu mir heran und greift nach meiner Hand. „Dir auch ein frohes neues Jahr“, flüstert er. Ich nicke ihm zu, stelle die Wasserflasche wieder auf den Boden, lege mich hin. Nach einer Weile drehe ich mich zur Seite. Chris’ Blick ruht noch immer auf mir, was mich mit den Augen rollen lässt. „Es geht mir wieder gut“, maule ich. „Man weiß ja nie“, lautet seine freche Antwort. „Ich glaube, dass ich schon länger krank war“, teile ich ihm meinen gerade gekommenen Gedanken mit. Überrascht hebt er den Blick, stützt sich auf seinem Arm ab und sieht mich abwartend an. „Ich habe mich eine ganz Zeit lang schon gefühlt, als ob man mich in Watte gepackt hätte. Und mir war oft viel zu warm.“ „Seit wann?“ „Hm… weiß nicht.“ „Keine Ahnung ob so was geht… vielleicht sollten wir doch noch mal zum Arzt.“ „Wir?“, hebe ich spöttisch eine Augenbraue. Sein Blick bleibt unverändert. Diese Spannung zwischen uns ist furchtbar. Ich weiß nicht wann genau es wirklich begonnen hat, aber in letzter Zeit ertrage ich Chris kaum noch. Er reizt mich, er fordert mich heraus, er kitzelt etwas in mir. Ich will das alles unterdrücken, aber mit jedem Mal wird es schwerer. Ob das an der Trennung von Zack liegt, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Auch vorher habe ich Chris nur schwer ertragen können. Er war aber auch eine Nervensäge. Ob er sich verändert hat? „Morgen, eher heute, soll es übrigens eine kleine Feier bei Martina geben.“ „Wirklich?“, frage ich abwesend nach. „Ja. Jamie meinte, dass es noch etwas anderes zu feiern gäbe, als nur das neue Jahr. Thomas schien auch zu wissen worum es geht.“ Überrascht sehe ich Chris wieder an. „Ich weiß es jedenfalls nicht.“ „Ich ahne es“, antwortet er, sieht mich noch immer mit diesem eindringlichen Blick an. „Hör auf“, beschwere ich mich, drehe mich aber nicht von ihm weg. Sein Lachen ist leise, etwas rau, vor allem aber tief. Chris hat eigentlich eine sehr helle Stimme, aber wann immer er lacht, wirkt sie sehr dunkel. Vielleicht war er noch nicht im Stimmbruch. Auch wenn er damit ein Spätzünder wäre. Seine Augen wirken im fahlen Dämmerlicht verführerisch auf mich. Mysteriös, könnte man meinen. Als würde er etwas wissen, was ich nicht weiß. Und eigentlich tut er das ja auch. Wenn ich an morgen denke, dann werde ich mich überraschen lassen müssen, während er zumindest eine Ahnung zu haben scheint. „Raphael“, spricht er, drückt meine Hand fester. „Ich mag dich.“ Ich weiß nicht was genau, aber irgendetwas setzt bei mir gerade aus. Zumindest atme ich nicht mehr. Alles scheint langsamer zu werden, anzuhalten. Als ob die Welt aufhören würde sich zu drehen, um uns ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich bin krank. Vielleicht auf mehr als nur eine Art. „Ich denke, dass du das schon weißt sowie alle anderen das auch wissen, aber…“, er unterbricht sich. Scheinbar wägt er seine nächsten Worte ab. „…ich wollte es dir einfach sagen. Jamie meinte zu mir, dass du manchmal schwer von Begriff wärst, deswegen wollte ich sicher gehen, dass du es wirklich weißt. Ich mag dich, Raphael, ehrlich.“ Ich bin mir nicht sicher, wem ich jetzt was übler nehmen soll: Jamie, dass er derartiges von mir behauptet oder Chris, dass er… was auch immer gemacht hat. Mir wird schlagartig wieder bewusst, dass ich mit Gefühlen einfach nicht gut klar komme. Weder mit meinen eigenen, noch mit denen von anderen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Das ich es nicht gewusst habe? Aber selbst mir ist das klar gewesen, dass Chris anhänglicher und nerviger war als jeder andere. Er hat auch immer wieder versucht mich aus der Reserve zu locken. Klar habe ich es gewusst, aber… wie soll ich groß drauf reagieren? „Okay“, lautet schließlich meine Antwort. „Wirklich?“, hakt Chris nach. Ein entnervtes Stöhnen entfährt mir, ich ziehe Chris näher zu mir, schaue ihm grimmig in die Augen, tippe ihm mit meiner freien Hand gegen die Stirn. „Hör auf damit!“, fauche ich leise. „Natürlich ist das klar! Du magst mich, dass habe ich verstanden, also hör auf mich wie einen Idioten dastehen zu lassen! Du solltest meinem Bruder nicht alles glauben.“ Sein Lachen ist ansteckend und eine Weile liegen wir uns so gegenüber. Er rückt noch etwas näher an mich heran, bettet seinen Kopf schließlich auf meine Brust, während mein Arm ihn enger zu mir zieht und ihn festhält. „Und was tust du jetzt?“, fragt Chris mich nach einer Weile. „Nichts“, gebe ich ehrlich Antwort. „Du magst mich, soviel habe ich verstanden. Solange du dich nicht endgültig in mich verliebst bleibt alles so wie immer.“ „Und wenn ich mich verliebe?“, bohrt er weiter. „Das sehen wir dann, wenn es dazu kommt.“ Chris stützt sich auf, schiebt sich über mich und sieht von oben auf mich herab. In der aufgehenden Sonne wirken seine Haare beinah blond. Auch seine Augen bekommen einen grünlichen Stich. „Chris…“, seufze ich leise, halte ihn fest, als er sich zurück ziehen will. „Ich traue mir nicht, was solche Gefühle angeht. Ich war einmal verliebt, vielleicht bin ich es noch, keine Ahnung. Ich kenne so was nicht, es fällt mir schwer damit umzugehen.“ Seine Finger streicheln sanft durch meine Haare, über meine Wange. Sein Daumen fährt über meine Lippen, zu meinem Kinn, wieder über die Wange. Er sieht mich einfach nur an, streichelt mein Gesicht, schließlich nickt er dann. „Okay. Dann weiß ich ja, worauf ich mich einlasse“, lacht er leise. „Auf deine Verantwortung“, bestätige ich ihm, lege meine Arme um seine Hüfte und sinke etwas tiefer in mein Kissen. Sein Kopf landet wieder auf meiner Brust, während seine Hände unablässig jeden Zentimeter Haut streicheln, den sie erreichen können. Mit einem letzten Blick aus dem Fenster schlafe ich ein. --- „Steh schon auf!“, rufe ich nun zum vierten Mal, ziehe Chris das Kopfkissen weg und schmeiße es zu den beiden Decken auf den Boden. Das erste Mal habe ich mich damit begnügt ihn von mir runter zu stoßen. „Chris!“, kommt es eindringlicher von mir, aber ich erhalte – wie die vier Male davor – nur ein leises brummen. Er ist wach. Das weiß ich. Schließlich hat er mich unverschämt angegrinst, als ich ihm die zweite Decke weggenommen habe. „Komm und hol mich“, antwortet er und mir bleibt für einen Moment die Luft weg. Ich hatte ihn immer für einen aufdringlichen, leicht nervigen, dafür aber hochanständigen und vielleicht sogar zurückhaltenden Jungen gehalten. In meiner Vorstellungen haben Sechzehnjährige keinen Sex. Zumindest nicht die heutige Generation. Die kann damit nicht umgehen. Werden direkt alle schwanger oder krank. Ich hatte mein erstes Mal zwar schon mit vierzehn, aber ich wusste wenigstens wie ein Kondom aussieht. Zack wusste das auch. Bei Chris bin ich mir da gar nicht so sicher. Bei Jamie muss ich mir keine Sorgen machen, da habe ich das höchstpersönlich nachgeholt, als er mit Martina im Arm ankam. Er ist ziemlich rot dabei geworden. „Was fällt dir eigentlich ein?“, fahre ich ihn an und im ersten Moment wirkt er auch erschrocken. „Du Grünschnabel bist nicht einmal trocken hinter den Ohren und kommst mir auf die Tour? Du hast doch keine Ahnung von solchen Sachen!“ Mit beleidigter Mine dreht Chris sich vollends zu mir um. „So ein Unsinn! Ich bin sechzehn! Wir werden in der Schule schon mit zwölf aufgeklärt!“ „Heißt nicht, dass ihr dann wisst worauf es ankommt!“ „Gott, bist du altmodisch“, wirft Chris mir nun lachend vor, setzt sich auf und streicht sich nebenbei über die Brust, während seine andere Hand in seinen Haaren verschwindet. Die zu große Schlafanzughose ist ihm in der Nacht runtergerutscht sodass er nur noch in seinen Shorts dasitzt. Es klopft und Bernhard steckt den Kopf zur Tür herein. Er lächelt uns zu, kommt zu mir heran und hält mir seinen Handrücken gegen die Stirn. „Nur noch etwas warm. Hast du die Tabletten genommen?“ Ich nicke zur Bestätigung. „Die Hose war doch viel zu groß. Gib sie mir, ich nehme sie direkt wieder mit. Chris reicht ihm das Kleidungsstück, kann sich dabei allerdings nicht das freche Grinsen zu mir verkneifen. Bernhard plaudert noch eine Weile, lehnt unsere Einladung zur Party jedoch ab. Er muss heute schon wieder arbeiten. Als Zugführer hat man nicht immer das Glück über die gesamten Feiertage frei zu kriegen. Als Bernhard sich verabschiedet hat und die Tür hinter ihm zugefallen ist, nutze ich die Gelegenheit um Chris eine zu verpassen. Lachend sieht er zu mir auf, greift nach meiner Hand und ehe ich mich aus dem Griff befreien kann, hat er mich so nahe zu sich gezogen, dass ich gegen das Bett stoße und mich auf der Matratze abstützen muss, um nicht auf ihn zu fallen. „Dafür bist du noch zu jung“, ermahne ich ihn. „Tatsächlich?“, zieht er spöttisch eine Braue nach oben. „Dabei hab ich mein erstes Mal schon gehabt. Mit einem Jungen. Und einem Mädchen. Letztes Jahr sogar schon.“ Missmutig verziehe ich die Miene. „Mir egal“, maule. „Dann bist du für mich zu jung.“ Einen Moment ist Chris still, sieht mich nachdenklich an, ehe er sich vorlehnt. Ich drehe mein Gesicht von ihm weg, spüre seine Lippen auf meiner Wange, das sanfte Liebkosen seiner Zunge. Ich verharre in meiner Position, lasse die Eindrücke auf mich wirken. Doch schließlich richte ich mich auf, beende so die Berührung und werfe Chris einen warnenden Blick zu. „Übertreib es nicht.“ „Das ist unfair“, beschwert er sich, verschränkt die Arme vor der Brust und wirkt wie ein schmollendes Kleinkind. Auch wenn er es selbst nicht sieht, er ist und bleibt einfach zu jung für solche Spielchen. Er macht sich vermutlich keinerlei Vorstellung davon, was passieren könnte, wenn jemand in meinem Alter die Beherrschung verliert. „Es ist zu deinem Besten.“ „Unsinn!“, widerspricht er mürrisch. „Du ziehst einfach keine klaren Grenzen. Ich darf dich umarmen, mich an dich lehnen, bei dir schlafen, sogar auf dir schlafen, aber…“ „Aber du darfst mich nicht küssen, mich nicht anmachen und vor allem nicht mit mir schlafen“, beende ich seine Aufzählung. Mein Blick ist streng. „Und alles andere sind Sachen, die ich auch bei Thomas, Jamie und sogar Erich zulasse.“ „Dann bin ich für dich also nur ein Freund?“ In seinem Blick liegt etwas Verletztes. Ich verstehe Chris einfach nicht. Er hat Interesse an mir, nicht umgekehrt und ich glaube mit Fug und Recht behaupten zu können, dass ich ihm nie Hoffnungen gemacht habe. Es ist nichts passiert, nicht einmal im Ansatz. „Sei froh, dass du wenigstens das bist“, erwidere ich schließlich. „Oh, du bist so ein Arschloch!“, braust Chris auf, springt vom Bett herunter und schubst mich gegen das Fensterbrett, das sich unangenehm in meinen Rücken bohrt, als er mir den Fluchtweg verstellt. „Nie erzählst du etwas von dir, immer versteckst du dich hinter irgendwelchen Mauern. Dauernd bist du unfreundlich, aber dann machst du so absolut hinreißende Sachen. Aber wenn man darauf reagiert, wirst du wieder kalt!“ „Wovon redest du eigentlich?“, frage ich irritiert nach. „Du hast mich umarmt! Mehrmals! Du warst da, wenn ich dich gebraucht habe, du hast mich sogar vor meinen notgeilen Kollegen bewahrt! Du lässt mich bei dir schlafen, nimmst mich dabei in den Arm und gestern… gestern hast du mich geküsst!“ „Habe ich nicht!“, wehre ich ab. „Hast du wohl! Auf den Hals! Kurz bevor du fiebrig geworden bist!“, revidiert Chris sofort. Er ist total aufgebracht. Richtig wütend. Ich hätte ihm nie zugetraut, dass er einmal so ausrasten kann. „Chris“, seufze ich, schiebe ihn bestimmend von mir, auch wenn er sich dagegen lehnt. Ich halte ihn an den Schultern fest, seufze noch einmal auf und schaue zu ihm herunter. „Du nervst“, sage ich schließlich. „Du bist penetrant, aufdringlich, viel zu ehrlich und garantiert viel zu naiv, okay?“ Er wendet sich ab. „Aber… ich hab dich gern, alles klar?“ Nun weiche ich seinem Blick aus. „Frag mich nicht warum, keine Ahnung, aber ich hab dich gern. Und ich mag nicht sehr viele Leute. Und noch weniger Leuten schenke ich mein Vertrauen. Ich bin… schwierig. Es gibt Gründe, warum ich so bin. Ich kann’s nicht ändern. Nicht so schnell jedenfalls.“ „Du magst mich?“, unterbricht Chris mich, zwingt mich mit einer Hand ihn anzusehen. „Ja“, gestehe ich ehrlich ein. „Okay“, sagt er nach einer kurzen Zeit, in der wir uns einfach nur gegenüber gestanden haben. „Okay. Das reicht mir.“ Ich lasse ihn los und er wendet sich ab, sucht auf der anderen Seite des Bettes seine Sachen zusammen, kleidet sich wortlos an. Noch immer stehe ich auf der gleichen Stelle. Ich beobachte ihn, folge jeder seiner Bewegungen und wundere mich über mich selbst. Ich habe noch nie so offen über solche Dinge gesprochen. Nicht einmal mit Jamie. „Es reicht mir, dass du mich magst, Raphael“, wiederholt Chris, als er an der Tür steht und mich mit einem seltsamen Blick mustert, den ich nicht recht deuten kann. „Vorerst.“ Als er aus dem Schlafzimmer verschwunden ist und ich mich zu meinen Klamotten vorlehne, die auf einem Stuhl neben dem Bett hängen, muss ich mit einem Mal anfangen zu grinsen. Es ist kein Lächeln. Ein wirklich breites Lächeln. Und ich kann es einfach nicht verhindern. Es ist aber auch einfach unglaublich. Unglaublich aber wahr. Chris hat mich soeben zum Duell gefordert. --- Gemeinsam mit der kleinen Nervensäge bin ich kurz darauf auf dem Weg zu meiner Wohnung. Die Zwillinge werden von einer zu stürmischen Begrüßung abgehalten und dann liege ich kurz darauf Marianne im Arm. Sie zwingt mich dazu Fieber zu messen, eine halbe Flasche Wasser zu leeren und vor ihren Augen die Tablette zu nehmen, ehe sie sich mit ihren Söhnen in ihre eigene Wohnung aufmacht. „Ich komme euch heute Abend abholen, damit ihr nicht zu der Party laufen müsst. Thomas soll nicht so viel trinken, damit er euch wieder heil nach Hause bringen kann.“ „Ist gut“, lenke ich ein. Es macht einfach keinen Sinn mit Marianne zu streiten. In solchen Sachen setzt sie ihren Kopf durch. Als Thomas krank war, war es genau dasselbe Spiel. Ehe sie nicht der Meinung ist, dass alles überstanden ist, hat man zu tun was sie sagt. Sehr fürsorglich und nett, aber auch sehr anstrengend. Wir verabschieden uns und dann ist es für mich Zeit klar Schiff in der Wohnung zu machen. Marianne war so nett das leere Geschirr abzuspülen und wegzuräumen, aber die Wäsche hat sie stehen lassen. Gott sei Dank! Oberpeinlich, wenn sie das gemacht hätte. Ich stelle die Waschmaschine an, gehe kurz duschen und steige in frische Klamotten. Auch Chris wird von mir zu einer ordentlichen Wäsche verdonnert und ich leihe ihm einmal mehr Sachen aus meinem Schrank. „Sollen wir frühstücken gehen?“, frage ich Chris, als dieser aus meinem Schlafzimmer kommt. Ich räume gerade einige Bücher um. „Gerne. Ich sterbe vor Hunger.“ „Dann gehen wir gleich. Ruf vorher lieber noch deine Mutter an.“ Murrend folgt er der Anweisung, greift nach dem Telefonhörer, der auf dem Wohnzimmertisch steht und tippt die Zahlen ein. Er wirft sich aufs Sofa, beobachtet mich dabei, wie ich meine CDs durchgehe und einige aussortiere. „Ich bin’s“, kommt es brummig, als sich eine Stimme am anderen Ende meldet. „Ja, mir geht’s gut. Ich komm wohl erst morgen Abend nach Hause.“ Ich ziehe eine Schublade auf und nehme mir ein Staubtuch aus der Plastiktüte. Der Fernseher und die Regale werden abgestaubt, einige der Figuren räume ich beiseite. Die Dekoration ist schon viele Jahre alt und langsam wird es Zeit für neue Sachen. „Hör auf, Mama“, beschwert sich Chris. „Ich hab dir gesagt wo ich bin! Gestern war ich bei der Familie eines Freundes und heute sind wir bei der Freundin seines Bruders! … Nein, das war eine kurzfristige Einladung. Außerdem kommt Opa doch erst morgen.“ Ich hole mir aus der Küche einen Beutel, packe das aussortierte Zeug hinein und stelle ihn auf den Tisch. Mehr als das will ich heute nicht machen. Im Flur klemme ich mir zwei Jacken unter den Arm und werfe eine davon Chris über den Kopf. Sein Blick ist genervt. „Mama, bitte… Mama…!“ Scheinbar hat sich seine Mutter gerade in Rage geredet. „Nein, jetzt hör doch mal!“ Ich lasse mich neben ihn auf das Sofa fallen, lege einen Arm um ihn und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Sein Blick ist beinahe flehend an mich gerichtet, doch ich lasse ihn in seinem Leid alleine. Als er sich gegen mich lehnt, will ich zuerst von ihm abrücken, entscheide mich dann aber doch dagegen. Ich mag Chris. Das tue ich tatsächlich. Seine Nähe ist angenehm und ich bin sehr gerne mit ihm auf diese Weise vertraut. Es hat etwas Beruhigendes an sich. „… wir haben doch vorher darüber gesprochen, Chris! Silvester, meinetwegen, aber der erste Tag in neuem Jahr war für die Familie reserviert! Das haben wir ausgemacht!“, höre ich die aufgebrachte Stimme einer Frau durch den Hörer. Chris hat auf Lautsprecher umgestellt und lehnt mit geschlossenen Augen an meiner Seite. Mit seiner rechten Hand macht er eindeutige Zeichen, dass er diese Unterhaltung weder für voll nimmt, noch zum ersten Mal führt. „Ja, haben wir, aber…“ „Kein Aber, Chris Berger! Nur weil du eine kurzfristige Einladung bekommen hast, musst du da noch lange nicht hingehen! Du bist heute um drei zu Hause! Es gibt Kaffee und dann wirst du mir bei den Vorbereitungen für heute Abend helfen!“ Jetzt ist es still. Auf beiden Seiten der Leitung. „Rapha“, flüstert Chris mir ins Ohr. „Ich will mit zur Party, tu was!“ „Ich?“, gebe ich leise zurück. „Du bist doch alt genug um das selber zu regeln.“ „Bitte!“, fleht er nun eindringlicher. Prüfend sehe ich ihn an, spüre seine Hand, wie sie kraulend meinen Arm entlang fährt. Als ob er jedes einzelne Härchen berühren würde. Wenn man mich jetzt fragen würde, dann würde ich nicht wollen, dass Chris zu seiner Familie geht. Auch wenn mir dieser Gedanke richtig Angst macht. Er geht einfach in eine zu eindeutige Richtung. „Komm doch nach dem Abendessen zu Martina. Wird eh eine lange Nacht.“ Chris gibt diesen Gedanken seiner Mutter durch, die zeigt wie wenig sie begeistert von dieser Idee ist. „Morgen gehen wir alle zusammen Brunchen, ich will nicht, dass du am Tisch halb einschläfst. Außerdem bist du in letzter Zeit genug weg gewesen, ich hab dich kaum noch gesehen. Du solltest wieder mehr zu Hause bleiben.“ „Mama! Ich bin sechzehn, verdammt! Außerdem passiert doch gar nichts!“ „Und woher weiß ich das? Ich sehe dich ja kaum!“ „Mama bitte! Nur noch heute! Morgen bin ich rechtzeitig wieder da! Außerdem bleiben die doch eh alle drei Tage da!“ „Deine Tante Elli fährt schon morgen nach dem Frühstück wieder zurück!“ „Als ob ich großen Wert darauf legen würde sie zu sehen! Und ihre kleinen Monster kann sie auch mitnehmen! Diese drei Weiber sind furchtbar!“ „Chris!“ „Ist doch wahr!“ „Es reicht! Das ist das allerletzte Mal, hast du mich verstanden? Du liegst morgen in deinem Bett, wenn ich in dein Zimmer komme! Ich stehe um halb acht auf, also sei ja nicht zu spät zu Hause!“ Ich höre ein Knacken, dann folgt ein Tuten und die Leitung ist tot. Seine Mutter hat vollkommen entnervt aufgelegt. Seufzend wirft Chris den Hörer neben sich, legt seinen Arm um meine Hüfte und kuschelt sich an mich. „Eltern nerven“, mault er in meinen Pullover. Ich lasse mich dazu hinreißen ihm durch die Haare streicheln, was ihm ein tiefes Brummen entlockt. Chris dreht sich auf den Bauch, versteckt sein Gesicht und atmet mir warm gegen den Bauch. „Du solltest das lassen“, kommt es leise von ihm. „Warum?“ „Weil es mir Hoffnung macht. Oder machst du das auch mit all den anderen?“ „Nein. Höchstens mit Jamie“, antworte ich ihm und bin über meine erneute Ehrlichkeit erstaunt. Aber es fühlt sich nicht so gepresst an, wie sonst immer, wenn ich mit jemandem über ernste Dinge spreche. Es ist beinahe amüsant so mit Chris zu sitzen und über alles zu plaudern. „Hey, ich bin einen Rang aufgestiegen“, strahlt Chris mich an, als er sich aufsetzt. Er streckt sich einmal, steht dann auf und nimmt mich bei der Hand. Passend dazu meldet sich sein Magen knurrend zu Wort. „Auf zum Frühstück“, sage ich lachend und gemeinsam machen wir uns auf den Weg. --- Es ist ein kleines Bistro in das ich Chris führe. Ich habe früher einmal hier gearbeitet und ab und an komme ich noch auf einen Besuch vorbei. Auch wenn ich die Leute nicht mehr wirklich kenne. Dafür war es auch zu kurz gewesen. Wir setzen uns an einen freien Zweiertisch und bestellen unsere Getränke, als die Bedienung komm. Chris nimmt seinen Tee, während ich mir einen schwarzen Kaffee leiste. Nichts geht über eine ordentliche Ladung Koffein am morgen. „Musst du gar nicht arbeiten?“, fragt Chris. „Ich muss nicht jeden Tag hin. Eigentlich gehe ich nur ein Mal die Woche hin um nach dem Rechten zu sehen. Ansonsten arbeite ich nur, wenn Erich mich eingeteilt hat.“ „Wie unfair.“ „Das ist das Recht eines Geschäftsführers.“ „Dann gehört dir der Schuppen?“, fragt er weiter. „Nein. Ich besitze nur Anteile daran. Erich ist Inhaber“, erkläre ich ihm, nehme meinen Kaffee in Empfang und ordere dann eine große Frühstücksplatte. Verschiedener Aufschnitt mit einem Korb voller Brötchen und gekochten Eiern. „Mann, dann wirst du ja noch reich“, pfeift Chris anerkennend, greift sich eines der Eier und schlägt es gekonnt in der Mitte durch. Ich reiche ihm das Salz und er streut es großzügiger drüber, ehe er zu löffeln beginnt. „Hat Jamie auch schon gesagt, aber ich glaube nicht wirklich, dass ich damit reich werden kann. Eigentlich will ich das auch nicht mehr weiterführen, aber da ich nie was Richtiges gelernt habe, werde ich wohl dran hängen bleiben.“ „Du kannst so was doch nachmachen“, lenkt Chris ein, beißt beherzt in sein Brötchen. „Kannst du dir bei mir vorstellen, dass ich noch einmal die Schulbank drücke?“, frage ich amüsiert zurück, nehme einen großen Schluck Kaffee und beschmiere mir ein Graubrot mit Butter und lege eine Scheibe Käse drauf. „Hm, nicht wirklich, aber du kannst es bestimmt auch von zu Hause aus tun. Ich helf’ dir auch beim lernen.“ „Danke. Sehr großzügig von dir, aber nein danke“, lehne ich lachend ab. „Im Moment halte ich es noch ganz gut aus.“ „Mein Angebot steht.“ Eine Weile sitzen wir uns schweigend gegenüber, frühstücken und genießen den Morgen in vollen Zügen. Die anderen Gäste unterhalten sich leise, Passanten gehen vorbei und die alltäglichen Straßengeräusche dringen ungehindert zu uns vor. „Was ist mit dir?“, frage ich schließlich, ernte einen verwirrten Blick. „Du hast mir gesagt du wärst Fotograf. Aber bist du dafür nicht etwas zu jung?“ „Ich bin doch für alles zu jung“, spöttelt Chris. „Eigentlich gehe ich noch zur Schule, aber in meiner Freizeit arbeite ich im Studio meines Großvaters mit. Ich will es später mal übernehmen.“ „Deine Freizeit dehnst du aber gerne aus, oder sehe ich das falsch?“ „Ein wenig“, stimmt er grinsend zu, bestellt sich ein Glas Orangensaft und klaut mir das Marmeladenglas, das ich bis eben noch in der Hand gehalten habe. Als Entschuldigung schmiert er mir dafür meine Brotscheibe. „Welche Schule?“, hake ich nach. „Die Realschule in meinem Stadtteil.“ „Willst du aufs Gymnasium wechseln?“ „Ich komm mir vor wie bei einem Verhör“, bemerkt er spitz, aber mit einem breiten Lächeln. Ihm gefällt diese Unterhaltung genauso wie mir. „Meine Mutter will, dass ich es mache. Mein Großvater hätte auch nichts dagegen, aber ich weiß nicht, ob ich will. Und ich glaube, ich bin auch zu schlecht. Man muss überall zwei oder eins stehen. Und ich kriege überall nur eine drei.“ „Rede doch mit Jamie. Der ist noch nicht so lange aus der Schule raus und kann dir sicher helfen? Selbst wenn du nicht wechselst kannst du dadurch einen besseren Abschluss schaffen.“ Chris nickt zwar, hebt aber dann die Schultern und lehnt sich aufseufzend in seinem Stuhl zurück. Seine Augen ruhen auf dem Brötchen, dass er in seiner Hand hin und her dreht, ehe er es schließlich beiseite legt. „Lass uns das Thema wechseln, okay?“ „Meinetwegen. Schlag was vor“, lenke ich ein. „Dein Beutel, was machst du damit?“ „Ich wollte es Thomas bringen und fragen, ob er was davon haben will. Ansonsten nehme ich es wieder mit und verkaufe es per Internet.“ „Lass mal sehen“, fordert Chris, streckt die Hand aus und greift danach, als ich es ihm rüberreiche. Er stöbert eine Weile darin herum, ehe er eine CD herausnimmt und mir beinahe anklagend unter die Nase hält. „Du willst mich verarschen, oder?“ „Warum?“ „Die ist super, die CD, gib die doch nicht weg!“ „Ich hör’s halt nicht“, antworte ich und werfe einen kurzen Blick aufs Cover. Eine Michael Jackson CD die ich einmal von Zack geschenkt bekommen habe. Ich habe sie immer nur eingelegt, wenn er da war oder ich bei ihm. Aber jetzt habe ich dafür keine Verwendung mehr. Ich will den Schlussstrich einfach klar und deutlich vor mir haben. „Darf ich sie haben?“, fragt Chris mit leuchtenden Augen. „Nein.“ „Du gibst sie doch eh weg“, protestiert er leise. Ich lehne mich vor, nehme ihm die CD und den Beutel ab und greife nach seiner Hand. Verwundert sieht er mich an. Ich schüttle den Kopf. „Ich kauf dir meinetwegen ein neues Exemplar, aber die kriegst du nicht. Die wird auf jeden Fall verkauft.“ „Du bist komisch, aber meinetwegen. Dann habe ich etwas von dir“, grinst er mich an und versetzt mir mit diesen Worten einen Stich ins Herz. Wenn er nur wüsste, dass genau das der Grund ist warum ich ihm die CD nicht geben will. Weil es ein etwas von Zack ist, das ich mir all die Jahre bewahrt habe. Im Grunde ist es nur ein Gedanke, ein Gefühl, aber es ist stark genug um Dinge bei sich zu behalten oder eben wegzuschmeißen. Als ob eine CD etwas dafür kann wie es mit Zack gelaufen ist. Trotzdem bringt sie mich dazu, sie wegzuschmeißen und Geld für Chris auszugeben und ihm etwas zu kaufen, was er dann mit denselben Augen ansehen wird, wie ich einst meine CD. „Ist was?“ „Nein.“ „Sahst gerade abwesend aus…“ „Schon okay. Hast du noch Hunger oder sollen wir dann los?“ „Meinetwegen können wir“, stimmt Chris zu. Ich zahle, gebe ein kleines Trinkgeld und raffe alle Sachen zusammen. Im ersten Moment bin ich überrascht als Chris nach meiner Hand greift und sie festhält, aber ich sage nichts dazu. Ein Zeichen, dass ihm Hoffnung auf mehr macht, aber ich denke, dass ich heute Morgen deutlich genug war. Ich mag ihn und seine Berührungen. Weiter will ich im Moment nicht gehen. Dafür gibt es zu viele Baustellen, an denen ich arbeite. „Wohin gehen wir jetzt?“, reißt mich seine Frage aus meinen Gedanken. „Erst ins Kaufhaus.“ Die fünfzehn Minuten sind schnell vorbei und wir stehen schon vor dem großen Gebäudekomplex. Chris hält mir die Türe auf und gemeinsam treten wir in die stickige Wärme der geheizten Räume. Wir streifen durch die Regale, sehen uns einige Klamotten an, fahren die Stockwerke rauf und runter und verbummeln die Zeit eher als das wir sie nutzen. Chris lässt mir weitgehend meine Ruhe und ich bin ihm dankbar dafür. Er klebt nicht dauernd an mir, sondern macht sich oft genug selbst auf den Weg. Ich bin mir nicht sicher was ich für meine Wohnung kaufen soll. Viel Krimskrams mag ich nicht, vor allem keine kitschigen Sachen. Leer stehen soll es allerdings auch nicht. Und da ich kein bisschen religiös bin halte ich nicht viel von Engeln, Kreuzen oder sonstigem derartigen Schnickschnack. „Schau mal“, tritt Chris neben mich, hält mir eine kleine Vase und eine größere Schüssel entgegen. „Das wäre doch passend für dein Wohnzimmer.“ „Warum?“, frage ich nach, nehme ihm das Glas ab und drehe es hin und her. „In die Vase kannst du dir einen Bambus stellen. Der macht nicht viel Arbeit, blättert nicht, ist schlicht, aber chic. Und die Schale kannst du mit ein bisschen Süßkram füllen, dann hat dein ganzer Besuch was zum knabbern. Oder du tust diese kleinen bunten Steine rein, sieht auch gut aus“, erklärt Chris und hält passend dazu eine Tüte mit roten, blauen, grünen und gelben Glassteinen hoch. „Bei den Knabbereien denkst du doch nur an dich“, halte ich ihm vor, greife mit meiner freien Hand nach seinem Bauch und drücke leicht zu. Lachend geht er zwei große Schritte von mir weg. „Jamie wohnt doch auch da“, meint er nur. „Mach es dir ja nicht zu heimelig bei mir“, warne ich ihn leise, packe ihn im Nacken und ärgere ihn ein bisschen. Die Kabbelei mit ihm, endet abrupt, als er beinahe mit einem Regal Bekanntschaft macht und uns zwei Verkäuferinnen böse ansehen. Ich nehme die Schale und auch die Steine mit und zahle. Für den Bambus konnte ich mich nicht wirklich erwärmen und so wandern nur diese beiden Sachen in einer Tüte, die ich Chris in die Hand drücke. Auf mehr Shopping habe ich auch keine Lust mehr und wir machen uns quer durch die Innenstadt auf den Weg zu Thomas. „Hey, mein Liebling mit seinem Schützling, wie schön!“, strahlt er uns an der Tür entgegen, weicht meinem Schlag zur Seite aus und lässt uns in seine Wohnung rein, die so unordentlich ist wie ich sie mir vorgestellt habe. „Hier, schau mal rein und nimm dir raus was du magst“, überreiche ich ihm die Tüte und ziehe mir Jacke und Schuhe aus. Dann gehe ich geradewegs in die Küche und schenke mir eine Tasse Kaffee ein, den Thomas gerade wohl neu gekocht hat. „Alter“, höre ich es überrascht aus dem Flur, ehe mein bester Freund im Rahmen steht und mir die bereits bekannte CD vor die Nase hält. „Du schmeißt das Ding weg? Echt?“ „Ja“, sage ich rau, verstecke mich hinter meiner Tasse, zucke beinahe erschreckt zusammen, als Chris hinter Thomas in die Küche kommt und nach einem Glas fragt. Ich gebe ihm eins und werfe Thomas warnende Blicke zu. „Ist was?“, fragt Chris irritiert, nippt an seinem Wasser. „Verstehe, bin schon weg.“ „Scheiße“, ruft Thomas aus, sobald Chris die Tür hinter sich zugezogen hat. „Was ist passiert, Mann? Setz dich, los!“ Er rückt uns zwei Stühle zurecht und ich erkläre ihm mit gedämpfter Stimme was bei meinem Besuch zu Hause passiert ist. Ich kläre ihn auch über das auf, was seine Mutter mir über die Trennung von seinem Vater erzählt hat und insgesamt gesehen entsteht ein Gespräch von fast zwei Stunden, ehe wir zum ersten Mal einen toten Punkt erreichen und uns nur anschweigen. „Das mit der Trennung wusste ich schon länger“, gesteht mir Thomas nach einer Zeit. „Ich wollte dir nichts sagen, damit du das nicht auch noch mit dir rumschleppst. Am Anfang war es auch nicht sicher, ob sie das wirklich durchziehen, Mum wollte aber ehrlich mit mir sein und mich auf das Schlimmste vorbereiten.“ „Lassen sie sich scheiden?“ „Ich hoffe nicht“, seufzt Thomas, lehnt sich gegen mich und zeigt zum ersten Mal wie ihn die ganze Geschichte mitnimmt. In Gegenwart der anderen hat er nie auch nur die Miene verzogen. „Am Anfang habe ich viel mit Dad geredet, aber er brauchte seine Ruhe und da habe ich es gelassen. Ich glaube nicht, dass sie die Scheidung wollen, aber sie wissen beide, dass es vielleicht keine andere Möglichkeit gibt.“ „Das verstehe ich nicht“, gebe ich zu. „Wenn sie sich beide lieben, sich nicht trennen wollen, warum müssen sie es dann vielleicht?“ „Weil es beiden zu sehr weh tun würde, wenn sie beieinander bleiben. Ich wollte das nie sagen, aber ich glaube, dass es so ist wie bei dir und Zack.“ Ich versteife mich auf der Stelle, werfe Thomas einen verlorenen Blick zu. Auch wenn ich es gerne hätte, bin ich noch lange nicht mit Zack fertig. Die Trennung tut weh, auch wenn sie mir geholfen hat, dass ich mich etwas freier und nicht mehr so belastet fühle. Es war wirklich eine Last für mich, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass es anders ausgeht. „Ihr bedeutet euch gegenseitig sehr viel, aber wenn ihr euch seht dann wird einer von euch verletzt. Meistens du, deswegen ist es gut, dass du dich getrennt hast“, sagt Thomas leise, drückt mich kurz an sich und zerwühlt mir dabei meine Haare. „Auch wenn ihr offiziell nie zusammen wart.“ „Nein, dafür hat es nicht gereicht“, gebe ich zu. „Mach dir keinen Kopf, die beiden schaffen das schon, egal wie. Die Welt geht außerdem nicht unter, wenn die beiden sich scheiden lassen.“ „Okay“, stimme ich zu. „Aber wenn was ist, dann rede mit mir. Hast doch meine Nummer.“ „Ich weiß“, seufzt Thomas auf. „Manchmal wollte ich auch wirklich anrufen oder vorbeikommen, aber dann dachte ich mir wieder, dass du vielleicht mal eine Auszeit brauchst von all dem Scheiß in deinem Leben.“ „Wie kommst du darauf?“ „Wie wohl“, lacht Thomas rau auf. „Dein Zusammenbruch bei Martinas Abschluss? Jamie hat mir außerdem erzählt das ihr vorher auch ordentlich Stress miteinander hattet. Und dann hat man dich wochenlang nicht zu Gesicht bekommen. Auch Erich nicht und der arbeitet mit dir. Du hast dich vergraben und da dachte ich, dass du vielleicht Ruhe brauchst.“ „Ich sag beim nächsten Mal bescheid.“ „Okay.“ Gemeinsam lachen wir, nehmen uns in den Arm und alles ist wieder okay. Wir haben uns ausgesprochen, auf den neusten Stand gebracht und unser Verhältnis wieder aufgepeppt. Es klopft an der Tür und als Thomas freien Zugang gewährt steckt Chris seinen Kopf durch die Tür. „Telefon“, sagt er. „Wer ist dran?“, fragt Thomas. „Ein Marius glaub ich.“ „Leg auf.“ „Echt?“, fragt Chris fragend nach. „Einfach so?“ Thomas steht langsam auf, geht in den Flur hinaus, zieht Chris dabei mit sich und ich höre ein lautes Knacken gefolgt von einem „Einfach so“ von Thomas. Ich muss lachen, greife mir meinen besten Kumpel, als er sich wieder neben mich setzt und auch Chris einen Platz anbietet. „Wer war das?“, frage ich ihn, verpasse ihm dabei eine ordentliche Kopfzwiebel. „Eine One-Night-Stand“, eröffnet Thomas breit grinsend. „Was?“, keuche ich überrascht. Das haut dem Fass den Boden aus! „Ja, Mann! Das ist die andere Sache, die ich noch loswerden muss. Ich hab’s mit `nem Kerl versucht. War auch gar nicht so übel, nur der Typ an sich hat genervt wie sau. Da war ich wohl etwas zu stark besoffen.“ „Krass“, fällt mir nur ein und ich sehe meinen Freund entgeistert an. Thomas zieht viele Dinge einfach durch, über manche verschwendet er nicht einmal einen Hauch eines Gedanken, aber das er tatsächlich so weit gehen würde, hätte ich selbst ihm nicht zugetraut. „In letzte Zeit gab es einfach keine netten Mädels und da dachte ich mir, probier ich’s halt mal aus. War wirklich nicht schlecht, weiß nicht ob ich es noch mal wiederhole. Vor allem aber erst, wenn der Kerl vom Charakter her besser drauf ist als Marius.“ „Soll ich’s dir beibringen?“, frage ich breit grinsend, erhalte den erwarteten geschockten Blick und auch den Schubser von Thomas, gegen seine Küchenzeile. Drohend baut er sich vor mir auf. „Ich liebe dich, Rapha, echt, aber halt ja deine Finger bei dir!“, warnt er mich, versucht wirklich standhaft sein lachen zu unterdrücken, scheitert aber kläglich als ich ihm in die Seite steche. „Ich kenn da wen…“ „Nein!“, ruft Thomas. „Damit fangen wir gar nicht erst an!“ „Ich kenn auch ein paar, wenn dir Raphas Leute nicht zusagen“, mischt Chris sich breit grinsend ein und schlägt bei mir ein, während Thomas sich unter unseren Sticheleien windet. „Wenn du nur was gesagt hättest, Tommy“, säusle ich ihm ins Ohr. „Ich hätte doch auf dich aufgepasst. Deine Mami hat doch gesagt, dass du nicht dauernd so einen Unsinn anstellen sollst.“ „Schon gut, schon gut“, braust Thomas auf, flüchtet in den Flur. „Ich hab’s kapiert, okay? Ihr seid die Oberschwuchteln und ich ein kleiner Noob der einen Stalker am Hals hat, danke! Echt entzückend ihr zwei. Abmarsch zu Martina. Ich brauch Verstärkung.“ Ich gehe ihm lachend hinterher, reiche Chris seine Jacke durch, schlüpfe in meine Schuhe und ziehe auch meinen Anorak an. „Glaub mir, wenn Erich hier wäre…“ „Sag’s ihm ja nicht! Dann kann ich mir dreißig Jahre was drüber anhören“, wehrt Thomas stöhnend, öffnet die Türe und schubst Chris und mich nach draußen, verriegelt alle sund stapft missmutig voraus. Ich und Chris feixen uns gegenseitig an. --- „Nur herein“, begrüßt uns Martina strahlend, führt uns ins Wohnzimmer durch und holt aus der Küche unsere Getränke. Jamie können wir anhand des Messergeräusches identifizieren. Er ist fleißig am werkeln. „Es ist toll einen zu haben, der kochen kann. Es ist so viel einfacher, wenn man nicht dauernd in so einblödes Buch gucken muss“, schwärmt die junge Dame sogleich, schenkt uns ein und gemeinsam stoßen wir auf einen fröhlichen Abend an. Es ist noch früh, gerade erst sechs Uhr durch, aber ein gemeinsames Abendessen ist uns allen willkommen und mein kleiner Bruder hat sich wirklich ins Zeug gelegt und fantastische Sachen vorbereitet die überall Anklang finden. „Fährst du Chris und mich später nach Hause?“, stupse ich Thomas mit der Schulter an. „Nur wenn ihr lieb seid“, mault er zurück. „Natürlich“, drücke ich ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange und amüsiere mich köstlich darüber, dass mein Freund einmal mehr bemerkt wie es ist, wenn man sich zukippt und nicht darüber nachdenkt was man tut. Der Abend plätschert gemächlich vor sich hin, es wird viel getrunken, erzählt und gegessen und wie fette Katzen hocken wir alle auf unseren Stühlen und bewegen uns keinen Millimeter weiter als wir müssen. Schließlich aber erhebt sich Jamie, wartet darauf, dass wir alle ein frisches Glas Sekt bekommen und räuspert sich umständlich, wobei er sich sein Grinsen nicht verkneifen kann. So langsam werde ich unruhig. „Tja, dann will ich das Geheimnis um den Grund unseres heutigen Treffens mal lüften. Thomas und ich haben uns gedacht, dass es an Silvester noch einen Grund zum feiern gibt außer dem neuen Jahr und deswegen haben wir diese kleine Privatveranstaltung angeleiert um ein ganz besonderes Einjähriges zu feiern.“ Seine bedeutungsschwangere Pause ist für meinen Geschmack etwas zu lang. „Ich möchte hier und jetzt auf Chris anstoßen, den wir alle letztes Jahr Silvester kennen gelernt haben und der sich in diesem vergangenen Jahr doch echt zu einem verdammt guten Freund gemausert hat. Auf dich, Chris!“ „Auf dich!“, kommt es mehrstimmig, wir erheben alle unsere Gläser, trinken auf Chris, der sichtlich verlegen ist und der Reihe nach kurz ansieht und zunickt. Martina steht auf und nimmt ihn in den Arm, während Thomas seinen Rücken klopft. Mit Jamie schlägt er ein und ich finde, dass die beiden einen sehr verschwörerischen Blick austauschen. Mir wird erst jetzt bewusst, dass es tatsächlich schon ein Jahr her ist, seit Chris in meinem Leben rumwuselt. Und ich habe mich wirklich schnell an ihn gewöhnt. Bei Martina hat es beinahe drei Jahre gedauert, bis ich sie so nah an mich ran gelassen habe wie jetzt. Ein wirklich mulmiger Gedanke. Dennoch lege ich einen Arm um Chris, proste ihm zu und beglückwünsche ihm dazu, es so lange mit uns allen ausgehalten zu haben. Erst jetzt scheint das neue Jahr wirklich anzufangen. Und ich bin gespannt darauf, was es alles zu bieten hat. --- Ich frage mich ob es mir gelungen ist zu zeigen, dass Raphael optimistischer geworden ist und ob es zwischen ihm und Chris nicht zu schnell geht? Kapitel 10: Alte Freunde - Neue Wege (2001 / 04) ------------------------------------------------ 10. Kapitel – 2001 (April) Dieses Kapitel widme ich meiner herzallerliebsten vulkan_chan, die Geburstag hat! Ich hab sie einfach wahnsinnig lieb und da sie ein Fan meiner Geschichte ist, erscheint es mir ganz passend als Geschenk! Happy Birthday, Süße! ^o^ Das seine Haare länger sind und ihm nun bis auf die Schultern runter reichen ist das erste was mir an ihm auffällt, als er durch die Tür unseres Ladens tritt, uns eines seiner undeutbaren Lächeln zuwirft. „Erich, altes Haus, auch mal wieder da?“, ruft Thomas laut, schwenkt seine Bierflasche hin und her, zieht dem Neuankömmling einen Stuhl ran. Erich lässt sich darauf fallen und sieht mich einen Moment lang einfach nur an. „Wie war’s bei deinen Alten?“, bohrt Thomas nach, erhält als Antwort ein Augenrollen. Scheinbar war es so wie immer, wenn man als Erwachsener nach Hause kommt: Nervtötend. „Bier oder was anderes?“, frage ich unseren Freund, greife hinter mich in einen Kasten hinein und ziehe eine der vielen Bierflaschen heraus, öffne sie an der Tischkante und reiche sie rüber. „Wir betreiben gerade Aufklärung“, erzähle ich Erich, der daraufhin nickt und einen Schluck aus seiner Flasche nimmt. „Echt der Wahnsinn, dass wir so selten Zeit füreinander hatten“, raunt Thomas, lehnt sich lässig in seinem Stuhl zurück und bekommt einen träumerischen Ausdruck in den Augen. „Früher dachten wir, wir würden für immer zusammen rum hängen. Tz, und jetzt kriegen wir es nicht mal auf die Reihe uns einmal in der Woche zusehen und dabei wohnen wir nicht mal in verschiedenen Städten.“ „Nicht weinen“, klopfe ich Thomas auf sein Knie, woraufhin er mir eine angedeutete Kopfnuss verpasst. Eine Weile sitzen wir einfach schweigend zusammen. Etwas, was Erich noch am besten von uns kann. Es ist aber tatsächlich ein Wunder, dass wir drei uns so selten austauschen können. Ständig haben wir was zu tun. Thomas steckt Hals über Kopf in seiner Ausbildung als Erzieher und macht nebenbei noch Besuche in einem Kinderkrankenhaus, während Erich sich in seinem Büro verbunkert oder aber durch Abwesenheit glänzt. Scheinbar wird er Zuhause immer mehr und mehr eingespannt. Und ich selbst muss permanent im Laden arbeiten, auf Jamie aufpassen, darauf achten das Chris nichts anstellt und lasse es mir dabei auch nicht nehmen den Zwillingen hin und wieder einen Besuch abzustatten. „Wir sind erwachsen geworden“, sagt Erich leise, nippt an seinem Bier und steckt sich eine Zigarette an. Thomas nickt zustimmend und seufzt laut auf. „Erinnere mich bloß nicht daran, ich verdränge das so schön.“ Nachdenklich lege ich meinen Kopf in meine Hände und starre auf die Tischplatte vor mir. In ein paar Monaten werde ich fünfundzwanzig Jahre alt sein, macht mich das automatisch zu einem Erwachsenen? „Wie steht es eigentlich bei dir, Rapha?“ Ich hebe den Blick und sehe Thomas einen Moment fragend an. Eigentlich weiß zumindest diese Hälfte meiner besten Freunde, was aktuell gerade bei mir vorgeht, doch als mich an das Gespräch mit meinem Bruder am Frühstückstisch erinnere, dann fällt mir schon wieder was Neues ein. „Bei mir ist alles prima“, antworte ich trotzdem. Diese Ankündigung will ich später machen. Jamie hatte mich gebeten auf seine SMS zu warten, bis ich es den anderen beiden sage. Und bisher ist mein Handy stumm geblieben. „Wirklich? Was ist mit Chris?“ Ich schnaube unwillig und verpasse Thomas einen Schlag auf den Oberschenkel, der ihn zusammenzucken lässt. Erich lacht rau, drückt seine Zigarette aus und wirft seine langen Haare nach hinten. Eine ungewohnte Bewegung. „Ich hab Chris nach Hause geschickt“, sage ich schließlich, fische meinerseits nach einer Zigarette, finde jedoch keine und nehme dankbar Erichs Angebot an. Als der Glimmstängel brennt inhaliere ich aufatmend den weißen Dunst. „Einfach so?“ „Was heißt hier: einfach so?“, frage ich zurück, ziehe meine Augenbrauen zusammen. Thomas hebt abwehrend die Hände, trinkt sein Bier leer und winkt mir zu, ihm ein neues zu geben. Zögernd komme ich dem nach und sehe ihm dabei zu, wie er erfolglos versucht die Flasche mit Erichs Feuerzeug zu öffnen. Schließlich springt Erich helfend ein. „So wie ich Chris einschätze hat er doch sicherlich nicht einfach brav seine Sachen gepackt. Ich würde mir ja gerne mal deinen Rücken ansehen, an dem er vielleicht gekratzt hat?“ Brummend schnippe ich meine abgerauchte Zigarette nach Thomas, verfehle ihn jedoch, was mich nach einem Bierdeckel greifen lässt, der tatsächlich im Ziel landet. „Der Kerl ist minderjährig, den lasse ich nicht an meinen Rücken.“ „Aber mich würdest du lassen?“, lauert Thomas. „Nur wenn du Todessehnsucht hast“, grinse ich ihn an. „Nach Marius etwa ich, oder was?“ Erschrocken lässt sich Thomas wieder in seinen Stuhl zurück fallen und fuchtelt hektisch mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum. Er weiß ja nicht, dass ich Erich direkt am Tag dieses Geständnisses eine SMS geschickt habe und unser Freund über alles Bescheid weiß. „Warum bist du nicht zu mir gekommen, wenn du so einen Druck hattest?“, raunt Erich Thomas in diesem Moment rau ins Ohr, schlingt einen Arm um ihn und drückt ihn nahe zu sich heran. Aufreizend leckt er ihm einmal über die Wange, was Thomas erschrocken auffahren lässt. „Alter!“, kreischt er beinahe. Erich und ich sehen uns einfach nur an, dann brechen wir in schallendes Lachen aus. Ich muss mich von Thomas abwenden, denn sein entrüstetes Gesicht ist einfach zu viel für mich. Er steht da wie eine verschreckte Jungfrau, mit roten Wangen, heftigem Atem und unschlüssig darüber wo er seine Hände hintun soll. Er entscheidet sich dafür Erich eine runterzuhauen. „Das ist NICHT witzig!“, behauptet er dann, was uns erneut zum Lachen anregt. „Ey, da macht man einmal was falsch, EIN EINZIGES MAL, und ihr doofen Idioten hackt darauf herum!“ „Reg dich ab“, grinse ich ihn an. „War doch klar, dass wir damit unseren Spaß haben. Setz dich endlich, Thomas! Wir tun dir schon nichts.“ Thomas ist sich da scheinbar nicht so sicher, denn er schaut uns noch einen Moment lang prüfend an, ehe er sich auf das Angebot einlässt und wieder Platz nimmt. „Na komm“, ermuntere ich ihn. „Erzähl halt mal was war.“ Ich borge mir eine weitere Zigarette aus Erichs Schachtel und gemeinsam beginnen wir erneut zu qualmen, während Thomas sich scheinbar dazu durchringen muss uns von seinem One-Night-Stand mit einem Mann zu berichten. „Marius ist ein Freund von einer Auszubildenden, die ich an der Schule kennen gelernt habe. Und er hat mich eingeladen mal mit ihm weg zu gehen. Er hat mir gesagt, dass er schwul ist und als ich meinte, dass das kein Ding für mich wäre, hat er mich gefragt was ich denn sei“, beginnt Thomas seine Geschichte und sucht dabei fortwährend meinen Blick. „Und du hast gesagt, du weißt es nicht“, mutmaßt Erich, stößt dabei einen Schwall des weißen Rauches aus. Thomas nickt neben ihm, nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, sieht mich dann wieder an. „Ihr habt zusammen was getrunken…“, sage ich leise. „Und seid dann zu ihm gefahren…“, führt Erich fort. „Und weil du eine Saufziege bist, die keinen Tropfen zuviel verträgt…“, lache ich rau auf. „Bist du mit ihm in die Kiste gesprungen.“, beendet Erich, drückt seine Zigarette aus und klopft Thomas auf die Schulter. Dann sieht er ihm in die Augen, schüttelt den Kopf und sagt: „Alter, du bist so ein Idiot.“ „Du kannst mich mal!“, faucht Thomas etwas unfreundlich zurück und schüttelt die Hand seines Freundes ab. „Jetzt und hier? Wenn Rapha uns zusieht?“, grinst Erich schelmisch. „Als ob ich dabei nur zusehen würde“, beschwere ich mich leise, greife unter dem Tisch nach Thomas’ Knie, streichle es sanft auf und ab, was meinen Freund dazu verleitet missmutig die Augenbrauen zusammen zu ziehen. Einen Moment schweigen wir uns an, die dunkle Stimmung verfliegt, Thomas lehnt sich entspannt zurück, während ich ihn weiterhin sanft streichle. Auch Erichs Hände bewegen sich, liebkosen die feinen Nackenhaare. Gerade ist die Welt einfach in Ordnung. „Mach das nicht noch einmal“, mahnt Erich leise, stößt mit Thomas an und trinkt den Rest seines Bieres dann in einem großen Zug leer. Thomas nickt ergeben, grinst mir schwach zu und ich nehme meine Hand von seinem Knie. „Chris mag mich“, spreche ich in die erneut eingetretene Stille hinein. „Und als ich meinte, dass ich ihn ebenfalls mag, war seine Antwort, dass ihm das vorerst reichen würde. Diese Bratze!“ Fahrig drücke ich meine Zigarette im Aschenbecher aus, streiche mir einmal durch die Haare und verschränke die Arme vor meiner Brust als ich mich gegen die Stuhllehne fallen lasse. „Der Kerl hat Mumm“, spricht Thomas nach einer Weile und kann sich einen Lacher nicht verkneifen. „Aber es überrascht mich kein bisschen, so wie der dich anhimmelt.“ „Scheiße!“, rufe ich aus und belasse es bei diesem Kommentar. „Mach dir keinen Kopf, Alter“, redet Thomas mir zu. „Ihr mögt euch beide, dass ist doch okay. Neue Freunde zu finden ist keine Schande. Und solange du ihn von deinen Hosen fern hältst ist alles im Grünen.“ „Ja… solange ich ihn fernhalte…“, brumme ich unzufrieden mit mir selbst. „Du willst ihm an die Wäsche?“, höre ich Erich leise fragen, zucke daraufhin mit den Schultern. Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht so genau. Chris ist einfach nur… süß. Und das ist das Problem. Ich steh’ nicht auf süße Jungs. Trotzdem denke ich ein ums andere Mal, dass Chris wunderbar in meine Arme passt. Wie ein Puzzleteil. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Was wäre so schlimm daran es mit ihm zu versuchen?“ „Er ist minderjährig.“ „Na und?“, schießt Thomas unbeeindruckt zurück. „Das wird er ja nun nicht ewig bleiben. Und wenn es nur um sein Alter geht… ich finde das er schon recht erwachsene Züge an sich hat. Gib ihm noch ein paar Jahre und dann wird aus ihm ein ganz ordentlicher Kerl geworden sein.“ „Hm“, mache ich leise und nicht sehr überzeugt. „Lassen wir das Thema.“ Ich habe jetzt einfach keine Lust mich mit Chris auseinander zu setzen. Zum Glück klingelt auch gerade in diesem Moment mein Handy und zeigt mir an, dass ich eine SMS von Jamie erhalten habe. Ich lese sie schnell durch und grinse dann breit. „Haltet euch fest, Gentlemen“, sage ich laut und werfe meinen Freunden einen langen Blick zu. „Ich habe die Ehre euch das ultimative Ereignis zu erzählen, dass es am heutigen Abend nur geben kann.“ „Mach’s nicht so spannend“, grinst Erich, auch wenn seine Augen neugierig funkeln. „Jamie hat Martina einen Heiratsantrag gemacht“, mache ich es kurz und knapp. Erich und Thomas starren mich an, reißen mir beide gleichzeitig das Handy aus der Hand und lesen Jamies freudige Mitteilung, dass Martina den Antrag angenommen hat und er uns alle bald zum feiern einlädt. „Wahnsinn…“, haucht Thomas leise, Tränen blitzen in seinen Augen auf und er kann sich kaum noch auf seinem Stuhl halten. Ich gehe an die Bar, mache uns ein paar hochprozentige Drinks und stoße dann mit meinen zwei besten Freunden auf meinen kleinen Bruder an, der scheinbar sehr schnell erwachsen geworden ist. „Auf Jamie!“, rufen wir unisono und kippen alles in einem Zug runter. Eine Zeit lang trinken wir was das Zeug hält, geben einen Toast auf Jamie und Martina, auf Martina alleine, auf die Hochzeit, das leckere Büffet von Jamie und sogar auf die hübschen Mädchen die eingeladen werden sollen. „Dann kriegst du ja bald Besuch von ihren Eltern“, lallt Thomas wenig später, stellt mit etwas Mühe, aber sehr viel Ehrgeiz sein Glas auf den Tisch. Er hatte eindeutig wieder einen zu viel. „Wieso denn das?“, frage ich ehrlich überrascht nach und kippe den letzten Rest meines Wodkas hinunter. Erich hängt mir gegenüber lässig in seinem Stuhl und grinst dämlich vor sich hin. Entweder hat er gekifft, ist betrunken oder denkt einfach an den größten Mist, den nur er sich vorstellen kann. „Na, zur Hochzeit treffen sich doch immer die Eltern des Paares um zu klären wie viel man sich einmischt und so was… bei meiner Mum war das so… da haben die Eltern die Hochzeit gezahlt.“ Nachdenklich ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Darüber habe ich mir keinerlei Gedanken gemacht und auch Jamie hat bisher kein Wort darüber verlauten lassen. Wobei ich davon ausgehen kann, dass er es schlichtweg einfach vergessen hat, dass man nach dem Antrag auch irgendwann zumindest vor dem Standesamt steht. „Ich denk’ nicht, dass deine Eltern da viel machen werden“, redet Thomas weiter, als ich nichts darauf erwidere. Ich hebe bloß die Schultern. „Ich weiß. Es wäre ein Wunder, wenn sie auftauchen würden.“ Seit meinem Besuch im letzten Jahr, habe ich meine Eltern nicht mehr gesehen. Und das ist nun auch wieder fast acht Monate her. Der April steht vor der Tür. Aber es kümmert mich nicht mehr so sehr wie all die Zeit vorher. Es tut noch immer weh, aber es ist dumpf geworden und ich glaube, dass ich langsam damit beginne zu resignieren. Es hat einfach keinen Sinn mit meinen Eltern reden zu wollen. Dafür ist es zu spät. Wenn es einen solchen Augenblick jemals gegeben hat. „Papa ist wieder bei uns eingezogen“, grinst Thomas fröhlich vor sich hin. „Ich weiß“, gebe ich leise zurück. „Hat auch lange genug gedauert.“ „Ja… Sie wollen es langsam angehen… die Stimmung ist komisch. Keiner weiß was er sagen soll, aber wenigstens sind sie wieder soweit, dass sie miteinander leben können.“ Thomas ist erleichtert, dass sieht man ihm an. Seine Fröhlichkeit in den letzten Monaten war künstlich. Die Trennung seiner Eltern hat ihn sehr getroffen und beschäftigt, auch wenn er so was wie ein „Erwachsener“ ist. Schließlich haben die auch Gefühle. „Ich zieh bald weg“, brummt Erich in seinen nicht vorhandenen Bart, wirft die langen Haare erneut über die Schulter zurück und starrt etwas verdrießlich in seine Bierflasche. „Mein Dad will, dass ich meiner Mum mit den Läden helfe.“ „Diese Juwelierskette?“, hakt Thomas nach, erntet ein Nicken. Auch wenn es lange her ist, seit es das letzte Mal passiert ist, so merke ich dennoch auf Anhieb, dass ich Erich noch immer nicht verstehe und so gut wie gar nichts über ihn weiß. Und trotzdem vertraue ich ihm vollkommen. „Vielleicht kriegst du den Laden, Rapha“, murmelt er dann weiter, sieht mich kurz an. „Deine Schulden sind ja schon lange abbezahlt und du kannst damit endlich machen was du willst. Wenn du ihn verkaufen willst, dann lass mich aber mitreden, ich kann das besser als du.“ Ich nicke ihm nur zu. Mir kommt das alles etwas zu plötzlich. Es sind wieder zu viele Ereignisse auf einmal und ich brauche Zeit um darüber nachzudenken. Wenn Erich nicht mehr da ist, dann schmeiße ich den ganzen Laden alleine. Im Gegensatz zu mir hat Erich aber Wirtschaft und Marketing studiert und weiß wie man Geschäfte am Laufen hält. „Vielleicht sollte ich ein Fernstudium machen…“, denke ich laut, stütze meinen Kopf in meine Linke und schließe einen Moment lang die Augen. „Wir reden da noch drüber“, kommt Erichs halb verständliche Antwort. „Ich hab noch ein bisschen Zeit.“ „Okay“, erwidere ich und schiebe das Problem so von mir. „Welchen Laden sollst du denn übernehmen?“, fragt Thomas und etwas zittert in seiner Stimme. Scheinbar muss man sich vor der Antwort fürchten. „Den in Paris.“ Nach dieser Eröffnung ist es lange still. Keiner bringt mehr ein Wort heraus und nach einer Stunde des stummen Schweigens lösen wir unser Treffen auf. Wir räumen alles zusammen, ich wische den Tisch noch einmal ab, dann schaltet Thomas das Licht aus und tritt als Erster in den frühen Morgen heraus. Es ist bereits halb vier. Ich ziehe hinter Erich die Türe zu, lege dabei meine Hand auf seine Schulter, drücke ihn kurz aber beherzt und drehe dann den Schlüssel im Schloss. Es ist beinahe so, als wollte ich uns drei damit in einschließen. Nur für diesen Moment festhalten, was wir vielleicht für lange Zeit nicht mehr haben werden. Einträchtig gehen wir nebeneinander die Straße entlang, genießen die Kühle des anbrechenden Tages und vertreiben jeden dunklen Gedanken aus unserem Kopf. Erich reicht mir eine letzte Zigarette, verspricht mir bald vorbei zu kommen um alles zu klären und drückt uns schließlich beide fest in seine Arme, dann wendet er sich um und mit einem lässigen Wink biegt er in die Querstraße ab und entschwindet Richtung Bahnhof. „Reiche haben es auch nicht leicht“, murmelt Thomas neben mir, hakt sich bei mir unter und ich sehe ihm an, dass er an Tage zurück denkt, in denen ich nicht da gewesen bin. An seine persönlichen Tage mit Erich. „Glück kann man sich nicht kaufen wie Schmuck“, antworte ich ihm, ziehe ihn mit mir und viel zu früh – viel zu früh – stehen wir vor meiner Wohnungstür. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, frage ich ihn noch, doch er wehrt ab. „Passt schon.“ Ich ziehe ihn in eine feste Umarmung, dann schließe ich die Tür auf und trete in meine Wohnung, während ich ihn alleine draußen zurück lasse. Die drei Musketiere lösen sich langsam auf. Schließlich muss jeder seinen eigenen Weg im Leben finden. Auch wenn ich mir ein Leben ohne den engen Kontakt zu den Menschen die ich liebe einfach nicht vorstellen kann, weiß ich, dass man loslassen muss um einander Nahe zu sein. Das habe ich bei Jamie gesehen. Wir haben viele Jahre getrennt verbracht und die Zeit zusammen war sehr kurz, aber kein anderer Mensch wird mir jemals so viel bedeuten wie mein kleiner Bruder. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie zeigt neue Wege auf, die von den Schmerzen wegführen. Man muss sich nur wagen einen davon zu wählen. Mit diesem Gedanken klettere ich zu Jamie ins Bett, der sich schlaftrunken zu mir herumdreht, einmal kurz blinzelt, ehe er sich in die Kissen zurücksinken lässt und dabei einen Arm um mich legt. Dass ich nach Rauch und Bier stinke und in meinen Klamotten schlafen will, stört ihn dabei nicht. Und dicht an meinen Bruder gedrängt, schlafe ich schließlich ein. --- Kapitel 11: Eisschmelze (2001 / 06) ----------------------------------- 11. Kapitel – 2001 (Juni) Mit einigem Unbehagen ziehe ich an der Krawatte um meinen Hals und versuche mich so vor dem nahen Erstickungstod zu bewahren. Allerdings schlagen schlanke Finger meine Hand weg und mich trifft ein missmutiger Blick aus vertrauten Augen. „Halt endlich still“, knurrt mich Thomas an, greift mich am Arm und bugsiert mich mit sanfter Gewalt zu dem kleinen Grüppchen, das hauptsächlich aus seiner und Martinas Familie besteht. Bernhard und Marianne bemühen sich redlich die Zwillinge im Zaum zu halten, während diese jeden unbeobachteten Moment ausnutzen und irgendwelchen Blödsinn veranstalten. Die Szene wird von Martinas Eltern mit Milde und Nachsicht belächelt und schließlich beendet ein Machtwort seitens Bernhards den gesamten Zirkus. „Oh, Raphael, wie schön!“, freut sich Marianne und klatscht begeistert in die Hände. „Du siehst richtig gut aus in deinem Anzug, sehr schön!“ „Danke“, gebe ich knapp zurück und werfe ihr ein gequältes Lächeln zu. Insgesamt sind wir eine Gruppe bestehend aus elf Leuten. Familie Vogel, Martinas Eltern und ihre beste Freundin sowie bester Freund, meine Wenigkeit und Chris. Letzter schießt die Fotos von der Feier und hat es doch tatsächlich geschafft sich die Bezeichnung „bester Freund“ bei meinem Bruder zu erarbeiten. Abrupt wende ich mich zu dem Braunschopf um, der in einigen Meter Entfernung an die Wand gelehnt steht und mit flinken Fingern die Einstellung seiner Digitalkamera überprüft. Seine Haare fallen ihm dabei etwas in die Stirn, verdecken seine Augen. Ich löse mich aus Thomas’ Griff und trete auf ihn zu. „Alles in Ordnung?“ Überrascht blickt er zu mir auf, lächelt dann allerdings und nickt mir zu. „Ja. Ich wollte nur sicher gehen, dass der Akku voll und der Speicher leer ist.“ „Mach dir keinen Kopf“, sage ich leise, strecke meine Hand nach ihm aus und streiche ihm durch die Haare, die mir einen Deut zu lang sind. „Du solltest zum Friseur.“ „Ich mag es so“, neckt er mich. „Ich hatte bisher leider keine Zeit.“ „Musst du viel in der Schule lernen?“ An seinem verzogenen Gesicht sehe ich, dass er vermutlich wieder viele Stunden geschwänzt hat und seine schulische Ausbildung kein Grund für graue Haare ist. Zumindest für ihn nicht. Ich hingegen schnipse ihm mahnend gegen die Stirn. „Hör auf zu schwänzen“, maule ich ihn an, was ihn allerdings nur mit den Schultern zucken lässt. „Im Studio gibt es viele interessante Aufträge, da will ich viel lieber helfen, als die Schulbank zu drücken“, rechtfertigt er sich trotzig, schüttelt meine Hand ab und will sich von mir abwenden. Im letzten Moment greife ich nach seinem Handgelenk, halte ihn zurück und ziehe ihn ein wenig näher an mich, damit ich nicht all zu laut sprechen muss. Die anderen müssen schließlich auch nicht alles wissen. „Was ist mit dir los?“, frage ich an seinem Ohr. „Du bist den ganzen Tag schon so schlecht drauf. Ist was passiert?“ „Nein“, wehrt er ab. „Und das ist es ja gerade.“ „Chris…“, beginne ich entnervt, werde aber von Thomas unterbrochen, der uns mit einem Winken zu verstehen gibt, dass die beiden Hauptpersonen endlich da sind und auch die Standesbeamtin die letzten formalen Dinge zu ihrer Zufriedenheit geregelt hat. Der Raum, in den sie uns führt, ist nicht mehr als ein größerer Büroraum, drei lange Stuhlreihen nehmen den meisten Platz ein und breite Fenster sorgen für genügend Licht und Frischluft. Ein Schreibtisch und zwei einzelne Stühle für das zu trauende Paar komplettieren die Einrichtung. Jeder findet für sich einen Platz – die Zwillinge getrennt voneinander – und nach einem kurzen Gespräch mit dem Paar beginnt die Beamtin mit ihrer Rede. Ich höre nicht wirklich hin, erhebe keinen Einspruch an der entsprechenden Stelle und bin im Großen und Ganzen damit beschäftigt Lars auf seinem Stuhl neben mir zu halten. Die Zwillinge haben heute scheinbar Flöhe in der Hose, denn sie können wirklich keine Minute still sitzen bleiben. Mit dreizehn Jahren könnte man das zwar schon von ihnen erwarten, aber in den Köpfen der beiden Jungs hat bekanntlich schon immer ein gewisses Chaos geherrscht. „Ich beglückwünsche Sie ganz herzlich“, schließt die Beamtin das Prozedere, reicht Martina und Jamie die Hand und verlässt dann schnell den Raum um der Familie ihre Zeit zu geben. Die gesamte Gruppe stürzt nach vorne, schießt eigene Fotos, nimmt das Paar abwechselnd in Beschlag und es herrscht allgemein sehr viel Aufregung. Als ich sehe wie Marianne Jamie in die Arme schließt und ihm bekundet wie stolz sie sei, bricht bei mir ein Damm. Ich spüre wie einige Tränen meine Wangen hinunterlaufen, die ich eilig fortwische. Jamie hat eine Familie. „Komm an meine Brust, Bruderherz!“, erschallt Thomas sonore Stimme und laut lachend fallen sich die beiden in die Arme, drücken sich herzlich und beginnen miteinander zu scherzen und zu albern. Und Thomas ist Jamie tatsächlich wie ein Bruder. Ganz anders als ich, der ich jetzt eigentlich da vorne stehen und Jamie beglückwünschen sollte. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht für meinen kleinen Bruder freuen, dafür bin ich zu egoistisch. Denn ich weiß genau, dass mir nicht mehr viel Zeit mit Jamie bleibt und das es nie wieder so sein wird wie in dem letzten Jahr das ich mit ihm hatte. Trotz allem werde ich an dem Leben meines Bruders kaum Anteil haben. Ich habe ihn nicht aufwachsen sehen und schneller als erwartet ist er den Kinderschuhen entschlüpft und geht nun seine eigenen Wege. Für mich ist das kein Platz mehr. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich meinen Bruder um ein Vielfaches mehr liebe, als er mich. Und es zerreißt mir das Herz, als ich mich durch den Blick in seinen Augen bestätigt sehe. Ein Ausdruck voller Hingabe, Vertrauen und Liebe. Und er gehört allein Martina. „Raphael, was sitzt du noch hier rum?“, ertönen die Stimmen der Zwillinge vor mir und zwei erwartungsvolle Gesichter schauen mich an. „Ich schmeiße mich nicht gerne ins Getümmel“, antworte ich ihnen. „Bist du traurig?“, fragt Johannes; zielsicher wie Kinder in dieser Hinsicht sind. „Nein“, wehre ich lächelnd ab, stehe langsam auf und packe die beiden an jeweils einem Arm, reiße sie hoch und halte sie an meiner Hüfte fest. Die beiden johlen vergnügt und sind dann mit einem Mal ganz Handzahm, schmiegen sich an meine Seite und halten still, als ich mich mit ihnen auf dem Arm durch die Stuhlreihen nach vorne dränge. „Martina“, spreche ich die zukünftige Frau Montega an, die sich daraufhin mit einem strahlenden Lächeln zu mir umdreht. „Schön, dass du dem Querkopf eine Chance gibst.“ „Und dabei kann ich doch froh sein, dass er mich alte Schachtel überhaupt will!“, grinst sie vergnügt, küsst mich anschließend auf die Wangen und sieht mich lange und beinahe forschend an. „Es tut mir leid, Raphael“, sagt sie schließlich. „Was denn?“ „Ich nehme dir Jamie weg.“ Ich versuche mich an einem freundlichen Lächeln, habe aber das untrügliche Gefühl, dass es mir nicht ganz gelingt und eher einer Fratze ähnlich sieht. „Lass mir einfach ein Stück von ihm übrig, ja?“, antworte ich nach einer Weile und bin ein wenig erleichtert darüber, dass Martina ein intelligentes, verständnisvolles Mädchen ist, das tatsächlich nicht vorhat sich mehr als nötig zwischen uns zu drängen. „Na klar.“ Ich wende mich von ihr ab, nehme die netten Worte ihrer Eltern hin, erwidere sie und schlängle mich so durch die gesamte Versammlung bis ich schließlich vor Jamie zum stehen komme, der mich breit angrinst und dann Lars und Johannes verscheucht, die prompt von mir ablassen und wie wild geworden durch den Raum fegen. „Rapha.“ „Jamie“, erwidere ich ebenso klug, verpasse meinem Bruder einen Klaps gegen die Stirn, ziehe ihn fest in meine Arme und atme seinen leicht herben Duft ein. „Mach mir keine Schande, hörst du?“, raune ich ihm ins Ohr, spüre ihn nicken. Einen Moment halten wir uns nur im Arm, schweigen uns an und genießen die Nähe zwischen uns, die uns in all den Jahren immer verbunden hat. Niemals könnte ich meinen kleinen Bruder loslassen. Er ist mein Lebensinhalt. „Dass mir keine Klagen kommen, verstanden? Bleib sauber!“ „Ich bin schon groß, weißt du?“, wehrt Jamie lachend ab, löst unsere Umarmung, schmiegt sich aber dennoch an meine Hand, als ich seine Wange streichle. „Ich weiß, ich weiß“, antworte ich, nicke ihm zu, lasse mich in Mariannes Arme fallen und tausche mit Bernhard einige Witze. Chris hopst um uns herum, schießt das ein oder andere Foto und steht dann bei Jamie, lachend und redend. Die beiden scheinen tatsächlich sehr gut miteinander aus zu kommen. „Was meinst du, Raphael, sollen wir schon mal ins Restaurant vorgehen?“, fragt Bernhard, fängt einen seiner Söhne ein und hält ihn unerbittlich fest. „Keine schlechte Idee“, antworte ich, greife mir den anderen Zwilling, lade den Rest der Gesellschaft ein uns zu begleiten und mache mich dann mit Bernhard, Marianne, Johannes, Lars und dem besten Freund von Martina auf den Weg. Der Rest geht es lieber ruhiger an und genießt die Sonnenstrahlen noch vor dem Standesamt. Auch Chris bleibt zurück, was mich einen Moment lang stört. Ich schüttle den Gedanken jedoch von mir ab und widme mich ganz den Zwillingen die nach Aufmerksamkeit und Beschäftigung schreien. „Manchmal frage ich mich, ob die beiden nicht eine Aufmerksamkeitsstörung haben“, seufzt Marianne, schüttelt über ihre Söhne den Kopf. „Wir sollten sie einfach in einen Sportverein stecken“, entgegnet Bernhard gelassen. Eine Weile unterhalten sich die beiden mit Martinas bestem Freund, während ich den Zwillingen hinterher jage und mich gemeinsam mit ihnen ein wenig austobe. Als wir an einem Spielplatz vorbeikommen sind die beiden nicht mehr zu halten, rasen die Gerüste rauf und runter und veranstalten einen Wettbewerb nach dem anderen. Aufgrund meiner Größe komme ich den beiden nicht mehr hinterher und gönne mir stattdessen eine Pause auf der Bank neben den anderen. „Raphael, nicht wahr?“ „Ja. Und dein Name war noch mal?“, frage ich zurück, ergreife die ausgestreckte Hand. „Benjamin.“ „Hi“, grüße ich kurz, lasse mich zwischen ihm und Marianne nieder, atme tief durch und verfalle dann in Schweigen. Ich weiß nichts Großartiges zu sagen, hänge lieber meinen eigenen Gedanken nach und spüre in mir die Hoffnung keimen, dass die anderen uns einholen werden. „Was machst du eigentlich beruflich?“, fragt Benjamin rechts von mir und ich bin fast geneigt die Augen zu verdrehen. Diese Frage ist wirklich nervig. „Ich bin Barbesitzer“, gebe ich dann trotzdem zu. Manchmal habe ich mich mit irgendeiner Lüge raus gewunden, weil mir die Reaktionen auf meinen Job immer schon missfallen haben. „Wirklich? Wo denn?“ „Kennst du das BlackRaven?“ Benjamin nickt enthusiastisch. „Ich war ein oder zweimal da. Das ist ja cool.“ Wenn er mich jetzt fragt ob ich ihm einen ausgebe, dann schubs ich ihn von der Bank. „Ihr baut gerade um, oder?“ „Nein, das war schon. Wir haben eine kleine Küche eingebaut, damit die Leute auch was essen können.“ Eine Zeit lang unterhalte ich mich noch mit Benjamin über den Laden, denke dabei daran, dass ich mich bald entscheiden muss was ich möchte. Entweder ich führe alles weiter wie bisher, oder aber ich verkaufe. Noch immer bin ich unentschlossen. Irgendwann wird es Marianne zu kalt und sie drängt zum Aufbruch. Ich bin Lars dankbar, als er von hinten Anlauf nimmt und mir dann auf den Rücken springt, denn so muss ich mich nicht weiter mit Benjamin unterhalten, der mir mit jeder Sekunde unangenehmer wird. Wir schlendern langsam die Straßen entlang, reden, schweigen und genießen den anbrechenden Abend. Benjamin zückt nach einiger Zeit sein Handy, ruft Martina an und erkundigt sich wo der Rest unserer Truppe geblieben ist. Die sind wohl auch unterwegs und nur knapp zwei Querstraßen hinter uns. Wir entschließen und zu warten. „Wie lange waren wir denn auf dem Spielplatz?“, frage ich Marianne, die einen Blick auf ihre Armbanduhr wirft. „Eine gute Stunde.“ „Ist mir gar nicht so lange vorgekommen.“ Johannes fordert meine Aufmerksamkeit als er darauf besteht ebenfalls von mir getragen zu werden. Ein Streit bricht zwischen den Zwillingen aus, den Bernhard und ich zu schlichten versuchen. Über das hin und her schließen die anderen zu uns auf und schon von weitem kann man Thomas hören, der seinen Brüdern ein strafendes Wort zuruft. Als sie endlich heran gekommen sind, verpasst er den beiden Jungs einen Klaps auf den Hinterkopf und schimpft wie ein Rohrspatz. Sichtlich unbeeindruckt von der Vorstellung des großen Bruders verziehen sich die Zwillinge in erneuter stummer Eintracht. „Du verwöhnst sie zu sehr“, mault Thomas an mich gerichtet. „Kinder haben das Recht verwöhnt zu werden“, entgegne ich ungerührt, fange mir dafür eine Kopfnuss ein. „Du als großer Bruder musst doch wissen wie unerträglich diese Blagen werden können!“ „Nein… den Teil habe ich wohl verpasst“, gebe ich zurück, ernster als beabsichtig. Und auf Thomas’ besorgten Blick hin wende ich mich von ihm ab. Die Gruppe setzt sich erneut in Bewegung und lange Zeit bleibe ich für mich alleine. Martina lotst uns alle durch die Straßen bis hin zu einem nett aussehenden Restaurant, das einen sehr heimischen Zug vermittelt. Als wir eintreten werden wir nett begrüßt und zu unserem Tisch geleitet, der sich in einem separaten Eck befindet. Jacken werden ausgezogen und auf den Ständer verfrachtet, die Ersten nehmen bereits Platz, während die anderen noch mit reden Zeit vertrödeln. Marianne und Martina ziehen sich auf die Toilette zurück und Ausnahmsweise leiste ich ihnen Gesellschaft. Als ich aus der Kabine trete, treffe ich im Waschraum auf Chris, der an die Tür gelehnt steht und mich abwartend mustert. Ich wasche mir die Hände, werfe ihm dabei einen prüfenden Blick zu. „Setzt du dich neben mich?“, fragt er leise. „Bist du mir deswegen nachgelaufen?“ „Nein. Ich musste aufs Klo“, lächelt er milde, geht an mir vorbei, drückt die Kabinentür auf, wendet sich aber doch noch einmal zu mir um. Er sieht mich an – einfach nur an. Dann dreht er sich um und verschwindet in der Kabine. --- Das Essen geht bis zum späten Abend, die Männer trinken ein Bier nach dem anderen, während sich die Frauen zu einer Klatschrunde versammelt haben. Jamie ist in eine Unterhaltung mit Benjamin vertieft, während Thomas versucht seine Brüder davon abzuhalten die offene Weinflasche zu stibitzen. Ich selbst sitze zusammen mit Chris in einvernehmlichem Schweigen am Ende des Tisches, abseits von den anderen und wundere mich augenblicklich über mich selbst. Seitdem uns die Nachspeise gebracht wurde habe ich unter der Tischplatte nach Chris’ linker Hand gegriffen und halte sie nach wie vor fest. Es hindert mich daran das Eis zu essen, das vor meinen Augen dahin schmilzt, allerdings merke ich, dass ich mich deutlich ruhiger fühle. Seit dem Silvesterabend habe ich Chris nur selten zu Gesicht bekommen. Ab und an hat er bei uns übernachtet, doch dann habe ich ihn entweder in die Schule geschleift oder aber zu Hause abgesetzt. Seine Nähe macht mich manches Mal nervös, während sich mich zu anderen Zeiten wiederum sehr beruhigt. Als ich mit Jamie darüber gesprochen habe, hat der mich nur wissend angegrinst und gemeint, dass ich dabei wäre mich in Chris zu verlieben. Zunächst habe ich diesen Gedanken abgelehnt, aber nach einiger Zeit ist mir bewusst geworden, dass ich mich tatsächlich danach sehne ihn zu sehen und um mich zu haben. Vielleicht bin ich wirklich verliebt. Oder auf dem Weg dahin. „Rapha, Mund auf“, höre ich Chris neben mir, wende mich zu ihm um und tue was er sagt. Keine Sekunde später habe ich einen Löffel im Mund und eine angenehme Kühle breitet sich durch das Eis in mir aus. Ich schlucke es hinunter, drücke seine Hand ein wenig fester. „Gibst du mir noch eine Antwort?“, frage ich leise. „Warum du schlecht drauf warst?“ Chris lässt den Kopf sinken, stochert in meinem Eis herum, ehe er sich selbst einen Löffel genehmigt. Immer wieder hebt er die Schultern, lässt sie sinken, so als ob er sich darauf einstellen müsste mir zu antworten. „Wir hatten seit Silvester kaum noch eine Minute alleine“, beginnt er dann. „Und wenn, dann warst du immer distanziert; hast mich nach Hause oder in die Schule geschickt. Meine Mum hat mich zu Hause dauernd kontrolliert. Wohin ich gehe, wann ich wieder komme, ob ich meine Hausaufgaben gemacht habe und all das. Ich bin auch kaum ins Studio zu meinem Großvater gekommen. Das hat genervt.“ Er seufzt tief, schiebt mir einen weiteren Löffel mit Eis in den Mund. „Ich dachte ja, dass ich damit fertig werden würde, aber ehrlich gesagt ätzt mich das Gymnasium tierisch an und zu Hause würde ich gerne ausziehen. Außerdem…“ „Außerdem?“, hake ich nach, als er nicht weiter spricht. „Ich hab dich vermisst“, murmelt er leise, sieht mir nicht in die Augen. „In welcher Klasse bist du jetzt?“, frage ich nach einer Weile. Ich traue mich nicht ihm auf sein Geständnis zu antworten, denn ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wenn ich ihm gestehe, dass auch ich ihn vermisst habe, wird er sich womöglich Hoffnung machen. Und derzeit bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Hoffnung wirklich erfüllen kann – und will. „Noch in der Elf. Haben gerade Sommerferien.“ „Warum bist du doch aufs Gymnasium gegangen?“ Er schnaubt unwillig. „Meine Mum hat meinem Großvater Druck gemacht. Sie meinte, wenn er nicht dafür sorgt, dass ich mein Abitur mache, dann könne er sich einen anderen Nachfolger suchen. Unter den Umständen bin ich natürlich gegangen.“ Einen Moment lang sehe ich Chris einfach nur an. Seine Mutter habe ich bisher nur ein paar wenige Male gesehen, wenn ich ihn nach Hause gebracht habe. Sie wirkte immer streng und unnachgiebig auf mich, aber auch sehr liebevoll gegenüber ihrem Sohn. „Sie will nur dein Bestes“, meine ich aufmunternd. „Bla bla bla“, gibt Chris brummig zurück. Ich lache leise, lehne den nächsten Löffel mit Eis dankend ab. „Hast du mich verstanden, Rapha?“, fragt Chris mich schließlich. Ich nicke. „Ich hab dich vermisst“, wiederholt er. „Ja. Ist angekommen.“ „Sagst du nichts dazu?“ „Ich überlege mir noch eine Antwort“, gestehe ich, schmunzle vergnügt und werfe einen raschen Blick zu den anderen, die immer noch in ihre Gespräche vertieft sind. Ich betrachte Jamie eine Weile, lasse das Gefühl der Enttäuschung allerdings nicht noch einmal in mir aufkommen. „Ich dachte immer, dass ich Jamie genauso viel bedeuten würde, wie er mir“, erzähle ich Chris, der mich mit einem fragenden Blick mustert. „Seit seiner Geburt war Jamie für mich alles. Als mein Vater sich veränderte und damit begann mich zu schlagen, habe ich das ertragen, für Jamie. Acht Jahre lang habe ich mich hingehalten, wenn mein Vater wütend wurde, denn ich hatte immer Angst, dass er irgendwann auf meinen kleinen Bruder losgehen könnte.“ Das Lachen der Männergruppe wird lauter. Als Jamie sich nach uns umsieht, winke ich ihm kurz zu und erwidere sein Lächeln. „Mit Sechzehn habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen. Jamie musste ich zurück lassen, auch wenn ich ihm und mir geschworen habe ihn zu holen, wenn die Zeit gekommen ist. All die Zeit habe ich nur an ihn gedacht. Auch den Laden und das Geld das ich damit verdient habe, geht größtenteils an ihn. Ich wollte immer, dass er unbeschwert aufwächst und so wenig Bindung wie möglich zu unseren Eltern hat. Nachts hat er manchmal Albträume und ich war immer da um ihn aufzuwecken und zu beruhigen. Langsam aber sicher hat er sich von seiner Vergangenheit lösen können. Er ist erwachsen geworden, hat ein ganz normales Leben begonnen und sich verliebt. Bei allem habe ich ihn unterstützt und überwacht. Wenn er gefallen ist, habe ich ihn wieder aufgehoben. Die zwei kurzen Jahre die ich mit ihm alleine hatte, sind nun vorbei, dass weiß ich. Im Grunde wusste ich es schon seit er mir zum ersten Mal von Martina erzählt hat. Ich habe sehr gute Arbeit geleistet, Chris. Mein Bruder ist ein wundervoller Mensch geworden. Er braucht mich nicht. Nicht mehr. Ich habe alles für ihn getan und geopfert, damit er seine Vergangenheit vergisst, während ich selbst noch immer darin fest hänge.“ Ich atme einmal tief ein uns aus, fixiere das Gesicht meines Bruders, der mich noch immer ansieht. Sein Lächeln ist verschwunden und er blickt besorgt zu mir herüber. Müde fahre ich mir mit der freien Hand über die Augen. Chris neben mir ist ganz still. Seine Hand liegt warm in meiner und sein ruhiger Atem ist seltsam einlullend. Seine ganze Präsenz ist wie eine große Blase, die mich umschließt und abschirmt. Trotz des Gefühlschaos in mir drin, fühle ich mich sicher. „Es reißt mir das Herz heraus, das er heiratet, das er ausziehen wird, das er überhaupt nur einen anderen Menschen als mich ansieht. Aber ich weiß, dass ich dagegen nichts tun kann. Er muss seinen Weg gehen und ich muss endlich lernen von alledem Abstand zu nehmen. Trotzdem… fühle ich mich verloren.“ Eine warme Träne rinnt mir die Wange hinunter, doch noch ehe ich sie wegwischen kann, greift Chris nach mir, hält mich fest und zwingt mich dazu ihn anzusehen. „Ich liebe dich“, flüstert Chris mir zu, sieht mich unverwandt an. „Wenn ich es nicht vorher schon getan hätte, dann spätestens jetzt. Ich liebe dich, Raphael.“ Martinas Eltern kommen an uns vorbei, lassen ein paar Worte fallen und verschwinden dann Richtung Toiletten. Als Thomas sich zu uns gesellen will winke ich ab. Einen Moment ist er überrascht, nickt dann aber und zieht sich zu Martina und Jamie zurück. Chris wartet einen Augenblick, schließlich lehnt er seinen Kopf an meine Schulter, drückt meine Hände fest an sich und atmet einmal tief durch. „Immer versuchst du ein Kopfmensch zu sein, Rapha. Dabei bist du jemand, der danach handelt wie er sich fühlt. Du bist impulsiv und auch unberechenbar, aber immer kann man sich auf dich verlassen und – was am wichtigsten ist – du bist ehrlich. Weder mir noch den anderen gaukelst du irgendetwas vor. Allerdings frisst du viel zu viel in dich rein und keiner merkt was davon, weil du dich nur ungern von wem durchschauen lässt. Immer bleibst du ein Einzelkämpfer.“ Das Ehepaar kommt von der Toilette zurück und erneut bricht großes Gelächter aus, als Martinas Vater scheinbar einen vorher gefallen Witz wieder aufgreift. „Vielleicht hängt es mit deinem Vater zusammen, keine Ahnung, aber ich finde, dass du langsam mal damit anfangen solltest die Gefühle der Menschen um dich rum anzunehmen.“ „Was meinst du?“, frage ich verwirrt, ernte ein sanftes Lächeln. „Die ganze Familie Vogel zum Beispiel. Herr und Frau Vogel lieben dich wie ihren eigenen Sohn und die drei Jungs vergöttern dich als ihren Bruder. Du bist ein Teil dieser Familie, bist es schon immer gewesen, aber wie oft schottest du dich von ihnen ab?“ Als ich unwillkürlich zusammen zucke weiß Chris, dass er einen wunden Punkt getroffen hat. Trotzdem fährt er fort. „Du glaubst das du Jamie nicht so viel bedeutest wie er dir? Hm, vielleicht ist das so. Vielleicht aber auch nicht. Wenn du dir wegen seiner Gefühle nicht sicher bist, dann solltest du ihn fragen und nicht einfach annehmen was dir gerade passt. Jeder Mensch ist anders und zeigt seine Zuneigung auf eine andere Art und Weise. Vielleicht ist sich Jamie gar nicht bewusst, dass du dich vernachlässigt fühlst. Du sagst ja nie was und tust immer so als sei alles in Ordnung.“ „Chris…“, will ich ihn unterbrechen, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen. „Alles was ich sagen will ist, dass du versuchen solltest ehrlicher zu dir selbst zu sein. Hab keine Angst vor den Menschen. Lass dir von dem Schatten deines Vaters nicht dein Glück kaputt machen.“ Eine Zeit lang sehen wir uns einfach nur an, dann zieht Chris seinen Finger zurück, lehnt sich ein wenig vor und platziert einen sanften, warmen Kuss in meine Halsbeuge. „Ich liebe dich“, haucht er leise, streicht zaghaft über meine Wange. Ich greife nach seiner Hand, ziehe sie zu mir und küsse jeden einzelnen seiner Finger. In diesem Moment fühle ich es so stark wie noch nie in mir brodeln. Einem Impuls nachgebend greife ich nach seinen Schultern, drücke ihn an mich heran. „Ich liebe dich“, wiederholt er. „Ich weiß“, flüstere ich, komme ihm noch ein bisschen näher und versiegele seine Lippen schließlich mit meinen. Er erzittert unter der Berührung, sinkt mir weiter entgegen. Seine Hände krallen sich in das Hemd, das ich heute angezogen habe und ich höre ihn leise keuchen. „Scheiße, Rapha!“, höre ich Thomas von irgendwo rufen, auch Jamie sagt etwas, aber ich verstehe es nicht mehr. Ich halte Chris in meinen Armen. Und das ist momentan das Einzige, das wichtig ist. --- Nach mehreren Versuchen habe ich es endlich geschafft. Puh! Kapitel 12: Schlafende Begierde (2001) -------------------------------------- 12. Kapitel - 2001 Als ich den Kuss mit Chris löse, verharre ich mit meinen Lippen noch einige Zeit an seinem Mundwinkel, atme seinen Duft ein, streiche ihm durch dieses fantastisch weiche Haar und lasse seine ganze Präsenz auf mich wirken. Das hier fühlt sich so gut an. Schließlich öffne ich die Augen, treffe seine, lächle sanft und bin beinahe versucht ihn erneut zu küssen. Vielleicht auch mehr als das. Mit einem Mal erscheinen mir die acht Jahre, die uns zeitlich voneinander trennen nicht mehr so unüberwindbar. Wahrscheinlich war das alles eh nur ein Vorwand meinerseits um mich wenigstens etwas von ihm fernzuhalten. Aber allein das Gespräch von vorhin hat deutlich gemacht wie erwachsen Chris eigentlich schon ist. Woher das nur kommt? Ich gebe mir selbst nach, lehne mich vor und stehle mir einen zweiten, unendlich sanften Kuss von ihm, den er ebenso sanft und beinahe schon schüchtern erwidert. Ob Chris schon viele Mädchen geküsst hat? Geschlafen hat er ja scheinbar schon mit Vertretern beiden Geschlechts. Aber ich will eigentlich nicht darüber nachdenken. Ich küsse Chris gerade, niemand sonst. „Hm…“, macht er leise, als ich mit meiner Zunge seine Lippen nachfahre und ihn so erzittern lasse. Er öffnet sich mir einladend, doch ich ziehe mich wieder zurück. Schließlich habe ich nicht vergessen wo wir sind und es wäre Jamie gegenüber unhöflich hier eine große Knutscherei zu starten. Außerdem möchte ich es beim ersten Mal ungern übertreiben. Immerhin bin ich noch immer unschlüssig wie viel mehr ich Chris geben möchte. „Nimmersatt“, hauche ich am Ende des Kusses gegen seine Lippen, die sich daraufhin zu einem süßen Schmollmund verziehen. Eine Antwort bleibt er mir allerdings schuldig. Dafür bekommt er eine von mir. „Wegen deines Geständnisses von vorhin… ich habe dich auch vermisst.“ Er ist überrascht, aber schnell breitet sich ein ehrliches Lächeln in seinem Gesicht aus und er legt mir eine seiner warmen Hände auf die Wange, streichelt sie und sieht mir lange sehr intensiv in die Augen. Wie ein Sturm fegt es über mich hinweg und ich muss mich schnell abwenden, wenn ich der Versuchung nicht schon wieder erliegen will. Ich hebe den Blick und bemerke, dass Thomas und Jamie uns beobachten. Letzter mit einem beinahe gehässigen Grinsen à la ‚Ich hab’s ja gewusst’ und der Erste ungläubig und unverhohlen wütend. Thomas kann es gar nicht leiden, wenn er wichtige Dinge als Letzter erfährt. Und ihm gegenüber habe ich Chris in letzter Zeit nicht erwähnt. „Die Wölfe warten auf Futter“, flüstere ich Chris zu, der sich ebenfalls umwendet, dabei leicht errötet und sich wohl am liebsten irgendwohin verkrochen hätte. „Seit wann bist du denn schüchtern?“, necke ich ihn, handle mir einen Schlag gegen die Brust ein, den ich dazu nutze mir seine Hand zu greifen und jeden einzelnen Finger zu küssen. Es fühlt sich gerade alles so richtig an, so verdammt gut. Trotzdem macht es mir Angst. „Chris…“, fange ich leise an, werde allerdings von seinem Kopfschütteln unterbrochen. „Ich weiß“, sagt er. „Dein Tempo. Keine Sorge, ich werde versuchen mich zu bremsen, ansonsten weißt du ja ganz gut wie man mich auf Abstand halten kann.“ Auch wenn es danach klingt, so ist seine Stimme dennoch frei von jeglicher Anschuldigung oder gar Schmerz. Seine Ehrlichkeit ist verblüffend, ebenso seine Kraft mit der er es fertig bringt so konsequent und hartnäckig an mir zu kleben. Scheinbar beeindruckt ihn meine ruppige Art kein bisschen. „Darf ich dich trotzdem um so etwas wie ein Date bitten?“, fragt er schließlich sanft lächelnd und fährt fort noch ehe ich den Mund geöffnet habe. „Es gibt da etwas was ich dir unbedingt zeigen muss!“ Ich zögere einen Moment, gebe aber dann meinem Gefühl nach, küsse ihn auf die Schläfe und flüstere meine Bestätigung in sein Ohr. Noch ist das hier neu für mich. Von jemandem so mitgerissen zu werden… das hat selbst Zack nicht geschafft. Aber wenn Chris da ist, dann ist er überall. Die ganze Luft trägt seinen Duft, seine Stimme klingt aus jeder Ecke und seine Wärme erfüllt jeden Zentimeter des Raums. Ich kann ihm nicht entkommen, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen sträube. Allerdings will ich weder ihm noch mir etwas aufbürden. Ich weiß nicht ob ich für eine feste Beziehung mit ihm bereit bin, auch wenn ich mir mit jedem Augenblick sicherer werde, dass auch ich mich in diesen Querkopf verliebt habe. Aber es ist alles so anders als mit Zack, der immerhin meine erste Liebe war. Ich traue diesem Gefühl nicht. Noch nie war die Liebe zu einem Menschen glücklich für mich. Stets wurde ich verletzt; auf welche Art auch immer. „Könnte mir jetzt ENDLICH mal jemand sagen, was bei euch gerade abgeht?“, lässt sich Thomas neben uns vernehmen, als er mit einem säuerlichen Schnauben einen Stuhl vor uns stellt und sich darauf plumpsen lässt. Abwechselnd sieht er Chris und mich mit einem versucht einschüchternden Blick an. Jamie stellt sich hinter ihn und lehnt sich an die Stuhllehne. Er ist sichtlich amüsiert. „Halt deine vorlaute Nase aus meinen Angelegenheiten“, weise ich Thomas rüde ab, grinse ihn dabei hämisch an, was ihm ein erneutes Schnauben entlockt. „Ich bin dein verflucht bester Freund und habe somit ein explizites Recht auf die neusten Klatschinfos aus deinem verkorksten Liebesleben!“, beschwert er sich mit verschränkten Armen. Chris und Jamie können sich nicht mehr zusammenreißen und brechen in lautstarkes Gelächter aus, was die anderen Gäste zu uns rüber sehen lässt. „Keine Sorge, Schatz, dir wird schon niemand den Rang ablaufen“, necke ich Thomas weiter, ziehe sein Gesicht zu mir heran und gebe ihm einen feuchten Schmatzer auf die Wange, was ihn angeekelt die Augen verdrehen lässt. „Du bist scheiße, Rapha“, bestimmt er eindringlich, wischt sich das Gesicht mit einer herumfliegenden Serviette ab und grummelnd stumm in sich hinein. „Danke, Süßer“, nehme ich es ihm nicht übel, lehne mich in meinem Stuhl zurück und tausche einen wissenden Blick mit meinem kleinen Bruder, der sich prompt auf meinen Schoß setzt und mir durch die Haare wuschelt. Dabei sieht er Chris mahnend an. „Dass du mir ja auf meinen Großen aufpasst, verstanden?“ „Ey, isch schwöre!“, hebt Chris grinsend zwei überkreuzte Finger, während er sich die andere Hand auf die Brust legt. „Damit wir es nicht vergessen“, werfe ich missbilligend ein „Du bist hier derjenige der heiratet. Außerdem ist das hier kein Ereignis, okay? Bleib locker!“ „Oh und wie das ein Ereignis ist“, gibt Jamie lächelnd zurück. „Schließlich bist du doch mein Herzbube und den werde ich ja wohl nicht irgendeinem aufs Auge drücken, wenn ich Ende des Jahres ausziehe.“ „Meinetwegen könntest du noch bleiben…“, flüstere ich ihm zu. „Ich weiß, Rapha“, erwidert Jamie ebenso leise, streichelt mir über die Wangen, sieht mich lange sehr nachdenklich an. „Ich liebe dich, ich hoffe, dass du das weißt. Du bist der beste große Bruder den man sich nur wünschen kann und ich werde immer, wirklich immer, für dich da sein, wenn du mich brauchst, hörst du?“ Ich nicke schwach, verkneife mir die Tränen, ziehe Jamie stattdessen lieber in meine Arme. Gott, wie ich ihn vermissen werde. Mir zerreißt es das Herz wenn ich daran denke, dass er bald mit Martina zusammen ziehen wird, wenn diese ihr Studium im Herbst beginnen wird. Hinter Thomas taucht Martina auf, die in die Runde lächelt und dann nach ihrem Angetrauten verlangt, da ihre Eltern sich von ihrem neuen Schwiegersohn verabschieden möchten, ehe sie das Feld räumen. Ich lasse Jamie aufstehen und sehe ihm nach. „Was ist los, Rapha?“, höre ich Thomas’ leise Stimme, blicke zu ihm und sehe echte Besorgnis in seinem Gesicht. Ich lächle ihn an und will abwinken, als Chris mir einen Stoß in die Rippen versetzt. Ich weiß was er mir sagen will und ich bin dankbar, dass er hier ist und mich daran erinnert. „Treffen wir uns übermorgen?“, frage ich Thomas, der ohne zu zögern nickt. „Gut, dann komm ich mittags bei dir vorbei, dann können wir reden.“ „Warum nicht direkt morgen?“, hakt Chris lauernd nach, aber mit einem breiten Grinsen lehne ich mich zu ihm, beiße ihn sanft in sein Ohr. „Weil morgen bereits für dich reserviert ist“, hauche ich rau, bemerke wie er unter der sanften Berührung erschaudert und unterdrücke nur mühsam ein Lachen. „Sagt mir nur eins“, meldet sich Thomas wieder zu Wort und ich wende mich ihm zu. „Seid ihr fest zusammen?“ Skeptisch blickt er von mir zu Chris, dann wieder zu mir und seine Frage ist mehr als nur berechtigt. Allerdings überlässt Chris es mir zu antworten. Ich schüttle nach einer Weile den Kopf. „Nein. Aber ich würde es ihm übel nehmen, wenn er auch nur an einen anderen Mann denken würde. Bei einer Frau würde ich ihm wahrscheinlich den Hals umdrehen“, gestehe ich dann, höre Chris neben mir empört nach Luft schnappen. „Als ob ich nach all dem Stress so was machen würde!“ „Würde ich dir auch von abgeraten haben“, gebe ich grinsend zurück. „Ihr zwei seid echt bekloppt“, beschwert Thomas sich lachend, verabschiedet sich von Chris und mir und kehrt in den Kreis seiner Familie zurück, der sich nun ebenfalls zum Aufbruch bereit macht. Johannes und Lars sind bereits zu müde um auch nur einen Laut von sich zu geben. Eine Weile sitzen wir noch schweigend da, ehe wir dem vorbeikommenden Kellner unsere Teller anreichen und uns dann ebenfalls zum gehen wenden. Draußen treffen wir noch auf Martinas Eltern, dann kommt Familie Vogel hinzu und es entsteht ein kleiner Aufruhr und ein geschäftiges Hin und Her, als sich alle voneinander verabschieden. „Sollen wir dich unterwegs irgendwo absetzen, Chris?“, fragt Bernhard nach, als die Zwillinge in seinem Wagen verfrachtet sind und Thomas sich in der Begleitung seiner Mutter zu seinem eigenen Auto aufmacht. „Ich nehm’ ihn heute mit zu mir“, erkläre ich, bugsiere Chris nach vorne und werfe mich dann neben Johannes in den Sitz. Der lehnt sich gähnend zu mir, legt seinen Kopf auf meine Schulter. „Kein Problem.“ Als wir alle sitzen und sich Thomas an uns vorbei nach vorne abgesetzt hat, startet auch Bernhard den Wagen, fährt seinem Sohn hinterher, der den Weg besser kennt und somit den Wegweiser mimt. Jamie und Martina werden später alleine nach Hause fahren. „Ein sehr netter Abend“, beginnt Bernhard ein Gespräch mit Chris, der ihm beipflichtet. Die beiden unterhalten sich gedämpft, während ich selbst langsam in den Schlaf abdrifte und nur noch mitbekomme wie Johannes nach meiner Hand greift. --- Ich werde von einem sanften Rütteln an meiner Schulter wieder wach, gähne ausgiebig und kämpfe mich mühsam von meinem Sitz. Johannes hat sich während der Fahrt auf die andere Seite zu seinem Bruder gelehnt und schläft noch immer tief und fest. Bernhard verabschiedet sich von uns und fährt die wenigen Straßen zu seinem Haus weiter, wo seine Frau schon sicherlich auf ihn wartet. Ich gebe Chris den Schlüssel, denn ich bin einfach zu müde um mich noch groß damit rumplagen zu wollen. Chris zieht mich hinter sich her in meine Wohnung, verschließt diese und wirft den Schlüssel auf das kleine Schränkchen, das in meinem Flur steht. Ich schlurfe zum Schlafzimmer, ziehe mir im gehen Hemd und Krawatte aus, öffne auch den Knopf meiner Hose. Etwas verplant fahre ich mir durch die Haare, auf der Suche nach meiner Schlafanzughose, von der ich glaube, dass ich sie heute Morgen irgendwo hier auf den Boden geschmissen habe. Müde gähne ich auf. „So verpeilt siehst du echt niedlich aus“, neckt Chris mich vom Türrahmen her. „Halt’s Maul“, gebe ich unfreundlich zurück, werfe einen prüfenden Blick zu dem Jüngeren, der sich allerdings kein bisschen beeindruckt zeigt. Stattdessen stößt er sich ab, kommt langsam auf mich zu, platziert einen warmen Kuss auf meiner Brust, ehe er dann unter die Laken des Bettes greift und mir stolz meine Hose präsentiert. Ich nehme sie ihm ab, schlüpfe dann aus meiner Anzughose und werfe diese zu dem kleinen Haufen vor mir. Morgen muss ich dringend wieder waschen. In letzter Zeit hat die Hausarbeit stark gelitten. Während ich mich zu Ende umziehe, vergreift sich Chris an meinem Schrank. Er war nun schon oft genug hier um zu wissen wo er passende Klamotten für sich findet, auch wenn er sich jetzt darauf beschränkt eine von Jamies älteren Shorts herauszukramen und anzuziehen. Einen Moment lang betrachte ich ihn von der Seite her, doch dann wende ich mich von ihm ab, verkrieche mich unter meine Decke und überlasse es Chris das Licht zu löschen, was dieser nach einigen Momenten auch tut. Wohlige Dunkelheit umgibt uns und ich will mich schon zur Seite drehen, als ich ein schweres Gewicht an meiner Seite fühle. „Ups, sorry!“, kommt es leise von Chris, als dieser mir auf den Arm tritt, dabei ins straucheln kommt und über mich fällt. „Ich hätte doch ums Bett herum gehen sollen.“ Ich zögere, ermahne mich selbst, dass ich nicht zu schnell werden darf, aber letztendlich werfe ich alles über Bord, greife in der Schwärze nach Chris, kriege ihn an einem Arm zu fassen und drehe ihn auf mir herum sodass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spüren kann. „Rapha?“, kommt es unsicher von ihm, was mich nur schmunzeln lässt. „Es ist Sommer“, sage ich. „Du brauchst keine Decke, nur mich.“ Er lacht unterdrückt auf. „Woher kommen auf einmal diese oberpeinlichen Sprüche?“, fragt er nach, schmiegt sich aber dennoch an mich an. Seine Hand findet meine Haare, vergräbt sich in ihnen und krault mich auf unnachahmlich sanfte Art und Weise. „Halt die Klappe“, weise ich ihn zurück, lehne mich nach oben und finde seinen Mundwinkel, küsse diesen, gleite an ihm ab bis ganz auf seine Lippen, die sich mir willig öffnen. Seufzend drängt er näher an mich heran und ich ertrinke in diesem Gefühl, das mich immer dann überkommt, wenn er mir so nahe ist. Ich werfe ihn schließlich von mir, schäle mich aus der Decke heraus und finde ihn wieder, lege mich auf ihn, genieße unsere Berührung. „Ich kann einfach nicht die Finger von dir lassen“, gestehe ich Chris leise, während ich bestätigend über seine Seiten streichle. „Das ist doch gut.“ „Eigentlich schon, oder?“, packt mich wieder diese Unsicherheit, die ich einfach nicht vollkommen abschütteln kann. Immer ist da eine kleine Stimme in meinem Kopf, die mich davor warnt all das hier zuzulassen. Liebe ist nichts für dich, schreit sie mir zu und manches Mal bin ich gewillt ihr zu glauben. „Hey“, kommt es sanft von Chris. „Hey, ganz ruhig.“ Als sich seine Arme um mich schlingen, gebe ich dem Druck nach, lege meinen Kopf auf seiner Brust ab und lasse mich von ihm einfangen und festhalten. Meine Hände krallen sich unnachgiebig in seine Oberarme, aber kein Laut kommt von seinen Lippen. „Ich liebe dich, Raphael“, gesteht er mir erneut nach einer Pause. „Und ich gebe dir so viel Zeit wie du brauchst, glaub mir. Ich will dich nicht unter Druck setzen, aber ich werde dich auch nicht mehr aufgeben. Du bist ein wundervoller Mann und ich werde alles dafür tun, dass du in Zukunft nur noch mich ansiehst.“ „Sowas ähnliches hat Zack auch zu mir gesagt“, flüstere ich heiser. Chris schnaubt unwillig, streichelt mir dennoch weiterhin durch die Haare, über den Rücken. Noch immer ist er scheinbar die Ruhe selbst und ich fühle mich so geborgen wie bei Marianne. Eigentlich sogar noch viel mehr als das. Chris ist mit einem Mal zu meinem Anker geworden und ich fürchte mich vor dem Gedanken, wenn er irgendwann nicht mehr da sein sollte. Ich will ihn festhalten, habe gleichzeitig aber auch Angst, dass ich ihn zerbrechen könnte. Zu Zack sagt er nichts. Auf der einen Seite bin ich darüber sehr erleichtert, auf der anderen Seite beunruhigt es mich dennoch nicht gerade unerheblich. Noch immer habe ich nicht vollständig mit diesem Kapitel abgeschlossen. „Ist es dir eigentlich egal geworden, dass ich acht Jahre jünger bin als du?“, fragt er nach einer ganzen Weile, die wir uns nur angeschwiegen haben. „Es ist noch immer gewöhnungsbedürftig, aber du wirst ja bald achtzehn… es ist okay.“ „Na, das ist doch schon mal ein Anfang“, kichert er, drückt mich näher an sich heran, lässt sich in das Kissen sinken und dann werden seine Atemzüge immer tiefer, ruhiger. Chris ist eingeschlafen. --- Kapitel 13: Von Bergen und Monden (2001) ---------------------------------------- 13. Kapitel - 2001 Am nächsten Morgen erwache ich mit einem mehr als nur steifen Nacken. Es fühlt sich fast steinhart an. Stöhnend drehe ich meinen Kopf vorsichtig erst in die eine, dann in die andere Richtung, bis meine Motorik zumindest wieder etwas besser funktioniert. Es ist noch recht früh wie ich dem Ziffernblatt meines Weckers entnehme, dennoch erhebe ich mich langsam aus meiner unbequemen Position. Chris liegt seelenruhig schlafend in meinem Bett, den Mund leicht geöffnet, die Haare wirr in alle Richtungen abstehend. Wie er so verzaust aussehen kann, wenn ich die ganze Nacht auf ihm gelegen habe, ist mir ein Rätsel. Lächelnd streiche ich ihm eine Strähne aus der Stirn, kämme sie mit den Fingern hinter sein Ohr, halte sie noch einen Moment, ehe ich mich vorbeuge und einen Kuss auf seine Wange platziere. Dann schwinge ich mich aus meinem Bett heraus, tapse zu dem Wäscheberg vor meinem Schrank, den ich mit mir ins Badezimmer nehme. Dort stelle ich die Waschmaschine an, ehe ich mir eine kühle Dusche gönne. Im Sommer ist es ohnehin schon sehr warm, aber dann noch zu zweit so nah beieinander zu liegen ist beinahe mörderisch. Ich bin gerade dabei mich mit Duschgel einzuschäumen, als sich die Tür öffnet und ein sehr verquollen aussehender Chris ins Bad kommt, herzhaft gähnt und sich erst einmal auf den Klodeckel fallen lässt. Als ich mich abwasche und anschließend nach dem Shampoo greife, erklingt die Türglocke und mühsam stemmt Chris sich hoch um zu öffnen. Innerlich wundere ich mich darüber wer zu einer so frühen Stunde bei mir auf der Matte steht, als ich auch schon das Gebrüll der Zwillinge vernehmen kann. Auch Mariannes Stimme ist hörbar, kommt immer näher, bis sie schließlich vor mir steht, völlig unbeeindruckt von meiner Nacktheit. „Morgen, Raphael“, grüßt sie etwas außer Atem. „Hi“, gebe ich zurück, stelle das Wasser ab und nehme das Handtuch von ihr entgegen, schlinge es mir um die Hüfte und trete aus der Kabine. „Entschuldige den Überfall, aber Bernhards Wagen springt nicht an, ich muss ihn schnell zur Arbeit fahren, will die beiden aber nicht alleine zu Hause lassen. Könntest du bis zum Mittag auf sie aufpassen?“ „Sicher“, lächle ich sie an. „Chris und ich wollten in die Stadt, wir nehmen sie einfach mit.“ „Oh, danke! Du bist meine Rettung!“ Marianne küsst mich noch links und rechts auf die Wange, ehe sie mit einem letzten mahnenden Wort an ihre Söhne wieder aus der Wohnung stürmt und die Tür mit einem leisen Knall zuzieht. Chris taucht wieder im Rahmen auf, schenkt mir einen fragenden Blick, ehe er sich dem Waschbecken zuwendet und einen prüfenden Blick in den Spiegel wirft. „Wir nehmen die Zwillinge heute mit, okay?“, frage ich ihn, trockne mir die Haare ab. „Kein Problem. Dann geh ich nur eben noch schnell duschen.“ „Lass dir Zeit“, wehre ich ab, trete hinter ihn und kann dem Impuls nicht widerstehen, seine Hüfte zu fassen und an mich zu ziehen. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel und mit einem Mal wird mir unglaublich warm. Viel heißer als jedes Fieber. Wie von Sinnen küsse ich sein Ohr, die Haut darunter, seinen Hals entlang, beiße mich dort sanft fest, fahre immer wieder mit meiner Zunge die Strecke auf und ab, dabei seinen entzückten Anblick genießend. Chris hat die Augen geschlossen, atmet schwer durch die leicht geöffneten Lippen, an die ich nun meine Finger lege. Sogleich küsst er sie, leckt darüber und mit einem Schmunzeln bemerke ich seinen Halbsteifen. Chris ist sehr empfindlich. „RAPHAEL!“ Das Gebrüll von Johannes und Lars reißt uns auseinander. Chris wirkt einen Moment verwirrt, dann jedoch beschämt, während ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann. Missmutig zieht er die Augenbrauen zusammen, boxt mich in die Seiten. Dann fährt er herum, zieht sich die Boxershorts herunter und verschwindet in der Duschkabine. „Viel Spaß“, wünsche ich ihm diabolisch grinsend, was ihn ebenso verlegen wie erbost erröten lässt. „Hau doch ab!“, zischt er und ich tue ihm den Gefallen. „RAPHAEL!“, kommt es wieder von den Zwillingen, die ich im Wohnzimmer finde. „Was wollt ihr?“, brumme ich sie an, schnappe mir Lars und wirble ihn einmal herum. Die beiden sind wirklich noch viel zu kindisch für ihr Alter. Aber vielleicht liegt das daran, dass sie schon von klein auf jedermanns Liebling waren und immer bekommen haben was sie wollten. „Wir haben Hunger“, erklärt mir Johannes. Marianne und Bernhard hatten heute Morgen wohl noch nicht einmal für ein gescheites Frühstück Zeit. „Dann helft mir dabei den Tisch zu decken.“ Begeistert ziehen die beiden in die Küche los, während ich die Zeit nutze um mir im Schlafzimmer endlich etwas anzuziehen. Als ich gerade den Knopf meiner kurzen Hose schließe, höre ich ein verdächtiges Geräusch aus dem Badezimmer und trete grinsend näher heran. Tatsächlich kann ich Chris verhalten stöhnen und keuchen hören. Ich stoße die Tür ein wenig weiter auf und ermögliche mir damit einwandfreie Sicht auf seine verschwommene Silhouette, die sich gegen die geflieste Wand in seinem Rücken krümmt. Seine rechte Hand bewegt sich in der unteren Region schnell auf und ab, es wirkt beinahe brutal auf mich. Er ist scheinbar vollkommen in seinen Gefühlen gefangen. Lautlos ziehe ich mich zurück, streife mir noch ein Shirt über, doch bevor ich mein Schlafzimmer verlasse höre ich noch wie er meinen Namen mit heiserer Stimme ruft. In diesem Moment geht ein gewaltiger Stromschlag durch meinen Körper und wenn die Zwillinge nicht hier wären, dann würde ich jetzt in dieses verdammte Badezimmer stürmen und ihn gleich unter der Dusche nehmen. Seine Stimme ist einfach nur heiß. Während ich mit Johannes und Lars den Tisch für uns vier decke, frage ich mich, ob Chris’ Stimme noch heißer klingen wird, wenn ich es ihm besorge. „Hinsetzen und Füße still halten“, weise ich die Zwillinge an, stelle zuerst den Brotkorb auf den Tisch, dann die zwei Tassen, die Kaffe für mich und den Tee für Chris enthalten. Die Jungs setzen sich schweigend auf ihre Plätze, greifen gierig nach Nutella und Marmelade und lassen keinen Laut mehr von sich vernehmen. „Guten Morgen“, ertönt es hinter mir und ein frisch geduschter und angezogener Chris steht hinter mir im Türrahmen. „Jungs!“, mahne ich, als von den beiden Kleineren nichts zu hören ist. Rasch nehmen sie die Brote aus dem ohnehin noch vollen Mund und nuscheln eine Begrüßung zurück, die Chris zu einem hinreißenden Lächeln animiert. „Ich hab dir Tee gekocht.“ „Oh, danke!“ Er lässt sich auf seinem Stuhl nieder und tunkt den Teebeutel ein paar Mal unter, ehe er ihn herauszieht, ausdrückt und auf einer Ecke seines Brettchens drapiert. „Ohne den geht gar nichts“, schwärmt er genüsslich. Das Frühstück über schweigen wir uns an. Auch die Zwillinge bleiben stumm, viel zu sehr damit beschäftigt ein Brot nach dem anderen zu vernichten. Dann jedoch sind sie gefüttert, stürzen ihr jeweiliges Glas Wasser hinunter und rauschen schließlich ins Bad zum Zähneputzen ab. Ich beginne damit den Tisch abzuräumen, während Chris die letzten Schlucke seines Tees trinkt. Doch schließlich kann ich nicht mehr an mich halten, trete von hinten an Chris heran, lege meine Hände auf seine Schultern. „Wie war die Dusche?“, hauche ich ihm ins Ohr. „Du Arsch“, bekomme ich nur zurück, ehe ich ihn zu mir herumdrehe und mir einen energischen Kuss von seinen roten Lippen stehle, die einen Moment lang verkniffen bleiben, ehe sie sich mir öffnen und auf mein Spiel eingehen. Chris greift nach meinem Arm, verkrallt sich darin und mit einem Mal spüre ich all seine Sehnsucht, die er wohl schon seit langer Zeit in sich getragen hat. Es macht mir Angst, gleichzeitig bin ich aber auch gewillt ihm langsam nachzugeben. Einmal in den Genuss seiner Lippen gekommen, will ich einfach nicht mehr von ihm lassen, auch wenn ich mir selbst nur zu genau bewusst bin, dass es nicht zu schnell gehen darf. Oder ist das wieder nur diese Stimme in meinem Kopf die mir das zuruft? „Tut mir leid“, flüstere ich gegen seine Lippen, als ich von ihm ablasse. „Weswegen?“, haucht er zurück, berührt vorsichtig meinen Mund. „Ich weiß nicht, ob ich zu schnell oder zu langsam bin… ich…“, stottere ich hilflos, nur von seiner warmen Hand an meiner Wange aufrecht gehalten. „Denk an das, was ich dir gesagt habe: Hör auf dein Herz, nicht auf deinen Kopf.“ „Ich versuch’s ja, aber es ist so schwer“, gestehe ich ihm, sinke neben seinem Stuhl auf die Knie und verstecke mein Gesicht in seinem Schoß. Seine Hände vergraben sich in meinen Haaren, streicheln hindurch und vermitteln mir das Gefühl absoluter Zärtlichkeit. Ich frage mich, ob sich so Liebe anfühlt. „Ich weiß. Hab keine Angst, ich bin bei dir.“ Einen Moment noch verharren wir so, dann werden die Stimmen von Johannes und Lars, die bisher nur verhalten zu hören waren, immer lauter. Chris beginnt leise zu lachen, küsst mich aufs Haar und steht langsam auf, zieht mich mit sich hoch und schenkt mir ein so strahlendes Lächeln, dass mir das Herz dabei aufgeht und ich ihn noch einmal in einen langen Kuss ziehe. „Siehst du? Es geht doch schon ganz gut“, flüstert er, verhalten lachend. „Raphael!“, ertönt es aus dem Wohnzimmer und ich fühle mich genötigt endlich von Chris abzulassen und mich wieder den Pflichten zuzuwenden, die ich habe. „Warum seid ihr denn noch nicht angezogen, ihr Racker?“, frage ich die Zwillinge, als ich zu ihnen trete und sie aus einer Streiterei reiße. Mit knappen Worten weise ich sie an sich Schuhe und Jacken anzuziehen und dabei so leise wie eine Maus zu sein. Während dieser Prozedur geht Chris an uns vorbei, verschwindet im Schlafzimmer und taucht gerade rechtzeitig wieder auf, bevor ich ungeduldig nach ihm rufen kann. Zu viert machen wir uns endlich auf den Weg in die Stadt. --- „Wie weit ist es denn noch?“, fragt Lars genervt nach, während er sich von Chris lustlos durch die Straßen ziehen lässt. Nach einem kleinen Einkaufsbummel und anschließendem Eisessen hat Chris beschlossen, dass er mir nun endlich seine Überraschung zeigen will. „Nicht mehr weit. Siehst du das Plakat da vorne? Da müssen wir hin“, erklärt Chris geduldig, lässt Lars laufen, als dieser Johannes zu einem Wettrennen auffordert und keiner der beiden mehr zu halten ist. „Energische Jungs“, stellt er lachend fest, lässt sich auf meine Höhe zurückfallen. „Vor allem verzogene Jungs“, maule ich etwas. „Bei drei so wundervollen Brüdern wundert mich das nicht.“ „Hm“, brumme ich undeutlich, schiebe meine Hände in die Hosentaschen und hebe etwas hilflos die Schultern. „Jamie ist mehr ein Onkel für sie. Sie mögen ihn, aber sie kennen ihn nicht lange genug und bleiben deswegen immer etwas auf Distanz.“ „Es passt trotzdem“, gibt Chris schmunzelnd zurück, drückt die Tür zu einem Laden auf und folgt den Zwillingen, die kein Halten mehr kennen und sofort losstürmen. Ich nehme mir die Zeit um zumindest das Plakat, auf das Chris vorhin hingewiesen hat, zu lesen und stelle zu meinem Erstaunen fest, dass das Geschäft den seltsamen Namen Bergwerk trägt. Da mir diese Bezeichnung nicht im Geringsten Aufschluss darüber gibt was mich im Inneren erwartet, folge ich den Drei einfach hinein. Unerwartet stehe ich nun in einer kühlen Eingangshalle, die mit einem kleinen Tresen und einigem Sitzmobiliar fertig eingerichtet ist. Nur ein paar Pflanzen stehen zusätzlich zur Auflockerung der sonst unterkühlten Atmosphäre da. An den Wänden hängen vereinzelte Portraitbilder von den unterschiedlichsten Personen verschiedenen Alters, die dennoch eines gemeinsam zu haben scheinen: Ein bezauberndes, ehrliches Lächeln, das bis in ihre Augen vordringt. Fasziniert betrachte ich das Bild einer älteren Dame, als ich eine Berührung an meinem Arm spüre. Es ist jedoch weder Chris, noch einer der Zwillinge, sondern ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe. „Was seht Ihr?“ „Eine alte Frau“, antworte ich verwirrt. „Und was fühlt Ihr?“, fragt er weiter, lässt mich dabei kaum eine Sekunde aus den Augen. Noch einmal betrachte ich das Bild der Dame, die mir so sanft entgegen lächelt, deren Augen mich verschmitzt von oben herab ansehen und deren Mund von vielen Lachfältchen umrandet ist. „Frieden“, antworte ich schließlich und komme mir vollkommen bescheuert dabei vor. Doch der ältere Herr neben mir nickt bedächtig mit dem Kopf, legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sie kurz. „Eine gute Antwort“, befindet er. „Eine ehrliche.“ „Hier bist du!“, ertönt Chris’ Stimme und ich wende mich zu ihm um, erleichtert ihn zu sehen. „Ihr habt euch ja schon kennen gelernt“, stellt er überrascht fest, fällt dem Mann in die Arme und lässt sich von diesem einen langen Moment halten. „Wo sind die Zwillinge?“, frage ich ihn besorgt, als keiner der beiden hinter ihm auftaucht. „Sie schauen sich das Fotoshooting an, keine Sorge“, beschwichtigt mich Chris, deutet dann auf den älteren Herren und lächelt. „Darf ich dir meinen Großvater vorstellen? Das ist Hans-Wilhelm Berger. Und das ist…“ „Der Mondmann“, streckt mir Chris’ Großvater die Hand entgegen, die ich verwirrt ergreife und schüttle. „Raphael, ich weiß Chris, ich weiß.“ Verlegen weicht Chris meinen Blicken aus. „Komm mit, ich will es dir nun endlich zeigen.“ Er schnappt sich meine Hand und zerrt mich durch den gesamten Raum, in eine angrenzende Galerie, die gesäumt ist von den unterschiedlichsten Bildern. Aber sie alle haben einen gewissen Zauber. Jedoch lässt Chris mich Keines allzu genau ansehen, führt mich immer weiter den schier endlosen Gang entlang, bis wir kurz vor dem Ende zum stehen kommen und er auf das Bild zu seiner Linken deutet. Als ich mich umwende, bleibt mir fast die Luft weg, als ich mir selbst in einer vergrößerten Form gegenüberstehe. Es ist das Foto, das Chris von mir an Silvester gemacht hat. Ich selbst vor der Silhouette des Mondes, nachdenklich in den Himmel schauend. Es ist vergrößert worden und hat dadurch nur noch an Kraft gewonnen. „Ein unglaubliches Bild.“ Hans-Wilhelm hat sich neben mich gestellt und betrachtet mit einem sanften Schmunzeln das Werk seines Enkels. „Ich glaube, dass es Chris größter Schatz ist. Er hat viele Abzüge davon gemacht, viel experimentiert und doch ist das Original die schönste Variante gewesen. Ich fand es in der Dunkelkammer und wusste gleich, das es einen Platz in meiner Galerie verdient.“ „Großvater“, beschwert Chris sich verlegen, sieht aber mit einem strahlenden Lächeln zu mir auf. „Wie findest du es?“ „Genauso wie beim ersten Mal: wunderschön“, gebe ich gerührt zu. „So wie du eben.“ „Sei doch still“, brumme ich unbehaglich, ziehe den Kleinen allerdings an meine Seite. Nach einer Weile des Schweigens wendet sich Hans-Wilhelm wieder an mich. „Seit ich dieses Foto gesehen habe, wollte ich schon immer wissen, wie Sie mit vollem Namen heißen, Raphael.“ Forschend sieht er mir ins Gesicht und meine anfängliche Sympathie schlägt augenblicklich in Misstrauen um. Ich versteife mich, setze meine Maske auf. „Montega. Raphael Montega.“ „Stammen Sie aus Spanien?“, hakt der alte Mann weiter nach. „Nein. Meine Großeltern Väterlicherseits sind Spanier und leben auch dort. Allerdings ist der Kontakt zu ihnen abgebrochen.“ „So so… sehr interessant“, befindet er, schweigt sich dann jedoch unerwarteter Weise aus. Es macht mich nervös, denn er macht den Eindruck, als ob ihm diese Informationen etwas sagen würden, was mir selbst verborgen bleibt. „Sie haben einen jüngeren Bruder, nicht wahr?“ „Ja“, gebe ich schlicht zu, trete einen Schritt zurück, stoße dabei gegen Chris, der verwirrt zwischen mir und seinem Großvater hin und her sieht. „Hol Johannes und Lars“, weise ich Chris an, der zögerlich nickt und schließlich los geht um die beiden Zwillinge zu holen. Ich bleibe alleine mit Hans-Wilhelm Berger, den ich misstrauisch beäuge. Doch davon lässt sich der alte Mann nichts anmerken, starrt stattdessen immer noch auf mein Bild. „Eine wirklich hervorragende Haltung, haben Sie“, wechselt er abrupt das Thema, bringt mich damit für einige Sekunden aus dem Konzept. „Je länger ich das Bild betrachte, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich vor mir einen Ritter in schwarzer Rüstung sehe.“ „Nicht gerade schmeichelhaft“, gebe ich zurück. „Oh, durchaus“, beharrt Hans-Wilhelm auf seiner Meinung. „Ritter zu sein, bedeutet adlig zu sein, Privilegien zu besitzen. Und schwarze Farbe auf einer Rüstung… ist Dreck. Mit anderen Worten ist es eine Deckfarbe, die verbirgt was sich tatsächlich darunter befindet. Doch bis eine Rüstung voller Dreck ist, muss der Ritter viele Schlachten geschlagen und Niederlagen hingenommen haben. Es ist also ein Bild für einen gestandenen Mann.“ Diese Erklärung erscheint mir sehr romantisch und subjektiv, dennoch nimmt sie damit jede Kritik aus seinen vorangegangenen Worten. „Dazu dieser nachdenkliche Blick, der einen gewissen Weltschmerz in sich trägt, so als ob Sie an dem Leid der Erde Anteil nähmen. Ich frage mich ernsthaft, was Sie alles durchgemacht haben, um solch einen Blick zu erlangen.“ „Glauben Sie mir, nichts davon war freiwillig.“ „Natürlich nicht“, gesteht er. „Niemand wählt sein Leid aus freien Stücken. Aber auch nicht jeder kämpft dagegen an. Und im Vergleich mit diesem Bild von Ihnen, ist der Ausdruck aus Ihren echten Augen ein ganz anderer. Ein erstaunlicher Werdegang.“ Ein sanftes Lächeln ziert seine Züge, als er seinen Enkel mit den Zwillingen herannahen sieht. Er reicht mir die Hand, die ich nur zögerlich zu einem Abschiedsgruß ergreife, nickt mir noch einmal zu und verabschiedet sich mit wenigen Worten von Chris, der ihm verwirrt nachsieht. „Hat mein Großvater etwas zu dir gesagt?“, fragt er mich, als ich ihm Johannes und Lars abnehme. „Nur etwas über eine schwarze Rüstung und meine Augen“, antworte ich nachdenklich. „Oh“, macht Chris daraufhin nur und scheint mit dieser Aussage tatsächlich alles Verpasste zu verstehen. Ich hingegen verstehe nichts und lade die Zwillinge lieber auf ein weiteres Eis ein, als mich noch länger mit diesen verwirrenden Gedanken auseinander zu setzen. --- Nach einem Umweg über diverse Feldwege kommen wir vier schließlich wieder bei meiner Wohnung an, vor der Marianne schon auf uns wartet. Sie lächelt uns zu und nimmt ihre beiden Söhne in Empfang. „Ich hoffe die zwei waren halbwegs anständig“, begrüßt sie uns, schließt Chris und mich abwechselnd in die Arme. „Es war sehr schön“, gibt Chris als Antwort, lädt sie lächelnd auf Kaffe und den Kuchen, den wir in der Stadt gekauft haben, ein. Dankend nimmt sie an und schon kurz darauf sitzen wir zu dritt in meiner Küche, während die Zwillinge im Wohnzimmer mit zwei Büchern zu kämpfen haben, die Marianne ihnen gegeben hat. „Was ist denn nun an eurem Auto kaputt?“, frage ich nach, gebe mich dem Geplauder Mariannes hin, die mir von ihrem Tag erzählt, von kleineren und größeren Sorgen. Es wird ein langer Kaffeetisch und es ist weit nach sechs Uhr, als wir die Gruppe auflösen und Marianne sich mit den Zwillingen nach Hause aufmacht um endlich für ein gescheites Abendessen zu sorgen. Johannes und Lars legen großen Protest ein und beharren darauf, dass sie lieber bei mir bleiben wollen als mit ihrer Mutter mitzukommen, aber den Kampf verlieren sie gnadenlos. Während der Ferienzeit hat Marianne ihnen ein ordentliches Pensum an Büchern vorgeschrieben, damit sie flüssiger im Lesen werden. Eine Schwäche die bereits mehrere Lehrer bemängelt hatten. „Nochmals Danke ihr zwei“, verabschiedet Marianne sich nun endgültig, zieht Lars hinter sich aus der Tür und dann sind sie allesamt verschwunden. Eine Zeit lang kann man sie draußen im Flur noch hören, letztendlich ist es vollkommen still. „Rapha?“, lässt Chris sich kurz darauf vernehmen. „Hm?“ „Ich hab Hunger.“ „Du hast doch vor kurzem erst Kuchen gegessen“, werfe ich irritiert ein. „Das ist aber nichts Richtiges. Hunger!“, jammert er, lässt sich auf das Sofa fallen und macht sich darauf lang, streckt die Arme von sich und zieht eine Leidensmiene. „Schon gut, ich koch’ dir was“, gebe ich nach, verziehe mich in die Küche und entscheide mich für das einfachste Gericht überhaupt: Chili Concarne. Jamie hat noch angebratenes Hackfleisch im Kühlschrank, das ich in den Topf werfe und schon einmal in ein wenig Öl köcheln lasse, während ich die Zwiebeln klein schneide. Danach folgen Paprikastücke und Gewürze in den Topf, anschließend die Tomaten. „Isst du gerne scharf?“, rufe ich ins Wohnzimmer zurück und erhalte eine bestätigende Antwort, was mich dazu veranlasst mehr Pfeffer- und Paprikapulver in das Gemenge zu kippen. Ich lasse alles stark aufkochen, ehe ich den Herd herunter drehe, den Deckel drauf tue und es eine Weile auf kleiner Flamme stehen lasse. „Soll ich Reis dazu kochen, oder reicht dir Chili?“, frage ich Chris, als ich mich neben ihn aufs Sofa setze. „Chili reicht, das füllt ja auch schon mächtig den Bauch.“ „Komm her, faule Raupe“, raune ich leise, ziehe Chris näher zu mir und kuschle mich mit ihm in die Kissen, schweige, genieße die Stille und innere Ruhe. Abwesend streiche ich dem Braunhaarigen über Kopf und Bauch, stehle mich mit zwei Fingern unter sein Shirt. Chris seufzt wohlig auf, macht sich noch ein wenig länger und ist sogar dreist genug, sich sein Hemd einfach über den Kopf zu ziehen und von sich zu werfen. Damit bietet er mir nun genug Fläche und meine Hände haben gar keine Wahl mehr, als ihn direkt zu berühren. „Das ist total schön“, findet er nach einer Weile, die ich ihn nur gestreichelt habe. „Nicht aufdringlich… einfach nur schön…“, schnurrt er, dreht seinen Kopf und verbirgt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Er kommt mir wie eine Katze vor. „Magst du Katzen?“, frage ich ihn abwesend, stelle meine Streicheleinheiten dabei nicht ein. Warum ich ihn das frage weiß ich selbst nicht so genau, aber ein wahnwitziger Gedanke macht sich in mir breit. Wenn Jamie hier auszieht, dann wäre genug Platz damit Chris hier einzieht. Was völliger Blödsinn ist, da das nun wirklich ein zu schneller Schritt wäre, aber trotzdem hat die Idee etwas für sich. „Mein Vater hatte mal eine. Die war super“, erzählt Chris leise. „Du redest nie viel über ihn“, stelle ich überrascht fest, weil es mit einem Mal so augenscheinlich ist, dass ich außer der Mutter und dem Großvater niemanden aus seiner Familie kenne. „Was soll ich auch sagen? Er und Mum haben sich getrennt als ich zehn wurde und da er immer sehr beschäftigt war, hatte ich nie einen guten Draht zu ihm, deswegen ist es mir nicht so wichtig ihn zu sehen“, erklärt er mir, was mich dazu veranlasst ihn ein wenig fester an mich zu ziehen. Er schlägt die Augen auf, lächelt mich von unten her an und berührt ganz leicht meine Wange mit seinen Fingern. „Keine Sorge, ich habe kein Problem mit meinem Vater. Wir treffen uns auch ab und an, aber er ist wirklich nur am arbeiten. Ich mag ihn, aber mehr auch nicht. Das ist okay.“ „Vermisst du nicht manchmal eine Vaterfigur?“ „Nein. Dafür habe ich ja meinen Großvater“, gibt er gelassen zurück. „Seit ich klein war, hat sich mein Großvater immer liebevoll um mich gekümmert und ich habe meinen Dad deswegen nie wirklich vermisst. Er ist immer für mich da, hört mir zu, unterstützt mich, bringt mir vieles bei und gibt mir auch mal einen Anschiss, wenn ich es zu bunt treibe“, lacht er ausgelassen und ich erkenne die große Liebe in seinen Augen. Hans-Wilhelm ist ihm scheinbar ein sehr wertvolles Familienmitglied. „Erzähl mir von ihm“, fordere ich ihn auf. „Er ist der Vater meiner Mutter und hat sie größten Teils alleine groß gezogen. Meine Oma ist wohl früh gestorben, ich glaube während eines Unfalls, aber so genau hat mir das nie jemand erzählt. Ich frage auch nicht danach, denn es macht die anderen immer traurig. Jedenfalls sind er und meine Mum die Einzigen, die wirklich eine Bindung zueinander haben. Zwischen Dad und Großvater ist es immer unterkühlt geblieben. Dads Eltern habe ich auch kennen gelernt, genau wie den Res der Verwandtschaft von dieser Seite aus, aber glaub mir, die sind allesamt sehr verzogen, schrecklich spießig und nicht gerade eine Augenweide. Allesamt Schreckschrauben.“ „Und deine Mutter?“, hake ich nach, weil mir die Spannungen zwischen den beiden nicht entgangen sind. „Hm…“, macht Chris nur und es braucht einen sanften Schubs von meiner Seite, damit er weiter redet. „Ich liebe meine Mum, aber manchmal geht sie mir gehörig auf den Geist. Immer will sie alles wissen und überall mitreden. Sie sieht nicht, dass ich schon so gut wie erwachsen bin und viele Dinge auch alleine kann. Nicht alle, dass gebe ich zu, aber viele. Außerdem hält sie mich manchmal sehr stark davon ab etwas mit meinem Großvater zu machen, was ich nicht ganz verstehe. Sie redet kaum mit mir… über wirklich wichtige Dinge, meine ich…“ Er verzieht sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse, schließt die Augen und kuschelt sich noch ein bisschen näher an mich heran. Ich denke, dass ich mit meiner Einschätzung von Frau Berger gar nicht so weit daneben lag. Sie liebt ihren Sohn über alles, ist dabei aber auch ziemlich streng und vielleicht ein bisschen überfürsorglich. Ich frage mich, ob es etwas in ihrer Familiengeschichte gibt, das sie vor Chris unbedingt geheim halten will. Vielleicht den Tod der Mutter? Eine Krankheit? Da diese Grübelei zu nichts führt, scheuche ich Chris in die Küche, rühre im Topf herum, kippe noch schnell Mais und Bohnen hinzu und stelle die Teller auf den Tisch. Als ich mich wieder dem Herd zuwende, tritt Chris hinter mich, umarmt mich und hält mich mit einem Mal ganz fest. „Alles okay?“, frage ich besorgt, spüre ihn nicken. „Es freut mich nur so wahnsinnig, dass du mich das alles gefragt hast.“ „Ist doch keine Sache“, wehre ich verwundert ab. „Doch. Vorher hast du mich sonst nur wegen der Schule gefragt.“ „Hm“, mache ich hilflos, denn ich weiß absolut nichts mehr zu sagen. Während des Essens reden wir über die bevorstehende kirchliche Hochzeit meines Bruders und Chris fragt mich, ob sein Großvater vielleicht auch kommen dürfe. Er vertraue seine seinem Talent als Fotograf nicht recht um die Bilder alleine zu schießen. Ich vertröste ihn allerdings auf Jamie, denn schließlich ist das die Hochzeit meines Bruders – nicht meine eigene. Gemeinsam räumen wir ab und die Reste des Chilis fülle ich in eine Tupperdose, die ich im Kühlschrank verfrachte. Während ich in den Fächern herumräume denke ich daran, dass Jamie mir vielleicht ein paar seiner Rezepte aufschreiben sollte, damit ich nicht ganz auf sein gutes Essen verzichten muss. „Darf ich hier bleiben, Raphael?“ „Du solltest nach Hause“, gebe ich zurück, küsse ihn auf die Stirn. „Es sind schon wieder zwei Tage und nicht einmal dein Großvater weiß wo ich wohne.“ „Ist doch egal“, schmollt er. „Ruf deine Mutter an. Wenn sie dich noch eine Nacht hier schlafen lässt, dann habe ich nichts dagegen. Aber morgen gehst du nach Hause. Verstanden?“ „Ja doch“, mault er mich an, verschwindet jedoch artig ins Wohnzimmer und schnappt sich das Telefon. Das Gespräch ist lang und heftig, immer wieder wird er von seiner Mutter unterbrochen doch schließlich gibt sie nach, lässt ihn diese Nacht noch bei mir bleiben, wofür ich ihr innerlich sehr dankbar bin. Ich weiß, dass ich Chris nicht mehr so schnell wieder sehe, wenn ich ihn jetzt ziehen lasse. Dafür habe ich zu viel um die Ohren, das ich nicht verschieben kann. --- Kann man glauben, dass ich nebenbei die Filme ‚Schwester der Königin’ und ‚Du sollst nicht lieben’ geguckt habe? Kapitel 14: Falsches Verlangen (2001) ------------------------------------- 14. Kapitel - 2001 Am nächsten Tag schleife ich den sich sträubenden Chris auch tatsächlich nach Hause. Den ganzen Weg über fleht er mich an bei mir bleiben zu dürfen, aber ich halte dem Stand, klingele schließlich bei Frau Berger an der Tür und als diese öffnet schiebe ich ihr wie so oft ihren Sohn nach vorne. „Lieferung frei Haus“, scherze ich knapp, ignoriere den trotzigen Ausdruck, den Chris an den Tag legt und will mich schon wieder verabschieden, als mich seine Mutter für eine Tasse Kaffee ins Haus bittet. „Wir haben uns nie wirklich unterhalten“, wendet sie ein, verstärkt ihre Aufforderung und ich gebe schließlich nach. Der Flur ist trotz der sommerlichen Hitze angenehm kühl und mit einem Garderobenständer sowie einer größeren Topfpflanze dekoriert. Sie führt mich über den Teppichboden ins angrenzende Wohnzimmer, das sehr hell gestrichen einen einladenden Eindruck vermittelt. Die Möbel wirken auf mich recht antik. Sehr edel und vor allem sehr teuer. Allerdings verleit es dem Raum einen besonderen Charme. Frau Berger ist scheinbar eine Pflanzenfreundin, denn jeder freie Platz ist von ihr genutzt worden um die ein oder andere Blume zu platzieren. „Setzen Sie sich doch“, bietet sie mir an und ich nehme an einem Ende des Tisches platz, während sie mit Chris hinausgeht. Durch die geschlossene Tür hindurch kann ich sie miteinander streiten hören. Chris zieht dieses Mal allerdings den Kürzeren und stapft mit lauten Schritten ins obere Stockwerk. Ich bleibe eine Weile für mich alleine, betrachte die Fotos an den Wänden, die allesamt Frau Berger und Chris zeigen, wahlweise auch das ein oder andere Panoramabild von Gegenden, die sie wohl schon bereist haben. Alles hier strahlt eine totale Gegensätzlichkeit aus. Die gesamte Einrichtung ist kunstvoll, edel und Ehrfurcht gebietend. Man traut sich kaum auch nur einen Ton von sich zu geben. Aber dann ist hier auch alles so voll von privaten Details, wie Fotos, selbst gemalten Bildern oder sogar Schriftstücken von Chris, die dieser in seiner Grundschulzeit verfasst hat. Frau Berger kommt mit einem Service beladen wieder ins Wohnzimmer zurück, stellt alles auf dem Tisch ab und reicht mir eine edle Porzellantasse, mit goldenem Rand und einem dezenten Blumenmotiv. „Zucker oder Milch?“ „Nur schwarz, danke“, gebe ich zurück, warte bis sie mir und sich selbst eingeschenkt und sich schließlich gesetzt hat. Hin und wieder nippt sie an ihrer Tasse, unterzieht mich dabei einer genauen Musterung. „Chris hat mir nie erzählt wie Sie sich eigentlich kennen gelernt haben“, beginnt sie schließlich das gewünschte Gespräch, beobachtet mich dabei aufmerksam über den Rand ihrer Tasse hinweg. „Letztes Jahr zu Silvester“, erkläre ich kurz. „Wir sind ineinander gelaufen und da Chris…“, stocke ich hier, da ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr so einfach erzählen kann, dass ihr Sohn vollkommen besoffen war. „Sagen Sie ruhig, dass er sich in seinem Suff erbrochen hat“, wirft sie mit einem festen Zug um die Lippen ein. „Glauben Sie mir, ich kenne meinen Sohn.“ Ich weiß darauf nichts zu erwidern und eine Weile schweigen wir und wieder an. Ich wage es kaum meinen Kaffee zu trinken, halte die Tasse lediglich in meiner Hand und hoffe inständig, dass dieses Gespräch bald vorüber sein wird. „Wie alt sind Sie, Herr…?“ „Montega“, gebe ich schnell zurück, meine dabei etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen. „Ich bin fünfundzwanzig. Noch.“ „Dann haben Sie bald Geburtstag?“, hakt sie nach. „Mitte August, ja“, bestätige ich, trinke nun doch von dem Kaffee, der mir viel zu heiß erscheint. Der lauernde Blick aus ihren Augen gefällt mir gar nicht. „Wie er mir erzählte haben Sie meinen Vater bereits gestern kennen gelernt, nicht wahr?“ „Ja.“ Ihr Lächeln wird immer dünner, die Lippen sind kaum mehr als Strich und mit jeder Sekunde die verstreicht fühle ich mich unwohl. Ich bin hier nicht willkommen, dass spüre ich an ihrer Art wie sie mich ansieht. Was auch immer es ist, aber irgendetwas passt ihr an mir ganz und gar nicht. „Was machen Sie beruflich?“, setzt sie nach einer kurzen Pause ihr Verhör weiter fort. „Ich bin der Chef des BlackRaven. Eine Art Pub.“ „Ja, ich kenne den Laden“, gibt sie zu. „Und Ihre Eltern?“, hakt sie nach. „Gehen Sie nichts an“, gebe ich schroffer zurück als beabsichtigt. Fast erwarte ich, dass sie mich dafür scheltet, doch sie nickt mir nur zu, schenkt sich eine zweite Tasse Kaffee ein und lässt das Thema damit fallen. „Chris berichtet mir auch oft von seinem neuen Freund Jamie. Ihr Bruder, wie ich verstanden habe?“ „Ja.“ „Meine Glückwünsche zu seiner Hochzeit.“ „Danke. Ich richte es ihm aus“, versichere ich ihr steif, frage mich dabei wiederholt zu was das hier alles führen soll. Ich wusste ja, dass mit Chris’ Mum nicht gut Kirschen essen werden würde, aber für so steif hätte ich sie dann doch nicht gehalten. „Sie wissen, dass Chris’ eine Neigung zum eigenen Geschlecht hat?“ „Ja, das weiß ich“, gebe ich ihr zu verstehen und glaube, dass wir uns so langsam dem eigentlich Kern der ganzen Angelegenheit zuwenden. „Gut. Glauben Sie mir, Herr… Montega…, dass ich absolut keinerlei Vorurteil oder gar eine gewisse Abscheu gegen Homosexuelle hege. Das tue ich in keinster Weise. Allerdings fühle ich mich als Mutter dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass mein Sohn in gute Hände gerät.“ „Ich verstehe.“ „Chris ist noch sehr jung und viel zu oft ein Heißsporn und Dickkopf der manchmal mehr will als gut für ihn ist. Ich vertraue also darauf, dass Sie, als sein Freund, ihm zur Seite stehen und ihn vor üblem Gesindel bewahren, das sich an seine Fersen heftet.“ „Natürlich“, bestätige ich ihr das und sie schafft es tatsächlich mich für einige Sekunden ehrlich anzulächeln. Dieses ganze vornehme Gehabe ist wohl im Endeffekt nur die Show einer besorgten Mutter, die glaubt, als schützende Barrikade vor ihm Sohn stehen zu müssen. Dieser Gedanke nimmt mir einen Teil meiner Befangenheit, bringt ihr sogar ein wenig meiner Sympathie ein. Frau Berger will Chris nur beschützen. Was dieser zweifellos nötig hat, da er ohne darüber nachzudenken durch sein Leben wandelt, einfach alles auf sich zukommen lassend, was da eben so auf ihn wartet. „Ich kann also darauf vertrauen, dass Sie sich meinem Sohn in keiner anderen Weise als der eines ehrlichen Freundes nähern?“ Ich unterdrücke ein heftiges Husten, nehme zur Tarnung einen Schluck meines erkalteten Kaffees und vermeide dabei so gut es geht ihr in die Augen zu sehen. „Chris hat nur wenige Freunde in seinem Alter. Die meisten Leute trifft er im Studio seines Großvaters… Models, Fotografen, Make-Up Artist und wie sie alle heißen… ich finde, dass das kein Umgang für ihn ist. Er gerät zu sehr ins träumen“, führt Frau Berger während meines Schweigens weiter aus. „Mein einziger Wunsch ist, dass er auf vernünftige Art und Weise sein Abitur abschließt und jemanden findet, der ihn wirklich liebt. Ist das zu viel verlangt?“ Ich schüttle den Kopf, unfähig eine klare Antwort zu formulieren. Mit einem Mal ist jede Haltung aus Frau Berger gewichen und sie sitzt eingesunken auf ihrem Stuhl, blickt betrübt in ihre Tasse, schwenkt deren Inhalt hin und her, ohne noch einen weiteren Blick auf mich zu werfen. „Ich bin froh, dass Sie mir da zustimmen, Herr Montega“, gibt sie dann zu. Als sie aufsteht, erhebe ich mich ebenfalls, reiche ihr die Hand und verabschiede mich mit knappen Worten. Als hinter mir die Haustür ins Schloss fällt, merke ich erst die Anspannung, die die ganze Zeit in meinen Schultern gesteckt hat. Über mir höre ich es gegen die Fensterscheibe klopfen und ich erkenne Chris, der mir wilde Zeichen gibt, die ich jedoch mit einem finsteren Blick abwehre. Ohne noch einmal zu ihm aufzusehen mache ich mich auf den Weg zu Thomas. Der hat sicherlich auch heute für mich Zeit. Ich ignoriere dabei das beharrliche Klingeln meines Handys. Ich habe ja gewusst, dass es ein Fehler sein würde mich auf Chris einzulassen. Warum tut mir nur dann meine Brust so schrecklich weh? --- „Bitte was?“, ruft Thomas völlig entsetzt aus, als ich nur eine knappe Stunde später bei ihm auf der Couch hocke. Ich habe ihn gerade von seinen Unterlagen abgelenkt. Er lernt für die Abschlussprüfung seiner Ausbildung. „Was hätte ich denn machen sollen? Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich erst kürzlich entschieden habe ihren kleinen Jungen flach zu legen?“, keife ich zurück, raufe mir dabei die Haare. „Warte mal, hast du? Du willst ihn flach legen?“ „Was? Nein, ich… na ja…“, stammle ich unbeholfen, raufe mir die Haare noch mehr. „Du wolltest ihn vor kurzem nicht einmal mit dem Arsch ansehen und jetzt willst du ihn schon flach legen?“ „Hey, ich habe nie behauptet, dass ich es mir nicht ausgemalt habe!“, gebe ich heftig zurück. „Nur bisher… hatte ich Zweifel…“ „Und die hast du jetzt nicht mehr?“, fragt Thomas leise nach, legt mir seine Hand auf die Schulter, drückt sie fest. „Ganz im Gegenteil. Noch mehr als je zuvor…“, seufze ich schwer, verberge mein Gesicht in meinen Händen und kann ein starkes Zittern nicht länger unterdrücken. Thomas kniet neben mir, hält mich fest und fragt nicht weiter. Seit dem Gespräch mit Frau Berger, geht es mir so schlecht wie nie zuvor. Und das Chris mich in immer kürzer werdenden Intervallen anruft macht es mir auch nicht leichter. „Raphael… ehrlich Mann, ich versteh’ überhaupt nicht worum es gerade geht…“, gesteht Thomas nach einer Weile leise, zwingt mich dazu, ihn anzusehen. „Ich mag den Kleinen. Wirklich. Und ich mochte ihn von Anfang an“, erzähle ich meinem besten Freund widerstrebend. „Aber… Herrgott, er ist so jung! Nicht mal volljährig! Und ich bin alles andere als einfach! Außerdem… bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich mehr für ihn empfinde, als nur den Wunsch ihn flach zu legen…“ „Und das Gespräch mit seiner Mum hat dir wieder ein schlechtes Gewissen gemacht“, schlussfolgert Thomas richtig, pflanzt sich neben mir aufs Sofa und starrt eine Weile Löcher in seine Decke. „Soll ich dir sagen was ich von der Sache halte, Brüderchen?“, fragt mein bester Freund nach einiger Zeit und bemerkt das schwache Nicken, das ich ihm als Einverständnis gebe. „Ich denke, dass Chris das Beste ist, was dir in deinem ganzen verfluchten Scheißleben nur passieren konnte. Und ich glaube, dass du dich wirklich in ihn verliebt hast. Ist doch klar, dass du ihm an die Wäsche willst, aber ich denke nicht, dass das bei dir im Vordergrund steht. Dafür könntest du zu leicht jemanden haben, wenn du wolltest. Und in der Liebe ist das Alter doch egal. Warum machst du dir deswegen so einen Druck? Er will dich, dass hat dir der Kleine von Anfang an deutlich gemacht. Und ich finde, dass er für seine wenigen Jahre schon ein verdammt schlaues Kerlchen ist. Chris braucht keinen Aufpasser, nur einen festen Partner. Wenn seine Mum ein Problem mit dir hat, scheiß drauf. Hauptsache ihr zwei habt keins miteinander und könnt endlich mal anfangen Zeit miteinander zu verbringen.“ „Aber…“ „Noch was?“, hebt Thomas skeptisch eine Augenbraue. „Zack?“, trifft er mitten ins Schwarze, seufzt hörbar auf, als ich zusammen zucke und gibt mir einen Klaps auf den Kopf. „Wann vergisst du den Spacken endlich? Der Kerl war nicht gut für dich, der hat dich nur ausgenutzt. Außerdem solltest du doch merken, dass es mit Chris viel besser ist als mit ihm damals.“ „Hm“, brumme ich nur unverständlich, rolle mich auf dem Sofa zusammen und lege meinen Kopf in Thomas’ Schoß. Mir ist nicht mehr nach reden oder gar denken zu mute. Ich will einfach endlich aufhören mir diese Dinge immer und immer wieder vorzukauen. „Ich denke nur, dass es falsch ist, ihn zu wollen“, sage ich schließlich. „Es ist nie falsch zu lieben, Rapha. Und das ist es, was ich dir schon seit Jahren versuche zu erklären. Solange du ehrlich zu dir und deinen Gefühlen stehst, ist es nicht falsch was du empfindest, auch wenn es gegen die Konventionen der Gesellschaft ist.“ „Er ist noch ein Kind…“, gebe ich meine Einwände nicht auf. „Aber nicht mehr lange. Und jetzt hör auf Ausreden zu suchen. Du liebst ihn, basta!“ Lange hocke ich noch mit Thomas zusammen. Wir trinken ein ekliges Dosenbier nach dem anderen, zocken dabei ein Playstation-Spiel nach dem anderen und quatschen nur noch über Dinge im Allgemeinen. Thomas erzählt mir unter anderem, dass Erich bald von seinen Eltern nach Frankreich geschickt wird, wo er den Juwelierladen seiner Mutter leiten soll und das es nur noch eine große Abschiedsparty für ihn geben wird, da er bis dahin in elterliche Pflichten eingespannt sein wird. „Warum hat er sich nicht bei uns gemeldet?“ „Weil es ihm schwerer fällt als du glaubst uns hier zurück zu lassen“, erklärt Thomas, während er sich einen weiteren seiner Tortillachips in den Mund stopft. „Der sitzt bestimmt zu Hause und heult sich die Augen aus.“ „Klappe“, gebe ich meinem Kumpel eine Kopfnuss. Bis spät in die Nacht hinein zocken wir einen Ego-Shooter nach dem anderen, ehe ich es mir auf dem Sofa bequem mache und Thomas mit einem letzten freundlichen Wort an mich in sein bett verschwindet. Lange liege ich wach, denke über alles nach was heute gesagt wurde, ehe ich schließlich doch noch in den Schlaf sinke. --- Kapitel 15: Geständnisse (2001 / 08) ------------------------------------ 15. Kapitel - 2001 (August) Der Duft der vielen frisch erblühten Blumen weht durch die offenen Türen hinein, macht de beißenden Geruch des Weihrauchs ein wenig angenehmer. Der Priester steht hinter seinem Rednerpult und stellt gerade einmal mehr fest, dass die eheliche Verbindung eine Verbindung vor Gott ist und noch ganz anderes Blabla. Die Zeremonie zieht sich für meinen Geschmack unheimlich, dennoch gebe ich mir Mühe einen so freundlichen Eindruck wie nur möglich zu machen. Schließlich sitze ich auf der anderen Seite von Martinas Eltern. Jamies Trauzeugen sind Chris und Thomas. Mir hingegen hat er die Rolle des Elternäquivalents zugedacht und damit gebe ich mich zufrieden. Hin und wieder spüre ich die neugierigen Blicke einiger Angehöriger und Freunde von der anderen Seite aus, doch ich ignoriere sie so gut es geht. Unsere Familiengeschichte ist nichts was Jamie groß ausplaudern würde und obwohl er Martina gänzlich eingeweiht hat, hat diese versprochen nichts davon an wen auch immer weiterzugeben. Ich bin ihr dankbar dafür. Lieber ertrage ich neugierige, unwissende Blicke, als solche die abstoßend oder mitleidig wirken. Es geht schließlich niemanden was an aus welchen Verhältnissen Jamie und ich stammen und warum gerade meine liebenswürdige Person als Vater des Bräutigams auftritt. Direkt hinter mir sitzt Familie Vogel – die beiden Zwillinge sind schon seit einer ganzen Weile mucksmäuschenstill, was wohl daran liegen mag, dass Thomas ihnen die Hölle auf Erden angedroht hat, wenn sie sich nicht artig benehmen. Es scheint zu wirken. Erich sitzt mit seinen Eltern eine weitere Reihe nach hinten. In der letzten Zeit haben wir nicht viel von ihm gesehen oder gehört und die Veränderung die er durchlaufen hat ist wirklich einfach nur erschlagend. Seine Haare sind nur kurz geschnitten, auch der Bartansatz wurde abrasiert und überhaupt strahlt seine ganze Haltung nun einen eifrigen Geschäftsmann aus, anstatt des Tunichtguts als den wir ihn kennen. Offenbar haben seine Eltern nun ernst gemacht und ihn so geformt wie sie ihn schon immer haben wollten. Irgendwann kommt aber alles zu einem Ende, es werden die Ringe getauscht, die von einem stolzen Chris überreicht werden, dann sprechen sowohl Jamie als auch Martina wirklich herzzerreißende Liebesschwüre aus und schließlich hören wir alle die finalen Worte: „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Und das tut Jamie auch. Sehr überschwänglich, vielleicht auch ein bisschen unbeholfen, aber auf jeden Fall voller Liebe und Zuneigung für seine frisch angetraute Braut. Gemeinsam schreiten sie unter dem Applaus und den Glückwünschen der Gäste aus der kleinen Kirche, hinein in den malerischen Garten, der drum herum angelegt wurde. Fotos werden geschossen. In aller erster Linie von Hans-Wilhelm Berger, den Jamie nur zu gerne eingeladen hat, nachdem er von Chris erfahren hat was für ein toller Fotograph sein Großvater doch sei. Ich bin einer der Ersten der dem Brautpaar nach draußen folgt. Ich ziehe Martina an mich, küsse sie auf beide Wangen, beglückwünsche sie, ehe ich mich meinem kleinen Bruder zuwende, den ich fest an mich drücke. „Ich liebe dich, Rapha“, kommt es leise von ihm. „Ich dich doch auch, du Glückspilz“, gebe ich lächelnd zurück, überlasse sie dann beide den anderen Gästen und ziehe mich zu Erich zurück, der einige Meter abseits an einer Zigarette zieht. Wir nicken uns zu, er leiht mir sein Feuer und gemeinsam hängen wir einen Moment unseren eigenen Gedanken nach. Alle Anwesenden stellen sich nach und nach für Fotos auf, Umarmungen folgen, lautes Gelächter erschallt und überall scheint an diesem Sommertag die Sonne. „Alles klar?“, frage ich schließlich an Erich gewandt, der seinen abgerauchten Glimmstängel achtlos zu Boden wirft und austritt. „Ich hab keinen Bock auf Frankreich“, gibt er mürrisch zurück. „Vielleicht findest du eine heiße Franzschwuchtel“, versuche ich es eher schwach ihn aufzumuntern. Verächtlich verzieht er ob dieser Antwort auch das Gesicht, knufft mich in die Seite, ehe er sich an meinen Arm hängt. „Zwei Jahre diese Lackaffen… keinen Bock drauf…“ Ich antworte nicht darauf, mir fällt auch gar nichts zu dem Thema ein, und so stehen Erich und ich schweigend nebeneinander, rauchen und schweigen. Mit Erich kann man das auch einfach noch immer am Besten. Wenn man jemanden braucht, der einem allein durch seine bloße Anwesenheit Trost spendet, dann ist man bei ihm an der richtigen Adresse. „Kannst du danach machen was du willst?“, stelle ich verspätet eine Frage. „Hm… wer weiß…“, brummt er. „Vielleicht bin ich dann Babysitter für den hässlichen Wurm“, schnaubt er, deutet dabei auf die Gestalt seiner kleinen Schwester, die sich an der Hand ihrer Mutter durch die Gästemenge drängelt. „Wie alt ist die eigentlich?“ „Siebenundzwanzig“, antwortet er säuerlich. „Muttis Liebling und Vatis ganzer Stolz.“ „Ich glaube, hier liegt Liebe in der Luft“, spotte ich breit grinsend, stoße Erich mit der Schulter an und klaue mir eine weitere Zigarette aus seiner offen dargebotenen Schachtel. „Ein Jährchen älter, wäre sie da nicht was für Thomas?“ „Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn er meiner Schwester zu Nahe kommt“, droht Erich durchaus überzeugend. In Wahrheit hat er kein Problem mit seinen Eltern oder seiner Schwester Sarah. Nur hin und wieder probt er gerne den Aufstand oder versucht ab und an seine eigene Genialität in den Vordergrund zu stellen. Sowohl Herbert als auch Ruth Richthäuser haben eine Extraportion Gehirnmasse bekommen, sind kleine Genies in der Schule gewesen, ebenso im späteren Arbeitsleben und haben es zu mächtig viel Erfolg und Kohle gebracht. Sie hat ihre eigene Juwelierskette und er vertreibt in seinem eigenen Büro die ein oder andere millionenschwere Immobilien. Erich hat zwar die Genialität seiner Eltern geerbt, jedoch nicht deren großspurige Art, die darauf angelegt ist in wenig Zeit viel Geld zu machen. Wie er mir in einem unsere langen und sehr intensiven Gespräche einmal erzählt hat, gründet sein eigener Traum darin, an einer renommierten Universität Mathematik zu studieren und später auch einmal zu lehren. Natürlich kein Beruf der in den Augen der Eltern auf viel Wohlwollen stößt. Seitdem versuchen sie ihm mit sanfter Gewalt zu suggerieren, dass ein einfaches Lehrer- oder Dozentendasein nicht die Erfüllung seines Lebens sein kann. Derzeit scheint Ruth wieder am Drücker zu sein, wenn sie ihren Sohn für zwei Jahre nach Frankreich schickt. Manchmal habe ich so das Gefühl, dass Erichs Eltern darum pokern wer ihm gerade das Leben schwer machen darf. An und für sich sind beide sehr nett, auch sehr fürsorglich und liebevoll, immer daran interessiert was ihr Sprössling denkt und fühlt, allerdings rücken sie sehr ungern von einer einmal getroffenen Entscheidung ab. Und sei es die Zukunft ihres Sohnes. Sarah ist im Gegensatz zu ihrem Bruder mit mäßig viel Intellekt ausgestattet, besuchte daher auch nur eine mittelmäßige Privatschule und hat frei heraus entschieden, dass sie als einfache Büroangestellte ihr Glück gemacht hat. Und die Eltern haben das akzeptiert. Vermutlich, weil man von Sarah eh nicht mehr erwarten konnte. Erich tut mir in der Hinsicht schon leid. So intelligent zu sein, dass einem theoretisch alle Türen offen stehen, wenn man doch nur eine begrenzte Auswahl hat. Dank der eigenen Erziehungsberechtigten… das Leben ist hart. „Und dir, geht’s dir gut?“, reißt mich mein Freund unvermittelt aus meinen Gedanken. „Hm?“, mache ich nur wenig beredt. „Komm schon, erzähl mir den neusten Klatsch.“ „Jamie zieht Anfang September mit Martina zusammen und ich habe Chris geküsst.“ Eine hochgezogene Augenbraue ist alles an Gefühl, das Erich mir zugesteht. Natürlich hat er das alles schon kommen sehen. Seine Hochwürden weiß ja immer bestens Bescheid. „War mir klar“, kommt es von ihm. Mir auch, denke ich. „Und ich hatte ein Gespräch mit seiner Mum. Darin hat sie mir zu verstehen gegeben, dass ich in ihren Augen nicht der geeignete Partner für ihren Sohn bin und doch bitte nur den Bodyguard spielen soll.“ „Wer kann’s ihr verübeln?“, stichelt Erich grinsend, gänzlich unbeeindruckt von meinem Todesblick, den ich ihm für diesen Kommentar zukommen lasse. „Ne, mal ernsthaft, warum?“ „Sie meinte, dass Chris kaum Freunde hat, wohl hin und wieder nur eine Affäre und sie sich freut, dass wir uns angefreundet haben und das sie eben hofft, dass ich ihm bei seiner Bräutigamsuche helfe.“ „Krass. Hast du ihr nicht gesagt, dass der Kleine voll auf dich abfährt?“ „Natürlich nicht. Den Streit darf er sich gerne selber mit ihr liefern“, wehre ich ab. „Und du? Was machst du jetzt?“ „Weiß nicht“, nuschle ich leise. „Ich denke, ich lass es einfach.“ „So schnell wirfst du die Flinte ins Korn?“, fragt Erich misstrauisch nach. „Er ist eben noch so jung! Außerdem habe ich selbst kaum eine Perspektive, wie soll ich ihm da eine bieten? Ich bin nicht gerade das strahlende Vorbild!“ „Wer hat gesagt, dass du das sein sollst?“ Erichs Frage bringt mich aus dem Konzept. Wie immer habe ich das Gefühl, dass ich nur ein kleiner dummer Junge bin, der mal wieder nicht verstanden hat, das Zwei plus Zwei eben doch nur Vier ergibt. „Ist doch klar, ich bin eben älter!“, setze ich mich zur Wehr. „Chris stört das nicht im Geringsten“, wehrt Erich ab. „Er sieht in dir das, was du nun einmal von Natur aus bist: Ein Mann. Schlicht und ergreifend ein Kerl. Ein ziemlich blöder, aber immerhin.“ „Hey!“, werfe ich protestierend ein. „Er mag dich aus genau diesem Grund, weil du da was Bestimmtes zwischen den Beinen baumeln hast und auch scheinbar sonst ganz passable rüber kommst. Wenn er ein Vorbild haben will, dann sucht er sich im Schrank ein Bild seiner Urgroßmutter, aber wenn er einen Mann fürs Leben sucht, dann kommt er eben zu dir“, führt Erich ungerührt zu Ende und ich beneide ihn fast um seine abgebrühte Art. Trotzdem ist und bleibt er ein soziales Trampeltier. „Vielen Dank für diese aufmunternden Worte“, gebe ich leicht säuerlich zurück, ernte dafür ein herablassendes Salutzeichen. Ich nicke Erich knapp zu, dann wende ich mich ab, geselle mich zu Bernhard und Marianne und bin für einige Zeit für niemanden sonst mehr zu sprechen. --- Abends haben sich sowohl Braut als auch Bräutigam umgezogen, ebenso wie einige der Gäste. Gemeinsam haben wir uns in ein nettes Lokal in der Nähe der Kirche zurückgezogen, stoßen noch einmal auf eher feuchtfröhliche Art auf das Paar an. Die Stimmung ist ausgelassen, auch wenn viele der Älteren nichts trinken, so sind sie dennoch sehr gut gelaunt und alle scheinen sich mehr oder weniger zu verstehen. Hans-Wilhelm hat sich jedoch bereits verabschiedet und so ist Chris der einzige Vertreter seiner Familie. In den vergangenen zwei Monaten habe ich ab und an etwas mit Chris unternommen. Etwas ganz Klassisches wie Eisessen, Kino oder auch mal ein Besuch in einem wirklich angesagten Club. Näher gekommen bin ich ihm seit dem Gespräch mit seiner Mutter jedoch nicht mehr. Dafür bin ich einfach viel zu unsicher. Erichs Worte haben mir wieder etwas Selbstvertrauen und Mut gegeben, dennoch bin ich noch immer unentschlossen darüber, ob das mit Chris und mir überhaupt eine Chance hat. Wenn ich mir nur selbst endlich darüber im Klaren wäre, was ich für ihn empfinde. Der Abend wird immer älter, einige der Gäste verabschieden sich, hauptsächlich von Martinas Seite aus, aber auch einige der Freunde. Auch Jamie hat den ein oder anderen Arbeitskollegen eingeladen, was mich zwar etwas überrascht hat, aber sonst auch nicht weiter aufgefallen ist. Mein Bruder ist schließlich frei darin mit jedermann etwas zu unternehmen. Am Ende sitzt wieder nur der harte Kern zusammen. Jamie, Martina, Thomas, Erich, ich und natürlich auch Chris, der sich den Ehrenplatz an der rechten Seite meines kleinen Bruders gesichert hat. Die andere ist natürlich Martina vorbehalten. „Schöner Tag, ehrlich“, seufzt Thomas leise, nimmt einen großen Schluck von seinem Weizenbier, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und ich spüre wie er unter dem Tisch seine Füße auf meine Knie legt. „Freut mich, dass es dir gefallen hat“, lacht Martina, zieht sich ihren schwarzen Bolero über, da sie nun doch ein wenig zu frösteln scheint. Um uns herum herrscht Stille, denn das Brautpaar hat in dem Lokal einen abgetrennten Bereich angemietet, der nun nur noch von uns besetzt wird. Ein Kellner ist eigens für uns zuständig, hat im Moment jedoch wenig zu tun. Wir sind alle versorgt. „Von allen die es hätten werden können, muss es ja ausgerechnet Martina sein“, plappert Thomas munter weiter. „Dabei bist du doch so jung… hast das ganze Leben noch vor dir…“ „Habe ich immer noch“, wirft Jamie schmunzelnd ein. „Jetzt aber mit einer bildhübschen Frau an meiner Seite.“ Diese Aussage versetzt mir ein Stich ins Herz. Ich muss lernen damit umzugehen. Aber die Trennung von meinem kleinen Bruder ist mir noch zu plötzlich, als das ich wirklich damit umgehen könnte. Meine Wohnung wird unerträglich leer werden. Aufgrund dieser Aussage beginnt Martina eine kaum ernst gemeinte Kabbelei mit Thomas, in deren Verlauf sich Jamie mal auf die eine, dann auf die andere Seite schlägt, dabei aber Prügel von beiden bezieht. Als Chris nach einiger Zeit von seinem vorangegangen Toilettengang zurückkommt, packe ich ihn am Handgelenk und befördere ihn auf den Stuhl neben mir. Auch wenn ich noch immer keine endgültige Entscheidung getroffen habe, so kann ich dennoch eins mit Gewissheit sagen: Der Kleine macht mich an. „Alles okay?“ „Na klar“, antwortet er. „Bei dir auch? Oder hat dich meine Mum in die Flucht geschlagen?“ Darauf gehe ich nicht ein. Mir ist bewusst, dass Chris trotz seiner Versicherung sich etwas mehr erhofft hat. Aber ich gehe eben mein eigenes Tempo. Das wird sich nach wie vor nicht ändern. „Was machst du morgen Abend?“, frage ich leise, ziehe ihn etwas näher zu mir heran. Er runzelt die Stirn, legt den Kopf zur Seite und sieht tatsächlich so aus, als ob er ernsthaft über diese Frage nachdenken muss. Chris zieht es in die Länge, lehnt sich dann jedoch vor, greift leicht in meine Haare und bringt seine Lippen ganz nah an mein Ohr. „Ich weiß noch nicht genau was, aber ich bin sicher es beinhaltet dich.“ Einen Moment bin ich wie elektrisiert, verstärke meinen Griff um sein Handgelenk, unterdrücke nur mühsam ein aufgeregtes Schlucken. Woher auch immer er es hat, aber Chris hat eindeutig ein Talent dafür, jemanden, und mich im Speziellen, anzuheizen. „Filmabend, bei mir?“, presse ich mühsam beherrscht heraus. „Nur wenn ich auf deinem Schoß sitzen darf“, stellt er seine Bedingung. „Wenn du anständig bleibst“, revidiere ich, gebe dabei aber gleichzeitig auch meine Befürchtung und meine insgeheime Hoffnung preis, dass er es nicht tut. „Dafür darf ich dich küssen“ „Nicht tiefer als die Schultern“, schränke ich ein und komme mir langsam etwas dämlich vor. Seit wann verhandle ich denn darüber wie ein Abend zu laufen hat? Gleichzeitig ist es aber auch aufregend und es kribbelt mir in den Fingern. „Hm“, zieht er einen Schmollmund. „Streicheln?“ „Nicht weiter als zum Bauch.“ „Alter Sturkopf!“, beschwert er sich zischend, platziert dabei gekonnt einen warmen, leicht feuchten Kuss in meiner Halsbeuge. Ein Stromschlag wandert von dieser Stelle durch meinen Körper und ich knurre unwillig auf. Wenn Chris es noch weiter treibt, dann werde ich gleich sehr unhöflich und zerre ihn mit nach draußen. Ich gebe zu, dass eine zweimonatige Selbstkasteiung nicht gerade meine beste Idee gewesen ist. Und dabei haben wir uns bisher nur geküsst und ein wenig gestreichelt. Wie sieht das erst aus, wenn wir tatsächlich einmal mehr tun sollten. „Rapha?“, kommt es leise von ihm und ich brumme zum Zeichen, dass ich ihn höre. Doch statt etwas zu sagen, sieht Chris mich einen Moment lang unschlüssig an, ehe er sich zu mir herüber lehnt und sanft mit seinen Lippen über die meinen streift. Nur ganz kurz und zart, als habe er Angst er könne mir wehtun. „Schade, dass ich hiernach direkt nach Hause muss“, seufzt er gegen meinen Mund. „Ich hätte gerne bei dir übernachtet.“ Im nächsten Augenblick ist alles weg. Seine Wärme, sein Geruch, seine Stimme, der Hauch seiner Berührung. Chris hat sich umgedreht und ist verschwunden. Einfach weg. Und ich bin darüber ernsthaft enttäuscht. „Also ohne jeden Zweifel“, meldet sich Thomas vorlaut zu Wort und erst jetzt fällt mir ein, wo ich mich gerade eigentlich befinde. „Aber ihr zwei zusammen seid echt heiß.“ Vier Augenpaare starren mich gespannt an, teilweise auch amüsiert oder gar überrascht, aber alle ganz unverhohlen neugierig. Jamie ist ziemlich verblüfft, wie ich bemerke, jedoch kann er sich ebenso wenig wie Thomas ein breites Grinsen verkneifen. „Hier sprühen richtig die Funken“, kommentiert mein bester Freund haltlos weiter. „Einfach nur endgeil wie ihr euch mit Blicken ausgezogen habt, diese Energie, diese Leidenschaft, einfach nur…“ „Halt die Klappe, Tommy“, kommt es mürrisch von Erich, der dem Angesprochenen auch gleich eine Kopfnuss verpasst. „Jungs, Ruhe! Chris kommt!“, wirft Martina warnend ein, schenkt mir jedoch ein zartes Lächeln. Irgendwie scheint sie die Einzige zu sein, die versteht, dass mir die ganze Situation doch etwas peinlich ist. Ich war nie der Typ solche Dinge an die große Glocke zu hängen. Aber außer Chris war es mir nur bei Zack ernster als eine Nummer für die Nacht und auch bei Zack habe ich darauf geachtet, dass weder Jamie noch meine Eltern etwas davon mitbekommen. Auch wenn es dann am Ende nicht mehr so ganz geklappt hat. Aber bei Chris… irgendwie verliere ich bei ihm immer etwas die Beherrschung. „Was ist denn bei euch eingeschlagen, dass ihr so schaut?“, kommt es von dem Jüngsten unseres Bundes verwirrt und überrascht, ehe er einen wissenden Blick in meine Richtung wirft und schließlich leicht verlegen zur Seite schaut. Als er sich an mir vorbei zu seinem Platz durchdrängeln will, halte ich ihn auf, ziehe ihn zu mir und platziere ihn kurzerhand auf meinem Schoß. Ich selbst habe nicht das Bedürfnis ihn jetzt wieder ziehen zu lassen und wenn alle anderen eh schon alles zu wissen scheinen, dann stört es wohl auch keinen. Chris ist überrascht, rührt sich jedoch auch nicht vom Fleck und nach und nach nehmen wir unsere vorherigen Gespräche wieder auf. Es wird noch ein langer, gemütlicher Abend in kleiner Runde. Erich erzählt nun allen offen von seiner baldigen Reise nach Frankreich und einstimmig wird eine große Abschiedsfeier angesetzt. Als das Lokal schließt, ziehen Thomas und Erich noch gemeinsam um die Häuser und in die ersten Bars nehme ich Chris noch mit. Martina und Jamie haben sich zu ihrem derzeitigen Wohnsitz, Martinas Wohnung, aufgemacht, mir jedoch versprochen in den nächsten Tagen bei mir vorbeizuschauen. Und als Chris meine Hand drückt, fällt es mir gar nicht mehr so schwer zu sagen, dass Jamie ruhig noch länger bei seiner Ehefrau bleiben kann, auch wenn der Zeitpunkt seines Auszugs in immer greifbarere Nähe rückt. Nach der fünften Bar lassen Chris und ich die beiden größten Saufköpfe dieses Planeten alleine zurück; machen uns auf den Weg zu ihm nach Hause, denn schließlich habe ich seiner Mutter hoch und heilig versprochen, ihn dort unversehrt wieder abzuliefern. Den ganzen Weg dahin unterhalten wir uns ganz ungezwungen über alles Mögliche. Ich plaudere sogar ein wenig aus dem Nähkästchen und gebe von mir und Jamie einige Details aus unserer Kindheit preis. Nichts düsteres, natürlich, eher so Dinge wie Jamies frühere Angst vor jedem kleinen Krabbeltier. Ich musste ihn immer retten und er lehnte es bis zu seinem sechsten Lebensjahr entschieden ab barfuss über eine Wiese zu gehen. „Die Käfer nagen mich ganz bestimmt an“, gebe ich Jamies damalige Worte wieder und finde Chris’ leises, beinahe raues Lachen ganz entzückend. Irgendetwas stellt dieser Querkopf mit mir an, das steht schon mal fest. Seine Hand ruht noch immer in der meinen, leicht streichelt sein Daumen über meine Haut und hinterlässt dort eine leichte Gänsehaut. „Danke, Rapha.“ „Wofür?“, frage ich verwirrt nach. „Das du mich damals davor bewahrt hast in diesen Club zu gehen“, erklärt er flüsternd. „Hm… keine Ursache…“, brumme ich, rücke ein wenig dichter zu ihm auf, versinke einen Moment in seinen Augen, die zaghaft zu mir aufblicken. „Oh verdammt!“, knurre ich, schlinge meine Arme um seinen Körper, sauge beinahe manisch seinen verlockenden Duft in mir ein und vergesse einmal vollkommen, dass wir nur noch eine Querstraße von seinem Haus entfernt stehen. „Was stellst du nur mit mir an?“ Und dann sind da seine weichen Lippen, die sich auf meine legen, mich sanft umfassen. Eine neckische Zunge, die mich dazu verleitet mich für sie zu öffnen, diesen Kuss nicht nur zuzulassen, sondern auch in gleichwertiger Weise zu erwidern. Ich greife mit einer Hand in Chris’ Haare, halte seinen Kopf fest, während ich meinen anderen Arm komplett um seinen Körper schlinge, diesen somit noch näher an mich heran bringe. Er hingegen greift sich mein Hemd, zieht daran, hält es fest, stellt sich ein wenig auf die Zehenspitzen um den Größenunterschied zwischen uns zu verringern. Das hier ist kein romantischer Kuss. Es ist pures Verlangen. Chris stöhnt in meinem Mund auf, als ich mit fast brutaler Gewalt zwischen seinen Lippen vorstoße, ihn plündere und dabei immer weiter zurück dränge. Ich schiebe ihn gegen eine Hauswand, presse ihn dagegen und lehne mich selbst eng an ihn, gehe ein wenig in die Knie um besser an seine sündigen Lippen heran zu kommen. Mit einem fast verzweifelt klingenden Laut schlingt er mir seine Arme um den Nacken und als er sich versucht an mir hochzuziehen, greife ich mit meinen Händen nach seinem Po, hebe ihn hoch und klemme ihn zwischen mir und der Wand ein, während seine Beine den Weg um meine Hüfte finden. Gott, ich habe ihn zwei Monate lang gesehen, aber nie angefasst, nie geküsst. Ich dachte ich bräuchte Zeit, müsste ihn kennen lernen, es langsam angehen lassen, aber das hier… scheiße, dass ist alles andere als langsam. Und zu allem Überfluss fühlt es sich auch noch so verdammt richtig an! Mit Chris scheint es einfach zu funktionieren. Er ist so leidenschaftlich, dass es mich mitreißt, er haut mich einfach von den Socken, aber er ist auch so bodenständig und kühl, dass ich mit ihm immer jemanden habe, dem ich mich anvertrauen kann. Trotzdem ist er noch immer ein Kind, mit kindischen Gelüsten wie nach Jamies Schokotorte oder diesen essbaren Schnullern, die es zu Zeiten meiner Eltern noch häufig zu kaufen gab. Und vor allem hat Chris eins: Einen Traum! Er weiß genau, dass er später einmal Fotograf werfen will. Darauf arbeitet er hin, lässt sich von nichts davon abbringen und bleibt beständig am Ball. Er hat sehr viel Ausdauer, wenn er sich eine Sache mal in den Kopf gesetzt hat. Chris ist jemand, der etwas von ganzem Herzen macht. Ich lasse den Kuss ruhiger werden, harmloser, genieße einige Momente wie weich sich Chris gegen mich schmiegt, ehe ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergrabe und einmal tief durchatme. Chris ist erregt, dass spüre ich nu zu deutlich an meinem Bauch. Er zittert ein wenig und ringt etwas schwerer als ich nach Luft. Aber er bleibt ganz ruhig in meinen Armen, hält sich an mir fest und gibt mir irgendwie dennoch das Gefühl, dass ich derjenige bin, der gehalten wird. „Oh scheiße…“, seufzt er leise. „Ich liebe dich, Raphael, ich liebe dich so wahnsinnig…“ Ich richte mich auf, sehe ihm in die Augen, erkenne darin nur Zuneigung für mich und fühle mich fast schlecht, weil ich diese Worte noch immer nicht ehrlich erwidern kann. Chris ist so viel, vor allem so viel Gutes, dass ich befürchte, nicht gut genug für ihn zu sein, ihm einfach nicht gerecht zu werden. Ich will ihn nicht verletzen, ihm nicht wehtun, aber bei meinem Charakter bleibt das wohl nicht aus. „Hey“, säuselt er sanft in mein Ohr. „Hör auf zu denken, es ist okay. Ist schon gut.“ Er krault durch meine Haare, drängt sich enger an mich, ignoriert dabei seine eigene Erregung und flüstert liebevolle Dinge vor sich hin, die mich tatsächlich beruhigen. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich zu zittern angefangen habe. „Chris, es… es tut mir leid…“ „Was denn?“ „Das ich dir gegenüber so widersprüchlich bin“, sage ich. „Ich will dir nicht wehtun, aber… ehrlich gesagt, weiß ich nicht wohin mit mir.“ „Hm, das habe ich gemerkt“, schmunzelt er, spielt mit einer meiner Haarsträhnen. „Wenn ich wüsste wie ich dir helfen könnte, würde ich es tun. Aber ich habe so das dumpfe Gefühl, dass du das alleine machen musst.“ „Ja, kann sein.“ „Rapha?“ „Hm?“ „Bin ich dir nicht zu schwer?“, fragte er lachend und erst jetzt registriere ich, dass ich ihn noch immer festhalte. Ich habe es irgendwie vergessen. „Nein. Eigentlich nicht“, gebe ich unumwunden zu. „Willst du runter?“ „Nicht wirklich, aber die ganze Nacht können wir auch nicht so stehen bleiben“, antwortet er, seufzt leise auf, als ich ihn daraufhin trotzdem wieder auf dem Boden absetze. Als ich nah an seinem Gesicht bin, ziehe ich ihn sanft zu mir, küsse noch einmal seine herrlichen Lippen und versinke in seinem Augenaufschlag. „Was willst du überhaupt mit so einem verkorksten Kerl wie mir?“, stelle ich ihm schließlich die Frage, die mir schon seit unserer ersten Begegnung auf der Seele brennt. „Ich will mein Leben mit dir teilen“, antwortet er prompt. „Wieso bist du dir nur so sicher? Woher weißt du, dass du das willst?“ Chris legt einen Moment nachdenklich die Stirn in Falten, ehe er meine Hand greift, sie auf seine Brust, direkt über seinem Herzen legt. Ich spüre das kräftige, gleichmäßige Schlagen, das mir ein wenig zu schnell vorkommt. „Als ich dich das erste Mal gesehen habe, war ich einfach nur hin und weg von deinem Aussehen“, erzählt er mir leise. „Dieses Bild im Park… das war wie ein Traum… ich dachte wirklich einen Moment lang, dass du von einem anderen Planeten kommen würdest. Als ich morgens bei dir aufwachte ist mir schnell klar geworden, dass du auch nur ein normaler Mensch bist und noch dazu ein ziemlich unfreundlicher.“ Das kann ich schlecht leugnen. „Aber ich habe in deinen Augen so vieles lesen können, Raphael. So vieles, dass es mich manchmal ganz traurig gemacht hat. Du hast scheinbar schon ein ganzes Leben gelebt und alles was davon geblieben ist, sind deine Augen.“ Chris’ Großvater hat damals so etwas Ähnliches gesagt, erinnere ich mich gerade und ich frage mich, ob die beiden vielleicht irgendwelche magischen Kräfte haben. Mir ist noch nie jemand untergekommen, der allein an meinem Blick erkennen konnte, dass ich schon einiges hinter mir habe. „Ich wollte mehr über dich erfahren. Aber dann habe ich Jamie kennen gelernt und er ist so ganz anders als du. Mit ihm bin ich sehr schnell warm geworden. Durch ihn habe ich auch erst gemerkt, dass ich mich tatsächlich in dich verliebt habe.“ „Warum?“ „Weil ich eifersüchtig auf ihn wurde. Wann immer ihr zwei zusammen ward, gehörte deine ganze Aufmerksamkeit ihm und du hast ihn immer so liebevoll angesehen. Er ist deine Welt. Und manchmal ist er sich dessen gar nicht bewusst. Das hat mich wütend gemacht und in mir den Wunsch geweckt, dass ich selbst einmal derjenige bin, um den sich bei dir alles dreht. Ich will bei dir sein. Wenn möglich, mein Leben lang.“ Dieses Geständnis macht mich sprachlos. Ich hatte immer das Gefühl, dass es Chris auf eine lockere Art nimmt, das Ganze nicht so ernst nimmt wie ich. Für ihn sah es immer so leicht aus mit allem fertig zu werden, dass ich wirklich geglaubt habe, dass er sich keine Gedanken darüber machen würde. Offenbar habe ich ganz weit daneben gelegen. „Ich gebe zu“, fährt er fort. „Das ist am Anfang nicht sehr geschickt vorgegangen bin. Aber ich wollte unter allen Umständen in deiner Näher bleiben, deswegen habe ich mich zum Beispiel auch bei Martinas Abschlussball so aufgedrängt. Ich wollte dir einfach im Gedächtnis bleiben.“ „Das hast du wohl geschafft“, gebe ich brummend zu. Er lächelt mich daraufhin an, fährt mit seinen Fingerspitzen über meine Wangen, streckt sich ein wenig in die Höhe, küsst mich ganz zart auf meine Lippen. „Ich weiß nicht, was du alles erlebt hast, Rapha. Jamie spricht nicht gerne darüber. Scheinbar ist bei euch in der Kindheit einiges schief gelaufen und Jamie prangert gerne Zack an, den ich bisher auch nur einmal kurz gesehen habe. Mehr weiß ich nicht. Aber wenn es das ist, was dich mir gegenüber so hemmt, dann wäre ich froh, wenn es dir gelingen würde, dich mir zu öffnen, damit ich deine Zweifel vielleicht endlich ausräumen kann.“ „Chris, ich…“ „Nicht jetzt“, wehrt er ab. „Vielleicht irgendwann. Oder nie. Das hast du in der Hand.“ Wir stehen und schweigend gegenüber, sehen uns minutenlang einfach nur an, berühren und hin und wieder ganz vorsichtig, ohne dabei zu weit zu gehen und schließlich ist es Chris, der mir ein letztes Mal zu lächelt, ehe er sich abwendet und langsam davon geht. --- Kapitel 16: Ein Riss im Spiegel (2001 / 09) ------------------------------------------- 16. Kapitel – 2001 (September) „Hier!“, kommt es ungehalten von Thomas und nur kurz danach steigt mir der penetrante Geruch von chinesischem Essen in die Nase. Angewidert verziehe ich das Gesicht, überkreuze meine Arme und mache damit deutlich, dass er mir mit dem Fraß vom Hals bleiben kann. „Oh nein, mein Lieber! Du wirst das jetzt essen und wenn ich dich dafür ans Bett fesseln muss!“ Die Schale wird mit neuerlichem Nachdruck unter mein Gesicht gehalten und nach einem giftigen Blick zu Thomas hin, nehme ich sie ihm ab. Die Essstäbchen folgen und schließlich wirft sich mein Kumpel neben mich auf das Sofa, auf dem ich nun schon seit knapp zwei Wochen nächtige. „Was kommt im Fernsehen?“, fragt er weiter, erhält von mir jedoch lediglich ein Schulterzucken. Wir schweigen uns an während wir unser Essen runterwürgen. Nun ja, ich würge, Thomas schlingt, als ob er seit drei Tagen nichts gegessen hätte. Und dabei bin ich derjenige von uns der fastet. Bedächtig schiebe ich mir ein Hühnchenstück in den Mund, kaue darauf herum und merke nicht einmal wie mein Magen zu rumoren beginnt. „Wenigstens einer freut sich über das Essen“, kommentiert Thomas trocken, nippt an seiner Coladose und zappt quer durch das nicht vorhandene Fernsehprogramm. Ich reagiere nicht auf seinen Einwurf, esse weiter meine Nudeln und wundere mich schon nicht mehr wo der ganze Geschmack hingekommen ist. Seit Jamie Anfang des Monats ausgezogen ist und meine Wohnung nun wieder so kahl und leer wie zuvor aussieht ist auch alles andere aus meinem Leben verschwunden. Nie hätte ich gedacht, dass es mich tatsächlich so fertig machen würde meinen kleinen Bruder endgültig im Hafen der Ehe anlegen zu sehen, aber das erste Wochenende hat mich eines besseren belehrt. Ich habe mich so vollkommen zulaufen lassen, dass ich beinahe mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet wäre. Nur Thomas und Erich ist es zu verdanken, dass ich jetzt hier auf dem Sofa sitze und lustlos an meinem chinesischen Essen nage. Meine Sauferei hat schließlich auch dazu geführt, dass mein bester Freund mich nun kaum noch eine Sekunde aus den Augen lässt. Alkohol gibt es für mich nicht mehr, an Drogen lässt er mich gar nicht erst ran und auch sonst achtet er darauf, dass ich nichts mit mir anstelle. Das ich was zu essen kriege gehört ebenfalls dazu, denn nach meinem Privatgelage habe ich jede Nahrungsaufnahme verweigert, bis Erich mir schließlich angedroht hat mich ins Krankenhaus einliefern und Zwangsernähren zu lassen. Dabei ließ er sich eine plastische Darstellung der Schläuche und Gerätschaften nicht nehmen, was mich schlussendlich dazu brachte zumindest hin und wieder etwas Essbares meine Speiseröhre hinunter zu schieben. Trotzdem fühlt sich alles schal und klebrig an, schmeckt für mich nach dem Haferschleim von Thomas’ Großmutter und hat einfach nichts appetitliches mehr an sich. Nicht, dass das Essen nicht an sich lecker gewesen wäre, aber irgendwie denke ich immer, das es nicht von Jamie gemacht ist. Jamie hat während seiner Zeit bei mir sehr viel gekocht, alleine schon damit ich als Versuchskaninchen all seine Gerichte aus der Ausbildung probieren konnte. Egal was er sagte, ich fand es immer wahnsinnig toll wie er kochte, habe keinen Mängel gesehen und ihn zu meinem absoluten Spitzenkoch ernannt. All die Stunden in der Küche… Wenn ich mich daran zurückerinnere, dann habe ich auch erst beschlossen mich abzuschießen, als ich vor dem Herd stand und mir bewusst wurde, dass ich gerade eine der letzten Tupperdosen mit Jamies Essen aufwärme. Natürlich hat er nicht viel eingefroren, immerhin kann ich ja selber kochen, aber die Reste die von seinen Festmahlen immer übrig blieben, haben in diesem Moment wohl den Schalter umgelegt. Kein Jamie mehr, keine Dosen im Kühlschrank, kein Zeichen mehr davon, dass es ihn je in meiner Wohnung gegeben hat. Einen Moment lange habe ich mit dem Gedanken gespielt das Essen einfach für alle Ewigkeit aufzubewahren – und hätte es wohl auch gemacht -, allerdings war es da schon zu spät und das Essen in der Pfanne. Wenn ich so darüber nachdenke, dann bekommt der Spruch Liebe geht durch den Magen, eine ganz neue Bedeutung. „Hey, hey“, kommt es beruhigend von Thomas, ich spüre seine Hände um meine Schultern, sein Gewicht, das sich in meine Richtung verschiebt. Die Schale verschwindet aus meinem seltsam durchnässten Blickfeld und kurz darauf liege ich auch schon heulend in Thomas’ Armen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, als wenn Jamie gestorben wäre. Im Grunde wohnt er ja nur eine Stunde mit dem Auto von mir weg, aber diese Distanz tut einfach nur weh. Es ist nicht so wie früher. Ich konnte es ertragen, dass er nicht bei mir war, weil ich wusste, dass er auf mich wartete. Auf mich, seinen strahlenden Helden. Seinen großen Bruder. Auf den einzigen Menschen, den er in seinem Leben brauchte. Aber jetzt hat er seine Martina, sein Leben und geht nach vorne. Er wartet nicht mehr. Zumindest nicht mehr auf mich. „Ich will ihn wiederhaben“, schluchze ich, vergrabe meine Finger in Thomas’ Shirt, weine ganz ungeniert all meine Tränen, während ich mich hin und her wiege wie ein kleines Kind. Ich bin erbärmlich, dass weiß ich. Aber ich kann daran nichts ändern. Ich will meinen kleinen Bruder zurück. Nur er und ich, dass war mir immer wichtig. Nur er und ich. „Ich will ihn wiederhaben… wiederhaben… ich will… wiederhaben“, stammle ich unzusammenhängend vor mich hin, schlage mit matter Kraft gegen Thomas’ Brust. Immer und immer wieder. Ich kann nicht aufhören. Weder zu weinen, noch zu schlagen. Ich kann einfach nicht aufhören. Ein Ruck geht irgendwann durch meinen besten Freund, ich spüre etwas Feuchtes auf mein Haar tropfen und weiß ganz instinktiv, dass Thomas ebenfalls zu weinen angefangen hat. Sein Griff um mich wird stärker, er zieht mich zu sich hoch und ich vergrabe mein Gesicht an seiner Halsbeuge. „Es tut mir so leid“, flüstert er mir tränenerstickter Stimme. „So leid, Rapha.“ Er murmelt sein Mantra, während ich das meine aufsage. Es sind Worte die wir beide schon immer sagen wollten, es aber einfach nie konnten. Ich weiß nicht wofür sich Thomas entschuldigt, oder warum er es jetzt tut, aber in diesem Moment verstehe ich, dass es nicht nur für mich schwer war. Auch andere haben gelitten und leiden immer noch. Vielleicht wegen mir, vielleicht auch aus einem anderen Grund, aber sie leiden. Genau wie ich. Irgendwie bin ich nicht so besonders wie ich immer dachte. Doch trotz dieser Erkenntnis hört es nicht auf weh zu tun. „Ich bin einsam“, kommt es rau aus meiner Kehle. „Ich bin so einsam…“ Selbstmitleid ist etwas Furchtbares. Es kehrt deine verrottete Seele nach außen und lässt jeden sehen was für ein armseliges Würstchen du eigentlich bist. „Hör auf! Hör auf! HÖR AUF!“, schreit Thomas mich plötzlich an, schiebt mich ruckartig von sich weg und sieht mir mit verheulten Augen ins Gesicht. „Lass das!“ Eine ganze Weile starren wir uns nur an. Er ist ebenso über seinen Ausbruch erschrocken wie ich, denn seine Schultern verspannen sich, ehe sie locker nach vorne fallen und er den Kopf senkt, ohne jedoch den Blickkontakt zu mir abzubrechen. Er wirkt leidend, richtig gequält. „Rapha, ich kann nicht mehr…“, flüstert er leise, kaum hörbar. „Was… was soll ich denn tun, hm? Sag’s mir! Ich weiß nicht mehr weiter… Gott, scheiße…“ Er rückt wieder näher an mich heran, umfasst mein Gesicht, streichelt es zärtlich und versucht sich an einem aufmunterndem Lächeln, was ihm jedoch kläglich misslingt. „Ich liebe dich Rapha, wie man einen Bruder nur lieben kann. Ich habe dir meine ganze Familie geschenkt und trotzdem… trotzdem ist es nicht genug. Was soll ich denn noch machen? Ich würde dir das Universum in Flaschen abfüllen, wenn ich könnte, aber ich kann’s nicht. Sag mir, was ich machen soll, damit zu endlich begreifst, dass wir dich lieben! Was?!“ Ich habe Thomas noch nie so verzweifelt erlebt. Er ringt sichtlich nach Beherrschung und Worten, in seinen Augen funkeln neue Tränen, während sein ganzer Körper zu zittern angefangen hat. „Warum muss es denn Jamie sein?“, fragt er mich schließlich. „Warum nicht ich, oder Erich oder sonst irgendwer? Warum verdammt noch mal muss es Jamie sein.“ „Er ist mein Bruder“, antworte ich mit rauer Stimme, nicht sicher, was Thomas mir eigentlich sagen will. „Das bin ich auch!“, kommt es vehement von ihm zurück. „Vielleicht haben wir nicht dieselbe Blutgruppe und einen anderen Nachnamen, aber ich glaube, dass ich dir sehr viel näher stehe, als es Jamie jemals tun wird! Seit verfickten zehn Jahren gehen wir durch dick und dünn! Ich habe alles gemacht, ALLES! Du bist mein kleiner großer Bruder, seit wir zum allerersten Mal gemeinsam gegen die Hauswand des Nachbarn gepinkelt haben. Ich war immer stolz auf dich, egal was du gemacht hast. Habe ich dir nicht den Rücken gestärkt? Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du bei uns gewohnt… was soll ich denn noch machen, Rapha? Begreif doch endlich, dass du bereits eine Familie hast! Eine, die nicht nur ein Traum ist.“ Vollkommen entgeistert springe ich auf, schlage Thomas’ Hände von mir und bin wirklich gewillt mich hier und jetzt mit ihm zu prügeln. Ich wollte meinen besten Freund nie schlagen, nie, mit Ausnahme von diesem Moment. „Jamie, ist mein Bruder“, bringe ich knirschend hervor. „Und ich liebe ihn! Er ist meine Familie! Und er ist genauso real wie alles andere!“ „Aber er hat dich nie so geliebt wie du es tust!“ Auch Thomas ist jetzt aufgesprungen, seine Hände sind zu Fäusten geballt, sein Gesicht ist rot angelaufen. Er ist unverhohlen wütend. Aber mir ist das egal. Niemand, nicht einmal er, hat das Recht so über Jamie zu sprechen. „Sei still!“, zische ich Thomas an. „Was verstehst du schon davon, hä? Du bist in einer glücklichen Familie aufgewachsen, mit einem Vater und einer Mutter die dich lieben! Du kannst gar nicht verstehen wie es mir ergangen ist!“ „Das habe ich auch nie behauptet“, wehrt er fahrig ab. „Aber ich kenne dich nun schon lange genug um zu sehen was in dir vorgeht. Und ich lasse nicht zu, dass du dich wieder in ein Loch fallen lässt, nur weil Jamie nicht erkennt, dass er dir gerade das Herz in Stücke reißt!“ „Das würde er nie tun!“ „ER TUT ES ABER GERADE!“, brüllt Thomas mich jetzt an. „DU HAST KEINE AHNUNG WIE JAMIE WIRKLICH IST! DU SIEHST DOCH NUR WAS DU SEHEN WILLST!“ „Rede nicht so! Rede nicht so über ihn!“ „Und warum nicht?“, wird er leiser, lauernder. „Du willst es noch immer nicht verstehen, oder? Rapha, du bist der Einzige von euch beiden, der eine schwere Kindheit hatte.“ „HALT’S MAUL!“, brülle ich ihn an, gehe tatsächlich auf ihn los. Einen Moment lang ist Thomas vollkommen überrascht, dann trifft ihn meine Faust mitten ins Gesicht uns er geht zu Boden. Von unten funkelt er mich wütend an, wischt sich übers Kinn. „Das Einzige worunter Jamie jemals leiden musste, ist die Tatsache, dass seine Eltern ihn nicht lieben. Aber im Gegensatz zu dir, kümmert ihn das herzlich wenig. Er hat ja Martina! Und er hatte sie schon seit er vierzehn ist.“ „Sei still, sei still, sei still, sei still…“, versuche ich mich gegen seine Worte zu wehren, dennoch dringen sie ungehindert in meinen Kopf. „Du bist so sensibel, Raphael. Anders als Jamie. Dein kleiner Bruder kümmert sich wenig darum was andere von ihm denken. Er ist stark genug zu ignorieren, dass er keine liebevollen Eltern hat. Sieh endlich ein, dass Jamie dich nicht im Geringsten braucht.“ „HALT ENDLICH DIE FRESSE!“, schreie ist lautstark, packe Thomas am Kragen, schlage zwei, dreimal auf ihn ein, ehe ich mit Tränen in den Augen von ihm ablasse. Seine Lippe und seine Nase bluten, seine Wange ist rot geschwollen und trotzdem blickt er mich ganz unverwandt von unten her an. Ich fühle mich schlecht bei diesem Blick und türme. Einfach nur raus, raus. Egal wohin, einfach nur weg aus diesem verfickten Leben, das mich mit Füßen tritt und auf mich spuckt. Ich brauche das hier alles nicht. Ich kann das alleine, ganz alleine. Ich bin stark, ich schaffe das! Ging doch schon einmal ganz gut. Ich brauche nichts und niemanden! Nur mich und… Schwer atmend bleibe ich stehen, lehne mich an die raue Hauswand, sinke an ihr herab, heule und schluchze, schlage immer wieder gegen die Steine, spüre die alte Verletzung, den längst verheilten Bruch. Damals, bei meinem Besuch zu Hause, habe ich mir die Hand gebrochen. Einige Jahre ist das nun schon her und ich habe nie daran gedacht, auch nicht, als meine Finger zu schmerzen anfingen. Aber jetzt fällt es mir wieder ein. Es ist ein Bruch, der lange schon wieder verheilt, aber dennoch vorhanden ist und weh tut. Vielleicht, denke ich, bin ich genau an diesem Punkt. Es muss heilen, damit der Schmerz in den Hintergrund rückt und nur noch eine schwache Erinnerung ist. Aber heilen kann es nur, wenn ich mit Jamie zusammen bin, da bin ich mir sicher. Thomas hat Unrecht mit dem was er gesagt hat. Er ist mein kleiner Bruder und ich weiß genau wie meine Eltern damals waren. Ich weiß, dass mein Vater gewalttätig war und mich geschlagen hat und dass er… mich geschlagen hat. Damals war ich zu Hause… es hat mich getroffen. Jamie war noch klein. Als ich gegangen bin, war er acht. Das Alter in dem ich zum ersten Mal Prügel bezogen habe. Aber als ich letztes Jahr nach Hause gefahren bin, war mein Vater so apathisch… als ob nichts mehr wichtig wäre. Aufstöhnend, fahre ich mir über das Gesicht. Ich weiß nicht was ich denken soll. Alles dreht sich in meinem Kopf und ich kriege keine Ordnung da rein. Es tut einfach noch zu sehr weh, dass Thomas sich so aufgeführt hat. Er ist doch bloß neidisch auf Jamie! Ich fühle mich von meinem besten Freund verraten und betrogen. Ganz genau kann ich es nicht festmachen, aber das er all das über Jamie gesagt hat… er hat damit eine rote Linie bei mir überschritten. Niemand darf schlecht über meinen kleinen Bruder reden, absolut niemand. „Was mache ich bloß?“, frage ich mich selbst in der Stille um mich herum, erhalte jedoch keine Antwort. Niemand gibt mir eine Antwort auf all die Fragen die ich habe und auch wirklich niemand sagt mir, was ich jetzt tun soll. Wohin ich gehen soll. Und aus diesem einfachen Grund bleibe ich dort sitzen wo ich gerade bin, wo auch immer das ist. Ich habe einfach keine Kraft mehr mich zu bewegen. Langsam ziehe ich die Knie an, bette meinen Kopf auf meine verschränkten Arme und schließe die Augen. Mir egal ob ich morgen aufwache oder nicht. Aber jetzt will ich einfach nur noch schlafen. --- Mein Kopf schmerzt ein wenig, mir ist kalt und mein Unterleib tut weh. Vorsichtig sehe ich mich in dem großen Raum um, in dem ich liege. Ein Kleiderschrank steht mir direkt gegenüber und zu beiden Seiten des Bettes finde ich kleine Nachttischchen, jeweils mit einer Lampe bestückt. Die Wände sind kunstvoll, jedoch nicht aufdringlich verziert. Handbemalt wie es aussieht. Ein Kleiderständer steht in der Ecke und an der Wand zu meiner Rechten ist ein schmales Brett angedübelt, auf dem sich drei Fotografien befinden. Vorsichtig, mit der Decke um die Schultern, stehe ich auf, trete näher an die Bilder heran und erkenne augenblicklich die drei Mitglieder der Familie Berger. Das erste Foto zeigt Hans-Wilhelm mit dem gerade geborenen Chris auf dem Arm, danach sehe ich eine Szene aus der Schulzeit, während mir das letzte Bild einen Eindruck von einem ihrer Urlaube vermittelt. „Sie sind wach, wie schön.“ Erschrocken fahre ich herum, sehe mich nun dem echten Hans-Wilhelm Berger gegenüber, der mich mit einem wachen Blick mustert. „Ich habe einen ganz schönen Schrecken bekommen, als ich erkannte, dass Sie der vermeintlich Obdachlose waren, der vor meiner Haustür ein Nickerchen hielt. Ein Arzt war bereits hier und hat Sie untersucht. Sie hatten Glück. Ein wenig unterkühlt und eine leichte Blasenentzündung sonst nichts.“ Ich schweige ihn noch immer an, da ich einfach nicht weiß, was ich sagen soll. Ihm gegenüber will ich mich nicht erklären, auch wenn ich denke, dass ich es muss. Gleichzeitig frage ich mich, ob er Chris etwas gesagt hat und ob der Kleine gleich durch die Tür kommt. „Keine Sorge“, liest Hans-Wilhelm meine Gedanken. „Noch weiß niemand, dass Sie hier sind. Aber, bitte, legen Sie sich doch wieder ins Bett. Sie sollten jetzt möglichst im Warmen bleiben. Kaffee?“ „Gern“, krächze ich leise. Scheinbar habe ich mir doch eine Erkältung eingefangen. Hans-Wilhelm verschwindet wieder durch die Tür, erscheint jedoch wenige Augenblicke später mit einem Tablett in der Hand, auf dem zwei Tassen und eine Kaffeekanne stehen. Er balanciert alles zum Nachttisch zu meiner Rechten, stellt es dort ab, schenkt mir ein und reicht mir dann einen vollkommen schwarzen Kaffee. „Milch und Zucker?“, fragt er nachträglich, lächelt, als ich den Kopf schüttle. Nun schenkt auch er sich ein, lehnt sich gemütlich an das Kopfende des Bettes und streckt seine Beine auf dem Laken aus. Er seufzt angetan, rührt die Milch in seinem Kaffee um und nimmt einen ersten vorsichtigen Schluck. „Ich habe Ihre Sachen in die Wäsche getan. Derzeit sind sie im Trockner.“ „Vielen Dank“, sage ich verspätet. „Kein Grund mir zu danken. Ich kenne jemanden, der sehr böse mit mir wäre, wenn ich Sie da draußen hätte sitzen lassen“, schmunzelt er, zwinkert mir über den Rand seiner Tasse zu. Hans-Wilhelm macht auf mich einen ganz anderen Eindruck als bei unserem ersten Treffen in der Galerie. Er wirkt lockerer, offener. Mehr wie ein Freund oder netter Großvater, als wie ein seriöser Geschäftsmann. Nicht mehr ganz so unterkühlt. „Möchten Sie, dass ich jemanden für Sie anrufe?“ „Nein, danke. Ich komme alleine nach Hause“, wehre ich ab. Er nickt mir zu, legt dann jedoch die Stirn in Falten und scheint über etwas nachzudenken. Er braucht mehrere Schlucke um mir von seiner Idee zu erzählen. „Was würden Sie sagen, wenn ich Sie einladen würde, eine Zeit lang bei mir zu bleiben?“ Überrascht hebe ich eine Augenbraue. „Ich wüsste nicht warum ich das tun sollte“, gebe ich dann eine klare Antwort. „Einfach nur so“, hebt er die Schultern. „Ganz spontan und vielleicht auch, weil wir beide einen Menschen kennen, den wir sehr gern haben. Und weil ich denke, dass Sie jetzt nicht alleine sein sollten.“ Sein Blick wird ernst, musternd. Ich habe das Gefühl, dass er viel mehr weiß, als er zugibt. Dennoch lässt er davon nichts durchscheinen, sieht mich einfach unverwandt an und wartet auf meine Antwort. Ich gebe ihm Recht, dass es wohl keine gute Idee wäre, alleine zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen. Vermutlich würde ich innerhalb der nächsten zwei Wochen still vor mich hinvegetieren, einfach nichts tun, außer mich zu bemitleiden. Nach dem Streit von gestern, kann ich auch nicht zu Thomas und bei Familie Vogel macht alles eine schnelle Runde. Ich möchte mich mit keinem aus der Familie derzeit auseinander setzen. Jamie ist gerade erst zu Martina in die neue Wohnung gezogen… und somit ist die Liste meiner Freunde schwindend gering. Der Laden befindet sich derzeit in der vollständigen Obhut von Erich, der mir zu verstehen gegeben hat, dass er auch von Frankreich aus alles Wichtige übernehmen wird. Seiner Meinung nach sollte ich langsam versuchen etwas Richtiges zu machen. Irgendwie scheine ich gerade an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich mich vieler Probleme stellen muss, die ich vorher gerne umgangen bin. Aber weglaufen ist für mich nicht länger drin. Irgendwie muss es auch ohne Jamie nach vorne gehen. „Warum nicht“, sage ich schließlich, meide jedoch den Blick in Hans-Wilhelms Augen. Schweigend trinken wir unseren Kaffee und schließlich bin ich wieder alleine im Zimmer. Ich habe einen Tag Bettruhe verordnet bekommen. Sowohl vom Arzt als auch von Herrn Berger. Schließlich saß ich eine ganz Nacht lang im kalten Septemberwetter. Doch die Ruhe um mich herum wird mir schnell zu viel. Ich brauche Geräusche, die Gewissheit, dass ich nicht alleine bin. Außerdem will ich nicht die Zeit haben über alles nachzudenken. Nicht jetzt. Es ist noch zu früh. Ich schäle mich also aus der Decke, greife nach dem Bademantel, der am Fußende des Bettes bereit liegt, ziehe ihn über und knote ihn nur locker über der Hüfte zusammen. Dann gehe ich durch die Tür, durch die auch Hans-Wilhelm schon verschwunden ist und betrete das sehr großzügige Wohnzimmer dieser Wohnung. Scheinbar muss sich Herr Berger um finanzielle Dinge keine Sorgen machen. Obwohl man den Luxus überall sehen kann, ist es dennoch eine sehr warme, einladende Wohnung. Man fühlt sich nicht erdrückt, sondern heimisch. Alles ist in leichten Erdfarben gehalten und an jeder Wand hängt mindestens ein Foto. Vermutlich hat Hans-Wilhelm die alle gemacht. Meistens sind es reine Naturaufnahmen von Berggipfeln aus hinunter in ein Teil oder einfach gerade auf den Horizont ausgerichtet. Hin und wieder erkennt man das ein oder andere Gebäude. Ländliche Häuser, Ruinen, Tempelanlagen. Scheinbar ist Herr Berger viel in der Welt herumgekommen. „China“, spricht er hinter mir, als ich mich gerade zu einem Foto lehne, dass einen herrlichen Sonnenuntergang hinter einem vergoldeten Kloster zeigt. Das Metall erstrahlt richtig, wirft eine eigene zweite Sonne. „Sie sind wohl viel gereist“, stelle ich meine Vermutung. „Früher, ja. Während meiner Ausbildung bei einem berühmten Fotografen bin ich oft mit ihm durch die Welt gereist um einzigartige Naturschauspiele in Bildern festzuhalten.“ „Muss spannend gewesen sein“, rede ich einfach weiter. „Ja“, kommt es leise zurück. „Es war sehr aufregend dort auf den Bergen zu stehen und sich unendlich klein vorzukommen. Allerdings habe ich dadurch gelernt, dass ich viel lieber Menschen zeige. Den Alltag.“ „Warum?“, hake ich neugierig nach, während ich darauf lausche wie Hans-Wilhelm sich in einen Sessel sinken lässt und etwas auf dem Tisch abstellt. „Die Menschen wollen das Besondere in ihrem Leben und sie suchen es in der Weite der Welt. Es ist exotisch wenn man erzählen kann, dass man auf dem Kilimanjaro war oder das Dach der Welt bestiegen hat“, beginnt er zu erklären. „Ich hingegen versuche den Menschen mit meinen Bildern zu zeigen, dass das Besondere jeden Tag um uns herum passiert. Man muss nur genauer hinsehen.“ „Und was sehen Sie?“, will ich es nun genauer wissen. „Ich sehe den Menschen und ich sehe die Natur.“ „Das ist doch nichts Besonderes“, widerspreche ich verwirrt und drehe mich zu Hans-Wilhelm um, der ganz entspannt in seinem Sessel sitzt und die vor sich ausgebreiteten Fotografien betrachtet. „Glauben Sie?“, fragt er nach, was ich ihm bestätige. „Warum finden Biologen die Natur wohl so spannend? Weil sie Dinge birgt, die für das menschliche Verständnis ganz außergewöhnlich sind. Pflanzen und Tiere sind anders als der Mensch und anders als jede andere ihrer Arten. Das nennt man Artenvielfalt.“ „Und?“ „Und…“, schmunzelt er leicht über meine Skepsis. „…neben dieser Artenvielfalt ist der Mensch. Der sich, von einigen Merkmalen abgesehen, rein äußerlich kaum von einem anderen Menschen unterscheidet. Wir haben, wenn wir nicht grade invalid sind, alle zwei Arme mit zwei Händen und zehn Fingern, zwei Beine mit zwei Füßen und zehn Zehen, zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase, einen Mund, Haare auf dem Kopf und zwischen den Beinen und eine gleiche Anzahl von inneren Organen.“ Jetzt sieht Hans-Wilhelm zu mir auf, lächelt mich an. „Oder irre ich mich?“ „N-Nein“, gebe ich überrumpelt zu und weiß nicht so recht worauf das alles hinaus läuft. „Der Mensch ist also eine weit verbreitete Art aus der Gattung der Säugetiere, ein Tier unter Tieren, wenn auch etwas intelligenter als die meisten unserer Artgenossen. Aber gerade unsere vermeintliche Intelligenz macht uns zu dem dümmsten Wesen dieses Universums. Einfache Tiere haben gelernt unter ihren Artgenossen zu leben, zumeist sehr friedlich. Sie unterteilen nur noch in Essbares und Ungenießbares und den Feind, der von einer anderen Art stammt. Menschen hingegen führen Kriege unter denen alle ihre Artgenossen leiden müssen. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Schuldigen und Unschuldigen, es trifft immer gleich alle. Noch viel wichtiger hingegen ist, dass der Mensch den Menschen bekämpft.“ „Tiere machen das auch“, widerspreche ich nun. „Zwei Löwenrudel die aneinander geraten bekriegen sich doch auch.“ „Schönes Beispiel“, pflichtet er mir bei. „Wenn zwei Löwenrudel einander treffen, dann kämpfen die beiden Anführer gegeneinander, der Verlierer zieht sich entweder zurück oder stirbt. Wenn er sterben sollte, dann ist sein Rudel ohne Führer, oder aber schließt sich dem Sieger an.“ Ich schweige zu dieser Ausführung. „Zudem würde ein Löwe, niemals nach Indien reisen um mit einem Tiger zu kämpfen.“ „Geht doch auch gar nicht.“ „Wer weiß“, schmunzelt Hans-Wilhelm. „Rein theoretisch wäre es möglich. Ein Löwe könnte Afrika zu Fuß durchqueren, jagen und rauben, bis zur Küste, dort zwischen den Menschen umherschleichen, sich auf ein Schiff einschiffen, nach Europa reisen, bis nach Indien laufen und sich dort einen Tiger suchen. Natürlich ist das unwahrscheinlich und vollkommen absurd, aber in der Theorie gäbe es diese Möglichkeit. Die Frage die sich stellt ist, warum tut der Löwe es nicht? Weil er keinen Grund darin sieht. Tiere sind nie offensichtlich feindselig. Sie suchen nie den Streit. Der Streit ergibt sich durch die Umstände. Wenn eine Gazelle erlegt wurde oder der Platz am Wasserloch begrenzt ist. Denn Tiere haben nicht die Mittel sich selbst zu helfen, sie sind auf das angewiesen, was die Natur ihnen gibt.“ „Und was ist mit dem Menschen?“, frage ich reichlich verwirrt nach und habe schon längst wieder vergessen wie wir überhaupt auf dieses merkwürdige Thema gekommen sind. „Der Mensch hat die Mittel sich selbst zu helfen, er nutzt sie auch. Gleichzeitig aber versteht sich der Mensch als Individuum anstatt als Einzelner unter Vielen. Er fühlt sich von der Welt und den Mitmenschen angegriffen. Anstatt das Leid Vieler zu lindern, lindert er nur sein eigenes. Er ist offen aggressiv gegen alles, vor allem sich selbst.“ „Und das heißt?“, hake ich noch einmal nach. „Das heißt, dass der Mensch ein Geschöpf der Natur ist, aber den darin vorhandenen Regeln zuwider handelt. Und das finde ich faszinierend.“ „Aber ihre Bilder…“, beginne ich, breche jedoch ab, da ich nicht weiß wie ich meine Frage genau formulieren soll. „Nun, ich fotografiere am liebsten Menschen aus ärmeren Regionen und Soldaten. Denn wenn das Leid groß ist, ziehen Soldaten durchs Land, mit geschlossenen Augen und Herzen, mit der Waffe im Anschlag, all jene zu töten die ihrer Meinung nach illegale Hilfestellung leisten.“ „Klingt mir danach als seien Sie Buddhist“, gebe ich zu. „Ich hatte tatsächlich einmal die Ehre den Dalai Lama zu sehen, es war inspirierend. Wenn wir seine Worte beherzigen würden, wäre das Leben unter den Menschen sehr viel einfacher.“ Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, nicht zu viel über alles nachzudenken, hat mir Hans-Wilhelm nun eine ganze Bandbreite von Themen gegeben, die mir nie in den Sinn gekommen sind, die ich allerdings sehr faszinierend finde. Mir wird bewusst, dass ich nur sehr wenig von der Welt weiß und bisher kaum über meinen Tellerrand geschaut habe. Ich fühle mich ein bisschen philosophisch, auch wenn ich tief in mir drin weiß, dass ich nicht der Künstler bin, der mir gerade gegenüber sitzt. Ich betrachte die Dinge mit anderen Augen. „Das war viel auf einmal“, gesteht Hans-Wilhelm ein wenig verlegen ein, erhebt sich, rafft die Fotografien zusammen und sieht mich eine Weile schweigend an. „Hätten Sie Lust mich in mein Studio zu begleiten?“ „Wozu?“, frage ich. „Bei Ihnen braucht immer alles einen Grund, nicht wahr?“, schmunzelt er, wartet jedoch nicht meine Antwort ab. „Sehen Sie doch einfach zu. Oder, wenn Sie möchten, lassen Sie sich einmal selbst ablichten.“ „Ich bin kein Model.“ „Müssen Sie auch nicht sein. Ich fotografiere sehr gerne Menschen, wie Sie jetzt wissen.“ Ich kann mir ein schwaches Lächeln nicht verkneifen. Ja, jetzt weiß ich, dass er gerne Menschen fotografiert. Ich nicke ihm zu und bekomme von ihm im Gegenzug einige passende Kleider herausgelegt. Eine Anzughose und ein schlichtes, weißes Hemd, ebenso eine schwarze Krawatte. Nur die Schuhe passen mir nicht, sind mir zwei Nummern zu groß und so schlüpfe ich stattdessen in meine Turnschuhe. Ich weiß nicht warum ich das hier mache, aber Tatsache ist, dass ich mich bei Hans-Wilhelm gut aufgehoben fühle. Er strahlt Ruhe und Sicherheit aus, als ob es nichts gäbe, dass ihn wirklich aus der Bahn werfen würde. --- Kapitel 17: Ablenkung und Abschreckung (2001 / 09) -------------------------------------------------- 17. Kapitel – 2001 (September) Überall um mich herum ist nur klares, kaltes Wasser. Ich spiegle mich darin, doch verwehre ich mir den Blick nach unten. Ich fürchte, dass ich lächerlich aussehe. Man hat mir in zwei Stunden Arbeit die Haare geschnitten, gekämmt und gegeelt, mir währenddessen, die Augenbrauen gezupft, die Fingernägel manikürt und mich überall mit irgendwelchen Cremes eingerieben. Danach folgte die Tortur des Ankleidens. Eine weitere Stunde hat man damit zugebracht sich für ein Outfit zu entscheiden. Es ging über rote Lederhosen bis hin zum Cowboyhut und eines sah beschissener als das andere aus. Wenn ich gewusst hätte was Models alles übers ich ergehen lassen müssen, dann hätte ich niemals so schlecht über Heidi Klum und Konsorten geredet. Ich streiche mir mit einer Hand die nervende Haarsträhne aus dem Gesicht, die die Mädels aus der Maske als so chic empfunden haben und bin nur noch minimal darüber überrascht, dass ein ganzes Blitzlichtgewitter über mir losgeht. Missmutig runzle ich die Stirn, starre verdrossen auf die halbnackte Frau vor mir, die beinahe regungslos vor mir kniet, einen Arm um meine Hüfte geschlungen hat und mich mit einem verträumten Blick mustert. Ihre langen weichen Locken fließen ihr regelrecht um die Schultern und das Gesicht, fühlen sich nachgiebig in meiner freien Hand an und betonen ihre haselnussbraunen Augen. Ehrlich, so intensiv wie heute habe ich mir noch nie eine Frau angesehen. Vielleicht wäre ich dann nicht schwul geworden. Obwohl ich mich unter ihrem Blick wie ein kleiner sabbernder Vollidiot vorkomme. Ich ziehe meine frisch gezupften Augenbrauen noch mehr in Falten, ignoriere die Zwischenrufe von irgendwelchen Assistenten die mir schon seit Stunden auf den Sack gehen und drücke meinen schmerzenden Rücken durch. Fast zeitgleich erhebt sich auch die Schönheit vor mir, kommt in Windeseile hinter mich, legt mir ihre schlanken Finger auf Brust und Hals, bringt ihre Lippen ganz nah an mein Gesicht und zieht mich etwas mehr nach hinten, auf ihren Oberkörper. Ich bin noch nie in den Genuss von Brüsten gekommen. Von vorne sind sie bestimmt ein weiches Kissen, von hinten allerdings empfinde ich sie als sehr störend. Ihr warmer Atem schlägt gegen meine Wange, ich rieche einen leichten Hauch von Pfefferminz, drehe meinen Kopf etwas schräg zur Seite, damit ich den Geruch nicht vollständig abbekomme. Ich kann Pfefferminz nicht leiden. Die roten Lippen direkt vor meiner Nase verziehen sich zu einem sündigen, eigentlich süffisanten Lächeln. In dem neuerlichen Blitzlicht geht allerdings jeder weitere Gedanke verloren. „Kannst du dich unter ihn legen, Maria?“, fragt die tiefe Stimme Hans-Wilhelms unvermittelt, ich bemerke ihr nicken und spüre die flüchtige Berührung an meinem Körper. Als sie um mich herum rutscht, verliert sie den Halt an einem flachen, glatten Stein, fällt nach vorne und instinktiv strecke ich den Arm nach ihr aus, während ich gleichzeitig ihre Nägel über meine Haut kratzen fühle. „Alles okay?“, frage ich nach, erhalte ein erstauntes Nicken. Vermutlich der Schock. Vorsichtig bringt sie sich in Position, wirft mir einen fast scheuen Blick zu, als sie zwischen meine Beine rutscht, doch ich mache keinerlei Anstalten sie anzufallen. Stattdessen biete ich ihr mehr Platz, stütze sie ein wenig, als sie sich vorsichtig nach hinten ins Wasserbassin legt. Immer wieder schießt Hans-Wilhelm Fotos. Er achtet nicht darauf ob wir in Position sind oder nicht. Vielmehr scheint er jeden Moment einfangen zu wollen. Als er und ich ins Studio gekommen sind, war Marias Shooting bereits vorbei. Allerdings blieb sie auf Hans-Wilhelms Bitte hin länger und ich wurde ihr als Laiendarsteller vorgestellt. Ohne auf meinen Protest zu reagieren hat mich Chris’ Großvater in die Obhut seiner Designerinnen gegeben und nur wenig später hockte ich in diesem Becken, zusammen mit dem bildhübschen Profimodel. Hier sieht man auch den Unterschied. Maria weiß genau was Hans-Wilhelm will, sie ist fügsam, flexibel und sich auch offenbar nicht zu schade dafür in eine eher kompromittierende Position zu gehen. Dabei strahlt sie jedoch sehr viel Selbstsicherheit aus und reagiert ganz automatisch auf meine Bewegungen. Ich bin der Mittelpunkt, hat Hans-Wilhelm gesagt, sie nur das Beiwerk. Ich persönlich fand diese Bemerkung äußerst hart und gemein, Maria jedoch hat es gelassen genommen und so immer wieder in verschiedenster Weise die Frau an meiner Seite gemimt. „Tut mir leid“, flüstere ich ihr zu, als ich mich ein wenig bequemer über sie hocke. Laut Hans-Wilhelm soll ich kein Model, sondern ich selbst sein. Ich habe das als Aufforderung verstanden einfach nur möglichst bequem die Zeit rumzubringen. Scheinbar lag ich nicht ganz verkehrt damit, denn es kam keine einzige Beschwerde. Außer von den Assistenten, aber auf die hört eh keiner. „Schon okay“, lächelt sie mir zu. „Ich bin Profi“, folgt ein keckes Augenzwinkern. Irgendwie ist sie mir sympathisch. Ich greife nach ihrer Hand, ziehe sie an meine Lippen und hauche ihr einen sanften Kuss darauf, der sie ein wenig überrascht die Augen aufreißen lässt. Trotzdem finde ich sie noch immer sehr schön. Langsam stehe ich auf, ziehe sie ebenfalls in eine aufrechte Position, klettere dann jedoch aus dem Bassin heraus und genieße den Luxus, dass sofort jemand da ist, der mir ein Handtuch bringt. „Vielen Dank, Maria!“, beendet Hans-Wilhelm das Shooting, hilft seinem Model eigenhändig aus der aufwendigen Kulisse, die immerhin aus dem Becken, einigen großen Steinen, einem kleinen Wasserfall, mehreren tropisch wirkenden Pflanzen und etlichen Lichtern besteht. Dschungelfieber mitten der in Großstadt. Auch Maria wird sofort in mehrere warme Handtücher gesteckt und abgerieben, während ihre langen Haare von mehreren Spangen gebändigt werden. Schade, vorher gefiel es mir besser. Als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie und kommt gelassen auf mich zu. „Wie hat es dir gefallen?“, fragt sie mit ungewohnt leiser Stimme. „Weiß nicht“, gebe ich zu. „War mal was anderes.“ „Das glaube ich“, lacht sie verhalten. „Jemand wie du ist wohl nur harte Arbeit gewöhnt.“ „Leicht fand ich das hier auch nicht gerade.“ „Willst du Model werden?“ „Nein. Das ist nichts für mich, außerdem bin ich zu alt.“ „So?“ „Fünfundzwanzig“, beantworte ich die offensichtliche Frage. „Ich bin auch nicht jünger, nur ein Jahr“, kommt es von ihr zurück und ich hebe überrascht eine Augenbraue. Ich hätte sie sehr viel jünger geschätzt. Gerade mal auf Anfang zwanzig. „Raphael, nicht wahr?“ Ich nicke. „Kommst du öfter hierher?“ „Eigentlich nicht. Bin nur zufällig hier gelandet, weil ich seinen Enkel kenne.“ „Oh!“, ist sie erstaunt. „Du kennst den kleinen Chris?“ „Du offensichtlich auch“, gebe ich zurück, doch sie winkt ab. „Ein ganz süßer Junge, ehrlich, aber verdammt schüchtern. Er macht sehr schöne Bilder, hat scheinbar das Talent seines Großvaters geerbt, aber im Umgang mit Mitarbeitern und Models ist er noch sehr unsicher.“ „Tatsächlich? Ich hatte ihn eher als souverän eingeschätzt“, runzle ich die Stirn. „Hier auf der Arbeit ist er sehr zurückhaltend“, bleibt sie bei ihrer Version von Chris, lächelt mir dann aufmunternd zu und lädt mich ein, doch öfters vorbeizuschauen und mit ihr zu arbeiten. Ich mag Maria. Sie ist nicht so verdreht wie andere Mädchen die ich kenne und das obwohl sie als Model arbeitet und sich sonst was auf ihren Körper einbilden könnte. „Maria hat derzeit einen Auftrag für einen große Modekonzern, die mit einem Fotografen arbeiten, den ich unter Vertrag habe.“ „Wie funktioniert denn die Bezahlung?“ „Wie bei einem Sänger. Die Firma zahlt dem Fotografen ein gemeinsam vereinbartes Honorar, von dem wiederum ich einen gewissen Prozentsatz erhalte. Dafür dürfen aber meine Kulissen verwendet werden, ebenso die Outfits und einige der Damen stehen ebenfalls zur Verfügung“, erklärt Hans-Wilhelm, verstaut dabei ein Teil des Equipment. Schweigend sehe ich mich ein wenig in dem Studioraum um, doch nichts fesselt wirklich meinen Blick. Ich frage mich gerade, ob Chris wohl hier ist und ob ich ihn nicht vielleicht doch sehen möchte. Immerhin ist er der Einzige, der mir bisher ohne jeden Vorbehalt zur Seite gestanden hat. Thomas… ich sollte wirklich nicht darüber nachdenken. „Möchtest du nach Hause gehen?“, fragt Hans-Wilhelm gerade und ich bin darüber irritiert, dass er mir einen Schlüssel vor die Nase hält. Scheinbar meint er damit seine Wohnung. „Weiß nicht“, meine ich unentschlossen, nehme das Metallstück trotzdem in die Hand. „Ich habe jetzt noch einiges zu tun, es steht dir also frei ob du hier bleiben oder gehen möchtest“, erklärt er, schultert einen schweren Tragekoffer, in dem ich so ziemlich alles vermute. „Ich werde mich schon beschäftigen“, meine ich ironisch. „Gut“, zwinkert er mir zu, wendet sich an seine Assistentin. „Warum…“, beginne ich, breche jedoch ab, als er mich mit einem fragenden Blick mustert. „Warum haben Sie das Shooting mit mir gemacht?“, bringe ich dann schließlich heraus, darüber verwirrt, dass er wieder so einen undurchdringlichen Blick an den Tag legt. „Nur so“, lautet seine schlichte Antwort, ehe er sich abwendet und geht. Einfach so. „Tz“, mache ich abfällig, verlasse den Raum durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite und weiß tatsächlich nicht, was ich jetzt tun soll. Mein Leben befindet sich derzeit in der Schwebe. Dauernd passiert was, aber nichts bringt mich auf den Boden zurück. Alles ist einfach nur abgedreht. Ich spiele mit dem Handy in meiner Jackentasche, frage mich immer öfter, ob ich Thomas nicht anrufen soll. Ein klärendes Gespräch wäre ein Anfang, aber ich glaube, dass ich dafür noch nicht bereit bin. Irgendwie fühlt es sich falsch an, bei Thomas den Anfang zu machen. Gerade als ich mich entschlossen habe, niemanden anzurufen, klingelt das kleine Teil auch schon. Das Display verrät mir, dass es Chris ist. Als ob ich nicht schon damit gerechnet hätte. „Hey“, hebe ich ab, lasse mich in einen der schwarzen Sessel fallen, die in der Eingangshalle herumstehen. „Hi. Wie geht’s dir?“ „Geht so“, gebe ich zu. „Mir ist langweilig.“ „Mir auch“, lacht er. „Sitze gerade vor meinen Hausaufgaben.“ „Wahnsinn“, bin ich ziemlich überrascht. „Woher der plötzliche Eifer?“ „Meine Mum zwingt mich“, seufzt Chris auf. „Sie hat sich zwei Wochen frei genommen und kontrolliert mich wie ein Schießhund. Selbst ins Studio darf ich nicht gehen.“ Da ich glaube, dass Sprüche à la ‚Sie will ja nur das Beste für dich’ bei Chris eher auf taube Ohren stoßen, schweige ich mich darüber lieber aus. In dieser Situation kann ich einfach nur das Falsche sagen. „Wo bist du gerade?“, fragt er mich nach einer Weile. „Im Studio“, antworte ich und wundere mich gar nicht über die plötzliche Stille am anderen Ende der Leitung. Ja, ich hätte auch nicht gedacht, dass ich hier mal freiwillig und alleine – zumindest fast – aufkreuzen würde. „Warum?“, kommt es nach einiger Zeit ungläubig zurück. „Lange Geschichte. Du musst Hausaufgaben machen“, versuche ich abzulenken. „Lass das, Raphael“, schnappt er angesäuert zurück. „Erzähl schon!“ „Sehen wir uns heute?“, will ich lieber wissen, werfe ihn damit erneut aus der Bahn. Sowas ist er von mir definitiv nicht gewöhnt, aber jetzt, nachdem ich eine Stimme gehört habe, will ich ihn einfach nur noch bei mir haben. Ich bin verwirrt, überfordert, gereizt und genervt – ich brauche einfach jemanden, der für mich da ist. „Ähm…“ „Komm schon!“, rede ich auf ihn ein. „Wenn deine Mum schlafen geht, klingelst du mich an, dann steh ich unter deinem Fenster schmiere und du kletterst aus dem Fenster.“ „Aus dem ersten Stock?“ „Klar. Ich fang dich auf“, verspreche ich ihm, nicht so sicher, ob ich das auch wirklich schaffe. Schließlich ist Chris nicht gerade eine Feder. „Na gut. Meinetwegen.“ „Nicht so enthusiastisch bitte!“, gebe ich ein wenig eingeschnappt zurück. „Übertreib’s nicht“, warnt er mich durchaus ernsthaft. „Okay. Dann bis heute abend“, lege ich nach seinem kurz eingeworfenen ‚Hmhm’ auf und habe ein seltsames Gefühl im Magen. Nicht unbedingt diese Schmetterlinge, die man sonst im Bauch hat. Eher ziemlich viel Galle und das Frühstück von heute morgen, das sich bemerkbar macht. Ich fühle mich schlecht und elend, gleichzeitig aber brauche ich Chris einfach. Ich wusste ja, dass ich ihm wehtun würde, wenn ich mich auf ihn einlasse und er selbst wusste es auch, aber… irgendwie ist es ein krasses Gefühl, wenn man weiß was man tun wird und was man damit anrichtet – und wenn es etwas Schlechtes ist. Um mich von mir selbst und meinem grummelnden Magen abzulenken verschwinde ich aus dem Studio, wo mich alles an Chris erinnert und schlendere ziellos durch die Straßen, dann durch die Innenstadt. Unterwegs treffe ich einige Bekannte, quatsche mit ihnen, begleite sie ein Stück, ehe ich wieder völlig allein durch die gegen streife. Mein Freundeskreis ist klein. Thomas, Erich, Chris. Jamie und Familie Vogel sind keine Freunde, aber eben Familie. Vielleicht sollte ich mal wieder öfters weg gehen und Leute kennen lernen. Allerdings wollen die meisten Kerle die auf mich zukommen immer nur das Eine. Aber darauf ist mir der Appetit vergangen. Zumindest bei Wildfremden. Man muss es ja nicht mit jedem treiben. Das führt mich irgendwie zu Zack. Außer einiger One-Night-Stands, hatte ich immer nur mit ihm Verkehr. Er war der Einzige, der mich jemals intim berühren durfte. Sonst hatte ich immer die Hosen an und ich habe bei anderen Männern kaum etwas anderes geduldet, als dass sie ihren Arsch hinhalten und sich mit ihren Händen an meinem Bett oder der Wand abstützen. Mehr Körperkontakt war nicht drin. Ich bin zu nostalgisch. Immer hänge ich in anderen Zeiten fest. Meistens in einer, die hinter mir liegt. Aber ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie andere Menschen so schnell Dinge vergessen können, die ihnen wichtig waren und die sie geprägt haben. Der Nachmittag zieht ereignislos an mir vorbei und am frühen Abend entschließe ich mich dazu mir bei der Pommes Bude etwas zu essen und zu trinken zu kaufen. Von dort aus schlendere ich gemütlichen Schrittes zurück. Auch wenn Chris mich noch nicht angeklingelt hat und es dafür noch etwas dauern wird. Aber obwohl ich weiß wo er wohnt, habe ich mir nie die Gegend angesehen. Auf der Suche nach einem Spielplatz oder Park streife ich durch die ordentlichen Straßen, mit den weißen, hübschen Häusern, hinter deren Türen sicherlich nur Familien wohnen. Zumindest wirkt es so auf mich. Einige Querstraßen weiter finde ich tatsächlich einen kleinen Spielplatz. Zwei Schaukeln, ein kleiner Turm mit Rutsche und Hängebrücke und alles eingelassen in viel Sand. Ich setze mich auf die einsame Bank, verspeise die letzten Reste meiner Pommes und spüle mit einem Schluck Sprite nach. Wenn ich rauchen würde, wäre das jetzt ein guter Moment dafür. Ich werfe einen prüfenden Blick auf mein Handy, doch es ist erst kurz nach sieben. Vermutlich würde es sich sogar lohnen vorher noch einmal nach Hause zu gehen, zu duschen und umzuziehen. Während ich dieser Überlegung noch nachhänge klingelt mein Handy. „Hm?“, mache ich einfach nur, ohne aufs Display geschaut zu haben. „Meine Mum ist weggefahren. Du könntest vorbeikommen.“, meldet sich Chris. „Ist gut.“ Damit lege ich schon wieder auf. Allein diesen einen Satz von ihm zu hören hat mich in Rage versetzt. Ich weiß nicht woran es liegt, sicherlich jedoch an all den Dingen die mich beschäftigen und die ich versuche zu ignorieren. Versucht langsam gehe ich zurück, finde einen wartenden Chris im Türrahmen vor. Er trägt eine leichte Sporthose, darüber ein normales weißes Shirt. Seine Haare sind entweder hochgegeelt oder er hat zwischendurch ein Nickerchen gemacht, denn sie stehen zu allen Seiten ab, was ihn in meinen Augen unheimlich niedlich macht. „Hey“, grüßt er mich schon von weitem, streckt eine Hand nach mir aus und macht damit einen entscheidenden Fehler. Entschlossen trete ich auf ihn zu, packe ihn, dränge ihn ins Haus zurück, werfe die Tür hinter mir ins Schloss und drücke ihm einen ersten harten Kuss auf, den er zunächst nicht erwidert. Total überfahren hängt er in meinen Armen, schmiegt sich dann jedoch an mich und legt mir seine Hände in den Nacken. „Wohin?“, frage ich rau nach, schiebe mein Bein, zwischen seine, reibe damit über seinen Schritt, was ihn überrascht aufkeuchen lässt. „Mein Zimmer ist oben“, haucht er verwirrt und atemlos. „Zu weit“, bestimme ich, packe Chris an den Handgelenken, ziehe ihn durch die Tür zu meiner Linken, von der ich weiß, dass sie ins Wohnzimmer führt, dort dränge ich ihn bis an die gegenüberliegende Wand. Wir kommen neben einer Kommode zum stehen, auf der viele Fotorahmen stehen. Vollkommen ausgehungert küsse ich diese verführerischen Lippen, streichle über zarte Seiten, während ich nach wie vor mein Knie sanft an seinem Schritt reibe. Chris kommt gegen mich nicht an, er seufzt und stöhnt, windet sich und versucht ein ums andere Mal seinen Mund frei zu bekommen um etwas zu sagen, doch ich lasse ihn nicht. Seine Hände krallen sich in meine Jacke, die ich noch immer trage, reißen an ihr, seine Lippen hören auf sich mit den meinen zu bewegen, sein Kopf sackt nach hinten, offenbart mir seinen Hals, an dem ich zu saugen beginne, sobald ein überwältigtes Stöhnen seine Kehle verlässt. Während ich ihm sicherlich einige Dutzend Knutschflecke am Hals hinterlasse, tausche ich mein Knie gegen meine rechte Hand, massiere seinen Schritt eingehend, stehle mich unter die Hose, die ich bis zu seinen Waden hinunter rutschen lasse. Meine Linke schiebe ich von unten unter sein Shirt, fahre seinen Rücken hinauf und packe ihn im Nacken. So halte ich ihn unnachgiebig fest, während seine Knie zu zittern anfangen und fast unter ihm nachgeben. „Rapha…“, kommt es atemlos aus seinem Mund und er versucht sich von mir wegzudrehen, obwohl sich sein Becken auffordernd meiner Hand entgegenstreckt. Ich reiße am Bund seiner Boxershorts, schiebe sie gerade soweit hinunter, dass ich an alles Wichtige dran komme und fasse schlussendlich sein Glied, reibe es hart und lasse es sich vollkommen aufrichten. Ein spitzer Laut verlässt seine Kehle, er legt eine Hand auf meine, gräbt seine Finger in meine Haut, doch reißen die Gefühle ihn zu sehr mit, als das er genug Kraft gegen mich aufbringen könnte. „Lass… hör auf…“, stöhnt er verzweifelt, in seinen Augenwinkeln funkeln die ersten Tränen. Ich weiß, dass mehr folgen werden. Ich weiß, was ich ihm gerade antue, aber ich kann nicht anders. Ich bin gestört genug um mich nicht von seinen Protesten beeindrucken zu lassen. „Tut mir leid“, flüstere ich ihm ins Ohr, beiße danach in seinen Hals, während ich mit meiner Hand immer wildere Bewegungen vollführe, die ihn gänzlich lahm legen. Nach allem was ich von Chris weiß, ist das hier vielleicht seine dritte oder vierte sexuelle Erfahrung. Und es tut mir aufrichtig leid, dass es nicht das ist, was er sicht erhofft hat, aber ich bin so verkommen in meinem Inneren, dass ich im Moment keinen anderen Weg für mich sehe. „Tut mir leid“, flüstere ich erneut, gleite küssend und streichelnd an ihm herab, lasse ihn mit mir an der Wand entlang nach unten rutschen, lege meine freie Hand auf sein Gesicht, beuge mich über seinen Schritt und nehme nun auch meinen Mund dazu. Chris entfährt ein spitzer Schrei und als ich ihm die Hand über die Lippen lege, beißt er unnachgiebig in meinen Finger. Ich zucke zusammen, unterbreche jedoch nicht meine Arbeit, treibe ihn weiter vorwärts. Auch wenn das hier alles nicht ideal ist, kann Chris sich gegen seine eigene Erregung nicht wehren. Sein Unterleib beginnt unkontrolliert zu zittern. Ich folge den Bewegungen so gut ich kann, lecke immer wieder der Länge nach über den Schaft, sauge an der Eichel, lasse den gesamten Penis ein und aus gleiten. Chris’ Laute sind eine Mischung aus unterdrücktem Stöhnen, schweren Atemzügen und Schluchzen. Ihm gefällt es ganz und gar nicht, aber ich kann nicht aufhören. Ich brauche ihn. Ich will nicht reden, nicht denken. Ich will einfach nur sein. Ob das einen Sinn ergibt oder nicht, danach frage ich nicht. Mir ist einzig und allein wichtig, dass ich genau weiß, dass ich das hier jetzt brauche und machen muss. Mit einem letzten Stöhnen kommt Chris in meiner Hand. Ich ziehe meinen Finger weg und betrachte den Abdruck seiner Zähne darauf. Es tut ganz schön weh. Verschwitzt und schnell atmend sitzt er vor mir, Tränen strömen über seine Wangen. Zögernd strecke ich meine Hand nach ihm aus, fürchtend, dass er vor mir zurück zucken wird. Doch als meine Finger seine warme Haut berühren, öffnet er nur flatternd seine Lider. „Es tut mir leid“, flüstere ich. „Mir auch“, lautet seine raue Antwort, ehe er den Kopf gegen den Schrank sinken lässt. Chris weiß, dass er benutzt wurde. Ich weiß es auch. Zwischen uns gibt es nichts mehr zusagen. Mit einem letzten Blick auf ihn zurück, schließe ich die Tür hinter mir, verlasse sein Haus, seine Gegenwart, und trolle mich zu meiner Wohnung zurück. Heiße Tränen, die ich nicht aufhalten kann, laufen unaufhaltsam und bezeugen, dass ich mich schuldiger fühle, als jemals zuvor. --- Kapitel 18: Du bist ein Heuchler (2001 / 10) -------------------------------------------- 18. Kapitel - 2001 (Oktober) Zwei ganze lange Wochen höre ich weder von Thomas noch von Chris etwas. Bei Ersterem überrascht es mich etwas, bei Letzterem nicht. Mittlerweile ist Oktober geworden, die Bäume stehen in allerlei Farben und die Räumungsdienste sammeln das erste mickrige Laub von den Straßen ein. Ich hocke einfach nur in meiner Wohnung, tue nichts, als mich selbst zu bemitleiden und zu verfluchen. Letztendlich bin ich auch nicht drum herum gekommen über die geschehenen und gesagten Dinge nachzudenken. Deswegen warte ich auch jetzt auf meinen kleinen Bruder. Jamie hat sich mit Martina in der neuen Wohnung gut eingerichtet, mich auch mehrmals eingeladen sie zu besuchen, was ich jedoch immer abgelehnt habe. Martina beginnt nun ihr Jura-Studium, er selbst bereitet sich auf die Prüfungen Anfang nächsten Jahres vor, verlebt ansonsten seinen neuen Alltag. Er scheint glücklich zu sein. Ab und an hat sich auch Erich mal gemeldet. Zwei oder drei Mal war ich im Laden, hab nach dem Rechten gesehen, mehr jedoch auch nicht. Als Mitinhaber bekomme ich auch so mein tägliches Geld. Ich habe Natalie zu meiner Assistenzchefin gemacht und sie schmeißt den Laden ganz gut. Für Erich soll es bald nach Frankreich gehen. Anfang Januar will seine Mutter ihn mit nach Paris nehmen. Thomas verfolgt weiterhin seine Ausbildung als Kindergärtner. Aber was er seit unserem Streit getrieben hat, weiß ich nicht. Normalerweise ist er immer derjenige gewesen, der auf mich zugekommen ist. Dieses Mal scheint er jedoch auf mich zu warten. Dabei fällt mir so was immer so schwer. Die Türklingel schreckt mich aus meinen Gedanken und langsam erhebe ich mich. Natürlich erwarte ich meinen kleinen Bruder, deswegen fällt meine Freude bei seinem Anblick eher spärlich aus. Kritisch werde ich von ihm gemustert, ehe er mir eine große Einkaufskiste voller Tupperware in die Hände drückt. „Ich habe alarmierende Berichte von verschiedenen Seiten gehört, dass du dich wohl gerade nicht sonderlich nett behandelst. Deswegen habe ich dir ein drei Gänge Menü gekocht, damit du mir wenigstens nicht an mangelnder Ernährung sterben kannst.“ „Werd ich schon nicht“, wehre ich ab, was Jamie allerdings dazu veranlasst geradewegs in die Küche zu laufen und den Kühlschrank aufzureißen. „Ich seh’s“, kommentiert er die darin vorherrschende Leere. Derzeit esse ich, wenn überhaupt, meistens die Reste meines Müslis oder einige Brotscheiben mit Käse. Mehr braucht der Mensch schließlich nicht. Wasser ist genug da, also werde ich erst innerhalb von vier Wochen oder so sterben. Mein kleiner Bruder nimmt mir die Kiste wieder ab, sortiert die Dosen in den Kühlschrank ein und wirft mir einen mahnenden Blick zu. „Ich komme am Wochenende wieder und wenn du dann nicht mindestens die Hälfte davon gegessen hast, lasse ich dich Zwangsernähren.“ „Scheinbar hat da einer mit Thomas gesprochen“, bemerke ich spitz. „Ja, habe ich“, kommt es trocken zurück. Jamie schiebt mich schließlich ins Wohnzimmer, platziert mich auf dem Sofa, während er in der Küche herumzuwerkeln beginnt. Er hat auch einige Lebensmittel mitgebracht und hat sich scheinbar für das klassische Rührei mit Spinat und Püree entschieden. Keine fünf Minuten später steht jedoch erst einmal eine Tasse dampfenden Früchtetees vor mir. „Trink das. Wird dir mal ganz gut tun.“ Folgsam ergreife ich die Tasse vor mir, puste, wirble die Oberfläche auf und wärme meine kalten Hände daran. Scheinbar macht mein Kreislauf schlapp, wenn ich jetzt schon so eisige Finger habe. Als ich die Hälfte der Tasse ausgetrunken habe, kommt Jamie mit einem Teller wieder, den er vor mir auf den Wohnzimmertisch stellt. Auffordernd hält er mir Messer und Gabel hin. Und weil er mein kleiner Bruder ist und mein Magen sich bei dem Geruch von frischem Essen verräterisch meldet, nehme ich beides in die Hand und fange an zu essen. Jamie selbst trinkt nur eine weitere Tasse des Tees, sitzt ansonsten schweigend neben mir, beobachtet mich. Als ich nach einem Drittel wieder aufhören will, hebt er drohend einen Zeigefinger und nötigt mich, auch den Rest aufzuessen. Danach fühle ich mich ziemlich rund und satt. „Geht doch“, murmelt er, streckt eine Hand nach mir aus, der ich allerdings ausweiche. Überrascht hebt er eine Augenbraue, spart sich allerdings einen Kommentar und beginnt von sich aus über die Dinge zu reden, die in den letzten Wochen passiert sind. „Ist es wegen dem was Thomas dir erzählt hat?“ „Er hat mir gar nichts erzählt“, wehre ich ab. „Ich denke aber, dass er durchaus ein paar Dinge erwähnt hat, die dich ziemlich beschäftigt haben.“ Ich schweige daraufhin. Warte einfach auf alles was da wohl kommen mag. Von Jamie kommt jedoch erst einmal nur ein tiefer Seufzer. „Rapha“, fängt er an, bricht allerdings aus Ermangelung an Worten wieder ab. Er sieht mich mit einem gepeinigten Blick an, ringt die Hände, die er in seinem Schoß gefaltet hat und erst jetzt fallen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. Scheinbar hat er in der letzten Zeit nicht gut geschlafen. Innerlich versuche ich mich gegen alles zu wappnen, aber letztendlich kann mich nichts auf das kommende Geständnis vorbereiten. „Weißt du, Rapha, ich habe in der letzten Woche ziemlich viel mit Thomas geredet. Er hat mir von eurem Streit erzählt und er hat ganz unmissverständlich klar gemacht, dass es da eine Sache gibt, die ich dir endlich mal erzählen sollte.“ Jamie wartet auf ein Zeichen von mir, aber ich kann nichts sagen, nichts tun, weil ich überhaupt nicht weiß, worum es hier geht. Scheinbar bin ich wohl der Einzige gewesen, der irgendwas ganz Entscheidendes verpasst hat. „Wie war Vater zu dir, bevor ich geboren wurde?“, fragt Jamie recht unvermittelt und für einige Minuten starre ich ihn wortlos, mit geöffnetem Mund an. Das ist eine Frage, die ich nicht erwartet hätte. „Was…?“, mache ich nur verständnislos, doch Jamie fährt mir dazwischen. „Du bist acht Jahre älter als ich, also hattest du einige Zeit allein mit unseren Eltern. Wie waren sie zu dir? Ganz am Anfang?“ „Nett“, antworte ich schlicht, sammle mich und beginne ernsthaft darüber nachzudenken. Es ist lange her. Mehr als zwanzig Jahre. Ich starre unentschlossen auf meine Finger, trinke immer wieder einen Schluck des Tees, bemühe mich darum, alte Erinnerungen wieder auftauchen zu lassen, die ich so lange tief in mir drin verschlossen habe. „Mum war fast genauso wie heute. Sie dachte immer an Vater, war aber nicht ganz so verwirrt wie sie es jetzt ist. Sie war lieb zu mir, nie streng, aber auch nie wirklich… mütterlich“, beginne ich schließlich. „Vater hat mich ab und zu angelächelt, mir auch mal über den Kopf gestreichelt, aber er hat sehr selten mit mir gesprochen. Meistens saß er hinter seinem Schreibtisch und hat gearbeitet.“ „Wann hat er angefangen dich zu schlagen?“, horcht Jamie nach, jagt mir damit einen eiskalten Schauer über den Rücken. „Als ich sechs wurde.“ „Warum?“ „Ich weiß nicht“, gebe ich zu. „Es passierte einfach eines Tages. Ich war draußen Fußballspielen gewesen, mit einigen Jungs aus meiner Klasse und anderen Kindern von der Straße. Es hat geregnet und wir waren alle nass und schmutzig. Als Mum mich zum Abendessen reingerufen hat, bin ich einfach durch die Tür gerannt und stand im Flur. Er kam die Treppe runter, sah auf die Pfütze zu meinen Füßen und verpasste mir eine Ohrfeige. Er sagte nicht warum er mich geschlagen hatte und er sagte auch nicht, dass ich den Boden wischen sollte. Letztendlich schlug er mich einfach. Ich weiß noch, dass Vater den Flur nie gemocht hat. Er mochte die Fliesen nicht. Damals waren sie… hellgrau. Er wollte immer weiße Fliesen haben. Deswegen habe ich nicht verstanden, warum er mich schlug. Er mochte die Fliesen schließlich nicht.“ „Wann hat er angefangen dich auszuschimpfen?“ „Jamie…“, stöhne ich auf, doch mein kleiner Bruder schüttelt nur den Kopf. „Es ist wichtig. Wann hat er angefangen dich auszuschimpfen?“, wiederholt er energischer. „Ich weiß nicht genau wann. Meistens schlug er mich einfach. Er hat nie mit mir gesprochen, außer, wenn ich mit Zack oder anderen Jungen zusammen gespielt habe. Dann hat er angefangen zu schreien, mich eine Schwuchtel genannt“, antworte ich leise. „Und dann bist du abgehauen?“ „Weißt du doch. Mit Sechzehn bin ich gegangen. Nachdem er Zack und mich erwischt hat.“ „Hattest du Angst?“, dringt Jamie weiter in mich ein. „Das er mich schlagen würde?“ „Ja“, sage ich. Nun etwas lauter als zuvor. „Ich habe gedacht, dass es dir genauso ergeht wie mir. Zehn Jahre habe ich seine Schläge ertragen, deswegen wollte ich dich unbedingt vor ihm beschützen.“ „Er hat mich nicht geschlagen, Raphael“, gesteht Jamie leise, kann mir dabei nicht mal in die Augen sehen. Seine ganze Gestalt ist eingesunken, er hat seine Hände fest gegen seine Stirn gepresst. Er zittert. „Jamie, was willst du mir damit sagen?“, frage ich nach. „Du hast die ganzen acht Jahre geglaubt, dass ich zu Hause misshandelt werden würde, dass ich durch die gleiche Hölle gehen würde wie du… aber das bin ich nicht, Raphael.“ „Ich versteh dich nicht…“, gebe ich verwirrt zurück. „Vater hat mich nicht geschlagen! Ich wurde nicht misshandelt!“, wiederholt Jamie lauter, trotzdem will ich immer noch nicht begreifen. Verzweifelt greift er nach meinen Händen, drückt sie fest an seine Brust, schüttelt immer wieder den Kopf. Scheinbar weiß er nicht, wie er mir seine Sache verständlich machen soll. „Was ich dir damit versuche zu sagen ist: Ich habe dir all die Zeit nur etwas vorgespielt.“ Diese Aussage fällt auf mich nieder wie ein Hammerschlag. Bewegungslos sitze ich da, starre meinen kleinen Bruder an, der sich so fest auf die Lippe beißt, dass diese unter seinen Zähnen anzuschwellen beginnt. Jamie hat mir etwas vorgespielt? „Mutter und Vater haben mich nie geliebt, nie. Und das wusste ich vom allerersten Augenblick meines Lebens. Aber du hast mich geliebt. Du warst immer für mich da, Raphael. Als du gegangen bist, musste ich alleine zurecht kommen. Es war nicht schwer, schließlich gab es für mich nur eine Regel: Sei für deinen Vater unsichtbar! Und das bin ich gewesen. Vater hat nicht interessiert was ich treibe. Er hat mich nie, in meinem ganzen Leben, auch nur eines Blickes gewürdigt. Er hatte seine tägliche Routine, wie ein vorgezeichneter Weg, den er abgegangen ist. Auf diesem Weg durfte ich nicht auftauchen, dann war alles prima. Er hat mich nicht gesehen. Mutter hat sich soweit um mich gekümmert, dass ich weder verhungert bin, noch das ich ohne Kleider rumlaufen musste. Ich habe eine gute Schule besucht, meinen Realschulabschluss gemacht, kein Problem. Und dann bist du gekommen und hast mich geholt. Aber Raphael, ich hatte Angst! Du warst der einzige Mensch, der sich um mich gekümmert hat, trotzdem warst du an jenem Tag ein Fremder für mich. Wir haben uns acht Jahre nicht gesehen und es ist kaum ein Brief von dir gekommen, ich hatte nur noch schwache Erinnerungen an dich. Und die letzte Szene von dir, die ich lebhaft vor Augen hatte, war die mit Zack. Ein fremder, schwuler Bruder nimmt mich zu sich. Ich hab totale Panik bekommen. Und dann bist du auch noch jemand, der immer sehr schnell auf Tuchfühlung geht. Du hast etwas in mir gesehen, was ich in dir nicht finden konnte. Einen Vertrauten. Ich habe mich schnell an dich gewöhnt und wollte dir schon früh sagen, dass ich nicht der bin, den du in mir siehst. Aber als du mir dann erzählt hast, was du alles für mich hinterlassen hast, konnte ich es nicht. Ich hätte dir das Herz gebrochen und das wollte ich nicht. In der Zwischenzeit habe ich dich nämlich wirklich in mein Herz geschlossen und durch deine Geschichten aus unserer Kindheit, die du mir abends erzählt hast, habe ich mich an manche Dinge wieder erinnert, aber das Gefühl war ein anderes. Für dich was alles real. Für mich nur ein ferner Traum. Raphael, ich war erst acht, als du von Zuhause weg bist. Und eine Kindheit ohne jemanden zu verbringen, der dich liebt, lässt dich einiges ziemlich schnell vergessen oder für ein Hirngespinst abtun. Mir ging es nicht schlecht und ich konnte damit leben ungeliebt zu sein, aber ich habe immer befürchtet, dass du mich raus wirfst, wenn ich dir nicht vorgaukle der kleine, arme Bruder zu sein, den du in mir gesehen hast.“ Lange Zeit schweige ich auf diese immense Eröffnung. Mit einem Mal scheint mir ein Fremder gegenüber zu sitzen, der versucht mir zu erklären, dass die Erde nicht rund, sondern eine Scheibe ist. Wenn der Jamie den ich kenne und liebe, nicht der Echte Jamie ist, wo ist dann mein wirklicher kleiner Bruder hin? Und wer ist der Mann, der vor mir sitzt? Habe ich die ganze Zeit nur einem Traum nachgejagt? Eine Fata Morgana geliebt? Ich reiße meine Hände von Jamie los, rutsche an das andere Ende der Couch und wende mich von ihm ab. Ich kann ihn nicht ansehen. Alles an ihm erscheint mir falsch. Mein kleiner Bruder hat zu Hause auf mich gewartet. Ich habe immer vor mir gesehen, wie er die Arme nach mir ausstreckt, wenn ich ihn abholen komme. Er hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht und ist mir entgegen gelaufen. Das war acht lange Jahre mein Traum für Jamies Rückkehr. Mein Ein und Alles. Wo ist der kleine Junge, den ich so abgöttisch geliebt habe, weil er der erste Mensch in meinem Leben war, der mich mit einem Lächeln abgesehen hat? Hatte ich die ganze Zeit nur eine billige Kopie vor mir? „Raphael…“, höre ich Jamies leise Stimme hinter mir. „Es tut mir leid. Ich konnte dir das doch nicht alles nehmen. Dein kleiner Bruder war deine ganze Hoffnung, aber… ich kann nicht dieser Junge sein. Ich bin stark, Raphael, ich muss nicht beschützt werden.“ „War es auch eine Lüge, wenn du mir gesagt hast, dass du mich lieb hast?“, frage ich mich erstickter Stimme, kann meine Tränen kaum noch zurückhalten. „Nein“, kommt es schlicht zurück. Fahrig wische ich mir über die Augen. So gerne würde ich mir das Herz herausreißen. Dieses verdammte Ding, das so weh tut in meiner Brust. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will das alles nicht hören! „Ich liebe dich wirklich. Du bist mein großer Bruder und so sehe ich dich und so empfinde ich dir gegenüber. Aber anders als du es dir wünscht, bist du nicht mein Lebensinhalt. Und ich kann auch nicht der deine sein. Ich sollte es nicht sein. Das kann ich nämlich nicht erwidern.“ „Und was heißt das?“ „Das heißt“, rückt er näher an mich heran, schlingt seine Arme um mich, die mir in diesem Moment wie Schlangen auf meiner blanken Haut vorkommen. „Das ich immer für dich da bin, dich immer lieb haben werde und mir auch immer Sorgen um dich machen werde. Ich kümmere mich um dich und werde immer ein Teil deiner Familie sein.“ „HEUCHLER!“, brülle ich ihn an, stoße ihn von mir, drehe mich abrupt um und renne ins Schlafzimmer. Einfach nur weg von diesem Kerl! Energisch drehe ich den Schlüssel im Schloss herum, sinke an der Tür hinab und breche in Tränen aus. Mein ganzes Leben war eine einzige, große und beschissene Lüge. Mein kleiner Bruder, ein Hochstapler und Lügner, mein bester Freund ein Intrigant und Mitwisser! Alles Heuchler und Aasfresser! Als ob es jemals irgendwen gekümmert hätte, wie es mir geht! Es hat doch keinen interessiert, was für einen Scheiß ich mir reinziehen muss! Thomas lebt in seiner verfickten Bilderbuchfamilie und ist eh immer der Sonnenschein vom Dienst! Und Erich kümmert das alles einen Dreck, schließlich haut er bald ab nach Frankreich! Oh, und seit neustem ist Jamie ein verlogener Bastard der auf Kosten anderer lebt. Schön! Prima! Einfach super! Hey, ich bin glücklich mit meinem Leben, könnte nicht besser laufen. Ich meine, wer braucht schon Eltern, Geschwister oder Freunde?! Ich ganz bestimmt nicht, damit bin ich durch! Fuck! Immer wieder donnere ich meinen Kopf gegen das Holz in meinem Rücken, als ob ich so all die Gedanken aus meinem Hirn bekommen könnte. Am liebsten würde ich mir das Herz herausreißen. Aber wahrscheinlich ist sowieso nicht mehr viel davon übrig. Bisher hat ja so ziemlich jeder darauf rumgetrampelt. Mit mir kann man es ja machen! Bin ja nur der Trottel vom Dienst! „SCHEIßE!“, brülle ich meine Wut und meinen Frust heraus. „FUCK! FUCK! FUCK!“ Gott, dass ist mir zu viel! Alles zu viel. Genug, aus, Schluss! Ich will nicht mehr! Mir egal was alle anderen machen, aber ich hab keinen Bock mehr bei dem Müll dabei zu sein. Wenn mich scheinbar eh keiner hier haben will, kann ich genauso gut gehen. Ist ja nicht so, als wäre ich auf diese Wichser angewiesen. Entschlossen stehe ich auf, trete auf meinen Schrank zu, fische mir meine große Sporttasche von oben herunter und werfe relativ wahllos alles hinein, was ich kriegen kann. Hauptsache ich habe Klamotten, meinen Ausweis, ein bisschen Kleingeld, dann passt das schon. Ich schließe die Tür auf, schultere die Tasche und treffe im Wohnzimmer auf einen heulenden Jamie. Aber seine Tränen berühren mich nicht. Schließlich war es nicht sein Leben, das gerade gründlich zertrampelt worden ist. „Wo… wo gehst du hin?“, fragt er brüchig. „Geht dich nichts an, Arschloch!“, zische ich wütend zurück, schnappe mir noch meinen Schlüsselbund von der Anrichte und drehe mich ein letztes Mal zu dem Stück Scheiße namens ‚kleiner Bruder’ um. „Schließ ab, wenn du gehst.“ Damit rausche ich durch den Flur, zur Wohnungstür hinaus und die fast endlosen Stufen der Treppe hinab. Hinter mir kann ich Jamie rufen und schreien hören, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er mir hinterher rennt, aber ich achte nicht auf ihn. Endlich draußen angekommen, nehme ich die Beine in die Hand, beginne zu rennen und bin ziemlich schnell außer Sicht des Hauses. Jamie hat keinen Führerschein, dementsprechend auch kein Auto, also wird er mir nicht lange auf den Fersen bleiben. Er ist ein unheimlich schlechter Läufer. --- Energisch schiebe ich mich Hans-Wilhelm vorbei in dessen Wohnung, knalle meine Sporttasche neben das Sofa, lasse mich darauf fallen und starre die nächste halbe Stunde grimmig vor mich hin. Ich will nicht reden, nicht denken. Nein, am liebsten würde ich mir die Kugel geben, mich dabei aufhängen und am besten noch ertränken. Nur beim vierteilen bräuchte ich Hilfe. Hans-Wilhelm steht nur einen Moment im Türrahmen, mustert mich eingehend und verschwindet dann in seinem Arbeitszimmer. Ich kann ihn auf Englisch reden hören. Da ich allerdings außer Deutsch keiner Sprache mächtig bin, verstehe ich kaum was er sagt. Er redet viel zu schnell und mit nur mit einem geringen Akzent. Nicht, dass ich mehr verstehen würde, wenn er anders reden würde. Irgendwann ziehe ich die Couch aus. Zwar habe ich noch nie hier übernachtet, aber da Hans-Wilhelm mir angeboten hatte, bei ihm zu schlafen, weiß ich, dass er neben seinem Bett nur das ausziehbare Sofa hat. Es ist ziemlich bequem, scheinbar eine richtige Luxusanfertigung. Willkürlich greife ich mir ein Shirt aus meiner Tasche, streife es mir über, nachdem ich alle meine Klamotten in irgendeine Ecke gepfeffert habe und mache mich dann auf die Suche nach Bettzeug. Das scheint er irgendwo anders aufbewahrt zu haben. Im ersten Schrank finde ich allerlei Wein- und Sektgläser, einiges an gutem Geschirr und Silberbesteck. Scheinbar ist ihm das zu wertvoll als es in einem Keller oder der Küche vergammeln zu lassen. Einen weiteren Schrank daneben finde ich Spirituosen und Weine. Die Versuchung ist groß, aber ich widerstehe ihr. Noch einmal möchte ich nicht mit einer Beinahe-Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen. Sehr unschöne Sache. Außer Büchern und sonstigem Papierkram kann ich dann nichts mehr aufstöbern. Also lagert er das Bettzeug wahrscheinlich doch im Schlafzimmer. Warum er beides so umständlich trennt ist mir zwar schleierhaft, muss mich jedoch auch nicht weiter stören. Ich suche hinter all den verschlossenen Türen nach dem Richtigen Raum, finde ihn im dritten Anlauf – davor habe ich das Bad, einen größeren Vorratsraum samt Putzutensilien, und eine Art Kinderzimmer gefunden – und durchwühle auch hier ein wenig die Schränke. Es ist zwar furchtbar unhöflich, aber erstens glaube ich nicht, dass Hans-Wilhelm groß etwas dagegen hat und zweitens bin ich gerade nicht in der Stimmung um auf andere Rücksicht zu nehmen. In der oberen Ablage des Kleiderschrankes werde ich schließlich fündig. Auch die Überzüge finde ich. Damit beladen kehre ich wieder ins Wohnzimmer zurück und mache mich an die Arbeit, Kissen und Decke zu beziehen. Da ich seine Stimme nicht mehr hören kann, nehme ich an, dass sein Gespräch beendet ist. Und obwohl ich mich schon auf eine Fragerunde eingestellt habe, passiert eine weitere halbe Stunde nichts mehr. Irgendwann wird mir das bloße rumsitzen zu blöd und ich bediene mich an einem der beiden schmalen DVD Regale. Eine bunte Mischung. Teilweise sind auch Filme dabei, die ich einem wie Hans-Wilhelm gar nicht zugetraut hätte. Arnold Schwarzenegger noch und nöcher, sogar Chuck Norris ist vertreten. Das geht eindeutig über meine Schmerzgrenze hinaus. Trotzdem lege ich schließlich einen altbewährten Arni-Streifen rein. Gemetzel ist immer gut. Der Film läuft zwar vor meinen Augen ab, sehen tue ich ihn allerdings nicht. Stattdessen habe ich Jamies Gesicht vor mir, dann den Streit mit Thomas und schließlich die Dinge, die ich Chris angetan habe. Ich frage mich, ob es nicht ein Fehler war hierher zu kommen. Allerdings kenne ich sonst niemanden, der mich ohne groß zu fragen bei sich aufnimmt und mir meine Freiheiten lässt. Hans-Wilhelm ist ein ruhiger Charakter, sehr in sich gekehrt und ich glaube solange man ihn in Ruhe lässt, hat er kein Problem mit einem. Aber er ist herzensgut und sehr hilfsbereit. Hier ist wirklich ein Ort, an dem man sich mal verkriechen kann. Und wenn er nicht auch gerade zu einem Lügner mutiert ist, dann weiß bisher niemand außer uns zweien, dass ich hier sein könnte. Schließlich habe ich weder Thomas, noch Jamie, noch sonst irgendwem erzählt, dass es Hans-Wilhelm war, der mich nach meinem Zusammenbruch zu sich nach Hause genommen hat. „Heiße Schokolade mit Marshmallows, Raphael?“, fragt Hans-Wilhelm unvermittelt und ich zucke erschrocken zusammen. Ich drehe mich um und starre ihn einen Augenblick lang wie eine Kuh an. Er steht im Türrahmen, hat die rechte Hand lässig in die Tasche seiner Anzughose gesteckt, dass weiße Hemd ist bis zum Kragen zugeknöpft, doch die Krawatte fehlt. „Gern“, antworte ich leise, schäme mich mit einem Mal für mein rüdes Eindringen. Ohne ein weiteres Wort, aber mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, verschwindet Hans-Wilhelm zunächst im Bad dann in der Küche. Als er nach rund einer Dreiviertelstunde wiederkommt, hat er sich eine einfache Jogginghose und ein braunes Shirt angezogen, trägt zwei Tassen vor sich her und hat eine Tüte unter den Arm geklemmt, die bei jedem seiner Schritte knistert. Ich rücke auf dem Sofa ein wenig nach rechts und mit einem leisen Ächzen, setzt er sich neben mich, reicht mir meine Tasse und wirft die Tüte voller Marshmallows auf den niedrigen Wohnzimmertisch vor uns. „Das Geheimrezept meiner Mutter“, sagt er leise. „Wogegen?“ „Ah, gegen alles“, schmunzelt er. „Es ist die klarste Erinnerung an meine liebe Mutter. Ihre junge, schließlich alte Hand, die mir eine Tasse reicht, der Duft von Schokolade liegt in der Luft und ein weißer Marshmallow tanzt vor meinen Augen auf und ab.“ Er seufzt leise und lächelt mir dabei zu. „Glauben Sie mir, wenn ich eines Tages senil geworden bin, werde ich glauben, dass meine Mutter der Marshmallow war.“ Unwillkürlich muss ich lachen, was mich selbst ein bisschen erschreckt. Für Hans-Wilhelm ist es scheinbar so einfach all meine schlechten und negativen Gefühle und Gedanken einzuwickeln und wegzusperren. Nicht für immer, aber immerhin für einen Moment. Es ist wie bei Chris. Bei beiden erlebe ich diese seltenen Augenblicke, in denen ich mich völlig frei und entspannt fühle, als ob nichts weiter wichtig wäre, als das was wir gerade tun. Und wenn wir nur heiße Schokolade trinken. „Mögen Sie solche Filme?“, frage ich nach einer Weile in die Stille hinein, nicke dabei zum Fernseher hin, der kaum unser beides Interesse erregt. Scheinbar hat auch Hans-Wilhelm ganz andere Gedanken. „Hm“, macht er nur. „Eigentlich nicht. Als Künstler könnte ich über sie philosophieren, aber das ist mir zu anstrengend. Und sinnlose Gewalt lehne ich ab.“ „Warum haben Sie dann so viele davon?“ „Die meisten waren Geschenke von Freunden oder Arbeitgebern in den Vereinigten Staaten. Die konnte ich natürlich nicht ablehnen. Manchmal habe ich sie mir auch selbst gekauft. Warum, kann ich nicht mehr sagen.“ Stutzig geworden, höre ich zum ersten Mal hin und stelle fest, dass der Film tatsächlich schon die ganze Zeit auf Englisch gelaufen ist und ich im Grunde kein Wort verstanden habe. Nicht, dass das bei solch handlungslosen Filmen groß von Bedeutung wäre. Die verbleibenden anderthalb Stunden sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich brauche keinen Dialog um zu begreifen worum es geht: Arni bekämpft Mönche und Verrückte, am Ende sogar einen Dämon um eine ziemlich nervige, ewig heulende Frau zu retten und stürzt sich am Ende selbst ein Schwert, weil der Dämon von ihm besitz ergriffen hat. Wahnsinn! Ich bin begeistert… nicht. Gerade als der Abspann beginnt, klingelt es an der Tür. Ich zucke erschrocken zusammen, wage es jedoch nicht mich zu rühren. Irgendwie wäre es auch albern mich zu verstecken. Trotzdem würde ich gerade nichts lieber tun. Hans-Wilhelm erhebt sich, stellt seine Tasse ab und geht gemächlich durch die Wohnung, den kleinen Flur bis hin zur Tür, die er öffnet. Er sagt etwas, was ich aufgrund der Entfernung nicht verstehen kann. Geräusche ertönen, die darauf schließen lassen, dass der Besuch vor hat länger zu bleiben und sich hier ein wenig häuslich einzurichten. Innerlich bis aufs äußerste gespannt hoffe und bete ich, dass es niemand ist, den ich kenne. Allerdings wird mir nicht einmal dieser Wunsch erfüllt, als keine Sekunde später niemand anderes als Chris durch die Wohnzimmertür marschiert kommt. „Hi Raphael“, grüßt er knapp in meine Richtung, verschwindet dann sofort in der Küche. „Wo ist denn meine Lieblingstasse, Opa?“, ruft er nach einem Moment hinaus, den Hans-Wilhelm genutzt hat um ebenfalls ins Wohnzimmer zu kommen, die Tür zu schließen und die Heizung ein wenig aufzudrehen. „Ganz links“, gibt er als Antwort. „Nicht da“, kommt es von Chris zurück. Verdutzt wirft mir Hans-Wilhelm einen kurzen Blick zu und schmunzelt dann. „Entschuldige, Chris, ich habe deine Tasse wohl Raphael gegeben.“ Mein Blick richtet sich von selbst auf die Tasse, die ich krampfhaft in meinen Händen halte. Sie wird von unten nach oben breiter, ist vollständig abgerundet und trägt als Motiv die Rückansicht eines Pinguins. Als ich sie herum drehe, sehe ich, dass auf der anderen Seite die Vorderseite des Vogels zu sehen ist und zwischen seinen Beinen kann ich ein kleines Küken erkennen. „Yeah, Marshmallows!“, ruft Chris, als er nach kurzer Zeit ebenfalls ins Wohnzimmer kommt, sich prompt neben mir aufs Sofa fallen lässt und nach der Tüte auf dem Tisch greift. Er lässt zwei der weißen Würfel in seine Schokolade plumpsen und lehnt schließlich den Kopf nach hinten. Es irritiert mich das er da ist und noch viel mehr irritiert mich, dass er scheinbar ganz normal drauf zu sein scheint. Zwar hat er mich bisher weder groß angesehen noch berührt, aber immerhin hat er mich gegrüßt und sitzt ziemlich nah an mir dran. „Welchen Film möchtest du sehen?“, fragt ihn sein Großvater und ich bin nun beinahe wirklich versucht einfach aufzuspringen und mich in irgendeiner dunklen Schrankecke zu verstecken. Diese Situation überfordert mich maßlos. „Hast du ‚Der 13. Krieger’?“ „Der mit Antonio Banderas?“, hakt Hans-Wilhelm eher skeptisch nach. „Ja.“ „Ich dachte, du magst ihn nicht.“ „Tu ich auch nicht, aber der Schauspieler von Bulwai ist toll und dieser Blonde“, bemerkt Chris grinsend, angelt sich einen der beiden vollgesaugten Marschmallows aus der Tasse und kaut genüsslich darauf herum. Es dauert einige Minuten, bis Hans-Wilhelm den entsprechenden Film in seiner doch recht umfangreichen Sammlung gefunden und eingelegt hat. Und es sich grausame Minuten für mich, in denen ich nicht weiß, was ich sagen soll, ob ich das überhaupt will und in denen ich mich frage was zum Teufel gerade um mich herum passiert. Als der Streifen anfängt, rückt Chris noch näher an mich heran, macht seinem Großvater so auf dem Sofa Platz und greift schließlich nach meiner Hand, die er recht fest in seiner hält. Der Film ist dieses Mal auf Deutsch und da ich ihn auch noch nicht kenne, schafft er es sogar mich einigermaßen zu fesseln. Allerdings lenkt mich Chris’ Daumen, der sanft über meinen Handrücken streicht, enorm ab. „Chris…“, flüstere ich leise, einfach weil ich das Gefühl habe, dass wir darüber reden sollten. Über DAS was gerade passiert und über das was eigentlich meiner Meinung nach zwischen uns stehen sollte. „Pst“, kommt es nur zurück. Er hat mich nicht einmal angesehen. „Wir sollten…“ „Ich weiß“, sagt er. „Aber nicht jetzt, der Film.“ Sprachlos sitze ich neben Chris, der ganz gebannt den Film verfolgt. Immer wieder nippt er an seiner Schokolade, während meine ganz vergessen auf dem Tisch steht und ziemlich schnell erkaltet. --- Ungebetat und um 02:32 Freitagmorgen fertig gestellt Kapitel 19: Er und ich (2001 / 10) ---------------------------------- 19. Kapitel - 2001 Mit offenen Augen starre ich blind an die Zimmerdecke. Um mich herum ist es dunkel, nicht einmal durchs Fenster kommt ein wenig Licht. Alles ist still, mit Ausnahme des ruhigen, gleichmäßigen Atems neben mir. Vor mehreren Stunden, hat Hans-Wilhelm sich verabschiedet und sein Bett aufgesucht. Sein Enkel hingegen ist wach geblieben und hat den äußerst lächerlichen Film – wie ich finde – zu Ende gesehen, ehe er schließlich unsere Tassen und die Marshmallow-Tüte weggeräumt und sich im Bad umgezogen hat. Kurz darauf lag er neben mir, wünschte mir eine gute Nacht, drehte mir den Rücken zu und war kurze Zeit später eingeschlafen. Und das alles ohne noch einmal darauf einzugehen, dass ich eigentlich mit ihm reden wollte. Dreister Kerl! Aber auch nicht dreister als ich selbst gewesen bin. Seufzend wälze ich mich einmal herum, verschränke die Arme unter dem Kopf und blicke nun in die schwarze Leere vor mir. Ich kann nichts um mich herum erkennen, was es nicht unbedingt leichter macht. So bietet es mir genug Raum um über alles Mögliche nachzudenken und mich zu fragen, wann es diesen einen Punkt in meinem Leben gab, an dem einfach alles schief gelaufen ist. Ich drehe mich auf die eine Seite, dann auf die andere, schließlich setze ich mich auf. Weder kann ich schlafen, noch aufhören zu denken, noch mich entspannen. Normalerweise macht mich Chris’ Anwesenheit immer total entspannt, aber gerade jetzt, ist es genau das Gegenteil. Er ist sauer, natürlich ist er sauer! Schließlich hat er auch alles Recht dazu. Trotzdem ist er hier. Er geht mir nicht aus dem Weg, aber wirklich auf mich zugehen tut er auch nicht. Und ich selbst weiß nicht wie ich mich verhalten soll. Der Digitalanzeige des Receivers entnehme ich, dass ich bereits seit fünf Stunden wach und äußerst unruhig herum liege und entschließe mich, dem ganzen jetzt ein Ende zu machen. Vorsichtig stehe ich auf, taste mich in der Dunkelheit zu dem kleinen Berg heran, den meine Wäsche darstellt und greife wahllos hinein. Dann krabble ich weiter vorwärts, durch die nur angelehnte Tür ins angrenzende Badezimmer. Erst hier wage ich es, Licht zu machen, blinzle kurz dagegen an, ehe ich in die Jeans und das Shirt schlüpfe, während ich mich dabei frage, wo ich meine Zigaretten gelassen habe. Ich habe schon seit einigen Wochen nicht mehr geraucht, schließlich wollte ich aufhören, allerdings kann ich das in diesem Moment nicht. Ich brauche irgendetwas, was meine Hände beschäftigt, während ich denke. Langsam, beinahe Zentimeter für Zentimeter, schiebe ich mich vorwärts, auf die Tür zu, die mich meines Wissens nach in den Flur und somit nach draußen führt. Einmal stoße ich schmerzhaft gegen einen Schrank, unterdrücke tapfer jeden Fluch, habe die Klinke schon in der Hand, als hinter mir ein Licht aufflammt. „Willst du abhauen?“ Missmutig und verschlafen, trotzdem unglaublich niedlich sieht Chris mich unter seinen langen Haaren her an. Seine Finger umschließen noch den Schalter der kleinen Lampe, die irgendwo links von ihm steht, mit der Rechten stützt er sich ab. „Ich geh eine rauchen“, flüstere ich leise zurück. „Nicht ohne mich“, bestimmt er, rappelt sich hoch, greift sich seinen Pullover, streift ihn über und folgt mir in den Flur wo wir uns beide einfache Schuhe anziehen. Ich greife mir noch eine Jacke von Hans-Wilhelm, warte bis Chris seinen Schlüssel in all dem Wust auf der Kommode gefunden hat und gehe dann mit ihm die Stufen nach unten, öffne die Tür und trete hinaus in die äußerst frische Oktoberluft. Fröstelnd ziehe ich die Jacke enger um mich, greife nach meiner Zigarettenpackung und nehme mir eine heraus. Langsam, fast wie in Zeitlupe, schiebe ich sie mir zwischen die Lippen, zünde sie an und nehme den ersten beruhigenden Zug. „Habe ich dich geweckt?“, frage ich nach einer Weile, in der mir die Stille zu unangenehm geworden ist. Chris steht einen verletzend weiten Abstand von mir entfernt, beobachtet mich unablässig, macht aber erneut keine Anstalten den ersten Schritt zu tun. „Ich bin nie eingeschlafen“, gibt er zurück, weicht meinem fragenden Blick nicht aus. „Entschuldige. Ich war wohl zu unruhig.“ Er schweigt, sieht mir zu, wie ich zunächst die eine, dann eine zweite Zigarette aufrauche. Auch bei der Dritten hat er noch immer kein Wort zu mir gesagt. Gerade als ich diesen Stummel auf den Boden werfen will, halte ich einen Moment inne. Nur wenige Sekunden später, trete ich ihn auf dem Gehweg aus. „Woran hast du gedacht?“ „Nur daran, dass ich ein ziemliches Arschloch bin“, schmunzle ich. Erneut herrscht drei Zigaretten lang Schweigen zwischen uns. So viel habe ich schon seit einiger Zeit nicht mehr geraucht, aber irgendwie brauche ich das. Zumindest, bis ich etwas anderes gefunden habe, dass uns beiden, sowohl ihm als auch mir, als Zeitmessung dienen kann. „Du bist so still“, gebe ich ihm schließlich einen Hinweis. „Du doch auch“, kommt es allerdings ungerührt zurück und ich muss tatsächlich für einen Moment leise auflachen. Chris macht mich fertig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bevor er darauf reagieren kann, greife ich ihn an der Schulter, ziehe ihn zu mir herüber, lehne ihn an meine Seite und sehe ihm einmal tief in die Augen, ehe ich mich von ihm abwende um erneut nach meiner Packung Zigaretten zu greifen. „Es tut mir wirklich leid, was ich dir angetan habe, Chris“, spreche ich leise, aus Angst, meine Worte könnten ungehört verrauchen, wenn ich sie zu laut sage. „Manchmal… überkommen mich meine Gefühle einfach und ich weiß nicht so recht wohin mit ihnen.“ „Anstatt dich und mich mit Lungenkrebs zu verpesten“, hält er meine Hand davon ab, den Glimmstängel zu meinem Mund zu führen. „Könntest du auch einfach mal mit mir reden, findest du nicht?“ „Hm“, mache ich, zucke ratlos mit den Schultern. „Vielleicht.“ „Versuch es wenigstens“, bleibt er hartnäckig. Darüber muss ich erst nachdenken. Natürlich hat Chris mir schon vorher einmal gesagt, dass ich mit ihm reden soll, wenn ich das Bedürfnis danach habe, aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht so sicher ob ich das wirklich will. Andererseits weiß ich nur zu gut, dass es so zwischen uns nicht weitergehen kann. „Ich hatte einen Streit mit Thomas“, beginne ich zögerlich. „Bevor ich zu dir gegangen bin. Den Tag drauf hat mich dein Großvater bei sich aufgenommen und wir haben sogar ein Shooting zusammen gemacht. Als Ablenkung wie er meinte. Es hat aber nicht geholfen, ich war den ganzen Tag angespannt und ruhelos. Und als du mich angerufen hast… da… ich weiß nicht… es hat mich einfach überkommen.“ Beschämt wende ich mein Gesicht von ihm ab. Ich kann spüren wie angespannt er ist. Trotzdem bleibt er bei mir stehen und schon allein diese Tatsache rechne ich ihm hoch an. „Hättest du weitergemacht?“, fragt er nach einer ganzen Weile und trifft damit einen wunden Punkt. „Wahrscheinlich“, gebe ich direkt zu. Jetzt ist nicht die Zeit ihn oder mich zu schonen. „Weißt du damals… als ich noch zu Hause gelebt habe… da war das immer die Art und Weise wie ich mich abgelenkt habe.“ „Sex, meinst du?“ „Ja.“ „Mit wem?“, horcht Chris nach. „Mit Zack“, gestehe ich. „Erzählst du mir von ihm?“ „Willst du das denn?“ „Ich habe den Namen schon ziemlich oft gehört, von Thomas oder Jamie, bei dir auch und immer war er negativ. Bei den anderen meine ich, bei dir nicht unbedingt, aber ihr alle scheint ihn nicht sonderlich zu mögen. Trotzdem taucht er immer wieder auf, deswegen frage ich mich schon was länger, was er eigentlich für eine Rolle spielt – oder gespielt hat“, erklärt Chris. „Zack kenne ich seit dem Kindergarten. Wir waren immer zusammen, beste Freunde durch dick und dünn. Als mein Vater anfing mich zu schlagen, habe ich mich danach oft bei ihm verkrochen. Gemeinsam haben wir die ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt. Ich glaube, da waren wir… zwölf oder dreizehn. Zack kannte es nicht anders. Seine Eltern leben zwar zusammen unter einem Dach, sind aber geschieden und haben alle beide laufend wechselnde Partner, nie etwas Festes. Es ist ziemlich kompliziert und verworren bei ihm in der Familie, aber ein Element das immer geblieben ist, ist der Sex. Zack hat seine Eltern dabei ziemlich oft überrascht, einfach weil sich nie jemand darum gekümmert hat, wo man gerade übereinander herfällt und wer das alles beobachten könnte. Wir waren es gewohnt und haben es irgendwann einmal zusammen ausprobiert. Ein bisexueller Liebhaber von einem seiner Elternteile hat zumindest ihn dann aufgeklärt wie das bei Männern funktioniert und kurz darauf haben er und ich es versucht. So fing das damals zwischen uns an.“ Hier mache ich eine Pause, denn ich weiß genau wie sich diese Geschichte auf andere auswirkt. Viele sind angeekelt oder schockiert, manchmal auch beides und keiner kann verstehen wie wir so aufwachsen konnten. Nicht einmal Jamie weiß genaueres darüber. Nur Thomas kennt bisher die ganze Wahrheit. Fakt ist einfach, dass Zack und ich uns unsere Eltern nicht aussuchen konnten. Wir hatten nur die Wahl zwischen meinen gewalttätigen und psychisch angeknacksten Eltern und seinen Eltern, die zwar ein ausschweifendes Sexleben hatten, sich allerdings immer recht liebevoll um uns gekümmert haben. Sie waren keine guten Eltern, aber bessere als meine, einfach weil sie uns Aufmerksamkeit schenkten und uns wirklich versorgten. „Wie waren denn seine Eltern?“, fragt Chris schlicht, nach einer geraumen Zeit. „Nett. Der Vater war streng, erklärte uns aber die ein oder andere Sache. Mit ihm reparierten wir unsere Fahrräder oder bastelten gemeinsam an seiner Maschine herum. Eigentlich war er wie ein Onkel zu uns. Er hatte aber auch so seine Launen und dann durften wir ihm nicht zu nahe kommen. Manchmal, wenn er bemerkt hat, dass wir ihn beim Sex beobachteten, hat er gelacht und uns gezeigt wie es richtig geht. Was man machen muss oder wo Frauen besonders empfindlich sind. Er hat uns sogar ermutigt, selbst mal Hand anzulegen.“ „Im Ernst?“, ist Chris ziemlich geschockt, sieht mich fassungslos an und ist noch eine Spur überraschter als er bemerkt, dass ich das Ganze ziemlich entspannt sehe. Allerdings bin ich das so gewohnt und niemand hat mir gesagt, dass man seine Kinder so eigentlich auf keinen Fall großziehen sollte, aber meine Eltern waren auch nicht besser und mit Zack an meiner Seite und der Illusion von familiärer Geborgenheit und Liebe, habe ich all diese Dinge begierig angenommen. „Waren seine Eltern Hippies oder so was?“ „Glaub’ nicht. Über sie weiß ich aber auch nicht viel“, gebe ich zu. „Waren halt seine Eltern.“ „Ist ja furchtbar.“ „Heute würde ich dir zustimmen, damals aber… na ja… es war eben meine Kindheit, ich kannte es nicht anders“, erkläre ich ihm, streiche ihm kurz über den Kopf, als ich die Tränen in seinen Augen bemerke. „Zack hat sehr früh mit all diesen Sachen angefangen. Gemeinsam mit seinem Vater hat er sich sexuell ausgetobt und viel nachgemacht. Ich war dabei so gesehen sein Versuchskaninchen, auch wenn er nie wirklich etwas getan hat, das ich gar nicht wollte. Seit ich ihn kenne, hat er mir immer das Gefühl gegeben, dass ich ihm wichtig bin und das er alles mit mir und für mich macht. Deswegen habe ich mich auf ihn eingelassen. Erst mit vierzehn, als ich schon lange eine richtige Beziehung mit Zack führte, bin ich auf den Trichter gekommen, dass ich mir nichts aus Frauen mache. Ich mag sie, finde sie auch hübsch, aber erregen tun sie mich eben nicht. Allerdings war das ein Thema, bei dem ich mir zum ersten Mal eine Ohrfeige von Zacks Mutter eingefangen habe. Sie hatte einen Liebhaber gehabt, den ich unheimlich attraktiv fand und leichtsinnigerweise hatte ich sie gefragt, ob ich ihn nicht auch einmal berühren dürfte. Da ist sie ziemlich ausgerastet“, erzähle ich weiter. Als ich mir die Zigarette, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten habe, schließlich anzünde, legt Chris keinen Widerspruch ein. Schweigend hockt er neben mir auf der kleinen Steinmauer, drückt meine freie Hand fest an sich und zittert hin und wieder vor Kälte. „Na ja… irgendwann ist die Mutter abgehauen und Zack und sein Vater blieben alleine zurück, was allerdings keinen von beiden groß gekümmert hat. Die beiden waren so was wie Brüder. Haben sich sehr gut verstanden und einfach alles miteinander gemacht. Als Jamie ein entsprechendes Alter erreicht hatte, wo ich etwas mit ihm anfangen konnte, ging das mit Zack etwas in die Brüche. Er war eifersüchtig auf Jamie, weil der plötzlich mehr Aufmerksamkeit von mir bekam, als er selbst. Trotz allem ging das mit uns so lange weiter, bis ich mit Sechzehn von Zuhause abgehauen bin.“ „Zack war einmal hier, oder?“ „Ja. Sogar zweimal.“ „Zum ersten Mal haben wir uns Neunzehnhundertdreiundneunzig wieder gesehen. Damals bin ich über Weihnachten nach Hause gefahren und mit einer gebrochenen Hand im Krankenhaus gelandet. Zack kam mich besuchen, lehnte aber an, als ihn bat mit mir zu kommen.“ „Wie hast du dir die Hand gebrochen?“ „Ich hab mit voller Wucht gegen die Hauswand geschlagen“, gestehe ich leise lachend. „Ich war wütend auf meine Mum… na ja… da war sie eigentlich nur angebrochen, aber anstatt mich zu schonen, habe ich danach unser Haus auseinander genommen und dabei ist sie dann gebrochen. Ich merke es heute immer noch. Tut manchmal weh.“ „Welche Hand war es?“ „Die Rechte“, winke ich mit der Zigarette in der Hand, an der ich kurz darauf ziehe. „Sowas krasses habe ich noch nie gehört.“ „Glaub’ ich dir“, sehe ich ihn schmunzelnd an. „Wie kannst du da noch lachen?“, empört er sich leise. „Darüber zu reden fällt mir nicht leicht, aber es ist okay. Es ist nur eine Erzählung von Dingen, die nun mehr als zehn Jahre zurück liegen. Wirklich mitnehmen tun mich die Dinge erst, wenn etwas passiert oder… ich weiß nicht… ich kann’s dir nicht erklären…“ „Schon okay“, winkt er ab. Er nagt an seinem Fingernagel, legt die Stirn in Falten und wippt unruhig mit seinen Beinen sodass seine Füße immer wieder gegen die Steinmauer klopfen. „Wie ist es mit euch weitergegangen?“ „Hm… drei Jahre später ist Zack überraschend hier aufgetaucht. Wir sind gemeinsam durch die Gegend gezogen, haben getrunken und uns amüsiert. In einer Disco wurde ich dann von einem Typen die ganze Zeit angemacht und zwischen ihm und Zack ist ein handfester Streit ausgebrochen. Letztendlich haben er und ich uns mit dem Typen und dessen Freunden geprügelt. Irgendwann hatte einer von denen eine Scherbe in der Hand, vermutlich von einem kaputten Bierglas oder so. Er hat rumgebrüllt er würde uns alle umbringen und aufschlitzen. Irgendwann ist er dann auch wirklich auf uns los und Zack hat sich zwischen ihn und mich geworfen. Das Ende der Geschichte ist, dass Zack sein linkes Auge verloren hat.“ „Oh Gott…“, raunt Chris atemlos, erstarrt mitten in der Bewegung und sieht mich schockiert an. „Ja… ehrlich gesagt sehe ich es noch heute vor mir, ich träume davon. Überall Blut, die Schreie. Die lange Operation. Und letztendlich hatte er einen Verband um den Kopf. Der Typ hat ihm direkt durchs Auge geschnitten, ziemlich eklig und blutig… frag mich nicht wie die Ärzte alles wieder zugemacht haben… aber es war schon heftig, weil der Typ mehr als nur einmal mit dem Ding durchs Zacks Gesicht gefahren ist. Heute trägt Zack meistens eine Augenklappe, aber die Narben auf der Wange und Teilen der Stirn kann man darunter trotzdem sehen. Ist alles ziemlich groß ausgefallen.“ „Habt ihr euch danach noch gesehen?“ „Nicht direkt“, gebe ich zu. „Ich glaube, dass er auf Martinas Abschlussball kurz da war, aber ich bin mir nicht sicher, weil ich ziemlich… fertig war. Wenn, dann müsste Jamie darüber was wissen.“ „Und seitdem habt ihr keinen Kontakt mehr?“ „Nein.“ „Heftig“, seufzt Chris neben mir und wir verfallen in Schweigen. Ich habe ihm soviel über mich und Zack erzählt was sonst alles nur noch Thomas weiß. Allen anderen Freunden und Bekannten verschweige ich diese Dinge, denn so was erzählt man mal nicht so eben auf der Straße. Außerdem macht es mir Angst meine Geschichte in den Augen anderer zu verfolgen. Dort sehe ich dann erst wie schrecklich all diese Dinge waren, während sie mir selbst nicht so vorkommen. Natürlich weiß ich heute, dass weder meine Eltern noch Zacks Eltern wirklich das gelbe vom Ei waren, aber… es waren die Einzigen die ich hatte. Ich bin so geboren und aufgewachsen und habe das Beste daraus gemacht. Ich habe mir Mühe gegeben etwas zu erreichen und nicht untätig in meinem Schicksal zu verharren wie Zack es getan hat. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob Zack es überhaupt als schlimm erachtet. Ich weiß, dass er als Barkeeper in unserer Heimatstadt arbeitet und sich vermutlich die Nächte um die Ohren schlägt. Was aus seinem Vater geworden ist, weiß ich nicht, aber der dürfte vermutlich auch noch leben, wenn er nicht in der Zwischenzeit auf Drogen und noch mehr Alkohol umgestiegen ist. „Erzähl mir von dir“, bitte ich ihn leise. „Da gibt es nicht viel“, behauptet er. Beginnt aber trotzdem. „Aufgewachsen bin ich bei meinem Vater und meiner Mutter. Es war… na ja… schön, gut, okay… wie man auch dazu sagen will. Normal, denke ich. Zu meiner Mum hatte ich immer den besten Kontakt, auch wenn ich mich viel häufiger mit ihr gestritten habe. Als ich zehn wurde, haben sich meine Eltern getrennt und mein Dad ist ausgezogen. Jedes zweite Wochenende fahr ich zu ihm, wenn er nicht gerade arbeiten muss und dann unternehmen wir was zusammen, was immer sehr schön ist. Derzeit hat er eine neue Freundin, eine ganz Liebe, mit der ich mich super verstehe. Dads Verwandtschaft ist ziemlich schrullig und ich finde da keinen besonders nett. Na ja, meine Mum hat keine Familie mehr in dem Sinne. Sie war Einzelkind genau wie ich und meine Oma ist… na ja… tot. Sie ist bei meinem Großvater aufgewachsen und mit ihm haben wir eben sehr engen Kontakt. Eine kleine Dreiköpfige Familie. Am Anfang wollte meine Mum immer dafür Sorgen, dass ich einen Vater habe… oder eher eine Vaterfigur, aber das hat nicht geklappt und war auch unnötig. Derzeit konzentriert sie sich auf ihre Arbeit und meinen Werdegang.“ „Sie ist sehr streng, oder?“ „Schon“, gibt er zu. „Aber sie macht sich einfach nur Sorgen um mich. Unsere Zankereien sind auch meistens nie so schlimm wie es aussieht. Es gibt ein paar Dinge, die passen meiner Mum gar nicht, aber ansonsten… ich denke sie braucht einfach immer ein bisschen Zeit ehe sie auftaut.“ Wieder schweigen wir uns an, meine Packung ist mittlerweile komplett leer und mir selbst ist unheimlich schlecht. Dafür dass ich in den letzten Monaten kaum noch geraucht habe, war das heute eindeutig ein bisschen zu viel. „Du bist so blass“, mein Chris auch kurz darauf besorgt, betrachtet mein Gesicht im schwachen Schein der gegenüberstehenden Laterne. „Mir ist ziemlich übel“, gestehe ich, blicke missmutig auf den Haufen abgerauchter Zigaretten. „Selber schuld.“ „Ich weiß, Chris, Gott ich weiß“, lache ich amüsiert, ziehe den anderen näher zu mir und traue mich tatsächlich ihm einen sanften Kuss auf den weichen, verführerischen Mund zu drücken. „Ist bei uns alles gut?“ „Eigentlich nicht, nein“, wehrt er ab und ich bin ernsthaft enttäuscht und erschrocken. „Rapha, ich bin kein Heiliger, verstehst du? Ich gebe mir wirklich Mühe dir das nicht immer zu zeigen, aber… natürlich ist es für mich nicht leicht. Bei all dem Verständnis das ich für dich habe… es ist nicht einfach.“ „Ja“, gebe ich schwach zu, drücke Chris ein wenig fester an mich und streiche ihm mit einer Hand durch die vollen Haare. „Ich weiß, dass ich von dir nichts verlangen kann… das ist auch in Ordnung, damit kann ich umgehen, irgendwie… aber… eine Sache, möchte ich dann doch.“ „Und welche?“, frage ich nach, sehe ihm direkt in die Augen, bemerke das Funkeln darin, beobachte wie sich seine sündigen Lippen zu einem sanften Lächeln verziehen. „Sei ehrlich zu mir“, bittet er dann. „Über alles. Deine Gefühle, deine Gedanken, über die Dinge die dich bewegen. Ich will dich zu nichts zwingen, aber bevor du wieder wie ein Wahnsinniger über mich herfällst, wäre es mir lieber, wenn du zumindest versuchen würdest mit mir darüber zu sprechen. Einverstanden?“ „Einverstanden“, lache ich befreit auf, vollkommen glücklich mit dem Umstand, dass ich Chris nun endlich wieder ganz unbefangen in meinen Armen halten kann. Ich habe ihn vermisst. Ernsthaft und aufrichtig vermisst. Langsam, fast behutsam ziehe ich den Kleineren zu mir, stelle ihn vor mich und nehme ihn zwischen meinen Beinen ganz sanft gefangen. Vertrauensvoll schmiegt er sich an mich, vergräbt sich in meiner Halsbeuge und mogelt sich mit seinen Händen unter meine Jacke. Alles an Chris ist weich und nachgiebig, anschmiegsam und warm. Selbst jetzt im Oktober, scheint er einfach nur zu glühen. Ich lege meine Arme um ihn, halte ihn fest, atme seinen Duft ein und genieße einfach nur diesen Augenblick mit ihm. Wir haben viel gesprochen und ich fühle mich ganz erschlagen und matt von den Erinnerungen an damals, aber auch befreit und sicher. Mit Chris kann mir nichts passieren, oder? „Warum hast du dich mit Thomas gestritten?“, höre ich ihn an meiner Brust flüstern und schmunzle darüber, wie sein warmer Atem durch den Stoff meines Shirts dringt und mich sanft berührt. „Er hat schlecht über Jamie gesprochen.“ „Und deswegen bist du abgehauen?“ „Nein. Das bin ich, weil Jamie mich angelogen hat“, erkläre ich kurz. „Hat er das?“ Chris will sich aus meiner Umarmung lösen um mich anzusehen, aber ich ziehe ihn wider zu mir zurück, küsse sanft seine Stirn und schließe die Augen. Ich glaube, so fühlt sich Frieden an. „Ehrlich gesagt, kann ich es dir nicht genau erklären. Ich… denke selber noch darüber nach.“ „Aber wenn du noch drüber nachdenkst, kannst du nicht sauer auf ihn sein“, argumentiert er leise in meine Halsbeuge hinein, streift mich dort mit seinem Atem, seinen Lippen, seiner Haut. „Sauer bin auch nicht auf ihn, aber… enttäuscht und… frustriert, denke ich“, versuche ich meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aber es ist schwierig, denn es ist so unwirklich und wenig augenscheinlich. Als ob meine Seele einfach nur ein großer Klumpen wäre, bei dem man nicht mehr ausmachen kann, woraus er besteht. „Rede mit ihm“, drängt Chris mich auf der Mauer ein Stück nach hinten, damit er zumindest den Kopf in den Nacken legen kann um mich doch anzusehen. Ich antworte ihm nicht, küsse ihn wieder sanft auf den Mund, dann sein Gesicht, schließlich verstecke ich mich an seiner Schulter. „Ich weiß nicht ob ich es morgen bereuen werde oder nicht, aber…“, beginne ich vorsichtig, wage es nicht ihn anzusehen. „…gerade denke ich mir, dass ich es sehr gerne ernsthaft mit dir versuchen würde.“ Chris Atmung setzt in diesem Moment aus, seine Finger bohren sich in meine Haut und sein ganzer Körper scheint erstarrt. Seine Verblüffung ist ehrlich und vollkommen. Noch während er regungslos dasteht und mich nur mit seinen Augen verfolgt, richte ich mich auf, streichle über seine Wange und bringe ein wirklich ernsthaftes Lächeln zustande. „Das passiert, wenn ich ehrlich bin“, necke ich ihn. --- Kapitel 20: Licht in der Dunkelheit (2001 / 10) ----------------------------------------------- 20. Kapitel (2001 / 10) Das hellbraune Haar rinnt zart durch meine Finger, streichelt sie und schenkt mir ein anhaltendes Gefühl von Wärme. Sein Gesicht ist mir zugewandt, die Augen im Schlaf geschlossen, die rechte Hand auf meiner Brust ruhend, während er die Linke unter das Kissen und seinen Kopf geschoben hat. Die Decke bedeckt uns bis zu den Hüften, danach verschwindet sie zu seiner linken Seite, liegt schräg über ihm und halb auf dem Rest des Bettes. Leise murrend dreht er den Kopf ein wenig, kuschelt sich in eine leicht veränderte Position hinein und schläft dann friedlich weiter. Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachte ich die kleine Schönheit neben mir und kann selbst nicht ganz glauben, dass ich gestern gesagt habe, dass ich mit ihm eine Beziehung führen möchte. Aber heute Morgen hat es sich nicht anders angefühlt ihn im Arm zu halten und anzusehen, deswegen glaube ich, dass es richtig war, es zu sagen. Ohne Chris ist es nicht einmal halb so schön wie mit ihm. Immer öfters denke ich an ihn, frage ich mich was er tut und hege den stetig größer werdenden Wunsch an seinem Leben direkt Teil zu haben. Ein Mitspracherecht zu besitzen. Zum ersten Mal gestehe ich mir ein, dass Chris mir voll und ganz den Kopf verdreht hat. Schmunzelnd beuge ich mich über ihn, küsse seine Schulter, seinen Oberarm, schließlich seine Wange, die Nasenspitze, die keck hervorschaut und als er sich ein wenig herumdreht, platziere ich auch einen Kuss auf seine Lippen. Langsam schlägt er die Augen auf, blinzelt mehrmals, ehe er mir die Arme in den Nacken legt und mich näher zu sich heran zieht. Er ist ein Schmusekater durch und durch. Seufzend schmiege ich mich an ihn, lasse mich halten und streicheln, küsse ihn immer wieder und beginne einen Morgen so zärtlich wie noch nie. So könnte es bleiben, finde ich. Genau so. Einfach die Zeit anhalten und immer nur mit Chris in diesem Bett liegen, ihn spüren und ansehen, berühren und schmecken. Mehr nicht. Ich finde, dass das Leben durchaus einmal so ablaufen sollte. „Bleib bei mir“, nuschle ich in seine Halsbeuge hinein, bemerke dabei das leichte Zittern, das ihn erfasst. Kurz darauf streichen seine Hände durch meine Haare und er drückt sich noch viel dichter an mich. „Bin ich doch bisher immer“, sagt er dann. „Und ich habe nicht vor plötzlich wegzugehen.“ „Auch nicht, wenn ich wieder gemein und garstig werde?“, hake ich nach, traue mich nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Nein, auch dann nicht. Nur eins, musst du mir versprechen…“ „Was denn?“ „Egal was auch immer in der Zukunft passiert“, spricht er leise, ernsthaft. „Du darfst niemals, wirklich niemals, vor mir weglaufen.“ Ich brauche einen Moment, ehe ich ihm antworten kann. Natürlich möchte ich jetzt nicht mehr von ihm weg, aber… ich bin es gewohnt vielen Dingen aus dem Weg zu gehen, alles einfach laufen zu lassen und dabei möglichst in Deckung zu bleiben. Mich jetzt auf einmal jemandem vollkommen zu öffnen ist schwierig. „Ich versuch’s“, gebe ich trotzdem zurück, spüre ihn nicken. Nach einigen Augenblicken, in denen wir nur schweigend beieinander liegen, schlafe ich wieder ein. --- Als ich zum zweiten Mal aufwache ist bereits später Nachmittag und Chris neben mir verschwunden. Ich drehe mich einmal herum, streiche mir die zerzausten Haare aus der Stirn und starre unentwegt an die Decke. Ich denke nicht. Da ist einfach nichts in meinem Kopf. Nur das Bild dieser weißen Decke über mir und der Wärme des Kissens unter meinem Kopf. Irgendwann erinnere ich mich daran, wie ich mit Chris im Arm dastand und ihm gesagt habe, dass ich eine Beziehung mit ihm gar nicht mal so schlecht fände. Mir schaudert bei dem Gedanken noch immer, aber es ist weit weniger unangenehm als noch zu Beginn. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen wie es sein wird, wenn ich wirklich etwas wie eine feste Beziehung habe. Sowas hatte ich noch nie. Ich zucke erschrocken zusammen, als sich etwas Kühles auf meine Stirn legt. Chris lehnt über mir und lächelt mich ganz sanft an. Kurz darauf liegt er neben mir. „Willst du nicht aufstehen?“ „Irgendwie nicht“, antworte ich leise. Mir ist wirklich nicht danach. Einfach liegen bleiben, schlafen und sehen ob der morgige Tag sich besser anfühlt. Dennoch stemme ich mich ein wenig hoch. „Ich sollte aber.“ Chris Hand drückt mich wieder herunter und dann platziert er sich vollkommen auf mir, hält mich zurück, schüttelt den Kopf. „Nein. Bleib liegen, wenn dir danach ist.“ „Okay“, flüstere ich. Ich mache es mir wieder gemütlich, breite die Decke ordentlich über ihm und mir aus, schließe die Augen und atme seinen herrlich frischen Duft ein. Er war duschen. Nach einer Weile fange ich an ihm über den Rücken zu streichen. Wenn ich so darüber nachdenke, hat es solche Momente nie zwischen mir und Zack oder auch nur irgendeinem anderen Mann gegeben. Thomas und seine Familie sind da eine Ausnahme, aber auch da ist es selten genug vorgekommen, dass ich einfach nur ruhig dagelegen habe um mich allein auf die Anwesenheit des anderen zu konzentrieren. Chris ist so warm und anschmiegsam, ganz zart und weich und trotzdem… trotzdem hat er etwas Hartes an sich: seinen Willen. Ich habe niemals jemanden wie ihn getroffen, der so konsequent gegen meine inneren Mauern angestürmt ist. Und jetzt ist sogar ein Riss drin. Ein riesiger Riss. Groß genug damit Chris hindurch schlüpfen kann. Als er seinen Kopf hebt um ihn einmal herumzudrehen und sich mit der anderen Seite auf meine Brust zu legen, halte ich ihn fest, ziehe ihn zu mir, richte mich auf und küsse ihn ganz sanft auf seine Lippen, die leicht zitternd nachgeben. Ich umfange ihn mit meinen Armen, drücke ihn fest an mich, genieße diese Ruhe, diesen Frieden. Immer wieder küsse ich zart seine Lippen, dann stoße ich sachte mit meiner Zunge vor, was Chris mit einem leisen Stöhnen quittiert. Ich ziehe an seinem Hemd, schiebe es nach oben, lege meine Hände endgültig auf seine freie Haut. Ich halte ihn einfach nur, lasse ihn spüren, dass ich da bin. Als mir seine Lippen entkommen, setze ich ihnen nach, fange sie wieder ein. Schnell drehe ich mich herum, schiebe Chris in einer fließenden Bewegung unter meinen Körper, lege mich Stück für Stück auf ihn. Meine Arme liegen nun neben seinem Kopf, meine Finger streicheln durch seine Haare und schließlich vergrabe ich meine Nase darin. „Du riechst gut“, flüstere ich leise, küsse seine Stirn, sehe ihn dann einfach nur noch an. „Ich leih dir gerne Opas Shampoo“, neckt er mich, reckt sich ein wenig um für einige Sekunden liebevoll an meinem Kinn zu knabbern. Es ist ein schönes Gefühl. „Guten Morgen“, raune ich ihm entgegen, bekomme ein unvergleichliches Lächeln geschenkt. „Ja. Guten Morgen.“ Als ich seine Hände zwischen meinen Schultern spüre, beuge ich mich zu ihm herunter, küsse ihn wieder und wieder und wieder. Vorsichtig beginne ich damit mein Becken gegen seines zu bewegen, reibe mich an ihm und genieße den Anblick seiner lustverhangenen Augen. Wir sind nicht leidenschaftlich, sondern vorsichtig. Als könnten wir den anderen durch eine einzige falsche Bewegung zerbrechen. Alles ist so sanft, so zaghaft und doch voller Gefühl, dass ich mich jeden Augenblick mehr in diesem Rausch verliere. Einfach nur Chris. Chris. Chris. Ich breche unseren Kuss ab, verberge mein Gesicht an seiner Halsbeuge, höre sein stetes Keuchen, spüre wie er sich mit mir bewegt und gehe ganz in diesem Gefühl auf, dass mir sagt, dass das hier so ganz anders ist als damals. Es ist kein Zwang. Seine Beine schlingen sich um mich und er wird ungestümer, fahriger – hilfloser. Chris kommt mir der Flut an Eindrücken und Gefühlen nicht klar, alles geht mit ihm durch und Schutz suchend klammert er sich an mich. „Ich bin hier“, flüstere ich. „Keine Angst, ich bin hier.“ „Rapha“, keucht er, schmiegt sich eng an mich. „Schon gut, ich bin hier. Bleib ganz ruhig, ich pass auf dich auf.“ Ich lenke meine linke Hand zwischen uns, schiebe sowohl seine als auch meine Hose ein wenig nach unten, nehme unsere Glieder in die Hand, reibe sie aneinander und kann nun selbst ein Stöhnen nicht länger unterdrücken. Chris wird ganz weich in meinen Armen, verliert sich in dem Gefühl der Lust, das ich ihm beschere. Seine Lippen suchen nach meinen und ich küsse ihn. Bis zum allerletzten Augenblick verschließe ich seinen Mund mit meinem, führe ihn zur absoluten Ekstase und springe im selben Moment von der Klippe wie er. Es ist das Gefühl fliegen zu können, in einem warmen Wind zu gleiten, getragen von den Strömungen. Als Chris wieder auf der Erde landet und die Augen öffnet, bin ich da um ihn zu begrüßen. Ich lächle ihn an, küsse seine Stirn und ziehe meine Hand wieder nach oben. Sie ist verklebt, weswegen ich sie etwas weiter weg von seinem Kopf auf eines der Kissen ablege. „Hey“, raune ich sanft, knabbere ein wenig an seinem Ohr. „Hi“, lacht er, streichelt meine Wange und sieht in diesem Moment schöner aus als je zuvor. Das hier wäre der perfekte Moment für ein Ich liebe dich, aber ich lasse ihn ungenutzt verstreichen. Stattdessen fahre ich sachte durch seine Haare, warte solange bis er sich vollkommen beruhigt hat, ehe ich mich aufrichte. „Ich wasch mir die Hände“, grinse ich ihn herausfordernd an und genieße es, dass er schlagartig rot wird. Ich bin froh, dass Hans-Wilhelm nirgendwo zu sehen ist. Anstatt mir nur die Hände zu waschen, steige ich komplett unter die Dusche, schrubbe mich gründlich ab und tapere schließlich vollkommen nackt wieder zurück ins Wohnzimmer. Chris liegt einfach nur da, die Augen geschlossen, eine Hand auf seiner Brust liegend und lauscht scheinbar auf seinen Herzschlag. Ich suche mir frische Sachen heraus, ziehe mich an, stopfe alles andere zurück in meine Tasche, schultere sie und beuge mich schließlich zu Chris herab, der augenblicklich die Augen öffnet, als ich ihm über die Stirn streichle. „Ich gehe nach Hause“, erkläre ich. „Und dann rede ich mit Thomas.“ „Nicht mit Jamie?“, legt er den Kopf fragend schief. „Nein. Erst mit Thomas.“ „Okay“, ist alles was er dazu sagt. Als er mich weiterhin unentwegt ansieht, fühle ich mich fast dazu gezwungen mich noch einmal neben ihn zu setzen. „Dieses Mal habe ich dich nicht benutzt“, stelle ich schließlich fest, sehe ihn direkt an und lege ein wenig Nachdruck in meine Stimme. „Ich hab es getan, weil ich es wirklich wollte.“ „Ich wollte es auch.“ „Hab ich gemerkt“, lache ich auf, lege mich noch einmal neben ihn. „Geht’s dir gut?“ „Bestens“, kommt es verträumt zurück. „Chris, ich möchte, dass du eines weißt“, sage ich schließlich ziemlich ernst. „Du bist ein wunderbarer Mensch. Und ich bin dir dankbar für alles.“ „Das klingt nach Abschied“, stellt Chris traurig fest, sieht mich mit zweifelnden Augen an. „Nein“, wehre ich ab. „Es ist ein Anfang.“ Noch einmal küsse ihn sanft. Ich ziehe es in die Länge, erlaube es ihm, seine Zunge mit ins Spiel zu bringen, schließe ihn fest in meine Arme und lasse ihn eine ganze Weile lang nicht los. Dann jedoch stehe ich auf, lächle ihn an und gehe. --- „Ist er da?“, frage ich Lars, der vor mir in der Tür steht. „Ja“, nickt er. „Hat sich schon seit einiger Zeit in seinem Zimmer verkrochen.“ „Ich geh zu ihm.“ „Ist gut“, meint Lars, lässt mich rein und verschwindet dann wieder zu seinem Zwillingsbruder vor dem Fernseher. Ich schließe die Tür hinter mir, stelle meine Sporttasche ab, die ich noch immer bei mir habe und hänge meine Jacke auf einen freien Haken. Bevor ich nach Hause gehe, will ich unbedingt mit Thomas sprechen und endlich klären, was zwischen uns steht. Außer ihm und den Zwillingen ist keiner zu Hause. Zunächst gehe ich in die Küche, klaue mir eine Tafel Nussschokolade aus dem Kühlschrank und gehe dann bis vor die Tür seines ehemaligen Zimmers. Einen Moment bin ich unschlüssig ob ich klopfen oder einfach so rein gehen soll. Ich entscheide mich schließlich für Letzteres und bin erleichtert, dass die Tür unverschlossen ist. „Verschwindet ihr Nervensägen“, kommt es grummelig vom Bett her. „Hab dir Frustschoko mitgebracht“, werfe ich ihm die Schokoladentafel auf den Rücken. Ruckartig setzt er sich auf, wirft die Decke von sich unter der er sich vergraben hatte und starrt mich wie einen Geist an. Sein Mund steht offen, seine Haare sind zerzaust und im ganzen Raum herrscht furchtbar schlechte Luft. Ich gehe zum Fenster und öffne es, ziehe dabei die Vorhänge zurück und sammle die Schokolade vom Boden auf, wo sie undankbarer Weise gelandet ist. „Bevor du irgendetwas sagst“, beginne ich schließlich. „Es tut mir leid.“ Wie ein Stromstoß geht ein gewaltiges Zittern durch Thomas’ Körper, dann springt er auf, ist mit zwei Schritten bei mir und reißt mich in seine Arme. Er presst mich so fest an sich, dass ich fast glaube mein Brustkorb zerbricht gleich in viele kleine Einzelteile, doch noch ehe dazu kommen kann, hat er mich losgelassen und mir ziemlich schmerzhaft eine runter gehauen. „Das wird aber auch Zeit, Mann“, nörgelt er, reißt die Schokolade an sich die er mit wenig Mühe aus ihrer Pappe befreit und schließlich einen großen Biss davon nimmt. „Das tat weh“, reibe ich mir die schmerzende Stelle auf meinem Kopf. „Sollte es auch, Hornochse. Miesepeter, Idiot, Dummbolzen, Mistkerl, Bratze, Blage, dummer Kerl, Grobian, Holzklotz, Affengesicht… oh… Affenarsch…“ „Schon gut, schon gut“, wehre ich die Flut an Beleidigungen ab, sehe Thomas kritisch an, wie er in legeren Sportklamotten vor mir steht und wie ein kleiner Junge an seiner Schokolade herumkaut. Keiner sagt irgendetwas. Schließlich lässt Thomas sich zurück aufs Bett fallen, während ich mich auf seinem Schreibtischstuhl platziere. Wie in alter Zeit sitzen wir uns so gegenüber, schweigen uns an, während allein unsere Blicke uns verraten, was in dem anderen vorgeht. „Du hast mit Jamie gesprochen“, stellt er nüchtern fest. „Hat er dir das gesagt?“, frage ich. „Nein. Ich kann’s dir ansehen.“ „Das hast du schon immer gekonnt“, lächle ich schief. „Na klar“, kommt es in aggressivem Tonfall zurück. „Ich bin ja auch dein Bruder.“ Einen Moment lang bin ich überrascht, aber dann lache ich ehrlich auf. „Stimmt“, antworte ich schlicht. Thomas ist verwirrt. „Einfach so?“, fragt er. „Ohne ein wir sind aber nicht blutsverwandt?“ „Ja, einfach so.“ Thomas ist sprachlos. Die Tafel Schokolade ist aus seiner Hand gerutscht, liegt jetzt neben ihm auf dem Bett. Er starrt mich einfach nur an, fährt sich immer mal wieder durch die Haare, bis sich schlussendlich ein warmherziges Lächeln auf seinem Gesicht breit macht. „Wow…“, haucht er. „Komm her.“ Ohne zu zögern stehe ich auf, setzte mich neben ihn aufs Bett, lehne mich an ihn und verschränke meine Finger mit seinen, als er mir seine Hand anbietet. „Mann, wer hat das Wunder gewirkt?“ „Hm… die Zeit, denke ich.“ „Nur die Zeit?“, boxt mich Thomas in die Seite, zwinkert mir verschwörerisch zu, was mich lachen und den Kopf schütteln lässt. „Na ja… Chris… hat vielleicht auch seinen Teil dazu beigetragen“, gestehe ich. „Erinnere mich bitte daran, wenn ich den Kleinen das nächste Mal sehe, ihn Jesus zu nennen.“ „Hör auf“, brumme ich missmutig. „Warum denn? Ich freu mich. Wirklich. So jemanden wie ihn hast du dringend gebraucht.“ „Hmpf“, mache ich nur, kann mir aber ein glückliches Lächeln nicht länger verkneifen. Es bricht einfach aus mir hervor und ich kann es nicht wegsperren. Thomas starrt mich verblüfft an, lacht irgendwann über meine vergeblichen Versuche es vor ihm zu verstecken und schließlich endet alles in einer gewaltigen Kabbelei. Lachend liegen wir nebeneinander. Thomas dreht sich zu mir um, stützt seinen Kopf auf seiner Hand ab, blickt auf mich herunter. Sein Gesicht wirkt sorgenvoll. „Du magst Chris wirklich?“, fragt er mich. „Ja“, gebe ich zu. „Sehr sogar.“ „Das ist gut. Ich hab dich noch nie so glücklich erlebt.“ „Wirklich?“, hake ich nach. „Wirklich“, bestätigt Thomas erneut. „Seit ich dich kenne, hast du nie so… so gestrahlt! Echt der Wahnsinn! Deine Augen leuchten richtig und… ich weiß auch nicht… du bist nicht so verkrampft wie sonst immer.“ Nachdenklich lehne ich mich vertrauensvoll an seine Brust, atme ruhig ein und aus. Thomas ist nicht wirklich sauer auf mich, dass weiß ich jetzt. Er versteht warum ich all diese Dinge tue, warum ich so garstig werde. Und viel besser als jeder andere weiß er auch, dass ich manchmal sehr viel Zeit brauche um gewisse Sachen zu verstehen. „Es tut mir leid“, sage ich noch einmal. „Ist okay. Brüder streiten sich ab und an“, wiegelt er ab. „Thomas?“ „Hm?“ „Ich hab dich wirklich lieb. Sehr lieb“, flüstere ich, klammere mich an ihn und genieße die Geborgenheit in seinen Armen, als er sie um mich legt und wir uns gegenseitig halten, Trost und Vertrauen spenden. „Ich dich doch auch, Dummchen“, haucht er. „Schön, dass du wieder da bist.“ „Ja“, ist alles was ich dazu noch sagen kann. „Mum hat sich ganz schön Sorgen um dich gemacht. Hast du mit Jamie geredet?“ „Nein. Noch nicht.“ „Lass dir Zeit. Ich finde ihm tut es mal ganz gut, wenn du ihm nicht sofort nachläufst“, brummt Thomas grimmig, verstärkt seinen Griff um mich. „Ich dachte du magst ihn.“ „Tu ich auch. Trotzdem ist er ein Idiot“, meint Thomas bestimmt. „Er hat ausgenutzt, dass er dir alles bedeutet und das nur weil er Angst davor hatte auf der Straße zu landen. Ich meine, er hat ganz genau gewusst was du durchgemacht hast und dann kommt er her und…“ Thomas gräbt seine Hände in mein Shirt, atmet einmal tief ein und aus, ehe er mich wieder los lässt. Scheinbar ist er wirklich sauer auf Jamie. Ich selbst habe das Ganze noch nicht wirklich durchschaut. „Ich weiß nicht wie ich mit ihm umgehen soll“, gestehe ich sowohl ihm als auch mir ein, drehe mich seufzend auf den Rücken und verschränke die Arme hinter dem Kopf. „Irgendwie kapier ich nicht ganz was los ist.“ „Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich schätze Jamie hat recht klare Worte dafür gefunden und jetzt ist es an dir was du daraus machst“, gibt Thomas leise zurück, rückt sich in eine aufrechte Position, platziert seine Hand locker auf meiner Schulter. „Tatsache ist doch scheinbar, dass Jamie mich nicht so sehr liebt wie ich ihn. Vermutet habe ich das schon immer. Neu ist, dass Vater ihn nicht misshandelt hat“, fasse ich es einmal kurz zusammen. Es hilft mir, wenn Thomas mir einfach nur zuhört. „Das heißt ich werde mich wohl von dem Bild trennen müssen, dass ich von Jamie habe.“ Mein Bild von meinem kleinen Bruder… eine schwierige Sache, denn schließlich war es immer mein Traum gewesen mit Jamie zusammen zu leben, glücklich zu sein und nie etwas zwischen uns kommen zu lassen. Martina hat mich gestört, auch wenn ich gelernt habe sie zu akzeptieren, aber mich so komplett von Jamie zu trennen scheint mir unmöglich. Aber Jamie ist nun einmal nicht das was ich in ihm gesehen habe. „Ich muss ihn neu kennen lernen“, sage ich leise. „Wäre zumindest ein Anfang. Vielleicht solltet ihr euch noch einmal zusammensetzen und reden“, schlägt Thomas weiter vor und ich stimme dem nickend zu. Als Marianne am späten Abend nach Hause kommt ist sie überglücklich mich zu sehen und kocht gleich in einem größeren Stil. Bernhard ist auf langen Fahrten unterwegs und so fällt das Abendessen mit den Zwillingen, Marianne, Thomas und mir sehr überschaubar, dafür aber umso liebevoller aus. Keiner der vier lässt mich an diesem Tag nach Hause gehen und so schlafe ich, wie in alten Zeiten, mit Thomas zusammen in dessen Bett und kurz bevor ich mich endgültig hinlege, greife ich nach meinem Handy und schicke Chris eine letzte SMS: „Für den Stern an meiner Seite: Danke“ --- Kapitel 21: Von nun an... (2001 / 10) ------------------------------------- 21. Kapitel - 2001 (Oktober) Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen, öffnet mir mein kleiner Bruder die Tür. Wortlos tritt er zur Seite, lässt mich ein und ich gehe geradewegs ins Wohnzimmer. Ich höre Martina in der Küche herumwerkeln. Es ist Wochenende, ihre Zeit zu kochen. „Möchtest du was trinken?“, fragt Jamie mit leiser Stimme. „Wasser, bitte“, gebe ich zurück, setze mich aufs Sofa, sehe ihm kurz direkt in die Augen. Er verschwindet und ich kann ihn mit Martina leise reden hören, dann kommt er mit einem vollen Glas in der Hand wieder zurück, stellt es vor mir ab und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Er scheint zu spüren – oder zu wissen -, dass ich seine Nähe gerade nicht ertragen kann. Minute über Minute verstreicht, ohne dass einer von uns beiden auch nur ein einziges Wort sagt. Er schaut über meinen Kopf hinweg auf die Wand in meinem Rücken, während ich mit eiserner Mine auf den toten Fernsehbildschirm starre, in dem ich mich spiegele. „Sag was“, bittet er schließlich in einem flehenden Ton. Er ringt die Hände ineinander und kann seinen Blick kaum eine Sekunde auf einen Punkt fixieren. Scheinbar ist er um ein vielfaches nervöser als ich. Ich selbst bin tatsächlich eher von ruhiger und gesetzter Stimmung. Aber schließlich weiß ich ja auch was ich sagen werde und wie ich mich entschieden habe. Das macht es einfacher, erträglicher. Auch mir tut es weh, dieses Gespräch führen zu müssen, aber es wurden zu viele Dinge getan und gesagt, als dass ich es einfach so im Raum stehen lasen könnte. „Stimmt es, dass du mir meinen kleinen Bruder nur vorgespielt hast?“ „In der ersten Zeit, ja“, antwortet er und seine Stimme zittert. „Wie lange?“ „Ich weiß nicht genau“, denkt er kurz darüber nach. „Vielleicht die ersten sechs oder sieben Monate.“ „Hm“, ist alles was ich darauf erwidere. Ich sehe den Kinderkörper mit den strahlenden Augen vor mir, der seine Hände nach mir streckt, mich bittet, ihn hochzuheben und durch die Luft zu wirbeln. Ich sehe kleine, verschränkte Füße, die ein stummes Schuldeingeständnis zeigen. Und ich höre das fröhliche Kinderlachen. Dieses Kind habe ich all die Jahre geliebt, mich nach ihm gesehnt, mir gewünscht es bei mir zu haben, es zu beschützen, mein Leben mit ihm zu teilen und es aufwachsen zu sehen. Die Rolle des großen Bruders war meine Erfüllung vom Leben. Weder Reichtum noch Ansehen, weder das teure Einfamilienhaus noch eine Weltreise waren mir wichtig. Alles wovon ich geträumt hatte… war dieser kleine Junge gewesen. „Viel zu lange…“, murmle ich leise und sehe Jamie aus dem Augenwinkel heraus nicken. „Sieben Jahre kann man nicht einfach vergessen. Du warst einfach zu lange fort.“ „Ja“, räume ich ein. Vielleicht habe ich einfach zu viel erwartet. Ein achtjähriger Junge, allein gelassen, ohne die Liebe seiner Eltern, ohne konkrete Erinnerungen an den eigenen Bruder… wie konnte ich da nur jemals eine gleichwertige Gegenliebe erwarten? „Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich Martina jetzt schon heiraten sollte“, erzählt Jamie leise, wirft einen schnellen Blick über die Schulter in Richtung Küche. „Es tat mir weh in deinen Augen zu lesen, wie viel ich dir bedeute und immer zu wissen, dass ich es einfach nicht erwidern kann. Ich dachte, dass ich vielleicht einfach Zeit bräuchte um dich kennen zu lernen, mich wieder an dich zu erinnern. Aber egal wie oft du mir Geschichten von damals erzählt hast, ist es für mich nicht mehr als ein verschwommenes Bild gewesen. Und du selbst hast ja auch nicht mich geliebt...“ Von dieser Aussage überrascht sehe ich zu ihm auf. „Rapha… du liebst den kleinen Bruder von vor sieben Jahren! Aber ich bin keine Acht mehr, ich bin erwachsen geworden. Ohne dich. Aber du behandelst mich noch immer so, als wäre ich ein kleines Kind, auf das du aufpassen musst.“ „Du hast mir nie gesagt, dass es dich stört!“, gebe ich heftiger als beabsichtigt zurück. „Wie sollte ich denn auch?“, faucht Jamie. „Ich hatte erst Angst um mich und dann – auch wenn du es mir nicht glaubst – wollte ich dir unter keinen Umständen wehtun. Vielleicht war es bei mir nicht so schlimm wie bei dir, aber ich kann mir in etwa ausmalen wie deine Kindheit gewesen sein muss. Ich sehe die Narben die es hinterlassen hat… ich wollte dich nicht noch mehr verletzen.“ „Hast du geglaubt es würde einfacher für mich werden, wenn du dich einfach so aus dem Staub machst?“ „Das wollte ich ja gar nicht! Gott, ich frage mich, was Thomas dir erzählt hat!“ Jamie sieht mich mit einem frustrierten Blick an. „Ich dachte, dass es für alle einfacher wäre, wenn ich ausziehe, mein eigenes Leben beginne und dir Zeit gebe, dich daran zu gewöhnen. Ab und an vorbeikommen, Zeit miteinander verbringen, ja, aber eben in einem gewissen Rahmen…“ „Du hast mich also auf die lange Bank geschoben“, resigniere ich. Ich weiß nicht was Jamie für mich empfindet, aber die Gefühle eines Bruders sind es nicht. Ich denke wohl, dass er mich mag, ich ihm vielleicht sogar auf gewisse Art und Weise wichtig bin, aber… ich war wohl nie mehr als ein Freund. „Rapha…“ „Nenn mich nicht so!“, wehre ich diesen Spitznamen ab. Jamie zuckt erschrocken zurück, seine Mine verhärtet sich und wir wissen beide, dass wir nicht ohne Streit auseinander gehen werden, wenn wir jetzt nicht aufhören. „Tu es nicht“, beschwört er mich leise, aber eindringlich. Einen Moment lang halte ich inne, schüttle dann aber den Kopf, erhebe mich und streife alles von ihm ab. Seinen Blick, seine flüchtige Berührung an meinem Arm. Ich ertrage es einfach nicht. Das Bild eines Fremden. „Ich will dich nicht mehr sehen“, presse ich mühsam hervor, will mich von ihm wegdrehen, als sein Griff fester wird. „Tu das nicht!“, bleibt er beharrlich. „Ich bitte dich, gib mir doch eine zweite Chance.“ „Nein“, wehre ich kategorisch ab, bemerke Martina, die verspannt im Küchentürrahmen steht und mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck mustert. „Raphael.“ „Ich kann nicht“, gebe ich zu. „Jetzt noch nicht. Wenn du wirklich etwas für mich empfindest, was den Gefühlen eines Bruders nahe kommt, dann lässt du mich gehen.“ Einen Moment lang starren wir uns schweigend an. Der große und der kleine Bruder, die keine Brüder mehr sind. Fremde, die sich in die Augen sehen und doch wegsehen, wenn es um das wahre Ich des anderen geht. Vor unserem geistigen Auge zerfällt das Bild, das wir uns von unserem Gegenüber gemacht haben, in winzig kleine Einzelteile. Es wird lange dauern sie neu zusammen zu setzen und wir werden uns das ein oder andere Mal an den Scherben schneiden. „Okay“ flüstert Jamie schließlich, löst seine Finger von meinem Arm, senkt den Blick und sieht mir nicht nach, wie ich aus seiner Wohnung aus seinem Leben verschwinde. Ob ich jemals wiederkomme, weiß keiner von uns. Es wird sich zeigen ob ich jemals die Kraft besitzen werde, ihm zu verzeihen. --- Der leckere Duft nach Braten steigt mir in die Nase als ich die Wohnungstür der Familie Vogel aufstoße. Ich höre Lars und Johannes wie sie sehr angeregt eines ihrer unzähligen Martial-Arts Kampfspiele zocken. Das Neuste stammt von irgendeiner japanischen Serie uns ist für mich unaussprechlich. Ich gehe an dem Raum vorbei, direkt in die Küche hinein wo ich Marianne am Herd vorfinde. Sie prüft gerade die Kartoffeln mit einer Gabel und erschrickt sich furchtbar, als ich sie von hinten in den Arm nehme. „Riecht lecker“, meine ich schmunzelnd. „Danke“, antwortet sie freudig. Und dann ernsthafter: „Wie war es bei Jamie?“ „Zermürbend“, gebe ich ehrlich zu, denn ich fühle mich gerade ganz matt und kraftlos. Jegliche Energie scheint aus mir gewichen zu sein und ich spüre den Verlust meines kleinen Bruders tief in mir. Ich bin froh, als mich Marianne in den Arm nimmt und ich diese mütterliche Wärme spüre, die sie immer versprüht und mit der sie nie zu sparen scheint. „Geh und hol die anderen, das Essen ist fertig“, sagt sie sanft, lächelt mir zu und hat mich in dieser Sekunde genaustens verstanden. In den letzten Tagen habe ich wirklich das Gefühl, dazu zu gehören. Ich bin nicht länger bei der Familie eines Freundes… ich bin bei meiner Familie, den Menschen die mich lieben und die ich von ganzem Herzen liebe. „Bernhard“, stecke ich meinen Kopf zum Wohnzimmer herein, doch der Hausherr ist nicht wie erwartet bei seinen jüngsten Söhnen. Die bleiben hartnäckig vor dem Fernsehbildschirm kleben, bis ich diesen schlussendlich ausschalte und die zwei zunächst Hände waschen schicke. Thomas ist in seinem Zimmer, drückt mich kurz an sich und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. Wie immer hat er auf einen Blick erkannt, was in mir vorgeht. Bernhard selbst ist nirgends zu finden und schlussendlich fällt Marianne ein, dass ihr Mann länger arbeiten muss. „Dann fangen wir schon mal an“, beschließt sie, reicht mir die Schüssel mit den Kartoffeln, die ich an Lars weitergebe. Der Reihe nach füllen wir unsere Teller, beginnen zu Essen und ich bade mich in dem glücklichen Gefühl, das in mir aufkommt, als alle durcheinander reden und die Familie ganz nah beisammen ist. Nach dem Essen spüle ich gemeinsam mit Thomas das schmutzige Geschirr ab, gönne Marianne so einen ruhigen Abend mit den Zwillingen, die, endlich einmal zur Ruhe gekommen, Spaß an einem familiären Brettspiel haben. Dabei genießen die drei ihren Nachtisch: Eis mit heißen Kirschen und Vanillesoße. Thomas reicht mir einen nassen Teller an, den ich in mein Handtuch packe und mit gleichmäßigen Bewegungen abtrockne, ehe ich ihn auf den Stapel lege. Es ist eine beruhigende Monotonie, ein Alltag, wie ich ihn nur selten habe. Mein Handy liegt auf den Küchentisch. Ohne wirklich zu wissen warum oder von wem, erwarte ich einen Anruf. „Wie geht es dir?“, flüstert mein bester Freund leise, wirft mir dabei einen unsicheren Seitenblick zu. „Gut“, antworte ich mechanisch, nach jahrelang einstudiertem Muster. „Ach komm, Rapha. Lass mich nicht beim Urknall anfangen.“ „Entschuldige“, sage ich sanft. Ich weiß, dass ich es Thomas manchmal sehr schwer mache. Nicht, weil ich mich ihm nicht anvertrauen wollte, sondern einfach aus dem Grund, dass es für mich normal geworden ist, alles mit mir alleine auszumachen. Im ersten Moment weise ich immer jegliche Hilfe von mir. „Und? Was ist los?“ „Ich war bei Jamie.“ „Ach so“, ist alles was Thomas dazu einfällt. Verlegen sieht er auf seine Hände. Sie zittern. „Ich… ich war mir nie sicher, ob ich dir das wirklich sagen sollte.“ „Warum denn nicht?“ „Er hat dir einfach alles bedeutet, du warst… annähernd glücklich.“ „Denkst du, dass du einen Fehler gemacht hast?“, frage ich nach. Thomas schweigt minutenlang, reicht mir zwei Gläser, stützt sich auf den Waschenbeckenrand und starrt aus dem kleinen Fenster nach draußen. Es nieselt leicht, das Laub auf der Straße wirkt nicht mehr fröhlich-bunt sondern matschig-grau. Der Herbst hat in diesem Moment seinen ganzen Reiz eingebüßt, wirkt trist und fad. „Nein. Nein, ich denke, dass es richtig war“, gesteht Thomas mit fester Stimme. „Ich denke das auch“, gebe ich zu, lehne mich vertrauensvoll an seine Seite, sehe ebenfalls nach draußen und bringe sogar ein schwaches Lächeln zustande, das sich im Glas der Fensterscheibe spiegelt. „Trotzdem tut es weh.“ „Ja“, krächzt Thomas mit rauer Stimme. Schweigend stehen wir nebeneinander, den Blick starr nach vorne gerichtet, als ob wir vor uns die Zukunft sehen könnten, die auf uns wartet, nachdem wir beide diese Entscheidung getroffen haben. Ich weiß nicht ob Thomas vielleicht wirklich etwas wahrnimmt, ich dagegen fühle mich nur einmal mehr verloren und hilflos. Ich beginne darüber nachzudenken was schlimmer ist: Das Schicksal eines kleinen Afrikanerkindes, das einfach nichts zu beißen hat, oder das Gefühl eigentlich alles zu haben und doch nichts zu besitzen. Ich ein körperliches oder ein seelisches Martyrium vernichtender? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Leidet man nicht immer auf beide Arten? Mir ist schlecht und ich drehe mich vom Fenster weg, als könnte ich so diesen Gefühlen in mir entgehen. In Wahrheit aber lassen sie mich nicht los, weder jetzt, noch abends, als ich neben Thomas im Bett liege und - einmal mehr - schlaflos die schwarze Decke über mir anstarre. Ist das Leben für alle anderen Menschen so viel einfacher? Sind sie wirklich so glücklich wie sie auf mich wirken? Frustriert von der Düsternis um mich herum werfe ich mich auf die linke Seite, das Gesicht der Wand zugewandt, ziehe mir die Decke über die Schulter und vergieße stumme Tränen. Thomas’ Hand erschreckt mich, ich will sie abschütteln, lasse dann aber doch zu, dass er mir sanft über den Rücken streichelt. Schweigend liegen wir da, wartend, hoffend. Wessen Wunsch wohl in Erfüllung gehen wird? --- Bereits beim ersten Sonnenstrahl der ins Zimmer fällt, stehe ich auf, ziehe mich an und gönne mir nur noch eine schnelle Tasse Kaffee. Ich halte es einfach nicht aus, einfach nur wach herumzuliegen, nichts zu tun und den Gedanken in meinem Kopf hilflos ausgeliefert zu sein. Ich denke zu viel, das wusste ich schon immer, aber momentan ist es nur noch unerträglich. Ziellos und mit knurrendem Magen streife ich durch die Straßen, überlege hin und her wo ich nun hingehen soll. Ich fühle mich wirr und wie ein Tiger in einem zu engen Käfig. Der Drang Chris anzurufen ist groß, aber da ich nicht weiß was ich ihm sagen soll und ich ihm eine Szene wie beim letzten Mal ersparen will, lasse ich es bleiben. „Gott, hilf mir“, rufe ich frustriert aus, beachte die verwunderten Passanten nicht, biege nach links ab und kämpfe mich durch die engen Gassen meiner Gegend bis ich zu dem kleinen Kinderspielplatz gelange, der heruntergekommen ruhig daliegt. Ich setze mich auf die Schaukel, nehme Schwung und lasse für einen Moment mich und meine Gedanken frei in der Luft fliegen. Nichts scheint einfacher zu sein. Als gäbe es nichts wichtigeres, als in diesem Moment genau hier zu sein, genau das zu tun. So sinnlos es auch eigentlich ist, mir gibt es ein gutes Gefühl. Wie viel Zeit ich auf dem Spielplatz verbringe, weiß ich nicht. Ich habe keine Uhr und mein Handy ist noch in meiner Tasche, die ich bei Thomas stehen gelassen habe. Da ich nicht wusste wohin ich gehen würde, habe ich sie wohlweißlich als Grund zur Rückkehr eingespannt. Ohne Geld kommt man schließlich nicht weit. Ich hocke gerade am oberen Ende der Rutsche, als ich Jamie auf mich zukommen sehe. „Hey“, grüßt er schwach, deutet in einer hilflosen Geste auf mich. „Ich… dachte mir, dass du hier sein würdest. Du hast dich früher… immer auf Spielplätzen versteckt.“ „Sag bloß das weißt du?“, frage ich, nicht ohne eine Spur von Verachtung. „Ja, ich… hör zu, Rapha…el… ich…“, stammelt er, fährt sich unsicher durch die Haare, sieht mich an, als sei er das Lamm vor dem Schlachter. „Ich könnte mich für die Lügerei entschuldigen, aber… bei all dem Verständnis das ich für dich habe, wäre es schön, wenn du dieses Verständnis ab und an auch für mich aufbringen könntest. Ich… habe versucht es sowohl dir als auch mir so leicht wie möglich zu machen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal warum Thomas dir davon erzählt hat, aber ich dachte damals, dass ich ihm vertrauen könnte… war wohl ein Irrtum und ich…“ „Hör auf“, unterbreche ich ihn grob. „Thomas hat das getan was er als seine Pflicht als mein bester Freund und Bruder erachtet hat. Ehrlichkeit ist in beiden Beziehungen sehr wichtig.“ „Ach“, stößt Jamie verächtlich aus. „Hast du dir also schon einen Ersatz für mich gesucht?“ „Wie du selbst gesagt hast, habe ich ja eh nie dich als meinen Bruder gesehen, sondern nur das kleine Kind das du damals warst. Also nein, für DICH habe ich mir keinen Ersatz gesucht. Außerdem war Thomas mein Bruder seit ich ihn kenne. Was sehr viel länger der Fall ist als wie bei dir, wie mir scheint“, gifte ich zurück. Jamie verschränkt die Arme vor der Brust, zieht sich in die Abwehr zurück, wenn er mich auch mit seinen Blicken zu erdolchen sucht. Der Angriff geht allerdings ins Leere, ich lasse mich von ihm nicht mehr beeindrucken. „Du legst es dir auch immer so aus, wie du es gerade brauchst.“ „Sagt der, der aus reinem Egoismus geschauspielert hat, dass er mein Bruder sei. Und den das noch nicht einmal mit Reue erfüllt“, wehre ich ab. „Weißt du was dein Problem ist?“, fährt Jamie plötzlich wütend aus der Haut. „Klär mich auf.“ „Du denkst, dass es immer nur um dich und deine beschissenen Probleme geht!“, keift er, deutet anklagend mit dem Finger auf mich. „Du hattest die schreckliche Kindheit, du bist derjenige, den niemand liebt, dich versteht kein Schwein, du hast dein Leben nicht auf die Reihe gekriegt und du bist ja auch die arme Sau, die rein gar nichts dafür kann!“ „Und?“, stachle ich ihn weiter an. „Nur weil alle anderen nach deiner Pfeife tanzen heißt das nicht, dass ich das auch tue! Verdammt noch mal, du bist alt genug! Scheiß auf unsere Eltern und scheiß darauf, dass uns keiner von den beiden geliebt hat! Das ist kein Grund dauernd depri zu sein! Nimm dein Leben gefälligst selbst in die Hand und hör auf dich andauernd selbst zu bemitleiden!“ „Fertig?“ „Nein, bin ich nicht! Du hast alles was du je wolltest, nimmst es aber trotzdem nicht an! Wenn du unzufrieden bist, dann ändere was daran! Warte nicht immer darauf, dass andere die Welt für dich bewegen!“ Schweigend sehen wir uns an. Jamie atmet mehrmals heftig ein uns aus um sich wieder zu sammeln. Seine Worte hallen in mir nach, finden ein Echo, aber ich bin nicht bereit dass in diesem Moment einzugestehen. Der Fehler liegt bei ihm, nicht bei mir. „Oh, und bevor ich es vergesse“, setzt er erneut an. „Von nun an gehen wir getrennte Wege, damit du es nur weißt. Ich bin es leid, dir hinterher zu rennen um mich dann von dir abkanzeln zu lassen. Sie zu wie du zurecht kommst!“ Mit diesen allerletzten Worten dreht er sich auf dem Absatz um und verschwindet schnellen, energischen Schrittes. Ich bin überrascht, dass gebe ich zu. So hat Jamie noch nie mit mir gesprochen. Völlig fassungslos bleibe ich sitzen, starre ihm hinterher und schließlich nur noch auf die zurückgebliebene gegenüberliegende Häuserwand. --- Der Halbmond geht in meinem Rücken auf, Sterne funkeln bereits am pechschwarzen Nachthimmel und ich sitze noch immer hier, unbewegt und steif. Die Kälte ist in alle meine Glieder gekrochen und doch verspüre ich nicht den geringsten Drang in mir, mich auch nur ein bisschen zu rühren. Stärker als nie zuvor spüre ich diese zwei Seiten in mir. Auf der einen Seite ist da der kleine Junge von damals, der von einer rosigen Zukunft an der Seite seines kleinen Bruder träumt. Mit ihm gegen den Rest der Welt und bis zum Ende aller Tage. Und dann ist da dieser erwachsene Mann, der genau weiß, dass diese Zukunft nur noch aus Schutt und Asche besteht. Ein Gebäude, das noch vor seiner Fertigstellung abgebrannt ist. Ich kann mich nicht von damals trennen, aber ich weiß nur zu genau, dass Jamie Recht hat. Untätig herum zu sitzen und zu grübeln bringt mich nicht weiter. Wenn ich jemals etwas erreichen will, muss ich endlich lernen voran zu gehen. Ohne mich von anderen abhängig zu machen und trotzdem ihre Hilfe annehmen zu können. Ein letztes Mal… das schwöre ich mir in diesem Moment, in dem ich mich langsam erhebe und von der Rutsche herunter klettere, ein allerletztes Mal noch möchte ich mich selbst bemitleiden, mich trösten lassen. Mit einem schwachen Lächeln auf den eiskalten Lippen stromere ich durch die Nacht, zielstrebig auf das Haus von Chris zu. Ich habe keine Ahnung welches Fenster zu seinem Zimmer gehört und kurzentschlossen klingele ich ihn und seine Mutter wach. Letztere öffnet mir mit einem verschlafenen, mürrischen Blick die Tür. „Herr… Montega…“, besinnt sie sich auf meinen Namen. „Es tut mir leid“, lenke ich behutsam ein. „Dürfte ich diese Nacht bei Chris im Zimmer schlafen?“ Diese offene Ehrlichkeit entwaffnet sie und ohne jeglichen Einwand tritt sie zur Seite, deutet die Treppe hinauf, folgt mir nach und reicht mir schließlich ein Kopfkissen und eine Decke, die sie aus dem Schrank in ihrem Schlafzimmer entnommen hat. „Die zweite Tür rechts. Chris dürfte noch wach sein, er gibt Ihnen einen Bettbezug.“ „Haben Sie vielen Dank“, flüstere ich leise, wünsche ihr noch eine gute Nacht und betrete das von ihr benannte Zimmer. „Wer war’s denn Mum?“, kommt es ganz verschlafen aus Richtung des Bettes. Langsam dreht Chris sicht herum, blinzelt in das gedämpfte Licht seiner Nachttischlampe, reibt sich müde über die Augen und erstarrt förmlich, als er mich im Türrahmen stehen sieht. „Ach du Scheiße“, entfährt es ihm und keine Sekunde später steht er vor mir, nur in seine Pyjamahose gekleidet. „Komm rein, du bist ganz blass. Wirf’s auf den Boden und leg dich in mein Bett, da ist es warm. Ich mach dir eine Wärmflasche fertig.“ Wie ein Wirbelsturm fegt er an mir vorbei, auf den Flur hinaus und verschwindet in der gegenüberliegenden Tür, dort kramt er so lange herum bis er mit einem triumphalen Geräusch die Wärmflasche gefunden hat, mit der er sogleich die Treppe hinunter in die Küche eilt. Mit einem warmen Lächeln, schäle ich mich aus meinen Klamotten, hänge sie über den Schreibtischstuhl und schlüpfe dann unter die wirklich noch sehr warme Decke. Ich reibe mir über die Oberschenkel und die Arme, hauche mir immer wieder in die Hände und versuche allmählich wieder etwas Temperatur in meinen Körper zu bekommen. Nach einer Weile kommt Chris nicht nur mit der Wärmflasche sondern auch mit einer Thermoskanne Tee wieder ins Zimmer. Er stellt die Kanne auf den Nachttisch, setzt sich neben mich aufrecht aufs Bett, zieht die Decke ordentlich zurecht und gibt mir dann die Wärmflasche, die ich mir samt dem Handtuch, mit dem sie umwickelt ist, fest auf den Bauch presse. „Warst du die ganze Zeit draußen?“, fragt er mich schließlich. „Ja.“ „Was hast du denn so lange gemacht?“ „Nachgedacht“, bleibe ich einsilbig. „Worüber?“ Und ohne dass er viel darum kämpfen müsste, erzähle ich ihm die ganze Geschichte, weihe ihn in meine Gedanken ein, in meine Gefühle, in meine Ängste. Die ganze Zeit über hört er mir schweigend und sehr aufmerksam zu. Als mir warm genug ist, setzte ich mich auf, trinke die erste Tasse Tee, dann die zweite, dritte. Die Zeit vergeht wie im Flug, ehe ich endlich alles erzählt habe, was ich ihm erzählen wollte. „Und warum bist du hier?“, stellt er die abschließende Frage. „Weil ich noch ein allerletztes Mal schwach sein wollte“, gestehe ich, kuschle mich dann erleichtert und gelöst tiefer in die Decke, vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter und schlafe mit dem wohligen Gefühl seiner Hand auf meinem Rücken endlich ein. --- Entschuldigt die lange Wartezeit. Persönliche Dinge haben mich vom schreiben abgehalten und nicht zuletzt eine kreaTIEF-Phase. Kapitel 22: Auf einer Welle des Glücks... (2002 / 01) ----------------------------------------------------- 22. Kapitel - 2002 (Januar) Der Morgen, an dem ich neben Chris, in dessen Zuhause aufwachte, ist einer der bedeutendsten meines gesamten Lebens. Nie habe ich mich so entschlossen und so befreit gefühlt. Es war als ob man mir den Schleier von den Augen genommen hätte, der dort so viele Jahre gelegen hatte. Endlich konnte ich klar in meine Zukunft sehen. Sowohl Chris als auch Thomas konnten nur staunend dabei zusehen, wie ich mein Leben vollständig auf den Kopf gestellt habe. Mit einem Mal schrieb ich Bewerbungen für Praktika, trug mich für den ersten Sprachkurs in einer Reihe von vielen ein und unterhielt mich nach Monaten wieder ausgiebig mit Erik über ein Studium im Bereich Management. Ich bin mir und meinem inneren Versprechen treu geblieben und habe mich nicht einmal mehr selbst bemitleidet, bin nicht schwach geworden und musste hin und wieder von anderen gebremst werden. Gemeinsam mit Johannes und Lars fing ich an für die Schule zu lernen, ab und an von Chris unterstützt, der mich dazu ermutigte, nicht bloß meinen Realschulabschluss sondern gleich mein Abitur nachzuholen. „Wenn du so ehrgeizig bleibst, schaffst du es auf jeden Fall“, hatte er gesagt, dabei sanft gelächelt und mir einen Kuss gegeben, den ich nur stürmisch erwidern konnte. Die Beziehung mit ihm verlief in den Anfängen zwar holprig, doch mit jedem weiteren kleinen Schritt nach vorne, wurde ich zunehmend lockerer, aufgeschlossener und vor allem kompromissbereiter. Stück für Stück gab ich nach, öffnete mich und erfuhr zum ersten Mal was es bedeutet einer Person sein Herz anzuvertrauen. Ich gab mich in Chris’ Hände und er dankte es mir, indem er immer gut auf mich acht gab. Noch sind wir nicht soweit das wir uns vollkommen vertrauen oder alles voneinander wissen, aber zumindest haben wir uns zusammengerauft und ich bestehe nicht mehr allzu oft auf meiner griesgrämigen Art, die ihn oftmals von mir gestoßen hat. Ein normales Leben, so fühlt es sich an. „Mach die Kippe aus“, zetert Chris gespielt, klaut sich die Zigarette aus meinem Mundwinkel und drückt sie im Aschenbecher aus. Wir sind bei ihm zu Hause und lernen eigentlich Mathe zusammen, wovon ich mir jedoch eine Auszeit gegönnt habe um draußen eine zu rauchen. „Ich darf auch nix“, beschwere ich mich ein wenig, ziehe dabei eine Schnute. „Wenn du den Vorsatz für das neue Jahr fassen konntest, kannst auch genauso gut jetzt damit anfangen das Rauchen sein zu lassen.“ „Ja, Chef.“ „Na komm, binomische Formeln warten auf dich.“ Ich seufze auf. Es ist wirklich verdammt schwer sich wieder in das schulisch getrimmte Denken einzufinden, wenn man so lange aus diesem Trott raus ist wie ich. Zehn Jahre habe ich nun schon keine Schulbank mehr gedrückt und im Gegensatz zu Thomas war ich auch nur auf der Hauptschule. Erik hat sein Abitur und sogar das Studium erfolgreich beendet. Von uns drein bin also definitiv ich der Dümmste. „Deine Anstrengungen in allen Ehren, aber dieses Winkelzeugs krieg ich beim besten Willen nicht in meinen Kopf“, maule ich, setze mich brav an meinen Platz und werfe einen kritischen Blick ins Buch. „Deswegen habe ich hier was für dich“, grinst Chris mich an, zaubert aus einem Schuhkarton aus weißem Papier selbstgebastelte Dreiecke hervor, die er allesamt mit einem schwarzen Stift beschrieben hat. „Okay?!“, meine ich skeptisch. „Jetzt musst du es dir nicht mehr vorstellen. Das hier sind Musterbeispiele für die Arten von Dreieck, die in den Aufgaben vorkommen. Vielleicht hilft es dir ja.“ „Wie kommst du auf solche Ideen?“, frage ich ihn überrascht. Während unserer Biologienachhilfestunden hatte er die ganze Zeit ein Plakat an der Hand auf dem der Zitronensäurezyklus sehr bildhaft dargestellt wurde. „Hm… Ich hab einfach gemerkt, dass du dir Dinge besser behalten kannst, wenn du sie in Bilder umwandelst die du kennst… die greifbar sind. Wenn du also immer ein Modell an der Hand hast das du anfassen kannst, dann wird es vielleicht leichter gehen.“ Chris ist einfach unverbesserlich. Süß und unschuldig. Und ich würde ihn jetzt so gerne küssen. Allerdings wird seine Mutter jeden Moment nach Hause kommen und da zwischen ihr und mir noch immer dieses Versprechen steht – von dem Chris nach wie vor nichts ahnt -, gehe ich dieses Risiko lieber nicht ein. Stattdessen begnüge ich mich damit seine Hand zu drücken. „Also… okay… das hier ist ein gleichschenkliges Dreieck…“, fange ich an, werde aber sofort durch sein Kopfschütteln gestoppt. „Das ist ein Gleichseitiges.“ „Ist es?“, bin ich verwirrt, ziehe noch einmal das Buch zu Rate und stelle zerknirscht fest, dass Chris Recht hat. „Ist es.“ Wir sehen auf, als wir hören wie die Haustüre aufgehen. Wie festgeklebt sitzen wir da, mit angehaltenem Atem auf die Schritte lauschend, die sich langsam, aber zielstrebig in unsere Richtung bewegen. Die Klinke wird heruntergedrückt und die Gestalt von Claudia Berger steht im Rahmen, ein gestresster Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Hallo“, grüßt sie knapp, legt ihre kleine Handtasche auf den Schrank zu ihrer Rechten. „Frau Berger“, gebe ich mit einem Kopfnicken zurück. „Stressiger Tag, Mum?“, fragt Chris nach und schenkt seiner Mutter in fürsorglicher Voraussicht eine Tasse Kaffee ein. Er stellt die Kanne zurück auf das Tablett und wartet bis sie platz genommen hat. „Ärger in der Abteilung. Und wie war dein Tag?“ „Schulisch“, lächelt er verschmitzt, kramt in seinem Rucksack nach den bedeutsamen Blättern, reicht sie herüber und wartet gespannt darauf, was Frau Berger dazu sagen wird. „Eine drei plus“, kommt es ganz überrascht von ihr. „Das ist ja super.“ „Fand mein Lehrer auch“, ist Chris ganz stolz auf sich. Er selbst ist nämlich unheimlich schlecht in Mathe, aber durch die Wiederholung des Stoffes durch mich und durch die Vor- und Nachbereitung mit seinem eigenen Nachhilfelehrer hat auch er sich langsam, aber stetig immer weiter verbessert. „Schatz, das ist wunderbar. Sollen wir heute Abend fein essen gehen?“ „Chinesisch?“ „Natürlich. Wenn du das magst. Möchten Sie uns begleiten, Herr Montega?“ „Vielen Dank, aber… Nein, danke“, gebe ich höflich zurück. „Ich werde heute zum Abendessen bereits erwartet.“ „Wie schade…“, kommt es gedämpft von Chris. „Ich habe es Marianne versprochen und außerdem solltest du deine gute Note lieber mit deiner Mutter alleine feiern“, lenke ich sanft ein. Frau Berger will das revidieren, doch ich winke ab. Ich weiß, dass es ihr in der Zwischenzeit gelungen ist mir gegenüber aufzutauen, aber ich will mich auch nicht zu sehr bei den beiden dazwischendrängen. Wegen mir würde es nur Ärger geben. Ich achte immer genau darauf wie viel Zeit ich mit Chris verbringe, denn ich will bei seiner Mutter nicht den Eindruck entstehen lassen, dass wir mehr als nur enge Freunde sein könnten. Derzeit habe ich so den Verdacht, dass sie eben diese Befürchtung hegt. „Machen wir für heute Schluss?“ „Aber…“ „Drei Stunden reichen mir, ich kann mich eh nicht mehr konzentrieren. Ich rechne die letzten Aufgaben, wenn ich zu Hause bin, okay? Ich bring sie dir das nächste Mal mit.“ „Na gut. Aber vergiss es nicht.“ „Versprochen“, hebe ich beschwörend die linke Hand, sammle meine ganzen Materialien ein und verabschiede mich von Mutter und Sohn. Mit einem leisen Seufzer trete ich aus der Haustüre nach draußen. Heute weht ein frischer Wind, ich schlinge die Jacke enger um mich, ziehe mein Schal gut fest und stapfe durch den liegen gebliebenen Neujahrsschnee. Auf dem Weg zu meiner Wohnung klingelt mein Handy, das ich umständlich aus meiner Jackentasche hervorkrame. Es ist eine weitere Absage. Noch immer habe ich keinen Praktikumsplatz, auch wenn ich Bewerbungen en masse abgeschickt habe. Erik hat mir so was allerdings schon prophezeit. Außer meiner langjährigen Erfahrung als Barbesitzer, kann ich nicht sehr viel Lukratives vorweisen. Solange ich weder meinen Abschluss noch sonstige besondere Kenntnisse nachweisen kann, bin ich ein absolutes No-Go für jeden Arbeitgeber. Trotzdem lasse ich mich nicht entmutigen. „Du brauchst ganz viel Vitamine“, hatte Erik gesagt. „Sorg dafür dass du deine Kurse gut über die Bühne bringst und dann kann ich dir vielleicht später helfen. Aber momentan wird es schwierig. Für meine Kreise brauchst du auf jeden Fall tadellose Zeugnisse, dann kann man die alten Säcke belatschern, vorher nicht.“ Einmal mehr war ich meinem langjährigen Kumpel in diesem Augenblick dankbar. Bei Erik ist eine Situation nie hoffnungslos. Wenn man einen Plan hat und der Plan auch gut ist, dann unterstützt er einen immer wo er nur kann. Er hat mir sogar versprochen, dass er mir von Paris aus ebenfalls helfen wird. Bereits in diesem Sommer wird er rüber fliegen und das neue Geschäft seiner Mutter eröffnen. Zwar durchaus gefroren, jedoch nicht im mindestens in meinem Elan gehemmt, erreiche ich meine Wohnung. Auf Zehenspitzen laufe ich ins Bad, schmeiße dort alle Klamotten von mir und steige unter die Dusche um mich wieder ordentlich auf Touren zu kriegen. Danach verwische ich meine Spuren, stelle die Waschmaschine an und mache mich in der Küche daran mir ein kleines Mittagessen zu kochen. Hier denke ich zum allerersten Mal an diesem Tag wieder an Jamie. Nach unserem verheerenden Gespräch im letzten Jahr, habe ich nie aufgehört an ihn zu denken. Seine Worte haben mir den Ansporn gegeben, endlich etwas aus meinem Leben zu machen und mich effektiv darum zu bemühen alles in geregelte Bahnen zu bekommen, doch verziehen habe ich ihm dadurch noch nicht. Er hat sich zu Weihnachten kurz bei mir gemeldet, mir Grüße ausgerichtet, doch davor wie danach herrschte Funkstille. Ich verstehe, dass er nicht auf mich zugehen will und er versteht, dass auch ich den ersten Schritt nicht wagen möchte. Zumindest noch nicht. Ich brauche Zeit um darüber nachzudenken und um die Dinge zu erreichen, die ich mir zum Ziel gesetzt habe. Erst dann kann ich ihm wieder gegenübertreten, mich bedanken und mich um einen Neuanfang bemühen. Das erneute Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Blind nehme ich den Anruf entgegen, schalte den Lautsprecher ein und lege das Gerät neben mich auf die Küchenzeile, während ich mit der anderen Hand nach dem Öl für die Pfanne greife. „Ja?“, melde ich mich so unverbindlich wie immer. „Hey, Rapha“, kommt es fröhlich von Chris. „Was gibt’s?“ „Ich wollte nur kurz nachhören, ob alles okay ist.“ „Alles bestens.“ „Sehen wir uns heute noch mal?“, fragt er mit einem hoffnungsvollen Unterton. „Hm…“, überlege ich kurz, gehe meine Termine im Kopf durch. „Eher nicht. Nein.“ „Und morgen?“ „Am Wochenende“, kürze ich es ab. „Unter der Woche habe ich meine Sprachkurse, Nachhilfe und ich muss zu einem Termin wegen der ersten Klausuren. Freitagabend habe ich wieder Zeit.“ „Dann ist der ab sofort für mich reserviert.“ „Ist notiert“, flachse ich. „Ruf mich einfach an, okay? Ich liebe dich, Raphael.“ „Ja… Ja, ich weiß“, sage ich bloß. Chris wartet keinen weiteren Moment ab, sondern legt einfach auf. Nie habe ich ihm diese Worte bisher gesagt. Und zumindest oberflächlich betrachtet scheint er auch nicht auf sie zu warten. Ich glaube er versteht einfach, dass er mir zwar sehr wichtig ist, ich aber noch nicht so weit bin ihm diese bedeutenden drei kleinen Worte ins Ohr zu säuseln. Die kommende Woche zieht sich nicht gerade hin und ich bin überrascht, als ich am Freitagabend Chris vor meiner Tür treffe. Ich komme gerade erst von meinem Sprachkurs nach Hause und bin noch gar nicht auf das Wochenende eingestellt. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, freue ich mich, ihn zu sehen. „Hey“, grüße ich ihn knapp, küsse sanft seine Wange, streichle ihm durch die Haare. An ihm vorbeitretend suche ich nach meinem Wohnungsschlüssel, den ich irgendwo in den Tiefen meiner Jackentasche finde. Ich bitte Chris hinein, schalte das Licht im Wohnzimmer an und verschwinde erst einmal im Schlafzimmer. Ich lege meinen Rucksack auf mein Bett, ziehe Schuhe und Jacke aus und gönne mir einen erfrischenden Schwung Wasser ins Gesicht. Ich wasche mich flüchtig, trage neues Deo auf und marschiere geradewegs in die Küche. Mir hängt der Magen schon seit Stunden in den Kniekehlen und so langsam brauche ich wirklich was zu essen. Chris folgt mir mit einem leisen, aber deutlich hörbaren Seufzer. „Entschuldige“, gebe ich ehrlich zu, blicke kurz über meine Schulter in sein Gesicht. „Ich sterbe gleich vor Hunger.“ „Schon gut“, lächelt er ergeben. Er umarmt mich von hinten und ich bleibe ihm zuliebe einen Augenblick lang regungslos stehen, ehe ich ihn wieder von mir schiebe und aus dem Kühlschrank Butter und Eier hole. Ein einfaches Rührei wird mir heute reichen. Während ich die Butter erhitze, nutze ich die Gelegenheit meinen kleinen Wuschelkopf wenigstens annähernd zufrieden zu stellen, indem ich ihn lange und sehr, sehr sanft küsse. Ich weiß, dass er das mag. Chris ist der total romantische Typ. „Wie war deine Woche?“ „Stressig“, sage ich, schlage das erste Ei auf. „Die ersten Klausuren sind im März. Ich muss dafür in die Leitstelle nach Köln. Wird mal wieder eine ganz schöne Fahrerei. Der Sprachkurs läuft soweit ganz gut und ich komme mir nicht einmal halb so blöd vor wie ich angenommen hatte.“ „Oh, woran liegt’s?“, hakt Chris interessiert nach. „Hm, sind viele Ausländer dabei oder ältere Leute. Da kann also keiner mehr als ich.“ „Ist ja auch keine richtige Schule.“ Zu meinem Rührei gesellen sich noch drei Toasts, dann bin ich soweit, setze mich Chris gegenüber an den kleinen Küchentisch und fange an zu essen. Ich frage ihn nach seiner Woche, schließlich ist bei ihm das Abitur auch nicht mehr allzu lange hin, trotzdem scheint er sehr viel Freizeit zu haben. „Lernst du wenigstens?“ „Aber ja“, versichert er mir. „Ich hab mit ein paar Leuten eine Arbeitsgruppe gebildet. Wir treffen uns drei Mal in der Woche und gehen den schweren Stoff durch. Ist ganz gut, weil jeder von uns was anderes gut kann, also lernen wir zwar alle zusammen, aber in kleinen Teams.“ „Klingt gut. Kommst du voran?“ „Schon.“ „Hast du dir für heute was überlegt?“ „Also Filme gucken wollte ich nicht“, sagt Chris. „Aber Spiele habe ich auch keine mitgebracht, weil wir ja nur zu zweit sind und ich dich heute auch mit niemandem teilen wollte.“ Ich schmunzle bei dieser Aussage, stehe auf, räume meinen Teller weg. Chris ist süß, wirklich süß und ich bin froh, dass ich ihn habe. „Hm, ich geh mir jetzt erst einmal die Zähne putzen und was Bequemeres anziehen. Und dann schlage ich vor, dass wir uns einfach aufs Sofa hauen und nichts tun.“ „Gerne“, strahlt er mich an und ich verschwinde einmal mehr in meinem Bad. Da ich mich doch für eine kurze und sehr erfrischende Dusche entscheide, dauert es etwas länger und als ich wieder ins Wohnzimmer trete, finde ich Chris schlafend vor. „Du Süßer“, hauche ich ihm ins Ohr, küsse ihn auf die Stirn, ehe ich ihn vorsichtig hochhebe und ihn in Richtung Bett trage. Dort lasse ich ihn sacht herunter, lösche dann alle Lichter in meiner kleinen Wohnung und lege mich schließlich neben meinen schlafenden Freund. --- Ein sanftes Streicheln, weckt mich am nächsten Morgen und ich blinzle verschlafen in die ersten Sonnenstrahlen, die durch mein Fenster, genau auf mein Gesicht fallen. Murrend reibe ich mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich einen ersten Blick nach unten werfe. Chris hockt über mir, küsst meine Brust, zieht sacht die Linien meiner Rippen nach, die sich an meinen Seiten schwach abzeichnen. Er ist ganz versunken in sein Tun und hat noch gar nicht bemerkt, dass ich bereits wach bin. Ich lasse ihn gewähren, genieße jede einzelne seiner Berührungen und es dauert nicht lange, bis ich auch entsprechend darauf reagiere. Leise aufstöhnend sinke ich ein wenig tiefer in meine Kissen, verschränke die Arme über meinen Augen und flüchte mich in die beruhigende Dunkelheit. „Morgen“, höre ich ihn undeutlich nuscheln und muss grinsen. „Morgen.“ „Gut geschlafen?“, fragt er, rutscht mit seiner Zunge etwas weiter nach rechts. „Sehr.“ Das Gespräch erstirbt augenblicklich, als er seine Hüfte ein wenig nach vorne schiebt, dabei sanft gegen meine Erektion stößt, die sich gleich darauf noch ein wenig mehr erhärtet. Ich unterdrücke ein Keuchen nur mühsam. Stück für Stück arbeitet sich Chris weiter vor, die ganze Brust, über die eine Seite, dann die andere. Von oben nach unten, von links nach rechts, lässt er keinen Zentimeter meiner Haut aus. Er streichelt und küsst mich in den Wahnsinn. Tief brummend richte ich mich auf, strecke meine Hände nach ihn aus und bekomme tatsächlich sein Kinn zu fassen, dass ich herrisch zu mir heran ziehe, damit ich ihm endlich einen langen, sinnlichen Kuss rauben kann. Er fällt mir in die Arme und ich fange ihn auf. Sein Körper auf meinem ist so leicht, schmiegt sich gegen mich, an mich. Ich bäume mich auf, ziehe ihn noch viel näher, verschmelze beinahe mit ihm. „Rapha“, stöhnt er rau. „Ich will mit dir schlafen.“ Schlagartig bin ich wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Überfahren schaue ich auf Chris herunter, der sich unbeirrt meinem Halsansatz widmet. Es dauert einige Momente bis er bemerkt, dass ich ganz steif unter ihm liege. „Was ist?“, fragt er schließlich, setzt sich ein wenig zurück um mich besser ansehen zu können. „Du willst… wirklich mit mir schlafen?“, frage ich atemlos. Chris legt den Kopf leicht zur Seite, mustert mich mit einem fragenden, verständnislosen Blick. Seine Hände ruhen auf meinem Bauch, sind zu Fäusten geballt. Seine ganze Haltung ist verspannt. Mit einem sanften Lächeln richte ich mich auf, fasse sein Gesicht, küsse seine Nasenspitze. „Ich dachte, du hättest Angst davor“, erkläre ich mich. „Oh“, kommt es nur von ihm. „Jetzt nicht mehr?“ „Es… es ist alles sehr neu für mich“, gesteht er verlegen ein, wird dabei sogar ein bisschen rot. „Wenn du mich so berührst weiß ich oft nicht was ich tun soll, was du von mir erwartest und… du hast ja viel mehr Erfahrung als ich… deswegen…“ Sein Stammeln ist unglaublich niedlich und ich verliebe mich gerade ganz bewusst in ihn. Immer wieder küsse ich ihn, ziehe ihn mit mir zurück auf die Matratze, umschlinge seinen wundervollen Körper, drehe ihn herum, liege auf ihm. Ich halte ihn ganz fest. Irgendwann vergraben sich seine Hände in meinen Haaren, seine Finger fahren ziellos hindurch, streicheln ab und an meinen Nacken. Ein schönes Gefühl. „Chris“, sage ich leise und er öffnet seine Augen. „Ich erwarte absolut nichts von dir. Ist es dein erstes Mal?“ Er nickt zögerlich. „Und deine Erfahrung bisher?“ „Das ist mir peinlich…“, gesteht er, vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter, was mich leise Lachen lässt. „Sag’s mir“, fordere ich. „Beim Flaschendrehen habe ich ein Mädchen geküsst und fand es eklig… da war ich… zwölf oder so. Und auf einer Klassenfahrt in der Zehnten hat mir ein betrunkener Mitschüler eine runtergeholt. Der konnte sich danach gar nicht mehr daran erinnern. Außerdem hatte der eigentlich auch eine Freundin“, erzählt er mir widerstrebend. „Also außer beim Küssen bin ich dein erster Mann?“, hake ich noch mal nach, weil es mich so unheimlich amüsiert wie er sich unter meinen Blicken vor Scham windet. Sonst tut er immer so selbstsicher und cool, aber gerade… er ist einfach nur Chris. Ganz unzensiert. „Hm“, macht er unbestimmt. „Dann lass uns noch damit warten“, entscheide ich. „Ich möchte, dass es etwas Besonderes für dich wird. Kein Morgenquicki.“ „Wieso Quicki?“, hebt er vorsichtig wieder den Blick. „Weil ich dir nicht versprechen kann, dass ich heute besonders lange durchhalten würde“, schmunzle ich, deute in einer vagen Bewegung nach unten, der er folgt und dadurch schlagartig wieder rot anläuft. „Du hast gute Vorarbeit geleistet.“ „Sag das doch nicht so“, ist er verschämt. „Ich sage nur wie es ist“, küsse ich seine Stirn. Wir liegen nah beieinander, ohne noch groß Worte zu wechseln. Ich halte ihn fest, lasse ihn spüren, dass ich für ihn da bin und dass er sich vor all diesen Dingen nicht zu fürchten braucht. Auch wenn ich gerade einen mordsmäßigen Ständer habe, bin ich noch lange keine ruchlose Bestie, die über unschuldige Jungfrauen herfällt. „Weißt du, Chris“, flüstere ich schließlich. „Ich bewundere dich.“ „Wieso?“, nuschelt er undeutlich gegen meinen Hals. „Weil du im Grunde ein unerfahrener Junge bist, der noch völlig unverdorben von der Welt ist und trotzdem… trotzdem hast du den Schritt gewagt dich einem Fremden zu öffnen, nur weil du ihn magst. Du hast bisher immer sehr viel Mut bewiesen.“ „Ich habe doch nur getan was ich für richtig hielt.“ „Ja. Und das nenne ich mutig.“ Mit einem Lächeln, küsse ich noch einmal seine Stirn, schlage dann die Decke zurück, in der wir uns ein wenig verheddert haben und stehe auf. Chris sieht mir mit großen Augen hinterher wie ich im Bad verschwinde. Summend steige ich unter die Dusche und fühle mich in diesem Moment so glücklich wie nie zuvor. Und all das nur weil ich weiß, dass Chris in meinem Bett liegt und auf mich wartet. --- Endlich fertig... es hat mich einige Nerven gekostet... Kapitel 23: ... in den tosenden Abgrund (2002 / 02) --------------------------------------------------- 23. Kapitel - 2002 (Februrar) „Du hast Fortschritte gemacht. Große sogar. Sehr gut“, nickt mir mein Englischlehrer anerkennend zu, klopft mir dabei auf die Schulter, während er mir meine Beurteilung hinhält. „Danke“, sage ich kurz angebunden, nehme den Zettel entgegen und lege ihn unachtsam in meinen Block, den ich kurz darauf in meiner Tasche verstaue. „Hast du jemandem mit dem du lernen kannst?“ „Ja“, gestehe ich knapp. Mein Lehrer ist ein netter Mann, kaum älter als ich. Vielleicht gerade einmal Anfang dreißig. Er bleibt immer geduldig und ruhig, selbst wenn ich einmal die Beherrschung verliere und durch das kleine Klassenzimmer tobe, in dem wir zusammen lernen. Er ist von Beruf her Englischlehrer und gibt Nachhilfe nur nebenbei. Ich mag ihn, auch wenn ich mich ihm gegenüber nur wenig öffne. Es reicht mir, dass er mir die Sprache beibringt, die die ganze Welt zu sprechen scheint. „Richte ihm meinen Gruß aus“, lächelt er mir zu, klemmt sich seine Unterlagen unter den Arm. „Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?“, bin ich erstaunt. „Wusste ich nicht. Bis eben“, schmunzelt Herr Gerdens, verabschiedet sich bei mir und lässt mich ein wenig verwirrt im Raum zurück. Einen Moment lang zögere ich, dann zucke ich jedoch ergeben mit den Schultern, trete ebenfalls auf den Flur hinaus und mache mich auf den Weg. Ich treffe mich mit einem Tutor von mir, der mir dabei hilft meinen Schulabschluss zu schaffen. Gerade als ich aus dem Schulgebäude trete, klingelt jedoch mein Handy und ich halte inne. Die Nummer auf dem Display ist mir nicht unbekannt und doch kann und will ich nicht glauben, dass ich sie wirklich vor mir sehe. Es dauert schier unendlich lange, bis ich mich wage, den Anruf entgegen zu nehmen. Schweigend höre ich auf die schluchzende Frauenstimme am anderen Ende. Ich finde keine Worte. Was sollte ich ihr nach so langer Zeit auch noch zu sagen haben? Dennoch fühle ich mich gelähmt und verwundet. Ihre Stimme… sie ist mir so vertraut… sie reißt alte Narben auf, die ich verheilt wähnte. Doch Schatten lassen sich auch nicht durch ein neues Licht vertreiben. „Schon gut“, flüstere ich rau. „Ich werde kommen.“ Damit lege ich auf. Wie angewurzelt stehe ich auf dem Schulhof herum, starre in den weitläufigen Himmel und sehe dunkle Wolken heraufziehen, die einen lang anhaltenden Regen versprechen. Blind tippe ich eine Zahl ein, drücke den grünen Hörer und lausche nun auf das beständige Tuten. Es dauert eine Weile bis sich jemand meldet, denn ich weiß, dass Jamie mitten in der Arbeit steckt. Trotzdem ist es er selbst der rangeht. „Raphael?“, höre ich seine überraschte Stimme, die mir einen Stich durchs Herz jagt. „Du musst mit mir kommen“, sage ich leise. „Bitte.“ Eine Weile ist es still am Telefon, nur die Hintergrundgeräusche aus der Küche dringen zu mir vor. Die wütende Stimme des Chefs, das laute Zischen von Öl in Pfannen. Scheinbar hat er einen stressigen Tag im Tagungshotel, wenn bereits jetzt so viel Trubel herrscht. Beinahe tut es mir leid, dass ich ihn angerufen habe. Aber es ist eine Sache, die uns beide betrifft. Darüber vergesse ich unseren Streit. „Ist gut. Wo treffen wir uns?“, scheint er mich genaustens zu verstehen. „In einer Stunde in meiner Wohnung.“ „Okay.“ Jamie legt auf. Ich fühle mich taub. Stumpf. Langsam, Schritt für Schritt, mache ich mich auf den Weg. Zwischen der Schule und der U-Bahn Station sage ich alle meine Termine für heute ab, auch mein Treffen mit Chris, der darüber sehr verwundert ist, es jedoch einmal mehr hinnimmt. Ich bin mir unschlüssig ob ich Thomas anrufen soll, dann aber lasse ich es bleiben. Ich will erst einmal selbst sehen was das alles mit sich bringt. Ob sich meine Befürchtungen überhaupt bewahrheiten. Letztendlich ist es Erich den ich anrufe und verständige. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihm in dieser Situation mehr vertrauen kann als den anderen. Er wird nicht den Kopf verlieren, egal was passiert. Bei meiner Wohnung angekommen, falle ich wie tot auf das Sofa, starre auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers und lasse meine Gedanken einander jagen. Ich kann es nicht aufhalten. So viel geht mir gerade durch den Kopf, dass ich schon fast befürchten muss, dass er platzt. Das Klingeln aus der Tür reißt mich etwa vierzig Minuten später aus meiner Starre und ich lasse Jamie herein, der mich besorgt, wenn auch ein wenig distanziert, mustert. Ohne sich der Jacke oder Schuhe zu entledigen setzt er sich in den Sessel und sieht mich abwartend an. „Was ist los?“, fragt er schließlich als ich nicht spreche. „Mutter hat angerufen“, sage ich schlicht, sehe wie er erschrocken zurückzuckt. Auch er hatte seit seinem Auszug keinen Kontakt mehr zu unseren Eltern. Was auch immer zwischen ihm und Vater und Mutter vorgefallen ist, es ist wohl genauso unschön wie bei mir. Auch wenn er vielleicht nicht geschlagen wurde, so leidet er doch genau wie ich unter den seelischen Grausamkeiten unserer Erzeuger. „Was hat sie gewollt?“, traut er sich nach einer Weile zu fragen. „Sie sagt, dass Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Krebs bricht aus.“ „Es geht also endgültig zu Ende mit ihm…“, murmelt Jamie undeutlich, verbirgt sein Gesicht in seinen Händen. „Jamie…“, sage ich unsicher. „Was… was ist damals zwischen euch passiert?“ Langsam hebt mein kleiner Bruder den Blick, doch er geht durch mich hindurch. Er sieht in die lang verdrängte Vergangenheit, von der er sich losgesagt glaubte. Aber wie auch mich, verfolgen ihn die Dämonen von damals. Oder besser, der eine Dämon, der jetzt im Sterben begriffen ist. „Mutter war immer wie ein Geist. Sie wandelte durch den Tag mit dem einen Gedanken, der sie vollständig ausfüllte. Vater ist ihr Ein und Alles, er beherrscht sie. Als du fort warst… nie war ich einsamer…“, erzählt Jamie stockend, mit Tränen in den Augen. „Niemand hat mich angesehen, niemand hat mich beachtet. Es war egal was ich tat, so lange ich nur nicht in Vaters Nähe kam. Mitschüler haben mich um meine Freiheit beneidet, aber ich… ich wäre froh gewesen, wenn es jemanden gegeben hätte, der… der da gewesen wäre…“ Jamie beginnt zu schluchzen, sein ganzer Körper bebt und zittert, er vergräbt seine Finger in den Sessellehnen, sucht krampfhaft nach Halt und Sicherheit. Langsam, zögerlich gehe ich zu ihm herüber, knie mich vor ihm hin und lege meine Hände auf seine Beine. „Irgendwann habe ich dich vergessen… ich dachte, du wärst nur ein Traum gewesen…“ „Es tut mir leid“, flüstere ich. „Verzeih mir. Ich wollte dich beschützen und habe dich trotzdem alleine gelassen.“ „Schon gut. Du kannst es nicht mehr ändern.“ „Nein“, stimme ich betrübt zu. „Kann ich nicht.“ Jamie streckt mit einem Mal seine Hände nach mir aus, sinkt zu mir auf den Boden, lässt sich von mir auffangen und halten, während er seinen Gefühlen vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben freien Lauf lässt. Ich hatte Unrecht ihn zu verurteilen und von mir zu stoßen. Genau wie ich, hat er gelitten, doch ich konnte nur mich sehen. Lange Zeit halten wir uns gegenseitig fest, spenden uns Trost und vergessen alles was zwischen uns gestanden hat. Es bedarf keiner Worte mehr, als Jamie sich schlussendlich von mir löst und aufsteht. In seinem Blick sehe ich, dass er bereit ist für einen Neuanfang. Wir werden sehr lange brauchen um alles zu verarbeiten und uns wieder näher zu kommen, aber hier und heute können wir den ersten Grundstein zu einem besseren Verständnis legen. „Ich fahre ins Krankenhaus“, teile ich ihm meine Entscheidung mit. „Gut. Ich begleite dich.“ „In Ordnung.“ Wir verlassen die Wohnung, gehen zusammen durch die Stadt, bis wir bei Jamies und Martinas Wohnung angekommen sind. Hier wechselt er seine Arbeitskleidung gegen normale Sachen, nimmt sich den Autoschlüssel seiner Frau, hinterlässt dieser noch eine Nachricht und dann steigen wir gemeinsam in seinen Ford Focus, den er sich irgendwann letztes Jahr besorgt hat. „Letzte Bedenken?“, fragt er, hält den Schlüssel knapp über dem Zündschloss. „Nein“, meine ich schlicht, schnalle mich an. Der Motor springt an, Jamie setzt den Blinker, parkt aus. Es wird etwas über zwei Stunden dauern bis wir da sind. Eine lange Zeit zum nachdenken und grübeln. --- Ich bin sehr froh, dass ich nicht alleine hier bin, als sich die automatischen Türen hinter mir schließen und die Hektik des Krankenhauses über mir hereinbricht. Gemeinsam mit Jamie trete ich an den Rezeptionsschalter und warte geduldig, bis die Schwester zu mir hochblickt. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie leicht unfreundlich. „Wo liegt Herr Karl Montega?“ „Sind Sie mit ihm verwandt?“ „Wir sind seine… Söhne“, würge ich hervor. „Einen Moment“, antwortet sie knapp, hackt auf die Tastatur vor ihr ein, ehe sie missbilligend mit der Zunge schnalzt. „Er liegt noch auf der Intensivstation. Benutzen Sie den Aufzug um die Ecke. Seine Frau wartet im Wartezimmer auf der dritten Etage.“ „Danke.“ Jamie packt mich am Arm, hakt sich bei mir unter und ich bemerke wie unsicher sein Schritt ist. Ich lege meine Hand auf seine, geleite ihn zum Aufzug und drücke den Knopf mit der eingravierten Drei. Oben angekommen sehe ich mich um, folge einem Schild in Richtung des Aufenthaltsraums, höre schon bald die Stimme meiner Mutter. Als wir eintreten, ruckt ihr Blick zu mir und ihr entfährt ein spitzer Schrei. Dann sackt sie in die Knie und der anwesende Arzt hat so seine liebe Not sie festzuhalten. Ich eile auf ihn zu, nehme ihm die Frau ab, presse sie an mich. „Reiß dich zusammen“, brumme ich böse. „Mutter.“ „Sind Sie Raphael Montega?“, wendet sich der Arzt an mich, während er meiner Mutter den Puls fühlt und mich anweist, sie zu einem Stuhl zu bringen. „Ja“, gebe ich knapp zur Antwort. „Ihre Mutter sprach von Ihnen, wie gut, dass Sie da sind.“ „Das ist mein Bruder, Jamie“, lenke ich den Arzt von mir ab. Es ist mir unangenehm, dass er so spricht und es wühlt mich auf, dass ich in dieser mir so dermaßen fremden Frau, noch immer das Antlitz meiner liebevollen Mutter erkennen kann, die sie einst gewesen ist. „Ich bin Doktor Richards“, schüttelt er Jamie und mir die Hand. „Ihre Mutter steht unter einem leichten Schock, aber es ist nichts um sich wirklich Sorgen zu machen.“ Ich nicke abwesend. „Wie geht es ihm?“, stellt Jamie dann die entscheidende Frage, die mir einfach nicht über die Lippen kommen will. Das Gesicht von Herrn Richards wird schlagartig ernst und besorgt. „Der Krebs hat sich in den letzten Wochen stark vergrößert, dass wir uns gezwungen sahen eine Notoperation einzuleiten. Allerdings erlitt er während der Behandlung einen Herzstillstand und musste reanimiert werden.“ „Lassen Sie ihn einfach abkratzen…“, spuckt Jamie feindselig aus. „Jamie!“, sage ich scharf und er wendet sich mit einem hasserfüllten Blick von mir ab. „Entschuldigen Sie, der Stress, Sie verstehen?“ „Natürlich“, gibt Doktor Richards verwirrt zurück, beobachtet meinen Bruder eine Zeit lang sehr aufmerksam, ehe er sich wieder mir zuwendet. „Ich bin nicht gerne ein Schwarzredner, aber… Sie sollten sich darauf einstellen, dass Ihr Vater bald sterben wird. Auch wenn er sich wieder einigermaßen erholen sollte, so können wir das Ausbrechen des Krebses, nicht mehr länger verhindern. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“ „Ich weiß“, antworte ich schlicht. „Meine Mutter wird es nur kaum verkraften.“ „Wir haben hier psychologisch ausgebildetes Personal, wenn Sie darauf zurückgreifen möchten“, bietet Herr Richards mir an, wirkt dabei nicht ganz so souverän wie er es wohl gerne hätte. Auch ihm fällt es offensichtlich nicht leicht diese einfache Tatsache vom sterben meines Vaters richtig rüberzubringen. Bei mir und Jamie braucht er sich die Mühe aber auch gar nicht erst zu machen. Wir wussten schon immer, dass uns die Nachricht vom Tod dieses Mannes, nicht sonderlich schockieren würde. Zumindest nicht im negativen Sinn. „Danke für Ihre Mühe, Doktor“, wehre ich ihn schließlich ab. „Selbstverständlich. Ich… komme dann später noch einmal.“ „Ja.“ Damit verlässt uns der Arzt und ich sinke erleichtert in einen der Stühle. Mutter sitzt vor sich hin brabbelnd da, knetet ihre Hände und wirft immer wieder einen nervösen Blick zwischen mir und der Tür hin und her. Ich strecke meinen Arm nach ihr aus, umfasse ihre Hände, halte sie fest, sehe ich fest in die Augen und fühle mich in diesem Augenblick so unendlich traurig und verloren. „Schon gut“, flüstere ich. „Ist schon gut.“ Tränen laufen ihr über die Wangen, ich streiche sie fort. Ihre Schultern fangen richtig zu beben an, ihr ganzer Körper zittert, sie wirft sich im Stuhl vor und zurück, schluchzt laut und hemmungslos und es zerreißt mir das Herz sie so zu sehen. Nur noch eine kümmerliche, kaputte Existenz. Nicht einmal mehr ein Schatten von dem, der sie einst war. Was hat sie nur so zugerichtet? Er, oder sie selbst? „Ist gut, ist ja gut“, rede ich leise auf sie ein. So vergehen die Minuten, schließlich auch die Stunden. Irgendwann hat meine Mutter genug geweint, lehnt sich schlafend an meine Schulter, während ich noch immer ihre Hände halten, die ganz verkrampft unter meinen liegen. Jamie ist unruhig auf und ab gegangen, hat sich schließlich irgendwann hingesetzt und mich grimmig angestarrt. „Ich habe Angst vor mir selbst“, sagt er, als Mutter tief und fest schläft. „Weil ich nie geglaubt hätte, dass ich wirklich dazu fähig bin einem anderen Menschen den Tod zu wünschen.“ „Ich denke, viele würden so empfinden. In deiner Situation“, antworte ich nachdenklich. „Aber du nicht, oder?“ „Wie meinst du das?“, frage ich nach, blicke zu meinem kleinen Bruder herüber. Jamie deutet mit dem Finger auf die Frau in meinem Arm, schüttelt verständnislos den Kopf. „Ich könnte das nicht. Ich ekle mich schon vor dem Gedanken, dass sie mich auch nur anfassen könnte, aber du, du beruhigst sie sogar. Du bist für sie da, wie sie es nie war.“ „Das stimmt nicht“, widerspreche ich. „Mutter war früher… anders.“ „Wann?“, will Jamie mit argwöhnischer Stimme wissen. „Als ich im Kindergarten war. Vor meinem sechsten Geburtstag.“ „Vater schlug dich mit acht zum ersten Mal, oder?“ „Ja. Aber Mutter begann zu trinken, als ich gerade in die Schule kam. Und Vater wurde zu diesem Zeitpunkt immer kälter und abweisender“, erzähle ich ihm. „Ich glaube, dass sie mit dem Trinken nie aufgehört hat.“ „Das wusste ich gar nicht“, gesteht Jamie leise, beinahe verschämt. „Du warst doch nie zu Hause“, lächle ich nachsichtig. „Sie trank meistens abends, nach dem Essen, wenn er noch mal an seinen Schreibtisch ging und ich kurz danach ins Bett musste. Wenn sie mir einen Gute-Nacht-Kuss gab, habe ich manchmal ihre Fahne gerochen. Dann war es wieder besonders schlimm.“ „Und trotzdem…“ „Ja“, unterbreche ich ihn, streichle durch das Haar meiner Mutter, sauge ihren seltsamen Geruch in mir auf. Sie hat schon immer merkwürdig gerochen, auch wenn ich nie wusste woher da kam. „Weil ich diese andere Seite an ihr kenne. Als sie noch…“ Weiter komme ich jedoch nicht. Ich wüsste nicht wie ich es ausdrücken soll. Normal, liebevoll? Ich kenne sie eben noch, als sie wirklich und leibhaftig meine Mutter war. Sie war nie wie andere Mütter, immer etwas gesetzter in ihren Gefühlen, aber trotzdem hatte sie diesen liebevollen Blick, wenn sie mich ansah. Und das machte sie für mich zu meiner Mama. Auch wenn ich diesen Kosenamen schon bald zu Grabe getragen habe. „Und Vater? Denkst du auch so über ihn?“ „Nein“, antworte ich unumwunden. „Nein, Vater war schon immer… anders. Früher hat er öfters gelächelt, wenn er mich sah, oder mich mal in den Arm genommen aber das war so selten, dass ich mich heute kaum noch daran erinnere. Ich kenne nur den jähzornigen und den innerlich verfaulten Vater.“ „Trotzdem wünscht du ihm nicht den Tod?“, bohrt Jamie weiter. „Er stirbt doch bereits, Jamie“, sehe ich meinen kleinen Bruder wieder an. „Er stirbt. Was soll ich ihm da noch wünschen? Ich werde einfach nur froh sein, wenn es vorbei ist.“ Stunde um Stunde verbringen wir im Wartezimmer, ohne auch nur eine weitere Nachricht vom Zustand unseres Vaters zu hören. Mutter wacht zwischendurch einmal auf, geht auf den Gang hinaus und verschwindet einige Zeit. Weder ich noch Jamie kümmern uns groß darum. Denn auch wenn ich diese Frau nicht ganz so stark verachte wie Jamie es tut, so bin ich ihr doch nicht sonderlich zugetan. Soll sie machen was sie will. Eine weitere Stunde vergeht und langsam werde ich etwas unruhig. Ich stehe auf und mache mich auf die Suche nach meiner Mutter. Irgendwie habe ich im Gefühl, dass sie irgendeine Dummheit anstellt. Ich finde sie allerdings bereits zwei Ecken weiter wo sie regungslos vor einem Kaffeeautomaten steht. „Wo ist dein Portmonee?“, frage ich sie, erhalte jedoch keine Antwort. Während ich vorsichtig in ihren Taschen nachschaue, wundere ich mich darüber, ob sie wirklich all die Zeit hier herumgestanden hat. Ich stelle bald fest, dass sie kein Bargeld bei sich hat und seufze. Aus meiner Börse fische ich die entsprechenden Münzen, werfe sie ein. „Was möchtest du haben?“, richte ich erneut das Wort an sie, doch sie reagiert nicht. „Drück einfach auf den Knopf.“ Jetzt regt sie sich tatsächlich, wählt einen einfachen schwarzen Kaffee, von dem ich weiß, dass nur mein Vater ihn ohne alles getrunken hätte. Ich sage jedoch nichts dazu, drücke ihr den Becher in die Hand, als er aus der Maschine herauskommt und wähle dann für Jamie einen Kaffee mit Zucker und für mich einen einfachen heißen Zitronentee, den es zu meinem leichten Erstaunen auch gibt. „Na komm, wir gehen zurück“, helfe ich meiner Mutter auf die Sprünge, schiebe sie mit meinem Ellbogen vor mir her, zurück ins Wartezimmer, wo Jamie grimmig aus dem Fenster starrt. Ich reiche ihm den Becher, den er mit einem leisen Dank annimmt. „Wo war sie?“ „Stand vor dem Automaten.“ „Die ganze Zeit?“, will er ungläubig wissen. „Scheinbar.“ „Sie ist krank“, stellt Jamie fest, nippt an seinem Kaffee. „Ja, ich denke schon.“ Wieder schweigen wir uns an und warten. Das ist das allerschlimmste daran. Zu warten. In jedem Moment könnte Vater einfach sterben, dann wäre alles vorbei, der Alptraum von über einem Jahrzehnt, wäre zu Ende gegangen. Oder aber er erholt sich und die Ungewissheit nagt sich weiter zu einem durch. Man hat viel zu viel Zeit um über alles nachzudenken. Auf unserer Seite des Gebäudes sieht man wie langsam die Sonne untergeht und ich bin überrascht darüber, wie spät es tatsächlich schon ist. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tippe die Kurzwahl für Chris ein, die Eins. Lange Zeit war dieser Platz leer. Thomas hat die Zwei, Jamie die Drei und Erich die Vier. Irgendwie dachte ich immer, dass ich so festlege, wer mir am wichtigsten ist, aber wenn ich so darüber nachdenke, dann stimmt das nicht ganz. Auch wenn Erich ganz hinten steht, ist er der Erste, den ich angerufen habe. Bisher ist er außer Jamie auch der Einzige, der überhaupt weiß, was heute passiert ist. Und wenn Jamie, wie ich lange Zeit geglaubt habe, der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen ist, warum habe ich ihm dann nur die Drei gegeben? Von Anfang an hatte er diese Zahl, auch wenn ich ihm die Eins hätte zuordnen können. Ob ich schon damals geahnt habe, dass Jamie und ich nicht so unzertrennlich waren, wie ich es gerne angenommen habe? Die Grübelei macht mich ganz wirr im Kopf und ich lasse es einfach bleiben. Chris rufe ich trotzdem nicht an, sondern stecke das Handy unverrichteter Dinge wieder in die Hosentasche. Noch weiß ich nicht wie dieser Tag zu Ende geht, deswegen will ich ihn noch nicht damit beunruhigen. Außerdem ist das eine Sache, bei der ich es im Gefühl habe, dass ich sie alleine durchstehen muss, wenn ich will, dass das alles einmal vorbei ist. Irgendwann um kurz nach halb sieben kommt Herr Richards herein und ich kann nur mit hartem Griff verhindern, dass meine Mutter gleich auf ihn zustürmt. Reden tut sie allerdings bereits wie ein Wasserfall und es ist schwer sie wenigstens etwas zu beruhigen. Ich zwinge sie in ihren Stuhl zurück und sehe sie fest an. „Lass es“, zische ich ihr zu und ihr Gebrabbel stoppt. Ihre Augen sind groß, blicken wirr zu mir auf und ich kann auch so etwas wie Frucht in ihnen lesen. Ob sie mich oder die Nachrichten fürchtet, kann ich nicht sagen. „Wie geht es ihm?“, stellt Jamie erneut diese Frage aus dem Hintergrund. Er hat sich nicht einmal zu uns herumgedreht, starrt weiterhin wie eine Statue aus dem Fenster und in den dämmrigen Himmel hinein. „Soweit ist er erst einmal über den Berg. Sein Zustand ist stabil und wir konnten ihn auf ein Zimmer verlegen. Er steht aber weiterhin unter Beobachtung. Sie können jetzt zu ihm, wenn sie wollen.“ „Gibt es rechtliche Dinge um die wir uns kümmern sollten?“, hake ich nach, weil ich dieses leidige Thema endlich vom Tisch haben will. „Ihr Vater hat schon vor einiger Zeit alles mit einem Notar geregelt und auch sein Testament gemacht.“ „Woher wissen sie das?“, will Jamie wissen, bleibt weiterhin da wo er ist. „Ich betreue ihren Vater seit ich die Krebsdiagnose bei ihm gestellt habe. Ich war anwesend, als er bei einem seiner Aufenthalte hier, mit dem Notar alle Details durchgegangen ist“, erzählt Doktor Richards in angespannter Haltung. „Nun, dann wäre alles erledigt“, beschließe ich, fasse Jamie an der Schulter. „Wenn Sie so freundlich wären meine Mutter das Zimmer zu zeigen.“ „Sie… gehen nicht zu ihm?“, fragt Richards verwundert nach, als er bemerkt, dass wir im Begriff sind zu gehen. Ich halte an der Tür noch einmal an und drehe mich zu dem Arzt um. „Nein“, sage ich schlicht. „Wir werden auf die Nachricht des Notars warten.“ Damit wende ich mich um, gehe mit Jamie im Arm hinaus. Das alles macht mich so krank und ich merke, dass ich keinen Augenblick länger in diesem verfluchten Haus bleiben kann. Die vielen Ärzte und Schwestern scheinen mich alle vorwurfsvoll anzusehen und ich selbst fühle mich unendlich schlecht dabei, meine Mutter einfach alleine zurück zu lassen. Aber ich kann meinen Vater nicht sehen. Ich habe mir geschworen, ihm nie wieder unter die Augen zu treten. Er soll so alleine sterben wie er gelebt hat. Ein allerletztes Mal soll er sich vorhalten können, wie schlecht sein Leben verlaufen ist und wie einsam er im Grunde seines Herzens sicherlich ist. Es gibt keine Familie die um ihn trauert oder die Anteil an seinem Schicksal nimmt. Soll Vater sich mit unserer schwachsinnig gewordenen Mutter begnügen. Schließlich ist es ja scheinbar das, was er immer gewollt hat. An Jamies Auto angekommen, bleiben wir stehen, jeder in seine eigenen finsteren Gedanken vertieft. Wir müssen verarbeiten was gerade geschehen ist. „Kacke“, entfährt es Jamie irgendwann, ehe er das Auto aufschließt und sich auf den Fahrersitz fallen lässt. Ich brauche noch so meinen Moment und tigere unruhig und nervös auf dem Parkplatz hin und her. Dabei fahre ich mir wiederholt durch die Haare, ziehe daran, so als ob ich sie alle auf einmal ausreißen wollte. Dann hole ich erneut mein Handy hervor und diesmal rufe ich tatsächlich an. Chris meldet sich beinahe augenblicklich und ich bin mir fast sicher, dass er den ganzen Tag nur auf meinen Anruf gewartet hat. „Hey“, sage ich in dem schwachen Versuch unbeschwert und heiter zu klingen. Meine Stimme bricht allerdings und ich brauche einen langen Moment, ehe ich meine Sprache wieder gefunden habe. „Kommst du zu mir? Bitte?!“ Ich lege auf, als er mir zusagt, drehe noch einmal eine Runde ums Auto herum, ehe ich schließlich die Tür aufreiße und mich rechts von Jamie auf den Sitz plumpsen lasse. Ich schnalle mich an, starre grimmig vor mich hin, während er den Motor anlässt und anfährt. „Bist du enttäuscht?“, frage ich Jamie nach einiger Zeit, in der wir nur stumm nebeneinander gesessen haben. Noch immer sehe ich stur aus dem Fenster, so wie mein kleiner Bruder vor nicht allzu langer Zeit. „Ich weiß nicht“, gesteht er. „Auf der einen Seite schon… andererseits wäre es besser gewesen, wenn… oder nicht?“ „Ja, vielleicht.“ Mehr sprechen wir nicht miteinander. Die ganzen Stunden bis zu meiner Wohnung verbringen wir schweigend, grübelnd. Irgendwann auf der Autobahn fährt Jamie auf den Standstreifen, schaltet das Warnblinklicht an und lässt den Kopf gegen das Lenkrad sinken. Er weiß ebenso wenig wohin mit seinen Gefühlen wie ich. Sie sind widersprüchlich, wenig konkret. Es ist frustrierend. Ich gebe meinem Bruder alle Zeit die er braucht, bis er wieder fit ist. Es dauert etliche Minuten lang, ehe er sich wieder aufrichtet, den Blinker setzt und sich wieder in den fließenden Verkehr einfädelt. Dann geht die Fahrt in Schweigen weiter. Vor meiner Wohnung angekommen hält er an, lässt den Motor laufen und wir beide blicken zu Chris, der einsam auf der Treppenstufe hockt und uns entgegen sieht. Ich steige nicht sofort aus, sondern lege noch einmal meinen Arm um Jamie, ziehe ihn zu mir herüber. „Ich bin für dich da“, flüstere ich. „Dieses Mal bin ich von Anfang an für dich da.“ „Danke“, kommt es rau zurück und ich spüre, dass er weint. „Ich hab dich lieb, wirklich.“ „Ich dich auch, Bruderherz.“ Ich küsse ihn auf die Stirn, schnalle mich ab und steige aus. Chris kommt auf mich zu, greift meine Hand und wir beide sehen Jamie hinterher, der etwas schwerfällig den Wagen dreht und sich auf den Heimweg macht. „Was ist passiert?“, wispert Chris, greift nun meinen ganzen Arm und sieht sorgenvoll zu mir auf. Ich beuge mich langsam zu ihm herunter, küsse ihn sanft auf seine weichen Lippen und geleite ihn in meine Wohnung. „Lass uns drinnen über alles reden“, beschließe ich und bin froh, als er dagegen keine Einwände erhebt. Gemeinsam betreten wir mein Wohnzimmer, doch ich kann mich momentan einfach nicht setzen, viel lieber würde ich Chris jetzt einfach nur im Arm halten. So gehe ich mit ihm dann auch ins Schlafzimmer, lasse mich aufs Bett fallen, ziehe ihn mit mir, auf mich, küsse ihn noch ein paar Mal, ehe ich mich zur Seite rolle, ihn ganz fest umschließe und meine Nase an seinem T-Shirt reibe. Diese Nähe zu ihm gibt mir Kraft und Ruhe und ich kann viel besser über all diese Dinge nachdenken. „Jamie und ich waren im Krankenhaus“, fange ich irgendwann an zu erzählen. Chris warme Hand streichelt mir schon seit einiger Zeit über den Rücken und ich finde das ungemein wohltuend. „Unser Vater hatte einen Herzstillstand, während man seinen Krebs operierte.“ „Wie geht es ihm?“ „Er hat sich erholt. Aber sterben wird er trotzdem sehr bald. Mutter war auch da. Sie ist total verwirrt und nicht mehr sie selbst. Sie hat über eine Stunde vor einem Kaffeeautomaten gestanden und sich kein bisschen bewegt.“ Chris hört mir schweigend zu, küsst hin und wieder meinen Haaransatz, während seine Arme sich ganz fest um mich schließen und ich mich ganz geborgen bei ihm fühle. Sein ruhiger Atem, das gleichmäßige Schlagen seines Herzens, sein Geruch nach Nüssen und Sonnenschein, seine Wärme und das Gefühl seiner weichen Lippen auf meiner Haut… alles ist so wie es sein soll. Ich fühle mich sicher bei ihm. „Wie geht es dir?“, fragt Chris leise. „Ich weiß nicht. Keine Ahnung“, ist meine einzige Antwort darauf. --- Jetzt geht es also auf das große Finale zu. Ich bin traurig. Kapitel 24: Und der Vorhang fällt (2002 / 06) --------------------------------------------- 24. Kapitel – 2002 (Juni) „Jamie? Ich bin wieder da!“, rufe ich aus dem Flur meiner Wohnung durch die offene Tür und erhalte eine unbestimmte brummige Antwort und seufze laut auf. Es sind nun vier Monate seit dem ersten Anruf aus dem Krankenhaus vergangen und entgegen all meiner und Martinas Versuche ist Jamie bei mir geblieben um sich in meinem Schutz zu verkriechen. Die junge Ehe der beiden steht ziemlich auf der Kippe, doch Jamie weigert sich standhaft seiner Ehefrau in die Augen zu sehen, solange er dieses dunkle Gefühl des Hasses in sich spürt. Zumindest sind das seine eigenen Worte. Ich kann ja verstehen, dass mein Bruder sich nicht allzu wohl bei dem Gedanken fühlt, dass er unserem sterben Vater trotz allem noch einen langsamen und schmerzhaften Tod wünscht, doch auf der anderen Seite fände ich es wichtig, dass er mit Martina darüber redet und sich von ihr trösten lässt. Allerdings sind das Dinge die ich Jamie stundenlang erzählen könnte nur um dann zu sehen wie er sich wortlos von mir abwendet und sich in sich selbst zurückzieht. Also lasse ich es bleibe und versuche so gut ich kann Martina vor einem nervlichen Zusammenbruch zu bewahren. Die Arme tut mir wirklich Leid. So behandelt zu werden hat sie nicht verdient und ich würde unheimlich gerne mehr für sie tun. Doch mehr als mit ihr zu reden und sie dann in der Obhut von Thomas und Chris zu lassen, kann ich nicht machen. Die beiden Jungs sind mir eine unheimliche Hilfe. Erik weiß auch was los ist, und er kommt sogar hin und wieder vorbei, doch hat er selbst kaum Zeit, da seine Abreise nach Frankreich kurz bevorsteht. Außerdem sind seine Worte jedes Mal dieselben: „Wenn der alte Sack endlich weg ist geht’s richtig los. Dann startest du durch!“ Irgendwie kann ich diese Einstellung nicht im gleichen Maße teilen. Leise aufseufzend gehe ich in mein Wohnzimmer, dass seit Jamies Einzug zunehmend verwahrlost ist, da mein kleiner Bruder es nicht für nötig hält sich zu bewegen und etwas Ordnung zu halten. Und da ich mich weigere die ganze Zeit bei ihm zu hocken und mein Leben an mir vorbei ziehen zu lassen und stattdessen lieber meinen Unterricht besuche, habe ich selber kaum genug Freiraum um aufzuräumen. Doch die Diskussionen darüber spare ich mir ebenfalls. Es hätte alles keinen Sinn. Jamie ist beinahe apathisch geworden. Mein kleiner Bruder sitzt auf dem Sofa, die Arme über die Augen gelegt, erstarrt in all seinen Bewegungen und nur sein sich hebender und senkender Brustkorb verrät mir, dass er noch am leben ist. Ich seufze laut auf, setze mich zu ihm und streiche ihm einmal über die Haare, was ihn zu einem tiefen Brummen animiert. „Jamie… rede mit mir“, bitte ich ihn flüsternd. „Gibt nichts“, murrt er unfreundlich, ruckelt hin und her bis ich schließlich meine Hand zurück ziehe und nur noch stumm neben ihm sitze und darauf warte, dass er etwas sagt. Ich weiß, dass er das tun wird, schließlich kenne ich ihn schon länger. „Ich…“, beginnt er nach einer Weile zaghaft, zieht den ersten Arm von seinem Gesicht herunter, blinzelt mit einem Auge vorsichtig um sich an das Licht im Zimmer zu gewöhnen. „Ich will einfach nur, dass es zu Ende ist. Diese Warterei macht mich krank.“ „Warum gehst du nicht nach Hause?“, frage ich sacht um ihn nicht zu erzürnen. „Oder geh doch wieder arbeiten, das lenkt dich ab. Wäre sicherlich besser als tatenlos bei mir in der Wohnung rumzuhängen.“ „Vielleicht“, gesteht er leise. „Aber… es kommt mir so absurd vor das zu tun… als ob es nicht mehr zu meinem Leben gehören würde.“ „Das ist Unsinn, Jamie“, meine ich, sehe ihn nicken. „Ich weiß“, ist seine Antwort darauf und er lässt den Kopf sinken. „Ich fühle mich einfach… wie erstarrt und… antriebslos. Als ob alles in meinem Leben von der einfachen Tatsache abhängen würde, ob er lebt oder eben tot ist. Das ist grausam.“ Ich schweige, schaue aus dem Fenster und denke über die Worte meines Bruders nach. Unser sterbender Vater wirft noch immer seinen mächtigen, beinahe undurchdringlichen Schatten über uns und unseren Alltag. Auch ich warte auf seinen Tod, genau wie Jamie. Und trotzdem frage ich mich, warum das auf einmal so wichtig geworden ist. Mein bisheriges Leben ist doch auch ohne diese Gedanken abgelaufen. Jeder muss irgendwann sterben, auch mein Vater, das war mir immer klar und doch… es fühlt sich an als ob meine gesamte Zukunft davon abhängen würde wann er endlich diese Welt verlässt. Ob es daran liegt, dass man dann in der Vergangenheit von ihm denken und sprechen kann? „Ich denke“, fange ich zögernd an. „Wir müssen einfach versuchen ihn wieder dahin zu schieben wo er her kam. In die Unwichtigkeit. Es lief ohne ihn sehr gut, also sollte uns sein Dahinscheiden nicht so aus der Bahn werfen.“ „Leichter gesagt als getan“, brummt Jamie und innerlich pflichte ich ihm bei. „Na komm“, versuche ich ihn aufzumuntern. „Wir machen einen Spaziergang, mal endlich wieder raus aus den vier Wänden.“ Einen Moment lang mustert Jamie mich skeptisch, scheint es sich dann jedoch anders zu überlegen und zuckt mit den Schultern was ich als ein Einverständnis interpretiere. Gemeinsam gehen wir ins Schlafzimmer und während Jamie sich frische und straßentaugliche Klamotten anzieht, wasche ich mich kurz im Bad. Ich entscheide mich gegen einen Kleiderwechsel und nach kurzer Zeit verlassen wir zu zweit die Wohnung und streben einem unbestimmten Ziel entgegen. Es wird ein langer, sehr ausgiebiger Spaziergang, der uns in die Innenstadt führt, dann wieder aus dieser hinaus, in eine höher gelegene Wohngegend die noch mit einigen Gründflächen und Alleen aufwarten kann. Auf Jamies Wunsch hin gehen wir sogar über den städtischen Friedhof und genießen hier die Ruhe des Tages. Ziellos schlendern wir hin und her, gönnen uns am frühen Abend einen Eisbecher in einer Eisdiele und als ich Jamie vorschlage ihn zum Essen einzuladen, hat er auch zu diesem Vorschlag keine Einwände. Die meiste Zeit schweigen wir uns an, nur hin und wieder greifen wir unser altes Gesprächsthema wieder auf oder sprechen über meinen Unterricht. Es ist ein wenig seltsam, gezwungen und auch unfreiwillig, doch ich ertrage es wegen Jamie. Ich bin froh, dass er zugestimmt hat mit mir hinauszugehen, vielleicht wird ihn das wieder etwas aufpäppeln. Als wir uns gerade darüber unterhalten in welches Restaurant wir einkehren wollen, hören wir zwei Stimmen, die uns rufen. Als wir uns umdrehen erkennen wir Thomas und, zu meinem Erstaunen, Chris, die uns, jeweils schwer bepackt, entgegen kommen. „Hallo ihr beiden“, grüßt Thomas, sobald er bei uns angekommen ist, wackelt dabei mit seinen vier Tüten. „Hi! Was macht ihr denn hier?“, will ich neugierig wissen, schaue kurz zu Chris, der mit dem Handy am Ohr neben Thomas steht und mich sanft anlächelt, ehe er wieder leise eine Antwort flüstert, sich schließlich sogar abwendet. „Och wir beide hatten heute irgendwie Hummeln im Arsch, wollten das Wetter genießen und sind uns dann im Park in die Arme gelaufen“, erzählt Thomas fröhlich. „Und dann hatten wir die Idee gemeinsam nach neuen Klamotten zu gucken.“ „Ihr seid dann wohl fündig geworden, was?“, hakt Jamie leicht belustigt nach, deutet auf die reiche Ausbeute der beiden und Thomas kann es sich nicht verkneifen uns einige Stücke seiner neuen Errungenschaften zu zeigen. Ich beteilige mich eher abwesend an dem Gespräch der beiden, hänge mit meinen Augen an Chris fest, der mit wenigen Schritten auf und ab läuft, noch immer in sein Gespräch vertieft, die Augenbrauen leicht zusammengezogen so als ob ihm nicht wirklich gefallen würde, was er zu hören bekommt. Es dauert jedoch nur noch ein paar Minuten ehe er mit einem sanften Lächeln auflegt. Er dreht sich um, kommt auf uns zu und japst einmal erschrocken auf, als ich ihn ruckartig an meine Brust ziehe, meine Hand in seinem hellbraun schimmernden Haar vergrabe und ohne jede Verzögerung seinen Mund mit dem meinen verschließe. Vollkommen überrascht stolpert er zwei Schritte nach hinten, doch ich setze ihm nach, lasse unsere Verbindung nicht breche, schiebe meine Zunge zwischen seinen Lippen vorbei, entlocke ihm damit ein erstes, tiefes Stöhnen. Ich grinse zufrieden, ziehe mich zurück, fahre ihm einmal durch die Haare und sehe ihm schließlich mit einem verschmitzten Lächeln ins Gesicht. Seine Augen wirken ein wenig vernebelt, sein Mund schimmert feucht und seine Hände liegen verkrampft um die Henkel seiner Einkaufstüten. „Hi“, flüstere ich ihm ins Ohr, bemerke zufrieden wie er unter meinem Atem erschauert. „Hey“, kommt es schwach zurück. „Soll ich dir die Tüten abnehmen?“ „Hmhm“, brummt er leise, was mich auflachen lässt. Ich greife nach seiner rechten Hand, umfasse sie und schiebe dann meine Finger zwischen seine. Als er die Tüten loslässt, fange ich sie auf. „Ey, seid ihr mal endlich soweit?“, ruft Thomas laut lachend, deutet hinter sich auf eines der vielen italienischen Restaurants. „Jamie und ich haben Hunger! Macht schon!“ Ohne weitere Erklärungen wenden sich die beiden ab, gehen ins Innere hinein und lassen Chris und mich alleine zurück. Ich sehe meinen Freund noch einmal an, dann ergreife ich seine freie Hand und ziehe ihn mit mir, den anderen zwei hinterher. Wir suchen im Innern nach Thomas und Jamie, entdecken sie an einem der hinteren Ecktische sitzend und gesellen uns zu ihnen. Ein Kellner kommt geschäftig herangetrabt, reicht uns die Karten und nimmt unsere Getränkebestellungen auf. Ich bin überrascht als Jamie sich nur eine einfache Apfelschorle bestellt. Während der letzten Zeit hatte ich immer die Angst, dass er in den Alkoholismus abrutscht. „Ich hab echt Kohldampf“, mault Thomas leise, schlägt eine Seite des Menüs um und huscht mit den Augen gierig über die gedruckten Zeilen. „Hm… das Jägerschnitzel sieht gut aus.“ „Ich tendiere eher zu dem Rahmschnitzel“, antwortet Jamie, streicht mit dem Finger über die Worte. „Nudeln fände ich besser“, murmelt Chris leise, stockt jedoch als Thomas in sein Colaglas prustet und Jamie eine Augenbraue in die Höhe zieht. „Was?“ „Wir wissen doch, dass du auf Nudeln stehst“, sagt Jamie gespielt pikiert, hebt das Glas an seine Lippen und streckt dabei den kleinen Finger von sich. „Vor allem, auf welche ganz spezielle Nudel“, spinnt Thomas lachend den Faden weiter, bringt Chris damit zum erröten. Ganz schnell ist mein Freund wieder hinter dem Menü verschwunden, greift jedoch unter dem Tisch, für die anderen beiden unsichtbar, nach meiner Hand, drückt sie fest. „Was hältst du von der Tunfisch-Spinat Pizza, Jamie?“, wende ich mich ungerührt an meinen Bruder, der mich noch einmal kurz angrinst, ehe er wieder ernst wird. „Klingt nicht schlecht, aber ich bin nicht so für Pizza.“ „Und du, Thomas? Bleibst du bei deinem Schnitzel?“, richte ich meine Aufmerksamkeit nun auf meinen besten Freund, der sich leise lachend hinter seiner Karte versteckt. Vorsichtig richtet er sich in seinem Sitz auf, zwinkert mir verschwörerisch zu, ehe er seine Auswahl bestätigt. Die Rangordnung ist somit wieder hergestellt und auch die Röte auf Chris’ Gesicht hat sich wieder normalisiert. Eine Weile grübeln wir noch, doch als der Kellner schließlich kommt, geben wir unsere Bestellung auf und sind mit unserer Auswahl zufrieden, als das dampfende Essen nach nicht einmal einer halben Stunde vor uns steht. Thomas und Jamie haben sich beide für ein Jägerschnitzel entschieden über das sie gleich gierig herfallen, Chris ist bei seinem überbackenen Nudelauflauf mit Champignons geblieben, während ich mich nach einem kurzen hin und her für die Spinatpizza entschieden habe. Die ersten Minuten des Essens vergehen in Schweigen, lediglich von einem überschwänglichen Seufzer oder einer kleinen anerkennenden Bemerkung in Bezug auf das eigene Gericht unterbrochen. Schließlich leiere ich ein Gespräch über Thomas’ Ausbildung an, was uns alle mit lustigen Geschichten aus dem Kindergartenalltag versorgt. Ich bin froh, als ich bemerke, wie Jamie zusehends auftaut. Aber um schlechte Stimmungen zu vertreiben war Thomas schon immer der Beste. „Schmeckt es dir?“, raune ich Chris neben mir leise zu, der sich für einen kurzen Moment erschrocken zeigt. „Ja, sehr. Magst du probieren?“, schiebt er mir seinen Teller rüber und ich picke mir tatsächlich zwei Nudeln heraus, puste und probiere schließlich. Ich gebe mein positives Urteil darüber ab, lächle Chris an und ernte dafür einen durchaus als einladend zu bezeichnenden Blick. Innerlich aufseufzend stelle ich jedoch fest, dass ich heute keine Zeit habe um sie mit meinem Freund zu verbringen. Ich muss für meine erste Zwischenprüfung lernen. „Ah, Raphael“, lenkt da Thomas meine Aufmerksamkeit auf sich. „Ich habe gestern Abend übrigens mit Erich telefoniert. Wegen Frankreich. Er fliegt nächstes Wochenende.“ „So bald schon?“, bin ich irritiert. „Ich dachte er wollte erst im August rüber?!“ „Scheinbar machen seine Eltern Druck. Er soll sich vorher eingewöhnen und die Leitung des Teams so früh als möglich übernehmen“, berichtet Thomas, verzieht dabei ein wenig die Mine. „Er wollte keine Party haben, meinte aber, dass er sich freuen würde, wenn wir ihn am Flughafen verabschieden würden.“ „Typisch Erich“, lächle ich knapp. „Mir hätte er das nie gestanden.“ „Er ist eben so“, revidiert Thomas. Doch wir wissen beide, dass die Beziehung zwischen uns drei immer schon speziell war. Thomas und ich hatten von Anfang an das beste Verhältnis zueinander, während mich und Erich wohl so etwas wie freundschaftlicher Respekt verbunden hat. Wir verlassen uns auf den anderen, greifen in der Not auf ihn zurück, aber emotional stehen wir uns einfach nicht so nahe. Das war eben immer Thomas’ Spezialgebiet. Es ist also nicht überraschend, dass Erich in solchen Dingen Thomas mir vorzieht, schließlich fühlt er sich dem auch mehr verbunden als mir. Das ist wohl die große Gemeinsamkeit die Erich und ich haben. Das Essen verläuft ruhig und sehr harmonisch. Wir erzählen uns gegenseitig sehr viel, jedoch hat das Gesagte kaum einen nennenswerten Inhalt. Es ist freundschaftliches Geplänkel, kleine Streitereien und alles in allem sehr witzig aufgepeppt. Wie versprochen zahle ich für Jamie mit, Chris und Thomas begleichen ihre Rechnung selbst und als wir endlich nach draußen treten ist es bereits dunkler geworden. Trotz des Sommerwetters ziehen schwarze Wolken auf und es steht zu befürchten, dass es heute noch ein Gewitter geben wird. „So, ihr Lieben“, meldet sich Thomas wieder zu Wort. „Ich mache mich dann auf den Heimweg. Morgen muss ich wieder früh raus.“ Gemeinschaftlich verabschieden wir uns voneinander und Thomas versichert mir noch einmal, dass er sich bei mir melden wird, wenn er aus Erich herausbekommen hat welchen Flieger er nehmen will und wann wir uns am Flughafen zu einem Überraschungsabschied zusammenfinden werden. Etwas unschlüssig stehen wir verbliebenen Drei herum. Jamie hat sich wieder in sich selbst zurückgezogen, starrt abwesend vor sich hin und ich bemerke die Bewegung innerhalb seiner Jackentasche. Wieder einmal dreht er sein Handy hin und her, kann sich nicht dazu entschließen seine Frau endlich anzurufen. „Mach schon“, versuche ich ihn dazu zu ermutigen, doch augenblicklich schließt sich seine Faust um das Gerät, die Bewegung erstirbt und er wendet sich von mir ab. Ich seufze leise, schaue dann zu Chris der mich mit einem mitfühlenden Blick ansieht und zucke schließlich mit den Schultern. „Ich bin mit meinem Latein am Ende“, gestehe ich, schaue kurz zu Jamie, der sich bereits ein ganzes Stück weit entfernt hat. In der Hinsicht muss ich mir allerdings keine Gedanken um ihn machen. Er hat einen Schlüssel und wird sicherlich alleine in die Wohnung zurückgehen. „Möchtest du noch einen Kaffee trinken? Bei mir?“ Unsicher sehe ich zu Chris, der mir allerdings mit keiner Geste zu verstehen gibt wie dieses Angebot gemeint ist. Rein freundschaftlich oder verbunden mit irgendwelchen Hoffnungen? Es liegt an mir das zu entscheiden. Ich weiß, dass ich morgen früh aufstehen muss, das Lernpensum nimmt nicht wirklich ab und ich habe Kurse zu denen ich gehe, Lehrer die ich besuchen muss. Aber hier und jetzt fühle ich, dass ich es keinen Tag länger alleine aushalte. Ich nicke Chris zu und greife nach einem Teil seiner Tüten, die er mir überlässt. Der Weg zu ihm nach Hause ist lang und wir gehen nur sehr langsam. Ich bin mir nicht einmal sicher wie viel Uhr wir mittlerweile haben, aber es zählt auch nicht. Chris berichtet mir von seinem Alltag in der Schule, er plappert wahllos vor sich hin und ich höre ihm zu, weil ich es genieße, seiner Stimme zu lauschen. Als wir endlich angekommen sind, und Chris gerade nach seinem Haustürschlüssel kramt, wird uns von innen geöffnet und Frau Berger steht im Rahmen, mit hochgesteckten Haaren, einem Bleistift hinter dem rechten Ohr und einem übermüdeten Blick auf dem Gesicht. „Wollt ihr auch einen Kaffee?“, fragt sie leise, mustert mich mit einem kurzen Blick, doch dann lässt sie uns anstandslos rein und wir folgen ihr in die Küche, aus der man die ersten Töne der Kaffeemaschine hören kann. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass es kurz nach neun ist. „Was ist los, Mama?“, fragt Chris, stellt seine Tüten auf einem Stuhl ab und lässt sich von mir bereitwillig die Jacke abnehmen, die ich zusammen mit meiner an der Garderobe im Flur aufhänge. „Mein Laptop ist abgestürzt… und meine Präsentation für morgen ist weg… einfach weg…“ „Kann ich dir helfen?“ „Das ist lieb, Schatz“, lächelt Chris’ Mutter, schüttelt dabei jedoch den Kopf. „Ich werde das schon hinbekommen. Was habt ihr zwei denn noch vor?“ Ihr Blick gilt dabei eindeutig mir und ich werde das Gefühl nicht los, dass es ihr eigentlich überhaupt nicht Recht ist, dass ich hier bin oder auch nur eine einzige Sekunde mit ihrem Sohn verbringe. Diese Frau strahlt etwas aus, dass mich ungeheuer nervös werden lässt und ich schwanke zwischen einem Rückzug und ob ich ihr nicht einfach den Hals umdrehen sollte. „Wir wollten uns gemütlich ins Wohnzimmer setzen und ein bisschen miteinander reden. Raphael hatte nicht so viel Zeit, deswegen dachte ich, wenn ich ihm heute schon in die Arme laufe, dann können wir uns auch über die neusten Dinge austauschen.“ Chris klingt bei diesen Worten so unschuldig, dass ich beinahe laut auflachen möchte. Ich habe schließlich noch an ganz andere Dinge gedacht die wir hätten tun können, die ihm wohl nicht einmal in den Sinn gekommen sind. Aber auf der anderen Seite… ich kann es ihm nicht verdenken. Schließlich habe ich ihn damals derart bedrängt, dass es mich nicht wundern würde, wenn er mich nicht mehr wollte. Küssen ja… aber ob wir jemals weiter gehen werden? „Setzt euch doch schon mal, ich bringe euch dann den Kaffee.“ „Ist das wirklich okay, Mama?“ „Sicher, Schatz. Geht schon.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen schiebt Chris mich in den Flur, von da aus dann zum Wohnzimmer. In mir flammen die Bilder auf, die Ereignisse vom letzten Mal, dass ich in diesem Raum war. Seitdem habe ich es immer bewusst vermieden zu Chris zu gehen, habe ihn lieber zu mir kommen lassen. Schuldgefühle, denen ich aus dem Weg gehen wollte. „Setz dich“, bietet Chris an, lässt sich im gleichen Atemzug auf die Couch fallen, seufzt leise auf und lächelt mich an. Er wirkt so unbedarft und unschuldig. Mir wird schlecht. „Vielleicht sollte ich wieder…“ „Nein“, unterbricht mich Chris energisch, legt mir eine Hand auf den Arm, packt feste zu und zieht mich nach unten sodass mir keine andere Wahl bleibt, als mich neben ihn zu setzen. „Ich habe dich so lange nicht gesehen und du hattest auch nie wirklich Zeit um mit mir zu telefonieren und jetzt wo du hier bist, lasse ich dich nicht mehr gehen!“ „Seit wann stehst du auf SM?“, fragte ich belustigt nach und genieße es, das er rot anläuft und sein Gesicht von mir wegdreht. „Ich mein’ doch nur…“, sagt er kleinlaut, rückt etwas näher an mich heran. „Ich weiß, Chris, ich weiß“, seufze ich leise, widerstehe dem Drang, meinen Arm um ihn zu legen, nur mit Mühe. „Tut mir leid.“ „Das braucht dir nicht leid zu tun. Ich weiß ja, dass du viel lernen musst und ich finde es gut, sogar sehr gut, dass du dein Abi nachmachst und so. Es ist nur… ich hätte nicht gedacht, dass wir uns dadurch gar nicht mehr sehen können.“ „Du machst schließlich auch dein Abitur“, gebe ich knapp zur Antwort. „Ja, und ich wünschte, ich würde es nicht tun! Dann könnte ich schon längst mit meinem Großvater arbeiten!“, ruft Chris trotzig aus, funkelt mich böse an. „Sei froh, dass deine Mutter dich dazu gezwungen hat. Am Ende musst du es auch nachmachen, wie ich, und das ist ehrlich gesagt kein großer Spaß. Mach es jetzt und du hast später keinen Ärger“, rede ich gegen ihn an und ich merke, wie er zu schmollen anfängt. In diesem einen Punkt ist Chris tatsächlich noch das Kind, das er im Grunde wirklich ist. Mit achtzehn ist Chris noch so jung. Als ich so alt war wie er, habe ich bereits zwei Jahre auf mich allein gestellt gelebt, gearbeitet, Rechnungen bezahlt, und versucht über die Runden zu kommen. Mein Leben war so ganz anders als seins. Wird es immer sein. Wie viel Normalität steht mir zu, wenn ich so unnormal aufgewachsen bin? „Raphael? Woran denkst?“, reißt mich Chris aus meinen Gedanken. „Dein Gesicht sah so finster aus.“ „Es… es ist nichts. Ich bin nur müde.“ „Wirklich? Dann lass uns schlafen gehen.“ Chris wirkt nicht im Mindesten überzeugt, aber ich bin froh, dass er das Thema ruhen lässt und wir uns gemeinsam auf den Weg in sein Zimmer machen. Als er die Wohnzimmertüre aufmacht, steht Frau Berger direkt davor, mit einem Tablett in der Hand und schaut verwirrt zu uns. „Oh, Mama… entschuldige, wir gehen doch schon schlafen. Es ist spät. Soll ich das für dich wegräumen?“, plappert Chris drauf los und ich bin mir fast sicher, dass er damit seine eigenen Unsicherheit und Verletzbarkeit überspielen will. Er nimmt seiner Mutter das Tablett aus der Hand und verschwindet laut klappernd in der Küche. „Sind Sie immer so misstrauisch?“, frage ich Frau Berger, die daraufhin ihre Haltung strafft und mich mehr denn je abfällig mustert. „Man kann nicht vorsichtig genug sein.“ „Sie übertreiben maßlos“, knurre ich. „Finden Sie? Sie machen nicht gerade einen koscheren Eindruck“, erwidert sie gelassen. „Ich bin also nicht spießig genug“, kontere ich und bemerke mit diebischer Freude, wie sich ihr Mund zu einem formlosen Strich verspannt. „Ich versuche nur meinen Sohn zu beschützen“, sagt sie mit Nachdruck in der Stimme. „Er ist alt genug.“ „Und das glauben Sie wirklich?“, trifft sie den Nagel auf den Kopf und ich weiß, dass sie es auch weiß. Wie auch immer sie das geschafft hat, aber sie hat meine Gedanken exakt erraten und zielsicher ihr Salz in meine Wunde gestreut. In diesem Moment kommt Chris jedoch zurück, schaut verdutzt zwischen uns hin und her, ehe er mich am Arm packt, sich knapp von seiner Mutter verabschiedet und mich mit sich die Treppen hinaufzieht. „Raphael“, ruft mich Frau Berger zurück und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Der Blick aus ihren Augen ist drohend und erinnert mich an einen Raubvogel. Durchdringend. „Montega ist kein Glück verheißender Name. Nicht in meiner Familie.“ Scheinbar minutenlang starren wir uns an, halten den anderen mit unseren Augen fest und dieses stumme Duell scheint kein Ende zu finden. Erst eine Berührung von Chris an meinem Arm, zieht mich aus diesem Bann und ich bringe ein grimmiges Lächeln zu Stande. „Dann wird es mir eine Freude sein Sie daran zu erinnern, dass ich Ihnen nicht das Du angeboten habe“, antworte ich finster, bemerke zufrieden wie sie sich verspannt und löse mich endlich von ihrem Anblick. Wortlos gehe ich an einem erschrockenen Chris vorbei, der diese ganze Situation nicht verstanden hat. In seinem Zimmer reiße ich mir das Shirt vom Leib, pfeffere es in die nächstbeste Ecke und tigere dann unruhig auf und ab. „Rapha?“ Ich bleibe stumm. Er ruft mich noch zwei Mal bei meinem Namen, doch als ich auch darauf nicht antworte, verschwindet er im Bad. Die Geräusche um mich herum verblassen und ich nehme nichts mehr wahr, außer meinen schweren Atemzügen, die wie Feuer in meiner Brust brennen. Ich bin wütend. So unendlich wütend. Auf mich, auf sie… und aus unerklärlichen Gründen, auch auf meinen Vater. Das alles ergibt für mich keinen Sinn und ich spüre den Hass in mir aufwallen. Mein Leben ist endlich in geregelten Bahnen verlaufen und ich hatte eine Zukunft, doch nun ist das alles scheinbar untergegangen in dem Schatten den der Tod meines Vaters wirft. Immer noch bin ich abhängig von ihm, in einer Weise, die ich selbst kaum verstehe. Warum nimmt es mich so sehr mit, dass er bald nicht mehr sein wird? Ist es, weil er seine Geheimnisse mit ins Grab nimmt? Ich werde nie erfahren, warum mein Vater plötzlich angefangen hat mich und meine Mutter zu hassen, warum er mich schlug. Ich werde nie erfahren, warum er es damals vorzog bei uns zu bleiben, anstatt uns zu verlassen. Und ich werde nie erfahren, warum er am Ende seines Lebens all seine Gefühle vor seinem Körper begraben hat. Zischend stoße ich meinen angehaltenen Atem aus, lehne mich nach vorne, stützte meine geballten Hände auf der Fensterbank ab und starre blicklos aus dem Fenster. Es ist sinnlos über derlei Dinge nachzudenken, aber ich kann es auch beim besten Willen nicht verhindern. Diese Fragen nach dem Warum fressen mich innerlich auf und ich weiß, dass mit dem Sterben meines Vaters, auch jede Hoffnung auf Antwort stirbt. „Komm ins Bett“, höre ich Chris’ leise Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, sitzt er auf dem Bett, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen und die Augen wachsam auf mich gerichtet. Ich brauche einen Moment, ehe ich meine Beine wirklich in Bewegung setze, doch dann ist es ganz leicht. Jeder Schritt zu Chris hin wird einfacher und als ich vor ihm stehe, meine Hose und meine Socken schnell ausziehe, ist es beinahe wie eine Erlösung, als ich mich neben ihn legen und ihn in meine Arme ziehen kann. Doch schnell merke ich, dass sein Körper ganz verspannt ist. Auch wenn er sich nun neben mir zurecht rückt und die Decke über uns zieht, so steht er doch ganz eindeutig unter Strom. „Es tut mir leid“, flüstere ich ihm zu, sehe ihm aufrichtig in die Augen. „Du vertraust mir nicht, oder?“, fragt er mich ebenso leise zurück und ich sehe wie verletzt er ist. „Doch“, antworte ich. „Chris, ich vertraue dir.“ Sein Nicken ist schwach, kraftlos und bedeutungslos. Er glaubt mir nicht. „Aber du vertraust mir nicht genug“, spricht er seinen Gedanken schließlich aus und stößt mir damit direkt durchs Herz. Wie seine Mutter, findet er meine Schwachstellen auf Anhieb. „Nein“, gestehe ich leise, wende den Blick von ihm ab. „Noch nicht.“ „Okay“, ist seine einzige Antwort darauf, doch die Anspannung fällt augenblicklich von ihm ab. Zwar dreht er sich nun mit dem Rücken zu mir, doch er kuschelt sich ganz nah an mich heran und erlaubt es mir, dass ich ihn fest in meine Arme schließe. Es ist ruhig und kein Laut ist zu hören. Selbst seine Atmung erkenne ich lediglich an der Bewegung. Meine Gedanken sind dafür umso lauter und es kommt mir beinahe so vor, als gäbe es ein unheimlich dröhnendes Geschrei in meinem Kopf. Ich kann es nicht abstellen, aber solange Chris in meinem Arm liegt, kann ich ihm auch nicht zuhören. Es ist, als wäre er derjenige, der den Lautlos-Knopf auf der Fernbedienung gedrückt hat. Und nur er allein, kann den Ton in meinen Gedanken wieder anstellen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis ich endlich einschlafen kann. --- Es ist laut und unheimlich eng. Lars und Johannes sitzen neben mir, kabbeln sich die ganze Zeit über und kein ermahnendes Wort bringt sie zur Ruhe. Bernhard hat sichtlich mit dem dichten Verkehr zu kämpfen und Marianne verliert beinahe die Geduld mit ihren Zwillingen. Da das Auto der beiden nur für uns fünf reicht, sind Thomas, Jamie, Martina und Chris in Martinas Wagen unterwegs. Mein Bruder hat sich noch immer nicht mit seiner Frau ausgesprochen und eigentlich ist es allein Thomas zu verdanken, dass Martina überhaupt mitfährt. Er hat sie angerufen als klar war wann wir alle zum Flughafen fahren würden. Außer ihr und den beiden Erwachsenen hat nämlich niemand ein eigenes Auto. Dementsprechend fühlt Martina sich auch überhaupt nicht ausgenutzt. Thomas und ich haben das wieder gut gemacht, in dem wir ihr einen kleinen Blumenstrauß überreicht haben und zumindest hat sie nun eine Chance um endlich mal wieder ein paar Worte mit ihrem Mann zu wechseln. Und ich habe ihr auch eindeutig versprochen dafür zu Sorgen, dass Jamie heute nicht entwischen wird. „Jetzt reicht es aber endgültig!“, lässt Marianne einen lauten Schrei los, der ihre Zwillinge erschrocken zusammen zucken lässt. „Wenn ihr euch nicht endlich benehmt, dann bleibt ihr im Auto sitzen, habt ihr mich verstanden?!“ Daraufhin kehrt endlich so etwa wie Ruhe ein und man kann Bernhard erleichtert aufseufzen hören. Es sind keine drei Kilometer mehr bis zum Ziel und der Verkehr ist eindeutig dichter und verworrener geworden. Hinter uns fährt der andere Trupp, der immer mal wieder richtig Mühe hat an uns dran zu bleiben. Auf dem Flughafengelände angekommen, kurven wir eine ganze Weile herum, bis wir schließlich zwei geeignete Parkplätze gefunden haben. Ich strecke mich ausgiebig, packe Johannes und Lars am Kragen, als die beiden sich wieder aufeinander stürzen wollen. In letzter Zeit haben sie sich wegen irgendetwas ganz gewaltig in die Haare bekommen und rauben damit allen den wirklich letzten Nerv. Resolut trennt Marianne die beiden und Bernhard spricht noch einmal ein väterliches Machtwort, ehe sie mit Thomas voraus gehen. Chris kommt zu mir, hakt sich bei mir unter und gemeinsam folgen wir den anderen, lassen Jamie und Martina zurückfallen. Als ich einen Blick über die Schulter riskiere, sehe ich, dass Martina ganz eindeutig ihre angestaute Wut an meinem kleinen Bruder auslässt, der das allerdings auch vollkommen verdient hat. Er muss sich endlich wieder einkriegen, wenn er die Beziehung mit Martina nicht vollends gefährden will. „Wann geht denn sein Flug?“, fragt Chris mich und wirft einen neugierigen Blick auf die Anzeigetafel. „In anderthalb Stunden. Er dürfte gerade sein Gepäck aufgeben.“ Wir kämpfen uns zu zweit durch die Menge, werden schließlich von Thomas eingeholt, der uns zeigt wo wir hin müssen. Als Erstes sehe ich Erichs Eltern, etwas weiter weg steht seine Schwester. Alle begrüßen sich gegenseitig und die beiden Elternpaare fallen bald in eine höfliche Plauderei. An einem Schalter, nicht weit von uns weg, steht Erich. Er hat zwei große Koffer neben sich stehen und spricht mit der Frau gegenüber. Kurz darauf wuchtet er das erste der beiden Ungetüme auf das Förderband, kurz danach das zweite. Es dauert eine ganze Weile, ehe er alle Formalitäten erledigt hat und sich umdreht. Sein Blick ist nüchtern wie immer und ich bin mir ziemlich sicher, dass Thomas mal wieder nicht dicht halten konnte und die Überraschung im Grunde keine mehr ist. Wir vertreiben uns die letzte Zeit mit albernen Späßen, Martina und Jamie kommen schließlich nach und bald schon wird es Zeit uns an das richtige Gate zu begeben. Auf dem Weg dahin drängt Erich sich neben mich und seufzt leise. „Wie anstrengend“, brummt er. „So sind Freunde manchmal“, stichle ich, knuffe ihn dabei in die Seite. „Wie sieht es bei dir aus?“, fragt er. „Gut. Ich habe die ersten Prüfungen soweit bestanden. Das Lernen geht weiter.“ „Nicht nachlassen, hörst du? Schreib mir, wenn du was brauchst.“ „Schon gut, ich komm’ klar“, lache ich, bin überrascht, als er mir einen Arm um die Schulter legt und mich näher an ihn drückt. „Ich mein’s ernst. Schreib mir.“ „Erich… was…?“ Doch ich komme nicht mehr dazu meine Frage zu stellen, denn wir sind am Gate angekommen und Erichs Eltern wuseln sich zwischen uns, wollen die Ersten sein, die sich von ihm verabschieden. Außerdem ermahnen sie ihn sicherlich noch, vor allem seine Mutter wird ihn wohl mit Ratschlägen wegen des Ladens bombardieren. Der erste Aufruf für den Flug erfolgt und nun nimmt auch seine Schwester ihn in den Arm, doch die Kabbelei kann man auch noch zehn Meter weiter erkennen. Es ist kein ruhiger Abschied und ich glaube fast, dass die beiden froh sind, endlich Abstand voneinander zu bekommen. Marianne, Bernhard, Lars und Johannes, halten es kurz, aber herzlich, Martina nimmt Erich ebenfalls in den Arm und wünscht ihm alles Gute, Jamie kassiert dafür einen heftigen Schlag auf den Rücken. Chris steht eher unschlüssig herum, bis Erich ein Einsehen mit ihm hat und ihn kurz, aber fest in die Arme zieht. Irgendetwas flüstert Erich meinem Freund ins Ohr, was diesen zum Lachen bringt, doch durch die ganzen Gespräche um mich herum, kann ich kaum verstehen was es ist. Thomas packt mich am Arm, zieht mich und Erich mit sich nach vorne und irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass das hier ein ganz emotionaler Moment zu werden droht. „Pass da drüben auf dich auf, hörst du?“, mahnt Thomas leise, versucht so streng wie möglich zu gucken. „Ich bin ja nicht du“, kontert Erich gelassen, schmunzelt vor sich hin und lässt noch so manchen Spruch über sich ergehen, bis sein Flug schließlich zum letzten Mal angesagt wird. Jetzt umarmen er und Thomas sich lange und man kann ihnen ansehen, dass ihnen dieser Abschied nicht leicht fällt. In Thomas’ Augen schimmern sogar die ersten Tränen. „Pass auf dich auf“, wiederholt er und dieses Mal nickt Erich bloß. „Schick uns mal `ne Karte“, sage ich grinsend, umarme Erich ebenfalls. „Du wirst uns fehlen.“ „Ihr mir auch“, gesteht Erich leise, lacht dann auf. „Als ob wir uns nie wieder sehen würden, ihr Hornochsen. So, ich muss los!“ Und mit diesem lockeren Spruch auf den Lippen dreht er sich um und kramt das Flugticket aus seiner Jacke. Ehe er jedoch außer Sicht ist, schaut er über die Schulter nach hinten, grinst breit und ruft: „Ach übrigens, Thomas, ich weiß über deine homoerotischen Ausflüge bescheid, du Noob!“ Und während Thomas der Unterkiefer runter fällt, verschwindet Erich endgültig und ich mache mich ganz klammheimlich aus dem Staub. --- Die Woche zwischen dem gemeinsamen Essen mit Jamie, Thomas und Chris ist genauso schnell rum gegangen wie die, in der Erich abgereist ist. Ich kann mich nicht mal mehr wirklich dran erinnern, was ich in diesen zwei Wochen gemacht habe und starre am Freitag wie hypnotisiert auf das Kalenderblatt. Nur noch das Wochenende und dann ist der Juni auch schon wieder rum. Habe ich im März tatsächlich meine ersten Prüfungen geschrieben? Seufzend erinnere ich mich daran, dass bald die nächsten sind und ich mich immer noch erfolglos um ein Praktikum bewerbe. Da ich nicht genau weiß was ich später mit meinem Abschluss anfangen möchte, habe ich mich erst einmal auf ganz unterschiedlichen Gebieten beworben. Thomas hatte mir sogar angeboten ihn im Kindergarten besuchen zu kommen, aber ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist. Vielleicht sollte ich mir mal wirklich ernsthafte Gedanken darüber machen. Aber wann immer ich mir meine Zukunft vorstelle, wird es vor meinen Augen schwarz. Ich bin schon Mitte zwanzig und kann außer einer langjährigen Erfahrung einer Clubleitung und eines nachgemachten Abitur nichts vorweisen. Außerdem habe ich bisher keinerlei spezifische Interessen. Nichts was der Schulstoff mir bietet ist irgendwie von Bedeutung. Das einzig Gute ist, dass ich aufgrund Erichs Zuarbeitung zumindest den ein oder anderen Tausender auf dem Konto habe. Es ist nach wie vor nicht viel, aber wenigstens muss ich in der ersten Zeit nichts verhungern. Den Laden haben Erich und ich bereits verkauft, das Geld geteilt und nun ist er nach Frankreich gezogen und ich jobbe ab und an in einer Küche. Knochenarbeit, aber die verträgt sich mit meinem wirren Lernrhythmus. Entschlossen mich auf andere Gedanken zu bringen, wende ich mich von dem Kalender ab, stelle mit einem kurzen Blick auf die Uhr fest, dass es bereits sieben Uhr ist und ich noch immer nichts gegessen habe. Einen Moment lang überlege ich mir, ob ich Chris fragen soll, ob er vorbeikommt und mit mir isst, doch dann verwerfe ich die Idee wieder. Nach meinem letzten Besuch habe ich nicht den Eindruck, dass seine Mutter noch wirklich gut auf mich zu sprechen ist und außerdem hat nun auch die Abiturphase angefangen und Chris muss lernen und Klausuren schreiben. Ich will ihn nicht stören. Mir lässt er schließlich auch den Freiraum den ich brauche. Als ich gerade nach der Kühlschranktüre greifen will, klingelt mein Handy, das ich achtlos auf den kleinen Küchentisch geworfen habe. Ohne auf die Nummer zu achten, gehe ich ran, melde mich eher unverbindlich. „Spreche ich mit Herrn Raphael Montega?“, fragt mich eine Stimme, die mir vage bekannt vorkommt. „Ja“, gebe ich nur knapp zur Antwort, verharre ganz erstarrt in meiner Position. „Hier spricht Herr Richards, der behandelnde Arzt Ihres Vaters.“ „Was ist passiert?“, frage ich automatisch nach. „Ihr Vater… seine Werte sind sehr schwach. Wir fürchten, dass es bald zu Ende geht. Wenn Sie allerdings…“ „Nein“, falle ich dem Arzt ins Wort. „Keine lebensverlängernde Maßnahmen. Keine Operationen.“ „Herr Montega…“ „Was ist mit meiner Mutter? Ist sie im Krankenhaus?“ „Ja. Die Pflegerin hat sie hierher gebracht.“ „Gut, ich komme.“ Ich beende das Gespräch, lehne mich an die Küchenzeile und bedecke mein Gesicht mit meinen Händen. Ein unkontrollierbares Zittern hat meinen Körper ergriffen und in den ersten fünf Minuten bin ich nicht in der Lage mich zu bewegen. Mit einem verschwommenen Blick schaffe ich es bei Jamie und Martina anzurufen. Sie nimmt ab und klingt genauso erschöpft wie ich mich gerade fühle. Es tut mir so leid und so weh ihr zu sagen, dass die Krise erneut aufgelebt hat. Schweigend hört sie mir zu, dann höre ich ein lautes Geräusch, gefolgt von ihren Schluchzern. Scheinbar ist sie vor dem Telefon zusammengebrochen. Jamies Stimme ertönt nun im Hintergrund, nur mit Mühe kann er ihr den Hörer entwinden, dann berichte ich auch ihm was passiert ist. Er bleibt ganz still. Es dauert eine halbe Ewigkeit bis er sich wieder zu Wort meldet. „Ich kann nicht“, flüstert er. „Gott, ich kann das nicht.“ „Ich fahre jetzt ins Krankenhaus“, sage ich. „Mutter ist da und es werden sicherlich Papiere auftauchen die ich lesen und unterschreiben muss. Ich muss mit dem Pflegedienst besprechen wie…“ „Gott, Raphael!“, unterbricht mich Jamie schnaubend. „Wie kannst du nur so ruhig bleiben? Er stirbt! Unser Vater stirbt! Und du… du… wie kannst du jetzt nur an derlei Dinge denken?!“ „Weil ich muss, Jamie!“, brülle ich ihn an und er wird ganz still. Auch Martinas Schluchzen verebbt. „Das ist meine Art damit umzugehen! Ich kümmere mich um die Dinge die anfallen, die wichtig sind, die gemacht werden müssen! Soll ich mich unter meiner Decke verkriechen und warten bis alles vorbei ist? Wie gerne würde ich das, Jamie, aber ich kann nicht! So funktioniert das Leben nun mal nicht! Mutter ist nicht mehr zurechnungsfähig und ich bin derjenige der für alles verantwortlich ist. Ich treffe die Entscheidungen, ich trage die Verantwortung und die Last! Dinge müssen geregelt werden und ich werde das tun! Ich habe keine andere Wahl! Aber ich habe auch gelernt damit umzugehen! Ich verstecke mich nicht. Nicht mehr. Das Krankenhaus muss wissen was mit Vater geschehen soll, eine Beerdigung will bezahlt und vorbereitet werden, wir können ihn schließlich nicht einfach im Wald verscharren! Mutter muss aus dem Haus raus! Es gibt so viele Dinge und es gibt niemanden der sie macht! Du ziehst dir lieber die Decke über den Kopf und hoffst, dass das alles an dir vorübergeht, aber ich kann das nicht. Einen trifft es immer!“ Ich schnaufe schwer, fahre mir über die schweißnasse Stirn, nehme mein Handy vom Ohr und lasse mich langsam an der Küchenzeile entlang gleiten, setze mich auf den Boden und bin einfach nur noch fertig mit der Welt. „Tut mir leid“, brumme ich schwach, als ich mich wieder sicher genug fühle überhaupt etwas zu sagen. „Schon gut, du hast ja recht“, gesteht Jamie leise. „Es tut mir leid, Raphael. Lass… lass mir noch ein bisschen Zeit und… ich komm’ dann nach.“ „Ja. Ist gut.“ Ich lege auf und im selben Moment löst sich die erste Träne aus meinem Auge, gefolgt von einem ganzen Sturzbach an aufgestauten Gefühlen. Immer wieder schlage ich mit dem Hinterkopf gegen den Schrank in meinem Rücken, presse mir die geballten Hände gegen die Stirn, schüttle mich in meinem Heulkrampf, die Zähne verbissen aufeinander gepresst. Ich weiß nicht mehr was ich noch denken oder fühlen soll. Bin ich erleichtert? Froh? Nicht wirklich. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich überhaupt weinen muss, aber es ist als wäre ein riesiger Staudamm in meinem Inneren gebrochen und ich würde nun in meiner eigenen Flut an Gefühlen ertrinken. Es ist so merkwürdig. Langsam rapple ich mich wieder auf, verwische die Spuren meiner Trauer im Bad, ziehe mir frische Sachen an, nehme Handy, Schlüssel und Geldbörse mit, verlasse die Wohnung. Unpassenderweise strahlt die Sonne. Der Weg zum Krankenhaus dauert mit Bus und Bahn länger als ich erwartet habe und mir bleibt viel zu viel Zeit um über die Dinge nachzudenken. Mein Vater wird sterben. Heute oder vielleicht doch erst in ein paar Tagen. Es geht zu Ende mit ihm… aber wann? Ich freue mich nicht darüber, irgendwie ist es falsch Freude über den Tod eines anderen Menschen zu empfinden, auch wenn man diesen nur in schlechter Erinnerung behalten wird. Ich will einfach nur wissen warum alles so gekommen ist. Was hat die Liebe meines Vaters zu seiner Familie zerstört? Vielleicht sind es noch immer die Gedanken, die ich als Kind hatte, die mich bis heute verfolgen. War es meine Schuld? Habe ich etwas getan was meinen Vater dermaßen verärgert hat? Ich werde das alles nicht los. Wird es verschwinden, wenn er tot ist? Oder wird sich nichts ändern, bleibt alles so wie es war? Dieses schwarze Loch in meiner Brust weitet sich aus, je mehr ich darüber nachdenke. Ich weiß nicht was die Zukunft für mich bereithält. Ich weiß es einfach nicht. Es macht mir Angst einer solchen Ungewissheit entgegen zu gehen. Gefangen in der Zeit… so fühle ich mich. Auf der Schwelle zu einer neuen Epoche und doch nicht stark genug um diesen letzten Schritt zu gehen. Wird mein Vater das für mich tun mit seinem Tod? Beendet er die eine Ära und läutet eine neue ein? Ich gehe den Weg zum Krankenhaus hoch, erkundige mich mechanisch auf welchem Zimmer mein Vater liegt, geistere durch die kühlen Korridore und merke nicht einmal wie ich vor der Tür zum stehen komme. Wie durch einen Schleier trete ich in das Zimmer, alles scheint mir mit Nebel voll zu sein und keinerlei Geräusch dringt zu mir. Ich höre Doktor Richards wie er etwas von einer drastischen Ausweitung des Krebses spricht und welche Organe mittlerweile betroffen sind. Das Versagen einiger Funktionen, den Sauerstoffmangel. Aber alles was ich sehe, ist der kranke, verkomme Mann, der mir gegenüber in seinem Bett liegt. Nur mühsam kann ich das Heben und Senken seines Brustkorbs verfolgen, sehe die Schläuche die zu ihm führen und wünsche mir, ich hätte ein Messer dabei um sie eigenhändig durchzuschneiden. Die Haut dieses Mannes ist verrunzelt, die Haare sind ihm ausgefallen, die Chemotherapie die meine Mutter veranlasst hat bevor sie geistig völlig weggetreten ist, hat ihre Spuren hinterlassen. Auch nachdem ich sie wieder abgeschafft habe, hat er sich nicht erholt. Der Krebs ist scheinbar wirklich groß. Ich weiß, dass die Ärzte und Schwestern über uns reden, über mich. Sie wissen, dass ich derjenige war, der gegen meine Mutter die rechtlichen Vollmachten erkämpft hat. Ich habe Mutter einem psychologischen Gutachten unterzogen, man hat sie für nicht mehr zurechnungsfähig erklärt und die Verantwortung für alle Dinge liegt nun bei mir. Es ist eine Last, aber ich habe sie gewollt. Dieses eine Mal, habe ich sie ganz bewusst gewollt. Ich könnte meinen Vater behandeln lassen. Unmengen an Geld zum Fenster rauswerfen um mich an eine knappe Chance zu halten, dass er überleben könnte. Aber ich weiß, dass er das nicht will. Und ich will es noch viel weniger. Er soll sterben. Hier und heute. Vor meinen Augen! Diese Gedanken erschrecken mich und ich weiß ganz genau, dass ich mich später dafür hassen werde, aber jetzt… jetzt sind sie richtig. Und sie tun mir gut. Es kommt mir vor wie ein Triumph. Auch wenn ich kein strahlender Held bin, ist er doch sicherlich der böse Schurke. Und ich werde gewinnen. Er weiß das; und ich genieße es. Als ich zu ihm hintrete bemerke ich den weißen Briefumschlag der auf seinem Tabletttisch liegt. Unsere Blicke begegnen sich und ich habe ein flaues Gefühl im Magen, als ich meine Hand danach ausstrecke und bemerke, dass er bereits geöffnet wurde. Der Bogen Papier, den ich daraus hervorziehe, ist bereits vergriffen und an mehreren Stellen geknickt. Dinge wurden markiert und ich erkenne die Handschrift meines Vaters, auch wenn ich die Worte nicht bewusst lese. Das Logo in der oberen Ecke gehört zu einem medizinischen Institut. Ich sehe zu ihm auf und meine ein Lächeln auf seinen vertrockneten Lippen sehen zu können, aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist er auch längst in ein Delirium gefallen. Zum ersten Mal bemerke ich nun meine Mutter, die am Bettrand sitzt, immer wieder mit ihren Händen die Bettdecke über seiner Brust glatt streicht. Sie wiegt sich hin und her, schluchzt und brabbelt wirres Zeug. Die Pflegerin, die ich eigens für sie eingestellt habe, steht am Fenster, knetet die Hände ineinander und wirft mir hin und wieder einen vorsichtigen Blick zu. Sie weiß, dass ich es ihr untersagt habe meine Mutter zu trösten. Am liebsten würde sie wohl zu meiner Mutter gehen und beruhigend auf sie einreden, aber ich habe es ihr unter Androhung eines Rausschmiss’ verboten. Vielleicht erscheine ich in fremden Augen hartherzig und unmenschlich, aber sie alle wissen nicht wie ich gelitten habe… und noch immer leide. Keiner kann nachvollziehen wie ich aufgewachsen bin, wie hart das Leben unter diesen Eltern war. All die Dinge die sich in meinem Kopf abspielen, wenn ich sie ansehe. Niemand weiß das. Also ist es mir egal, wie ich wirke. Langsam schlage ich die erste Seite um, überfliege die Zeilen. Mein Herz rast wild geworden in meiner Brust und ich bete zu einem mir unbekannten Gott, dass das nicht wahr sein kann. „Nein“, flüstere ich, wende das Blatt, lese die nächsten Zeilen. 99,9% Wahrscheinlichkeit… die zu testende Person… mit der Probe… die Worte verschwimmen vor meinen Augen und ich schüttle wie irregeworden den Kopf. „Bitte nicht… nein… nein…“, raune ich immer wieder, kralle meine Finger in die Blätter, die dadurch einmal mehr zerknittert werden. Ich hefte meinen Blick auf die sterbende Gestalt meines Vaters, der scheinbar ruhig zurückblickt. Seine Hände sind in das Bettlaken verkrallt und am liebsten würde ich ihm jeden Finger einzeln brechen. „Was willst du damit erreichen?“, schreie ich laut, mache meiner Verzweiflung damit Luft und erschrecke Doktor Richards und die Pflegerin beinahe zu Tode. „Warum jetzt? Warum jetzt? Gott verdammt!“ Ich wende mich von dem Bett des Sterbenden ab, werfe die Hände in einer hilflosen Geste in die Luft, kann die Blätter dabei jedoch nicht loslassen. Sie sind an mich gekettet und werden nur ein weiterer Alptraum in meinem Leben sein. Eine schlaflose Nacht mehr. Was macht das schon, nicht wahr? Wer braucht schon inneren Frieden? Meine Schultern beben aus den verschiedensten Gefühlsempfindungen heraus und keine kann ich wirklich in Worte fassen. Doktor Richards erklärt mir verzweifelt, dass mein Vater mich wahrscheinlich nicht einmal hören kann. Er vegetiert lediglich vor sich hin und sein Blick ist eine Illusion seines Bewusstseins. Nichts ist mehr von ihm übrig geblieben, als der Drang zu atmen. Langsam drehe ich mich herum, schiebe den Arzt erbarmungslos zur Seite, der die reine Mordlust in meinen Augen wohl gesehen und verstanden hat, und nun nervös ist wie ein scheues Reh. Ich beuge mich über meinen Vater, von dem ich mir sicher bin, dass er mich noch hören kann, bringe mein Gesicht nah zu seinem, schaue ihm nur noch einmal kurz in die Augen. „Dafür wirst du in der Hölle schmoren“, raune ich grimmig. „Und wenn ich dir eigens nachkommen muss, aber letzten Frieden gibt es für dich nicht, du Monster!“ Ich richte mich auf, blicke zu meiner Mutter, deren Position sich nicht ein kleines bisschen verändert hat, hin zur Pflegerin, die nun doch ihre Arme um sie gelegt hat und sie zu beruhigen versucht, und zu Doktor Richards, der verloren neben mir steht. „Wehe Sie beleben ihn wieder“, drohe ich dem Mediziner, blicke auf, als ich Schritte höre und kurz darauf Jamie und Martina im Raum stehen. Der Blick meines kleinen Bruders wandert automatisch zu mir und ich sehe die Angst darin. Wortlos gehe ich an ihm vorbei, balle meine Hände zur Faust und zerknülle die Papiere damit endgültig. Wieder gehe ich durch die Korridore des Krankenhauses, wieder fühlt es sich unwirklich an. Aber die Beklemmnis ist verschwunden. Ich weiß nun, dass mein Vater diesen Tag nicht mehr überleben wird und das bereitet mir eine grimmige Genugtuung. Alles was bleibt ist Trauer und Verzweiflung, die über mich hinwegschwappt und mich mit sich reißt, als ich das Krankenhaus verlasse und in den strahlenden Sonnenschein hinaustrete. --- Kapitel 25: Was ich will und was ich kann (2002 / 06) ----------------------------------------------------- 25. Kapitel - 2002 (Juni) Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, was mir die Kraft gab, gleich zu Beginn die Konfrontation zu suchen. Mir wurde das Herz mit aller Gewalt herausgerissen, der Triumph über den Schatten meines Vaters hatte sich in eine schmachvolle Niederlage verwandelt und ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass meine Beine mich noch tragen würden. Alle Kraft war aus mir gewichen und der erst vor so kurzer Zeit neu gefundene Lebenswille verloschen. Dennoch machte ich mich vom Krankenhaus gleich auf den Weg. Ich wusste, dass mit dem Sterben meines Vaters nur noch eine einzige Person in der Lage war mir zu erklären was ich wissen wollte. Zumindest zu einem Teil. In der Bahn war es zum Glück nicht mehr so eng wie noch einige wenige Stunden zuvor, die Rushhour war vorbei, und die Arbeitstätigen waren endlich zu Hause angekommen und konnten sich auf ihr freies Wochenende freuen. Bei einer Haltestelle warf ich einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach neun war. Gegen Viertel vor Zehn wäre ich erst am Ziel, was mir viel Zeit zum nachdenken ließ. Doch ich habe keine Gedanken. Mein Kopf ist leer und alles zieht an mir vorbei, als gäbe es die Dinge einfach nicht. Die Ängste und Sorgen die mich noch gestern geplagt hatten, waren heute unwichtig geworden. Es gab nichts mehr, was mir etwas bedeutete, außer der Antwort auf meine Frage. Die Erde hätte in diesem Moment gerne von einem Feuerball zerstört werden können, es wäre mir egal. Meine Welt war vor wenigen Minuten untergegangen. Aufkeimende Tränen blinzle ich weg, starre wortlos nach draußen, beobachte die Menschen und beneide sie um ihre Normalität. Die Bahn ruckelt sich langsam durch die Stadt und es kann mir nicht schnell und auch nicht langsam genug gehen. Unentschlossen stehe ich herum, halte mich an einer der Stangen fest und es kommt mir vor, als wäre dies der einzige Halt den ich noch habe. Sinnlose Bilder schießen mir durch den Kopf. Nächster Halt: Joseph-Bräuer-Straße Ich starre auf die Papiere in meiner Hand, besehe mir das Logo genau, blättere dann Seite für Seite um, lese die verhängnisvollen Worte und die Wut erkämpft sich meinen Körper erneut. Ich bin wütend auf meinen Vater, auf mich selbst und das verkorkste Leben das ich führe. Ich verfluche den Tag an dem ich von Zuhause davongelaufen bin. Es ist das allererste Mal, dass ich mir wünsche, ich wäre dort geblieben. Mit Zack hätte ich zufrieden sein können und Jamie wäre der Bruder gewesen, den ich mir immer gewünscht habe. An diesem Tag, da bin ich mir ganz sicher, ist mein Leben endgültig den Bach runter gegangen. Nächster Halt: Rosenweg Die Türen öffnen sich lärmend und ich trete in die abgekühlte Abendluft. Ein Mädchen drängt sich an mir vorbei, wirft mir einen bösen Blick zu, ehe sie wieder in ihr Handy spricht. Eilig läuft sie vor der Bahn auf die andere Straßenseite und dann genau in die Richtung, in die ich auch will. Vielleicht liegt es an ihr, dass ich den Weg so schnell hinter mich bringen kann, denn sie führt mich direkt bis zum Haus. Und während sie telefonierend weitergeht, stehe ich vor der verschlossenen Türe und betrachte abwesend den Klingelknopf. Ich strecke meine Hand danach aus, balle die andere zur Faust, spüre das Papier an meiner bloßen Haut und schlucke den galleartigen Kloß hinunter, der in mir aufsteigt. Dann drücke ich den Knopf. Ich höre das Läuten im Innern des Hauses. Ich drücke wieder, und wieder, und wieder und dann noch einmal. Auch als ich bereits die Schritte hören kann, lasse ich den Knopf nicht los. Ich kann einfach nicht. Die Tür wird aufgerissen und Frau Berger steht mit funkelnden Augen vor mir, den Bademantel lose um die Schultern hängend. Das schwarze Nachthemd das sie trägt, umschmeichelt ihre Beine, doch dafür habe ich nur für kurze Zeit einen Blick übrig. „Herr Montega“, sagt sie verächtlich, schnaubt unwillig auf, zieht den Bademantel zurecht und gürtet ihn vorne zu. Wortlos reiche ich ihr die Papiere, die sie mir zögernd abnimmt. Fahrig streicht sie sich einige Haarsträhnen nach hinten. Sie überfliegt die Zeilen, die ich bereits auswendig aufsagen kann, so sehr haben sie sich in mein Hirn gefressen. Ihre Augen weiten sich, ihre Lippen öffnen sich in einem lautlosen Erstaunen. Als sie an den schrecklichen Worten angekommen ist, legt sie ihre Hand auf ihre Brust und schließt verzweifelt die Augen und ich kann ihr ansehen, dass sie leidet. „Woher haben Sie das?“, haucht sie atemlos. „Von meinem Vater“, antworte ich. Ihre Augen fliegen auf, ihr Blick heftet sich auf mich und hinter ihrer Stirn beginnt es zu arbeiten. Unschlüssig hält sie mir die Papiere hin, dann zeiht sie sie wieder zurück, noch einmal überprüft sie deren Inhalt, ehe sie den Arm kraftlos sinken lässt. „Hat er… mit Ihnen darüber gesprochen?“, will sie wissen. „Ich fand den Umschlag des Instituts auf seinem Tisch im Krankenhaus liegen. Er war offen, die Blätter so, wie Sie sie in der Hand halten. Er hat nicht mehr die Kraft mir irgendetwas zu sagen, Frau Berger, mein Vater stirbt in diesem Augenblick“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Er stirbt?“, ruft sie erschrocken aus, schlägt sich kurz darauf die Hand vor den Mund und wirft einen nervösen Blick über die Schulter. „Es ist Krebs“, bringe ich nur mühsam hervor. Jetzt, wo ich vor ihr stehe und sie mit diesen Dingen konfrontieren kann, fällt jegliche Selbstbeherrschung von mir ab. Ich will endlich Antworten auf meine Fragen haben und mich nicht länger mit Nichtigkeiten herumschlagen. „Das wusste ich nicht.“ „Dafür wussten Sie aber scheinbar ganz andere Dinge“, knurre ich. „Oder irre ich mich?“ Sie schweigt. Und es macht mich rasend, dass sie das tut. Energisch gehe ich die letzte Stufe nach oben, packe sie an den Oberarmen und schiebe sie unerbittlich ins Haus hinein. Die Tür werfe ich mit dem Fuß hinter mir zu. Sie wehrt sich, aber sie gibt keinen Laut von sich und ich weiß genau warum; Chris soll nicht wach werden. „Sie wussten es, nicht wahr? Woher sonst sollte mein Vater die Probe gehabt haben um den Test durchzuführen! Spucken Sie’s endlich aus! Wann? Wann ist es passiert?“ Ich schüttle sie unsanft hin und her und Frau Berger hat große Mühe damit sich aufrecht zu halten. Schließlich bekommt sie mich am Arm zu fassen und gräbt mir schmerzhaft ihre Fingernägel in die Haut, was mich dazu bringt sie loszulassen. Schwer atmend sieht sie mich an, donnert die Papiere mit der flachen Hand auf die neben ihr stehende Kommode. Ihre Augen blitzen und ich weiß, dass ich sie endlich soweit gebracht habe mir Rede und Antwort zu stehen. „Es war… 1987…“, spricht sie zögerlich, schlingt die Arme um ihren Oberkörper und zittert unter den Erinnerungen, die sie gewaltsam heraufbeschwört. „Die Firma Ihres Vaters arbeitete damals eng mit dem Unternehmen zusammen, in dem ich als Sekretärin tätig war. Bei der Besprechung für ein neues Projekt… begegneten wir uns schließlich.“ „Weiter“, dränge ich sie. „Wir lernten uns kennen, waren uns sympathisch und… er verliebte sich in mich.“ In ihren Augen kann ich den Schmerz lesen, die Trauer und die Hoffnungslosigkeit. Ich weiß, dass ich ihr Leben gerade ebenso auf den Kopf stelle, wie mein Vater es gerade bei mir getan hat. Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder? Doch ich bemerke nichts davon. Es tut noch immer so weh wie zuvor. „Mein Cousin… arbeitete in der Firma Ihres Vaters, was dazu führte, dass wir uns privat sehr nahe kamen. Ich wusste, dass er verheiratet war und ich selbst… ich war im Begriff mich zu verloben…“, spricht sie leise und unter Tränen weiter. „Ich weiß nicht warum ich es tat, aber ich ermutigte Ihren Vater in seinen Bemühungen. Ich genoss seine Zärtlichkeit und… seine Liebe.“ „Was war mit Ihrem Mann?“, will ich wissen. „Damals glaubte ich, ihn zu lieben. Es war ein Irrtum. Unsere Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen“, antwortet sie. „Vielleicht habe ich es gespürt, wahrhaben wollte ich es jedoch nicht. Auf einer Betriebsfeier ist es dann geschehen… am Abend zuvor hatte ich mich mit meinem Mann gestritten und…“ „Sie haben mit meinem Vater geschlafen“, bringe ich den Satz zu Ende. Sie nickt stumm, schluchzt in ihre Hand hinein. Ergeben schließe ich die Augen, verdränge nur mit Mühe den Impuls wie ein Wilder durch das Haus zu toben. Ich möchte etwas kurz und klein schlagen, am besten Frau Berger zuerst. „Wie ging es weiter?“, presse ich hervor. „Gar nicht. Ich beendete das Verhältnis mit Carlos, kehrte zu meinem Ehemann zurück, gestand ihm und meinen Eltern die ganze Geschichte und kämpfte um eine Ehe, in der ich unglücklich war. Als Chris geboren wurde…“ „Es reicht“, unterbreche ich sie schwach, wende mich von ihr ab und stütze mich auf die Kommode. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, ehe ich es wage die Augen wieder zu öffnen. Mein Herz hämmert schmerzhaft in meiner Brust, meine Beine drohen unter mir nachzugeben und ich sehe meine Hände zittern. „Haben Sie es ihm gesagt?“, fragt Frau Berger zaghaft und ich muss beinahe auflachen. „Nein“, sage ich stattdessen schlicht. Gemeinsam stehen wir unentschlossen im Flur ihres Hauses. Ich weiß nicht was ich sagen soll, was ich tatsächlich noch wissen möchte und ob ich überhaupt noch darüber nachdenken will. Es tut einfach so weh und jeder vergangene Kuss brennt unangenehm auf meinen Lippen wieder. Wie konnte ich nur jemals denken, dass ich mit Chris glücklich werden könnte? „Sie wussten es also die ganze Zeit“, brumme ich schließlich. „Das ich sein Sohn bin?“ „Ich habe es vermutet, aber sicher war ich mir nicht. Er hat mir nie Bilder gezeigt und ich wollte auch nie welche sehen.“ Es ist schwer einen neuen Anfang zu finden. Eine Zeit lang denke ich darüber nach, einfach zu gehen. Alles hinter mir zu lassen, aus diesem Leben auszubrechen und nie wieder zurückzuschauen. Was würde mich daran hindern? Ich könnte die Stadt verlassen, meine Wohnung aufgeben, das Studium auch… Jobs findet man immer. Vielleicht könnte ich zu Zack zurückkehren. Ja, vielleicht sollte ich all das machen. Aber als ich einen Blick in Frau Bergers aufgelöstes Gesicht werfe, weiß ich, dass ich es niemals tun werde. Ich kann nicht. Auch wenn es schwer wird, auch wenn ich noch so lange brauchen werde, ich will das alles nicht aufgeben. Nicht wegen eines Fehlers aus der Vergangenheit meines Vaters. Wieso sollte ich an seiner statt büßen? „Haben Sie Chris jemals etwas angedeutet?“ „Nein. Mein Mann war ihm ein guter Vater, auch nach dem Ende unserer Ehe und… Chris sieht Carlos nicht ähnlich, das hat mir geholfen es zu verdrängen“, gesteht Frau Berger leise. „Was ist… aus Carlos geworden?“ Ich schnaube unwillig und mit einem Schlag ist all die Wut wieder da, die ich bisher erfolgreich zurückgedrängt habe. Bilder eines um sich schlagenden Vaters tauchen vor meinem geistigen Auge auf, ich höre meine eigenen Schreie und das Schluchzen meines kleinen Bruders. Schmerz flammt in meiner rechten Hand auf, ich spüre den rauen Putz der Hauswand wieder, sehe das erschrockene Gesicht meiner Mutter vor mir. „Er schlug mich das erste Mal als ich sechs war“, schmettere ich Frau Berger entgegen, die mich erschrocken anstarrt. „Als ich acht war, wurde Jamie geboren und ich fürchtete um sein Leben, weil unser Vater jeden Tag einen Tobsuchtsanfall hatte. Mit sechzehn bin ich schließlich weggelaufen und hier gelandet. Reiner Zufall… oder auch traurige Ironie.“ „Das tut mir…“ „NEIN!“, schreie ich laut, reiße die Blumenvase, die auf der Kommode steht herunter. Klirrend geht sie zu Bruch, das Wasser verteilt sich auf dem Teppich, auf den Fliesen. Blütenblätter liegen herum und auch der Vaterschaftstest landet auf der Erde. „Es tut Ihnen nicht Leid, es HAT Ihnen nicht Leid zu tun“, knurre ich sie an, dränge sie immer weiter zurück, bis sie schließlich mit dem Rücken an die Wand stößt. „Ich schere mich einen Dreck um Ihr heuchlerisches Mitleid.“ „Heuchlerisch?“ „Sie wissen nichts, rein gar nichts von den Dingen die ich erlebt habe. Und ich bin mir sicher, dass es Ihnen auch nicht im geringsten Leid tut, dass Sie meinen Vater sitzen gelassen haben. Es war Ihr Leben, nicht wahr? Sie haben es gelebt und die Konsequenzen Ihres Handelns hat ein anderer getragen.“ „Das ist nicht wahr!“, begehrt sie gegen mich auf, funkelt mich wütend an. „Ich trage keine Schuld daran wie Carlos seine Familie behandelt hat. Das war ganz allein seine Entscheidung.“ „So? Aber wenn Sie nicht zweigleisig gefahren wären, dann wäre das alles nicht passiert!“ „Was wäre wenn!“, schnaubt sie unwillig. „Es ist geschehen und es war in vielerlei Hinsicht ein Fehler, aber ich habe mich deswegen nicht versteckt. Aus diesem Fehler habe ich gelernt und ich habe es besser gemacht. Für Carlos’ Taten bin ich nicht verantwortlich, auch wenn ich sie nicht rechtfertigen will.“ „Haben Sie sich auch nur ein einziges Mal gefragt, was Sie meiner Mutter antun? Was Sie auch mir angetan haben?“ „Nein“, gesteht sie schwach und ich kann mich kaum noch beherrschen. „Sie haben das Leben einer unschuldigen Frau und ihres Kindes willentlich und wissentlich dermaßen zerstört! Und kommen Sie mir nicht mit billigen Ausreden“, unterbinde ich ihren Protest. „Was haben Sie denn erwartet was passieren würde? Nicht jeder hat einen so verständnisvollen Partner wie Sie! Auch wenn Sie nicht wissen konnten, dass mein Vater zu einem solchen Monster mutiert, muss Ihnen doch klar gewesen sein, was Sie mit Ihrer Affäre anrichten! Vielleicht habe ich das schlimmste nur mögliche Ergebnis erhalten, aber auch alles andere wäre unhaltbar gewesen! Sie haben eine Ehe zerstört!“ „In der Carlos scheinbar nicht glücklich war!“, schreit sie mich nun ganz ungeniert an. „UND DAS GIBT IHNEN DAS RECHT EINE FAMILIE AUSEINANDER ZU REIßEN?!“, brülle ich in voller Lautstärke, schlage mit der rechten Hand gegen die Wand in ihrem Rücken, spüre den Schmerz erneut aufflammen und verziehe das Gesicht. „Das Sie in Ihrer Ehe nicht glücklich waren ist eine Sache, aber es ist eine ganz andere Geschichte, wenn Sie auch noch einen anderen mitreißen. Vielleicht hätte mein Vater sich bald von sich aus von uns getrennt, oder er wäre bei meiner Mutter geblieben und hätte sein glückloses Leben einfach weitergeführt… wer weiß das schon, aber es war nicht Ihre Entscheidung! Sie hätten sich nicht einmischen dürfen!“ „Jetzt hören Sie aber auf! Ich trage ganz sicher nicht die alleinige Schuld daran! Carlos war derjenige, der den Kontakt zu mir suchte, er wollte es ebenso wie ich!“ „Sie hätten ihn ablehnen können! Warum mussten Sie mit ihm schlafen?!“, bleibe ich unversöhnlich. „Es gab keinen Grund!“, wirft sie ihre Hände in einer verzweifelten Geste in die Luft. „Ich kann Ihnen nicht erklären warum wir es taten. Es war nur dieses eine Mal, aber es hat gereicht um schwanger zu werden! Damals habe ich mir genauso sehr gewünscht, dass ich es nicht getan hätte, so wie Sie heute. Aber es ist passiert! Es ist passiert.“ „Ist das alles?“, resigniere ich. „Das ist alles“, stimmt sie mir zu. „Es gibt keine Entschuldigung, das weiß ich. Nachdem ich um meine Schwangerschaft wusste, habe ich Carlos davon erzählt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht liebe, wir einen Fehler gemacht haben und dass ich ebenso Schuld trage wie er. Er wollte mich nicht gehen lassen, aber ich habe mich von ihm losgesagt. Der Vaterschaftstest war unsere letzte Kommunikation.“ „Hat er Unterhalt bezahlt?“ „Nein“, wiegelt sie ab. „Ich habe das nicht gewollt.“ Schweigend stehen wir uns nun gegenüber, messen uns mit Blicken ab, suchen in den Augen des anderen nach einer Lösung. Doch nichts ist greifbar. In meinem Kopf fliegen die Gedanken wild umher, keinen kann ich packen und ich kann nicht sagen, was ich will. Ich weiß es nicht. Ich kann mir einfach nicht ausmalen wie es weiter gehen soll. „Herr im Himmel“, raune ich schwach, presse mir die Fäuste gegen die Schläfen und schließe verzweifelt die Augen. „Gib mir Kraft!“ Unruhig laufe ich von links nach rechts durch den Flur. Ich drehe mich um mich selbst, körperlich, wie auch in Gedanken. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Labyrinth, nicht mal einen kleinen Hinweis. Ich bin alleine auf diesem Irrweg und ich weiß beim besten Willen nicht, woran ich mich orientieren soll. Was ist noch richtig und was falsch? „Ich begehre meinen Bruder“, stöhne ich gequält. „Meinen Bruder, Herrgott!“ „Halbbruder“, wirft Frau Berger ein. „Als ob das einen Unterschied macht“, schnaube ich entrüstet. „Vielleicht sollte es das.“ Ich halte kurz inne, tue ihre Worte dann jedoch als eine Art Hirngespinst ab, laufe weiter unruhig durch den Flur. Er ist mein Bruder… das ist alles woran ich denken kann. Ob Halb oder Ganz, spielt dabei doch gar keine Rolle. Chris ist mein Bruder. Und er liebt mich! Er liebt mich! Mein Bruder… mein Halbbruder… „Was wollen Sie jetzt tun? In Bezug auf Chris meine ich“, wendet sich Frau Berger wieder an mich und ich bin wirklich nur einen Wimpernschlag davon entfernt sie anzufallen und ihr ernsthaft wehzutun. Diese Frau macht mich wahnsinnig! „Was soll ich denn tun, hä?“, fauche ich sie an. „Sehe ich so aus als ob ich auch nur den Hauch einer Ahnung hätte was ich jetzt machen soll? Denken Sie nach! Es ist sogar gegen das Gesetzt! So etwas nennt sich Inzest! Es ist illegal!“ „Dann wollen Sie es ihm also sagen?“, hakt die verstörte Frau nach, ihr braunes, wirres Haar fällt ihr dabei über die Schulter und in ihren Augen kann ich ihren Sohn erkennen. Sie sind sich so unheimlich ähnlich. „Nein, nein… Oh nein…“, schüttle ich energisch den Kopf. „Das ist Ihre Aufgabe, nicht meine. Das lasse ich mir nicht auch noch unterschieben. Stehen Sie gefälligst zu dem was Sie getan haben!“ „Ich warne Sie, spielen Sie sich nicht als mein Richter auf!“, droht sie mir unverhohlen. Wutschnaubend wende ich mich von ihr ab, setze zu einer neuerlichen Runde über den eingesauten Teppich an, bleibe jedoch abrupt stehen, als ich sehe, wer auf dem unteren Treppenabsatz steht und uns mit großen Augen betrachtet. Frau Berger bemerkt mein Stocken, schaut sich ebenfalls um und zieht erschrocken die Luft ein, als sie ihren Sohn erkennt. Christ steht ganz unbeweglich da und ich frage mich fieberhaft, seit wann er dort ist oder wie viel er tatsächlich gehört hat. Ich verfluche mich, dass ich nicht leiser war. Seine Augen wandern unruhig zwischen mir und seiner Mutter hin und her, seine ganze Haltung ist angespannt und ich erkenne ein leichtes Zittern. Es tut so weh ihn zu sehen. Ihm so nahe zu sein und zu wissen, dass es mir verboten ist ihn zu berühren, ist das Qualvollste was ich je erlebt habe. Ich will meine Hand nach ihm ausstrecken, ihn in meine Arme ziehen und ihm sagen, dass alles gut ist, ich ihn niemals loslassen werde, aber… wie könnte ich ihm dieses Versprechen geben, wenn ich ihn nun mit ganz anderen Augen betrachte? Das Bild meines Vaters flammt vor mir auf und ich suche ihn in Chris. Anzeichen davon, dass wir zwei Brüder sind. Genetische Merkmale die uns beiden gegeben sind. Ich taste seinen gesamten Körper ab, suche Gleichheiten und zähle dabei die Unterschiede. Klar denken, kann ich allerdings nicht mehr und ich sehe immer wieder meine Mutter vor mir, wie sie Jamie als Baby auf dem Arm getragen hat. Erinnerungen verschwimmen mit der Realität und aus Jamie wird Chris. Ich kann die beiden schon nicht mehr voneinander trennen, frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn mein Vater uns verlassen hätte. Carlos Berger anstatt Carlos Montega. Wäre er glücklich gewesen? Wäre er Chris ein guter Vater gewesen? Liebevoll? Aufmerksam? Eine Familienidylle entsteht vor meinem inneren Auge und Übelkeit steigt in mir hoch, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. So viele Möglichkeiten und eine erscheint mir schrecklicher als die andere. Aber auch die gegenwärtige Situation ist nicht gerade berauschend und steuert unaufhaltsam auf ihren grausamen Höhepunkt zu. „Was hat das zu bedeuten?“, höre ich Chris leise fragen und weiß nicht genau, ob er damit mich oder seine Mutter meint. Eine Antwort erhält er allerdings keine. Noch einmal schaut er zwischen uns beiden hin und her, dann richtet sich sein Blick auf den Boden. Er sichtet die zerbrochene Vase, sieht den Bogen Papier und steuert zielstrebig darauf zu. Einen Moment lang will ich ihn davon abhalten es zu lesen, es auch nur anzufassen, aber dann kann ich ihn einfach nicht berühren. Meine Hand nach ihm auszustrecken ist unmöglich geworden. Seine Augen huschen unruhig über die Zeilen und ich sehe die wachsende Unsicherheit und Unruhe in seinem Blick. Trotzdem liest er tapfer weiter, stockt erst, als er das Ergebnis überfliegt. Seine Lippen formen stumm die Worte, die schwarz auf weiß gedruckt worden sind und dann kann er sich nicht dazu entschließen uns anzusehen. „Ist das wahr?“, fragt er unbestimmt in den Raum hinein und ich sehe Frau Berger nicken. „Ja“, bekräftigt sie schwach, wendet sich ab, präsentiert ihrem Sohn und mir ihren bebenden Rücken. Sie hat wieder zu weinen angefangen. „Warum hast du es mir nie gesagt?“, will Chris leise wissen und ich bewundere ihn ein wenig für sein Durchhaltevermögen. „Weil ich Carlos nicht geliebt habe. Ich wollte bei deinem Vater bleiben und… er hat dich nie als ein fremdes Kind angesehen. Du bist der Sohn deines Vaters!“ „Wessen Vaters…?“, haucht Chris verstört, fährt sich mit der Handfläche über die Augen und atmet einmal tief ein und aus. „Carlos… Montega…“ Der Klang von Vaters Namen aus Chris’ Mund ist schmerzhafter als alles zuvor. Ich zucke krampfhaft darunter zusammen, vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen, weiche dem Blick meines… weiche Chris’ Blick aus und versuche krampfhaft nicht daran zu denken, wie gerne ich ihn jetzt einfach nur in den Arm nehmen würde. „Wann hast du es erfahren?“, richtet Chris sich nun an mich. „Heute Abend.“ „Wie geht es ihm?“ Diese Frage überrascht mich und bringt mich dazu, Chris nun doch anzusehen. Er jedoch starrt weiterhin auf den Fußboden. Seine Hände zittern wie Espenlaub. „Er wird bald sterben“, antworte ich so ruhig wie nur möglich. „Ich will ihn sehen.“ Frau Berger und ich fahren gleichzeitig zu Chris herum, der sich nun langsam erhebt, die Papiere wieder zurück auf die Kommode legt und mir dann einen schnellen Blick zuwirft. „Nein, Chris, nein“, wispert seine Mutter atemlos, streckt die Hand nach ihm aus, der er ausweicht. „Fass mich nicht an!“, zischt er gefährlich und sie zuckt zurück, als habe sie sich verbrannt. Ich habe Chris noch nie so gesehen. Wütend und völlig außer sich. Anders als ich gedacht habe, weint er jedoch nicht. Er geht an mir vorbei zur Haustüre, nimmt sich ein paar Schuhe aus dem kleinen Regal und zieht sie an. Weinend steht Frau Berger da, starrt ihrem Sohn hinterher wie er die Türe öffnet und hinausgeht, ohne ihr noch einmal in die Augen gesehen zu haben. Unschlüssig stehe ich im Flur herum. Ich weiß nicht, ob ich noch etwas sagen sollte. Frau Berger jedoch bleibt stumm und so entscheide ich mich schließlich dafür zu gehen. Draußen krame ich nach meinem Handy, wähle Martinas Nummer und bin erleichtert, dass ich sie noch erreiche. „Wo bist du?“, fragt sie. „Bei Chris. Holst du uns ab?“ „Bin sofort bei euch.“ Zu Chris sage ich kein einziges Wort. Ich wüsste nicht was. Ich selbst kann noch immer nicht glauben, was ich heute erfahren habe und ihm wird es wohl ähnlich gehen. Er muss verarbeiten, dass er einen anderen biologischen Vater hat, als er bisher angenommen hatte. Von der Tatsache mal ganz abgesehen, dass wir von heute an miteinander verwandt sind. Es dauert rund eine Viertelstunde bis Martina endlich bei uns ist, und die ganze Zeit über haben wir kein einziges Wort miteinander gewechselt. Die Stille ist erdrückend und ich bin froh, als ich mich auf den Beifahrersitz sinken lassen kann. Auf mein Geheiß fährt Martina in Richtung Krankenhaus. Unterwegs erzählt sie mir, dass Jamie noch immer dort ist und sie selbst in der Zwischenzeit dafür gesorgt hat, dass meine Mutter nach Hause gegangen ist. Die Pflegerin sei bei ihr gewesen. Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Immer wieder wirft mir Martina nervöse Blicke zu und ich sehe die Frage in ihren Augen. Sie und Jamie wissen noch immer nicht, warum ich so plötzlich aus dem Krankenhaus verschwunden bin, doch ich bin mir sicher, dass ihnen Doktor Richards zumindest von meinem Wutanfall berichtet hat. Auf dem Krankenhausparkplatz angekommen, steigen Martina und ich sofort aus, Chris jedoch braucht noch einen Moment, ehe er uns folgen kann. „Der behandelnde Arzt hat erwirkt, dass wir jederzeit vorbeikommen können. Ich denke er wusste, dass du noch einmal kommen würdest“, berichtet mir Martina und ich nicke ihr zu. Ich bin ihr dankbar, dass sie da ist. Wortlos greife ich nach ihrer Hand und sie drückt die meine ganz fest. Der Aufzug kommt mir noch enger vor als sonst und ich bin froh, dass ich nur zwei Stockwerke damit fahren muss. In dem Metall spiegelt sich Chris’ Gesicht wieder und ich kann die Verzweiflung darin erkennen, wenn auch nur verschwommen. Ich merke, dass er den Abstand zu mir sucht und wirklich verübeln kann ich es ihm nicht. Vor dem Zimmer wartet bereits Jamie auf uns, der mich mit einem besorgten Blick mustert. Unschlüssig bleiben wir gemeinsam vor der Tür stehen. „Möchtest du alleine rein gehen?“, frage ich Chris sanft und scheine ihn damit aus seinen Gedanken zu schrecken. In einer verzweifelten Geste hebt er die Schultern. Noch immer kann er mich nicht ansehen. „Warte kurz hier.“ Mit diesen Worten bedeute ich Martina und Jamie, mir in das Zimmer zu folgen. Als sich die Türe hinter uns schließt, breche ich zusammen, sinke völlig kraftlos gen Boden, lasse meinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf und weine mich an der Schulter meiner Schwägerin aus. „Was ist denn passiert, Rapha?“, will Jamie wissen, hockt sich vor mir auf die Knie, legt seine Hände auf meine Schultern und rüttelt ein wenig an mir. „Er ist… unser Bruder…“, schluchze ich haltlos. „Mein Bruder… Gott… unser Bruder…“ „Wen meinst du?“, fragt Martina verstört, ehe sie ihren Blick verstehend auf die Tür richtet. „Oh mein Gott!“ „Was? Was ist? Wer ist unser Bruder?“, bleibt Jamie ahnungslos, schaut verwirrt zwischen uns hin und her. „Chris“, erklärt ihm seine Frau. „Chris ist euer Bruder.“ „WAS?!“ Die Verwirrung steht den beiden ins Gesicht geschrieben, doch ich habe nicht die Kraft es ihnen ausführlich zu erklären. Das zaghafte Klopfen an der Tür ist ebenfalls ein Grund, warum ich den beiden nicht jetzt darlege wie es dazu gekommen ist. Mühsam rutsche ich nach links, gebe somit die Tür frei, die Jamie für Chris öffnet. Vorsichtig schaut dieser in den Raum hinein, doch sein Blick wird beinahe sofort von der Gestalt unseres Vaters gefangen genommen, der mit geschlossenen Augen daliegt. Ehrlich gesagt wäre ich froh, wenn er nicht mehr atmen würde, aber die rasselnden Geräusche bescheinigen mir etwas anderes. Martina ist diejenige, die Chris an der Hand nimmt und gemeinsam mit ihm bis zum Fußende des Bettes geht. Flüsternd spricht sie auf Chris ein und ich kann gerade noch so verstehen, dass sie im erklärt warum der alte Mann so aussieht wie es nun mal eben der Fall ist. Bisher wusste Chris nur, dass mein Vater Krebs hatte und dementsprechend angeschlagen aussieht, aber ins Detail gegangen bin ich nie. Das Bild erschreckt ihn offensichtlich. „Woher willst du das wissen?“, wispert mir Jamie ins Ohr. „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe den Vaterschaftstest gesehen. Er liegt bei Chris zu Hause.“ „Aber wie…?“ „Jamie, bitte“, flehe ich schwach. „Später.“ Brummend gibt Jamie dem nach. Er beobachtet ebenso wie ich, wie Chris langsam das Bett umrundet, einen genauen Blick auf die Gestalt darin wirft und schwer schlucken muss. Ich kann nicht lesen was in Chris vorgeht und ehrlich gesagt bin ich auch froh darum. Egal was es in diesem Moment auch immer ist, ich kann es einfach nicht ertragen. Schier endlos lange Minuten steht Chris einfach da, betrachtet stumm das Profil des sterbenden Mannes, saugt scheinbar jedes noch so winzige Detail der runzligen Haut in sich auf. Sein Atem ist gepresst und angestrengt, seine Hände sind zu Fäusten geballt und auf seiner Stirn zeichnen sich tiefe Furchen ab. Dann, urplötzlich, dreht Chris sich um, stürmt zur Tür, reißt sie auf und rennt wortlos auf den Flur hinaus. Wie hypnotisiert starren Jamie, Martina und ich ihm nach, ehe ein heftiger Ruck durch meinen Körper geht und ich Chris nachsetze. Er ist bereits an der Treppe angekommen, stemmt sich gegen die Tür, drückt gegen sie, anstatt zu ziehen und ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich noch die Kraft dazu hat, wegzulaufen. Als er meine Schritte hört, hebt er den Kopf und es zerreißt mir augenblicklich das Herz, als ich den tiefen Schmerz in seinen Augen lesen kann. Pure Verzweiflung spiegelt sich in seinen braunen Iriden wieder und die Machtlosigkeit ergreift erneut von mir Besitz. Ich kann nichts tun um ihm zu helfen… ich kann ihm den Schmerz nicht nehmen… die Realität nicht verändern… Unschlüssig stehen wir uns gegenüber, keiner spricht ein Wort und zumindest Chris’ Atem geht schwerfällig. Immer wieder schütteln ihn Schluchzer, die er mehr oder minder erfolgreich niederkämpft. Die Tränen laufen ihm trotzdem haltlos über die Wangen. Ich will ihn umarmen! Ihn spüren lassen, dass ich noch immer da bin, derselbe bin wie noch vor wenigen Stunden! Und vielleicht will ich mir auch einfach nur selbst beweisen, dass sich ein Kuss nicht anders anfühlen würde… sind wir nicht noch immer dieselben Menschen? Mit den gleichen Gefühlen füreinander… „Ich…“, spricht Chris leise, wendet den Blick gen Boden. „Ich… weiß nicht… was… weiß nicht was ich machen soll. Was bedeutet das?“ Deine Mutter hatte eine Affäre mit meinem Vater, denke ich, oder vielleicht hatte mein Vater eine Affäre mit deiner Mutter. Doch diese Worte bleiben ungesagt. Es bedeutet nichts. Wer den Anfang getan hat ist unwichtig. Es zählt nur, dass es passiert ist. Und wieder beschleicht mich das Gefühl, dass ich mich nicht verantwortlich fühlen will, wenn es nicht meine Schuld gewesen ist. Niemand hat uns gesagt, dass wir miteinander verwandt sind, dass es falsch ist uns zu lieben. Niemand hat Chris gesagt, dass er das Herz seines Halbbruders erobern würde und niemand hat mir gesagt, dass ich mein Glück in seinen Armen finden würde. Und obwohl ich weiß, dass wir denselben Vater haben, halte ich an diesem Gedanken fest. Daran hat sich nichts geändert. Chris ist mein ganz persönliches Glück und ich will mit ihm zusammen sein. Aber ob wir das können? Zweifel steigen in mir auf und ich wende mich von Chris ab, der noch immer an die Tür gelehnt dasteht. Seine Augen huschen unruhig hin und her, unfähig sich auf etwas zu konzentrieren. Einmal mehr fällt mir auf, wie jung er noch ist. Gerade einmal achtzehn. Er hat keinerlei Erfahrung mit Lebenskrisen, während ich schon die ein oder andere hinter mir habe. Das macht es mir auch nicht sehr viel leichter es zu akzeptieren, aber ich weiß worauf ich mich konzentrieren muss. Mein Leben wird auch weiterhin stattfinden. „Ich hätte nicht herkommen sollen“, sagt Chris plötzlich. „Ja“, antworte ich und meine Stimme ist dabei ganz rau. „Ich kann in ihm nicht meinen Vater sehen. Das Bild das ich von ihm habe… die Geschichten… er ist ein Monster.“ Während er das sagt, sieht er mir ganz fest in die Augen. Ich kann nur stumm nicken, fahre mir dabei einmal mit der Hand durch die Haare. „Dein Vater, wird immer dein Vater bleiben, egal was die DNA dazu sagt“, versuche ich ihn zu trösten. Wir sehen uns schweigend an und ich bin mir sicher, dass Chris nun genau dasselbe denkt wie ich. Gilt das auch für uns? Kann es uns egal sein, dass unsere DNA zu Teilen gleich ist? „Und ich?“, frage ich ihn schließlich, sehe ihn unsicher an. „Ich weiß nicht…“, gesteht Chris leise, betrübt und wendet sich erneut ab. Dieses Mal zieht er an der Tür und sie geht quietschend auf. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass er gehen will. Einfach so, ohne jedes weitere Wort, ohne mich auch nur ein einziges Mal berührt zu haben! „Chris! Warte!“, rufe ich laut, laufe ihm hinterher, bekomme ihn aber erst auf dem ersten Treppenabsatz zu fassen. Ich sperre ihn zwischen mir und der Wand ein, fahre mit meinen Finger fahrig durch seine Haare, sehe ihm dabei ins Gesicht, das sowohl Angst als auch Verlangen widerspiegelt. „Lauf nicht weg“, bitte ich ihn flüsternd, dränge mich noch etwas näher an ihn heran. Er verspannt sich unter mir, dreht den Kopf zur Seite und wieder laufen ihm Tränen über die Wangen. „Rapha… ich…“ „Du hast es mir gesagt“, rede ich verzweifelt auf ihn ein. „Du hast gesagt, dass ich nicht vor dir davonlaufen soll, egal was passiert. Ich bin hier! Chris, ich bin hier!“ „Rapha, bitte“, begehrt er schwach gegen mich auf, traut sich jedoch nicht seine Hände auf meine Schultern zu legen um mich von sich zu schieben. Aber ich bin nicht bereit ihn gehen zu lassen. Ich weiß, dass ich selbst Zeit brauchen werde um all das zu verarbeiten, um einen Weg zu finden mit den Dingen klar zu kommen, aber bei allem guten Verstand… ich kann und will einfach nicht mehr ohne Chris sein! „Nein!“, wehre ich seine schwachen Versuche ab, zwinge ihn mit einer Hand dazu, mich anzusehen. „Ich laufe nicht weg, Chris. Egal wie lange es dauern mag, ich will nicht mehr weglaufen. Bitte… sag mir, dass du das auch nicht tun wirst. Lass mich nicht allein!“ „Ich kann nicht!“, schluchzt Chris auf, in seinem Blick liegt pure Verzweiflung. „Ich kann… kann das einfach nicht!“ „Doch, du kannst!“, beschwöre ich ihn, ziehe sein Gesicht näher zu meinem, küsse seine Wangen, seine Nasenspitze und schließlich, endlich, lege ich meine Lippen auf die seinen. Sie sind ganz feucht von seinen Tränen, schmecken salzig und wässrig, aber das ist mir egal. Es sind seine Lippen und es ist sein zitternder Körper, der in meinen Armen hängt und das ist alles was zählt. Trotz gewisser Gegenwehr, lässt er sich auf mich ein, küsst mich immer wieder, doch seine Arme bleiben leblos, hängen schlaff herunter. Auch ich bin verzweifelt, denn ich spüre, dass es sich noch immer so anfühlt wie früher, so richtig. Es wärmt mich von innen heraus ihm so nahe zu sein, aber die Bilder von meinem Vater schießen wieder dazwischen. Ich finde keine Ruhe… lasse ihn los. Er drängt sich an mir vorbei, wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, schluchzt laut auf und stolpert die Treppen hinunter. Kein Blick zurück, keine letzte Berührung. Nur der bittere Geschmack des Verlustes auf meinen Lippen. --- Kapitel 26: Die Münze entscheidet? (2002 / 07) ---------------------------------------------- 26. Kapitel - 2002 (Juli) Süßlicher Geruch liegt in der Luft, steht ganz im Gegensatz zu den bitteren Gefühlen, die in meinem Inneren gären. Müde fahre ich mir über die Augen, starre in die dampfende Teetasse vor mir, als ob ich in den trüben Tiefen des roten Gebräus auch nur irgendetwas lesen könnte. Ich wäre für jede Hilfe dankbar, aber dieses Mal wird es so was nicht geben. Der Stoff meiner Jogginghose kratzt unangenehm über meine Haut und langsam zeichnet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ab. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht mir ein Shirt überzuziehen. Ohne jeden Sinn drehe ich die Tasse herum, lasse den Henkel nun nach links zeigen und lehne mich anschließend weit in den Sessel zurück. Die sechste Nacht in der ich nur knapp vier Stunden geschlafen habe. Der Alltag laugt mich aus und ich wünsche mir ich könnte die Tage einfach nur an mir vorbeiziehen lassen. Aber mein Körper hält mich wach, konfrontiert mich mit dem Problem, das ich so krampfhaft zu verdrängen versuche. Ich seufze leise, schließe die Augen und genieße das Dunkel, dass sich vor mir auftut. Gleichzeitig schrecke ich jedoch vor dieser Ödnis zurück, die es meinen Gedanken erlaubt frei aus mir auszubrechen. Nur mühsam halte ich sie im Zaum, dränge sie zurück und starre mit einem Mal wieder an die Decke. Ich kenne das Chaos. Jede Nacht hat es mich bisher eingeholt, denn irgendwann während all der Schlaflosigkeit bin ich nicht mehr Herr über mich selbst und die Erinnerungen brechen über mich herein, wie eine einzige große Flutwelle. Ich werde fortgespült zu anderen Tagen, dir mir nun so unfassbar vorkommen wie der Dunstnebel, der morgens über der Erde liegt. Gab es tatsächlich einmal Tage an denen ich mit Chris einfach glücklich war? Wie lange das schon zurück zu liegen scheint, und dabei ist es kaum eine Woche her. Wir haben uns im Arm gehalten, miteinander gescherzt und gelacht und während ich in der Küche stand, ist er auf dem Sofa eingeschlafen. Wenn ich abends völlig erschöpft nach Hause kam, wartete er manchmal auf mich, übernachtete bei mir und ihn nur in meiner Nähe zu wissen, nahm mir den Druck und die Anspannung von den Schultern. Gott, ich vermisse ihn! So sehr! Mit einem gequälten Laut werfe ich meinen Oberkörper nach vorne, fange mich gerade noch rechtzeitig auf, ehe ich auf dem Boden lande. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen und ich kann ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Ich presse mir die geballten Fäuste gegen die Stirn, als ob das all diese Erinnerungen vertreiben könnte. Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das ich es endlich herausreißen könnte. Ist es tatsächlich erst zwei Wochen her, dass Chris mir freudestrahlend erzählt hat das er nach seinem bestandenen Abitur gerne mit mir in Urlaub fahren würde? Und habe ich damals nicht vor lauter Verlegenheit gelacht, was ihn zum Schmollen gebracht hat? Er war sicherlich zwei Stunden böse auf mich an diesem Tag, doch nachdem ich mich ernsthaft entschuldigt hatte, war sein Ärger verraucht und wir lagen gemeinsam auf der Couch. Seine Hand hatte sich unter mein Hemd verirrt und war ganz warm. So warm... ein sanftes Streicheln auf meiner Haut und dazu sein liebevolles Lächeln, die Ideen die er hatte und die ehrliche Freude, die all das in mir weckte. Noch einmal schluchze ich laut auf, höre wie die Tür zu meiner rechten aufgemacht wird und höre die gedämpften Schritte, die auf mich zukommen. Thomas setzt sich auf die Sessellehne, legt einen Arm um meine bebenden Schultern und lehnt seinen Kopf an meinen. Er versucht erst gar nicht mich zu beruhigen, er weiß, dass es mir gut tut mir all den Kummer von der Seele zu weinen. Nicht nur den über den Verlust von Chris. Wie lange ist es her, dass ich offen geweint habe? Wann lasse ich Gefühle schon einmal so offen zu? Schwäche. Ich kralle meine Finger in den Stoff von Thomas’ Schlafanzugoberteil. Der Halt tut mir gut, auch wenn er meine Tränen nicht stoppen kann. Dafür bräuchte ich jemand anderen. Jemanden, der mich mit seinem Lächeln vom ersten Moment an fasziniert hat. „Ich vermisse ihn“, stoße ich atemlos hervor, lasse mich nun doch auf den Boden sinken und spüre eher beiläufig wie Thomas sich neben mich setzt, sein Arm noch immer um mich gelegt. „Ich weiß“, sagt er schlicht und seine Stimme klingt so verzerrt wie ich mich im Moment fühle. Etwas ist aus den Fugen geraten als Chris beschlossen hat, mich alleine zu lassen. Ich kann ihn und seine Entscheidung verstehen und doch... akzeptieren kann ich sie nicht. Dieser Tag im Krankenhaus, ein einziger Alptraum von Anfang an. Jetzt, wo all diese Dinge geschehen sind, wünsche ich mir, dass ich niemals zu Chris nach Hause gegangen wäre. Warum nur musste ich seine Mutter damit konfrontieren? Chris hätte es nie erfahren, wenn ich leiser gewesen wäre, oder nicht einmal auf die Idee gekommen wäre all das wissen zu wollen. Was bringt es mir, dass ich nun die Gewissheit habe, dass mein Vater eine geheime Affäre hatte, die nicht länger als eine Geschäftsreise dauerte? Ich hätte all das nie erfahren brauchen. Ich hätte diesen verdammten Brief einfach in den Müll schmeißen können, schließlich ist es nichts Neues, dass mein Vater nur seine eigene verquere Befriedigung gesucht hat. Er wollte es mir unter die Nase reiben, dass er selbst auf dem Sterbebett noch die Kraft hat mir weh zu tun. Thomas hält mich unbeirrt fest an sich gedrückt, als ich das nächste Stadium meiner Trauer erreiche und mich in selbstzerstörerischer Art winde, blindlings um mich schlage und all diesen angestauten Gefühlen Raum machen will. Alle Dinge die mich an Chris erinnern, will ich beseitigen. Leider sind das in meiner Wohnung so ziemlich alle Sachen. Chris hat viel zu viel Zeit hier mit mir verbracht und mir fallen alleine hundert Augenblicke ein in denen wir gemeinsam auf dem Sofa gesessen oder gelegen haben. Alles ist so voll mit ihm... als wäre mein Leben ein Schwamm, der seine durchdringende Nässe gänzlich in sich aufgesogen hat. „Ich kann nicht mehr“, seufze ich schließlich, meine Augen jucken und fühlen sich geschwollen an. Langsam lehne ich mich zurück, sinke gegen den Sessel in meinem Rücken und werfe Thomas einen vorsichtigen Blick zu, den er ruhig erwidert. „Glaub ich dir“, antwortet er mit dem leichten Anflug eines Lächelns im Gesicht. „Ich wäre auch fertig, wenn ich fast mein ganzes Wohnzimmer auseinander genommen hätte.“ „Schläft Jamie noch?“, frage ich matt nach, merke jedoch im gleichen Moment, dass mich die Antwort gar nicht wirklich interessiert. „Denke schon. Oder er traut sich einfach nicht raus.“ Ich nicke knapp, lege dann meinen Kopf auf meinen Armen ab und seufze hörbar auf. Jegliche Kraft ist aus mir gewichen, doch das ist auch schon alles. Es hat sich nichts verändert, trotz meiner Tränen. Ich fühle mich noch immer so ausgelaugt wie bisher und nun schmerzt mein Kopf nicht nur wegen der trüben Gedanken die darin wohnen. „Glaubst du...“, setze ich an, überlege es mir dann aber doch anders. Thomas ist nicht der Richtige um diese Frage zu stellen, dass wissen wir beide. Trotzdem wäre ich froh, wenn ich die Antwort kennen würde. „Gib ihm Zeit“, murmelt mein bester Freund neben mir, streicht mir sanft über den Rücken. „Er wird mit seiner Mutter darüber sprechen und erst wenn er weiß, was das alles für ihn und seine eigene Familie bedeutet, kann er darüber nachdenken, was aus euch beiden wird.“ „Ich weiß ja... aber... Gott, wenn er es nur nie erfahren hätte!“, rufe ich verzweifelt aus. „Und dann?“, stellt Thomas eine sehr irritierende Gegenfrage. „Dann wäre alles geblieben wie vorher“, antworte ich matt, werfe ihm dabei einen fragenden Blick zu, den er mit ernster Miene erwidert. „Das denke ich nicht“, sagt er schließlich. „Wenn du das alles in dich hinein gefressen hättest, dann wärst du nicht mehr in der Lage gewesen normal mit Chris umzugehen. Ein dunkles Geheimnis das zwischen euch steht, ich glaube, ihr wärt daran kaputt gegangen.“ „Wir gehen auch jetzt daran kaputt“, werfe ich trotzig ein und deute dabei auf das Offensichtliche. „Vielleicht“, meint Thomas nur. „Vielleicht auch nicht. Das wird sich erst zeigen.“ „Elender Optimist“, brumme ich unfreundlich, doch ich merke, wie sich ein erstes zaghaftes Lächeln auf meinen Zügen abzeichnet. Auch Thomas’ Augen blitzen mir nun schalkhaft entgegen und er schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter. „Na komm, wenn wir eh schon wach sind, dann können wir auch was essen. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen“, entscheidet mein bester Freund, steht dabei auf und zieht mich mit sich nach oben. Ich nehme meine Teetasse vom Tisch und trinke sie in einem Zug leer, auch wenn der Tee an sich schon kalt ist. Es tut gut gemeinsam mit Thomas den Tisch zu decken, neues Wasser aufzukochen und sogar Frühstückseier vorzubereiten. Als ich das dritte Brettchen auf den Tisch lege bin ich erleichtert, denn ich sehe nun ganz offensichtlich vor mir, das ich nicht alleine bin. Thomas ist da, Jamie auch. Letzterer tapst verschlafen in die Küche, als wir gerade dabei sind die Brötchen aufzuschneiden, die Thomas von seiner Mutter mitgebracht hat. „N’morgen“, brummt Jamie, lässt sich auf einen Stuhl fallen und stiert wie hypnotisiert in die leere Tasse vor ihm. „Kaffee?“, fragt er hoffnungsvoll. „Ist gleich durchgelaufen“, antwortet Thomas und stellt den Brötchenkorb auf den Tisch. „Hast du gut geschlafen?“, wende ich mich an meinem Bruder, dem ich schon einmal die Milch und den Zucker gebe. „Besser als du auf jeden Fall“, kommt es hinter vorgehaltener Hand, als Jamie sich zu einem Gähnen herablässt. „Das ist nicht schwer“, meine ich versöhnlich, wende mich dem Herd zu, schütte das Wasser aus dem Topf und angle vorsichtig die hartgekochten Eier daraus, lege sie in eine Schüssel, ehe ich den kalten Wasserhahn aufdrehe und sie in dem kühlen Nass ertränke. „Reden wir darüber?“, will Jamie wissen, nickt Thomas dankbar zu, als dieser ihm die Tasse endlich mit Kaffee vollschüttet. „Nicht beim Frühstück“, beschließt mein bester Freund und ich bin erleichtert über diese Ansage. Auch wenn ich mich bereits ein wenig besser fühle habe ich nicht das Verlangen danach schon jetzt über die ganze Angelegenheit zu sprechen und sie auszudiskutieren. Denn immer noch bin ich mir selbst nicht ganz im Klaren darüber, wie ich Chris gegenüber treten soll. Wir essen schweigend vor uns hin. Insgesamt gesehen sind wir wohl einfach noch zu müde und erschöpft um großartig Diskussionen zu führen, auch wenn wir alle wissen, dass es unausweichlich ist. Mit einem Blick zur Uhr stelle ich fest, dass wir erst halb fünf haben und einen Moment lang tut es mir leid, die anderen so früh aus dem Bett getrieben zu haben. Gleichzeitig frage ich mich aber auch, ob Chris genauso schlecht geschlafen hat wie ich und in diesem Moment vielleicht sogar an mich denkt. Später räumen Thomas und Jamie die Küche wieder auf, während ich mich im Schlafzimmer umziehe. Heute tut es eine einfache Jeans, eines meiner zahlreichen schwarzen Shirts und ein warmer Pullover. Den werde ich im Laufe des Tages wohl wieder ausziehen, aber im Moment ist mir noch kalt. Als ich fertig bin statte ich auch dem Badezimmer noch einen kurzen Besuch ab, ehe ich mich wieder zu den anderen geselle, die mittlerweile im Wohnzimmer sitzen und sich flüsternd unterhalten. Allerdings verstummt das Gespräch bei meinem Eintreten, noch ehe ich auch nur eine Silbe aufschnappen konnte. „Alles in Ordnung?“, hake ich etwa misstrauisch nach, wandere mit meinem Blick zwischen den beiden hin und her. Seit mir Thomas damals erzählt hat, dass Jamie mir nur etwas vorgegaukelt hat, ist das Verhältnis zwischen den beiden merklich kühler geworden. Sie scheinen sich gegenseitig in meiner Nähe zu dulden, mehr allerdings auch nicht. „Ja, alles klar“, antwortet Thomas, deutet dabei ein Lächeln an und klopft auf den freien Sitzplatz neben sich. „Fühlst du dich besser?“ „Ein bisschen“, gestehe ich, lasse mich neben meinem besten Freund nieder. „Schön. Jamie wollte dir nämlich etwas sagen.“ Mein Bruder wirft Thomas einen leicht gequälten, aber auf jeden Fall Wut durchtränkten Blick zu, ehe er seine Aufmerksamkeit auf mich lenkt. „Ich hätte es gerne zu einem anderen Zeitpunkt getan, aber da Thomas so versessen darauf zu sein scheint dabei zu sein...“, fängt er an zu reden, wirft meinem besten Freund dabei giftige Blicke zu. „...ich wollte dir nur sagen, dass Chris nicht mein Bruder ist, ganz gleich was der Test sagt.“ Überrascht hebe ich eine Augenbraue, schweige mich aber aus, denn so wie ich Jamie kenne, wird er mir gleich erklären was genau er damit meint. Thomas hat inzwischen die Augen zu gemacht und lehnt mit dem Kopf an einem Kissen, das er sich in den Nacken geschoben hat. „Ich mag Chris“, fährt Jamie nach einem kurzen Zögern fort. „Aber ich mag ihn als einen Freund, nicht mehr. Ich kann auch nicht plötzlich in ihm meinen kleinen Bruder sehen. Ich für meinen Teil werde ganz normal mit ihm umspringen, so wie vorher auch, für den Fall, dass er sich nicht von uns abkapselt. Das wollte ich dir nur sagen.“ „Und weiter!“, mischt sich Thomas ein, macht eine entsprechende Geste mit der Hand. „Und weiter“, fügt sich Jamie grummelnd. „habe ich auch keinerlei Probleme damit, dass du mit Chris zusammen bist. Die hatte ich vorher schließlich auch nicht und da sich für mich nichts ändert, sehe ich darin keinen... Inzest.“ Das letzte Wort ist wie ein Donnerschlag und Jamie schaut sofort betreten zu Boden. Bisher habe ich mich selbst immer um diesen Ausdruck herumgedrückt, doch nun, da er ausgesprochen wurde, kann ich mich nicht mehr gegen ihn sperren. Ja, rein objektiv betrachtet wäre es Inzest wenn ich mit Chris... schlafen würde. „Danke, Jamie“, bringe ich schwach hervor, senke jedoch den Blick, als er zu mir aufsieht. „Egal wie du dich entscheidest, Rapha, ich will einfach nur, dass du glücklich bist“, flüstert Jamie mit belegter Stimme, drückt kurz meine Schulter, ehe er aufsteht und sich verabschiedet. Er geht wieder zu Martina zurück, denn dort befindet sich seine eigene Baustelle. Ihre Beziehung hat erste Risse bekommen und nun ist mein Bruder darum bemüht seine Frau wieder milde zu stimmen. Als Jamie schließlich gegangen ist, schlucke ich schwer und werfe einen fast scheuen Blick zu Thomas, der abwesend an die Decke starrt. „Weißt du schon was du tun willst?“, fragt er mich leise. „Nein“, gebe ich zu. „Ich weiß nur, dass ich ihn nicht aufgeben will.“ „Das ist gut“, befindet Thomas. „Eine Verbesserung.“ „Ich wünschte ich könnte mit ihm reden. Wir könnten uns gemeinsam eine Lösung überlegen und...“ „Ausprobieren ob eure Gefühle noch dieselben sind“, beendet er für mich den Satz, als ich mit einer hilflosen Geste abbreche. Ich nicke als Antwort. „Im Krankenhaus“, fange ich zu erzählen an und Thomas hört mir aufmerksam zu, was ich an seinen zusammengezogenen Augenbrauen und den gefalteten Händen erkennen kann. „Ich habe ihn geküsst. Es hat mich einfach wahnsinnig gemacht, dass er mich nicht angesehen, mich nicht berührt hat und... ich habe ihn zum ersten Mal weinen gesehen. Gott, das hat mir das Herz gebrochen.“ „Und der Kuss?“, hakt Thomas sanft nach. „Er war genauso berauschend wie immer“, murmle ich verlegen. „Aber ich konnte die Bilder von meinem Vater einfach nicht aus meinem Kopf vertreiben. Ich habe ihn vor mir gesehen, seine Augen, alles. Und ich habe mich gefragt ob Chris ihm irgendwie ähnlich sieht. Und dann ging es nicht mehr... ich konnte Chris nicht mehr festhalten.“ „Ich denke ihr braucht Zeit. Natürlich denkst du darüber nach und suchst deinen Vater in ihm, aber... wenn du dich entschieden hast was dir wirklich wichtig ist, dann wird das mit der Zeit aufhören und ihr könnt wieder normal miteinander reden.“ „Was mir wichtig ist?“, frage ich leise nach. „Seit ich dich kenne, warst du auf der Suche nach dem Mann, der dein Vater ist. Sein Verlangen ihn zu ergründen und kennen zu lernen hat dich angetrieben und du warst wie besessen davon dich von ihm zu unterscheiden“, erklärt mir Thomas seine Gedanken, die ich in dieser Art zum ersten Mal höre. „Deine Vergangenheit hat dich nicht losgelassen und du hast dich darin geflüchtet, wann immer dir jemand zu nahe kam. Auch bei mir oder Erich war das nicht anders. Du hast dich uns zwar immer mehr geöffnet, aber bis heute hältst du mir ganz entscheidende Dinge vor.“ „Thomas ich...“, setze ich an, doch er hebt die Hand und lässt mich damit verstummen. „Als Chris gekommen ist, war das anders. Du hast versucht ihn auszusperren, dich von ihm zu distanzieren, bist ihm aber gleichzeitig näher gekommen und ich war überrascht wie offen du mit ihm umgegangen bist. Chris weiß viel mehr über dich, als ich. Er versteht wie du tickst und denkst und warum du fühlst, wie du fühlst. Ich habe es immer versucht, aber wenn du mich abgeblock hast, kam ich nicht mehr an dich ran und musste schweigend zusehen, wie du dich selbst gehasst hast. Aber Chris... der hat es immer wieder geschafft zu dir durchzudringen und nicht zuletzt deshalb, weil du ihn gelassen hast. Trotzdem...“ Hier mach Thomas eine kurze Pause, legt sich den Arm über die Augen und ich bemerke wie ein heftiges Beben durch seinen Körper geht. Mit Entsetzen und Erstaunen stelle ich fest, dass Thomas zu weinen angefangen hat. Langsam begreife ich wie sehr ich ihn all die Jahre verletzt habe und wie schwer es für ihn gewesen sein muss immer wieder von mir weggestoßen worden zu sein. „Was ist dir wichtiger, Raphael? Du musst dich entscheiden, denn du kannst auf Dauer nicht so weiter machen. Willst du deinen Vater suchen oder willst du mit Chris zusammen sein?“ „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, frage ich verwirrt nach. „Alles“, antwortet Thomas bestimmt, nimmt den Arm wieder runter und schaut mir fest in die Augen. „So wie die Dinge jetzt sind, kannst du nicht bei Chris bleiben. Er wird dich ablehnen und dich zurückstoßen.“ „Warum?“ „Weil er schwach ist“, erklärt Thomas. „Die Erkenntnis, dass sein Vater nicht sein leiblicher Vater ist und das seine Mutter ihn jahrelang belogen hat, ebenso sein Großvater, den er mehr als alles auf der Welt liebt, hat ihn tief verletzt. Außerdem ist er sich sicherlich darüber im Klaren, dass er nicht mehr mit dir zusammen sein kann, weil ihr nun offiziell Halbbrüder seid. Bisher hast du dich auf Chris verlassen, er hat dich aufgebaut und wieder aufgefangen, ganz egal wie es ihm dabei ging. Er war stark. Für dich und wegen dir. Aber nun, da eure Beziehung als Inzest verurteilt werden kann... warum sollte er für dich stark sein? Er wird dich zurückweisen, weil er Angst vor all dem hat was in der Zukunft auf euch wartet. Jetzt liegt es an dir. Du musst dich entscheiden. Für deinen Vater oder für Chris, denn nur so kannst du die innere Stärke entwickeln die du brauchst. Wenn du mit Chris zusammen sein willst, dann liegt es nun an dir vorbehaltlos für ihn da zu sein. Er wird dich verletzen und es dir nicht einfach machen, aber wenn du ihm zeigst, dass du nach wie vor uneingeschränkt an seiner Seite stehst, dann, und da bin ich mir sicher, werdet ihr das schaffen und glücklich werden.“ Nach dieser langen Rede bin ich sprachlos und maßlos überfordert. Ich starre Thomas an als sei er ein Außerirdischer von einer fernen Galaxie, der sich gerade in mein Wohnzimmer gebeamt hat. Mein Freund verzieht seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. Scheinbar ist ihm das Ganze furchtbar peinlich. „Seit wann bist du denn unter die Psychologen gegangen?“, will ich schließlich wissen und knuffe ihn freundschaftlich in die Seite. „Das... wollte ich dir schon lange mal sagen. In Teilen jedenfalls“, gesteht er leise. „Ich habe dir sehr weh getan, nicht wahr?“, frage ich zaghaft nach. Thomas hebt unschlüssig die Schultern, sackt ein wenig in sich zusammen, ehe er nickt. „Ich meine ich wusste das ja... deine Familie und all die Scheiße in deinem Leben... aber wie bei Jamie... du hast mich einfach immer wieder zurückgestoßen und dich dermaßen selbst zerfressen, dass es mir so wehtat, dass ich dir nicht helfen konnte. Du bist mir so wichtig, Rapha, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich dir ganz egal bin.“ „Thomas“, brumme ich tief bewegt, schließe den anderen fest in meine Arme und lege mein Kinn auf seiner Schulter ab. „Du warst mir nie egal, niemals. Ohne dich hätte ich das doch alles niemals durchgestanden. Ich verdanke dir so gesehen mein ganzes Leben.“ „Ach, hör auf“, grummelt es aus ihm hervor und ich bin mir sicher, dass er mindestens genauso peinlich berührt ist wie ich. Irgendwie sind wir beide nicht besonders gut in diesen emotionalen Geständnissen. „Danke“, flüstere ich heiser, spüre, wie er mich feste zurück drückt. „Na klar, Kumpel. Ich bin doch immer für dich da.“ „Und das weiß ich ehrlich zu schätzen.“ „Wirst du darüber nachdenken?“, fragt er mich. „Sogar mehr als dir lieb sein wird“, grinse ich in mich hinein. „Ich werde mich heute überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren können wegen dir.“ „Schmutzige Gedanken, was?“, frotzelt Thomas, drückt sich von mir weg, grinst mich an und damit ist die Welt für diesen Augenblick einfach vollkommen in Ordnung. Ohne meinen besten Freund wüsste ich einfach nicht wohin mit mir und ich kann ihm das niemals alles zurückzahlen. Ich verdanke Thomas so viel und die Freundschaft mit ihm ist mir unsagbar wichtig. Zumindest werde ich mir alle Mühe geben, sie auch in Zukunft zu verdienen. --- Wenn man eine wichtige Entscheidung zu treffen hat, muss man eine Münze werfen um sich Klarheit über seine Ziele und Wünsche zu verschaffen. Denn nicht das Ergebnis des Wurfes ist entscheidend, sondern die Klarheit die man in dem Augenblick erlangt, wenn man anfängt auf ein ganz spezielles Ergebnis zu hoffen. Was dann so unendlich schwierig erschien, wird mit einem Mal ganz einfach. Diese Weisheit habe ich von Bernhard, der mich in meiner Traurig- und Trostlosigkeit aufgefangen hat wie kein Zweiter. Jamie und Martina sind zu sehr mit sich selbst und ihrer zerrütteten Ehe beschäftigt und ich mache ihnen keinen Vorwurf daraus. Martina sieht an manchen Tagen genauso ausgezehrt aus wie ich und wir beide sind so etwas wie Verbündete im Geiste. Es ist schwer um eine Liebe zu kämpfen, die so hoffnungslos erscheint. Thomas ist nach wie vor uneingeschränkt für mich da, mit Rat und vor allem Tat. Gemeinsam gehen wir raus, in die Stadt oder auch einfach mal auf eine spontane Städtetour durch die ganzen Nachbarorte. Zusätzlich schleppt er mich zu jedem Familientreffen mit und ich habe so die Gelegenheit mit Marianne und Bernhard über die Sache zu reden. Die beiden sind meine „Eltern“ und mir sehr wichtig. Genau wie bei Thomas will ich nun versuchen offener und ehrlicher zu sein. Marianne ist in Tränen ausgebrochen, während Bernhard mich nur stumm in seine Arme geschlossen hat. So hatte ich mir meine Familie immer vorgestellt. Warum habe ich nur nie erkannt, dass ich sie die ganze Zeit über um mich hatte? Und das obwohl es mir immer wieder gesagt wurde? Doch nach dem Gespräch mit den beiden Erwachsenen, bin ich mir nun im Klaren darüber, dass ich schon immer eine warmherzige und liebevolle Familie hatte, diese immer haben werde. Bernhard sprach von der Zeit der Trennung, die er und seine Frau hinter sich haben, und wie schwer es ihm damals fiel zu entscheiden, ob er zurückkehren oder neu anfangen wollte. Alle Auflistungen der Vor- und Nachteile haben ihm nicht die erwünschte Klarheit gegeben und in einem Moment der schieren Verzweiflung hat er alles bei einem Münzwurf aufs Spiel gesetzt. Und dann wurde im klar, dass er sich mehr als alles andere wünschte, dass die Münze entscheiden würde, dass er zu seiner Familie zurückkehrt. Ihm wurde klar, dass er bei all den Dingen, die falsch liefen, seine Frau und Kinder noch immer liebte und sich ein Leben getrennt von ihnen nicht vorstellen konnte. Das war der Funke, der ihn dazu brachte wieder zu Marianne zurückzukehren und mit ihr gemeinsam alle Probleme Schritt für Schritt anzugehen. Es ist ein kluger Rat. Und er zeigt mir, welch unendliches Vertrauen Bernhard in mich setzt, wie ehrlich er wirklich zu mir ist. Ein Grund mehr, warum ich mich schuldig fühle, dass ich lange Jahre viele Dinge vor den beiden zurückgehalten habe. Aber nun kann ich wirklich, offen und ehrlich von den beiden als „Mutter“ und „Vater“ sprechen, zumindest in meinen Gedanken. In Echt habe ich mich noch nicht getraut, weil ich doch fürchte, dass sie diese Bezeichnung ablehnen könnten. Vielleicht bin ich auch einfach noch nicht soweit. Johannes und Lars, die Zwillinge, stolze vierzehn Jahre alt, tun ihr Übriges um mich aufgenommen und geliebt zu fühlen. Beide spannen mich ein wie nie zuvor, sind interessiert an allem und wir erleben schöne Ausflüge zusammen. Es beginnt zu dieser Zeit, dass ich anfange, die Dinge meiner Vergangenheit zu verarbeiten. Nie zuvor habe ich mich so intensiv damit auseinandergesetzt. Bisher gab es immer nur mich und meine dunklen Gedanken, doch nun spreche ich mit anderen Menschen darüber, mit Thomas, seinen Eltern und hin und wieder auch mit Jamie. Ich gebe mir die Freiheit, zuzulassen und auszuleben was sich in alle den Jahren an Gefühlen in mir angestaut hat. Ich schreie und bin wütend. Ich weine und bin verzweifelt. Ich stagniere und beginne wieder von vorne. Zum ersten Mal schildere ich Marianne und Bernhard das gesamte Ausmaß meiner Kindheit, meine Verbindung zu Zack und dessen „Unfall“. Die Umstände meiner Kindheit spare ich etwas aus, denn ich will die beiden nicht gleich komplett überrollen. Ich portioniere die Informationen schon, jedoch merke ich wie sehr es Marianne und Bernhard erschreckt. Doch entgegen all meiner Ängste sind sie nach wie vor für mich da, wenden sich nicht von mir ab und ich bin ihnen so dankbar wie noch nie zuvor. Nachdem ich diese Gespräche hinter mich gebracht habe und mir dadurch noch einmal viele Dinge klar wurden, formt sich ein neuer Gedanke. Thomas hat mir vor langer Zeit einmal gesagt, dass ich mich für Chris oder meinen Vater entscheiden müsse. Jetzt verstehe ich, dass das eine Frage danach ist, ob ich bereit bin meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und mich ganz auf die Zukunft zu konzentrieren, oder ich noch darin gefangen bin und mich erst einmal noch damit auseinander setzen muss. Ich spreche darüber mit Thomas, lange und ausgiebig und komme schließlich zu der Erkenntnis, dass ich nicht nach vorne gehen kann, wenn ich noch die Gewichte meiner Vergangenheit trage. Zuerst muss ich dieses Kapitel endgültig abschließen. Der Tod meines Vaters mag ein erster Schritt gewesen sein, aber noch nicht das wahre Ergebnis. Ich muss mehr tun und in mir reift eine erste Idee was ich unternehmen könnte um das zu ändern. Nachdem ich mir darüber im Klaren bin, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Diese verbringe ich hauptsächlich damit meinen Alltag wieder aufzunehmen, meine Kurse zu besuchen, nötige Vorkehrungen zu treffen und mich gründlich auf meinen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Als die für mich so wichtigen Informationen eintreffen, bin ich nervös und aufgeregt. Es wird Zeit für meinen Münzwurf. Es steht nur noch eine Frage aus. Bin ich bereit Chris aufzugeben, aus all den guten Gründen, die ich in Sekundenschnelle finden kann, oder ist mir das Glück, das ich an seiner Seite erfahren habe, wichtig genug es auf einen Versuch ankommen zu lassen, mich den Konventionen dieser Gesellschaft entgegen zu stellen? Thomas ist an diesem Abend bei mir und wir haben zunächst über meine Zukunftspläne geredet, ehe er mir die Frage nach Chris gestellt hat. Nun stehe ich auf, fische eine Euromünze aus meinem Geldbeutel und halte sie Thomas hin, der mich verwirrt ansieht. „Kopf heißt, dass ich es mit Chris versuchen werde. Ich werde mit ihm reden und unserer Beziehung eine Chance geben. Zahl heißt, dass ich es nicht tue, sondern versuchen werde ihn zu vergessen.“ „Das willst du nicht wirklich von einem Münzwurf abhängig machen, oder?“, fragt mich Thomas ungläubig, doch ich lächle ihm nur zu und werfe die Münze. Jetzt wäre in einem Film eine Slowmotioneinstellung angebracht, aber im echten Leben dreht sich die Zeit genauso schnell weiter wie zuvor und als ich die Münze auffange, stoße ich einen schweren Seufzer aus. „Was ist es?“, will Thomas neugierig wissen, und ich zeige ihm das Ergebnis. „Das willst du nicht wirklich machen… Rapha, das ist dämlich!“ „Ich weiß“, antworte ich einfach nur. „Deswegen tue ich ja auch das, was ich eigentlich will.“ Thomas kommt nicht ganz mit mir mit, aber er versteht, was ich mit dieser Aussage meine und nickt mir zu. Nachdem das getan ist, packen wir alle meine Sachen zusammen, schleppen sie runter ins Auto und dann fährt er mich zu Chris‘ Haus. Dort angekommen, drückt er mich einmal feste an sich, dann steige ich aus und sage ihm, dass ich ihn anrufe, sobald ich fertig bin. Er nickt mir zu und verspricht mir, da zu sein, wenn ich ihn brauche. Als er davonfährt, wird mir zum ersten Mal mulmig zu Mute, doch ich denke an Bernhards Worte und daran, dass das Ergebnis meines Wurfs wirklich nichts zu sagen hatte. Es hat mir nur geholfen zu erkennen, was ich eigentlich fühle. Ich klingle zweimal schnell hintereinander und als mir Frau Berger öffnet, lege ich schnell eine Hand an die Tür für den Fall, dass sie mir diese vor der Nase zuschlagen will. Doch nichts dergleichen passiert. Sie sieht mich müde und abgekämpft an, wartet auf ein Wort meinerseits und rührt sich nicht von der Stelle. Auch wenn ich sehe, dass es ihr nicht gut geht und ich weiß, dass auch sie es nicht immer einfach hatte, empfinde ich kein Mitleid für sie. Sie mag nicht die alleinige Schuld tragen, vielleicht tut das niemand, aber dennoch mache ich sie für Vieles verantwortlich. Immerhin schien sie geahnt zu haben wessen Sohn ich war und hat es dennoch zugelassen, dass Chris sich mit mir anfreundet. Den Sinn dahinter habe ich nicht begriffen, doch um ehrlich zu sein habe ich auch nicht danach gefragt. „Ich möchte zu Chris“, sage ich ruhig. Ich erwarte fast ein wenig Widerstand, doch sie nickt nur und lässt mich endlich ins Haus eintreten. Sie umschlingt ihren Körper schutzsuchend mit ihren Armen und blickt zu Boden. Von der starken, strengen Frau, die ich kennen gelernt habe, ist nichts übrig geblieben. „Wir haben uns gestritten“, erzählt sie leise. „Er hat mich zum ersten Mal richtig angeschrien und… er hat seinen Vater angerufen, also… meinen Ex-Mann. Sicherlich wollte er wissen ob das alles wahr ist und wie mein Ex-Mann zu ihm steht. Ich weiß nicht ob ihn das überzeugt hat oder nicht. Er redet nicht mehr mit mir. Kein Wort in all der Zeit.“ „Es ist nicht leicht für ihn“, sage ich rau. „Für keinen von uns.“ „Ich weiß“, schluchzt sie auf. „Alles was ich wollte war, dass Chris glücklich wird, eine heile Familie hat und es keinen Unterschied macht, dass er das Ergebnis eines Seitensprungs ist. Er hat einen Vater. Einen, der ihn liebt. Mehr wollte ich nie.“ „Wenn man ein Leben lang belogen wurde, ist es nicht leicht zu verzeihen“, antworte ich, blicke dabei an ihr vorbei. „Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut. Warum hast du es mir nicht eher gesagt? Warum hast du damals gemeint, dass ich sein Freund sein sollte?“, frage ich sie nun und merke kaum, dass ich sie duze. Das alles ist so persönlich, dass ich auf Formalitäten keinen Wert mehr lege. „Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Wie groß war die Chance, dass du Carlos‘ Sohn bist? Ich habe Bilder gesehen, als du noch ein Kind warst. Eine Ähnlichkeit war da, aber dann habe ich nur gedacht, dass das Zufall ist. Wir sind hierher gezogen, vor Chris‘ Geburt. Ich wusste nicht wo Carlos‘ lebte, habe mich nie dafür interessiert. Die Firma, in der er damals arbeitete, hatte ihren Sitz in einer anderen Stadt, weswegen ich immer geglaubt habe, er habe dort gewohnt.“ „Er ist immer zwei Stunden hin und her gependelt“, sage ich nun. „Ja“, seufzt sie resigniert. „Daran habe ich nie gedacht. Chris ist glücklich gewesen mit dir und deinen Freunden. In der Schule hat er nie Anschluss an seine Mitschüler gefunden und die Leute im Studio sind… nun, manche sind sicherlich nett, aber ich habe immer ein Auge auf sie gehabt und die meisten sind einfach nur abgehoben und vergnügungssüchtig. Kein Umgang für ihn. Als er aber dich kennenlernte habe ich gespürt, dass er zum ersten Mal Menschen gefunden hat, bei denen er sich wohlfühlt. Freunde, die ihn verstehen und bei denen er sicher ist. Das habe ich mir gewünscht und dabei alle Zweifel bei Seite gefegt, die ich deinetwegen hatte. Ich wollte einfach nicht, dass das wahr ist.“ „Es ist aber wahr.“ „Ja. Leider.“ Danach schweigen wir uns an. Ich kann sie verstehen. Ein wenig zu mindestens. Aber ich will ihr hier und jetzt keinen Platz in meinen Gedanken einräumen, denn ich habe eine ganz andere Sache auf die ich mich konzentrieren muss. Später werde ich genug Muße haben auch über Frau Berger nachzudenken. Ich wende mich also von ihr ab und steige die Treppe hinauf, bleibe vor seinem Zimmer kurz stehen um mich zu sammeln, klopfe dann an. Es kommt kein Ton von drinnen, also drücke ich die Klinke einfach herunter und bin erleichtert, dass Chris sich nicht eingeschlossen hat. Im Zimmer ist es stockdunkel und ich kann seine Silhouette am Fenster ausmachen. Er sitzt auf dem Fensterbrett und starrt nach draußen auf die Terrasse. „Hallo Chris“, sage ich schwach, denn nun, da ich ihm wirklich gegenüberstehe, nach all den vergangenen Wochen, schwindet meine Kraft und Entschlossenheit. Ich habe Angst, dass er sich schon gegen uns entschieden hat. Doch er bleibt stumm, wendet mir noch nicht einmal den Blick zu. Langsam taste ich mich vor, doch als ich noch immer keine Reaktion erhalte, als ich ihn zum zweiten Mal anspreche, ringe ich mich dazu durch, direkt zu ihm zu gehen. Ich berühre ihn an der Schulter und er zuckt heftig zusammen, so abgeschottet war er in seinen Gedanken. Seine Augen weiten sich erschrocken, als er erkennt, wer ich bin. „Rapha“, flüstert er leise und der Klang meines Namens ist ein Pfeil in meiner Brust. Gott, wie sehr ich ihn vermisst habe. „Hallo Chris“, sage ich noch einmal und lächle ihn schwach an. „Was tust du hier?“, will er wissen und zieht sich ein wenig vor mir zurück. Augenblicklich, gehe ich einen Schritt nach hinten, lasse ihm Freiraum. Vorsichtig öffne ich einen der Vorhänge um ein wenig Licht rein zu lassen. Chris sieht müde aus, aber auch schrecklich leer und hoffnungslos. Seinen Augen fehlt der übliche Glanz und ich bemitleide ihn schrecklich für all die Dinge, die er durchmachen musste. „Ich bin hier um mit dir zu reden“, antworte ich zaghaft, gehe noch weiter zurück und setze mich auf sein Bett. „Wenn du mir zuhören würdest.“ Einen Moment lang denkt er darüber nach, dann jedoch nimmt er die Füße von der Fensterbank und wendet sich mir zu. Er nickt einmal, dann senkt sich sein Blick gen Boden. Davon lasse ich mich nicht entmutigen, sondern atme einmal tief durch und beginne mit einer Rede, die ich vorbereitet und gut einstudiert habe. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ich ganz unvorbereitet in dieses Gespräch gegangen, so nervös bin ich. „Seit ich herausgefunden habe, dass wir Halbgeschwister sind, habe ich viel nachgedacht. Über uns, aber auch über mich und mein Leben, meine Vergangenheit. Ich habe vielen Menschen, dir eingeschlossen, sehr weh getan, weil ich es nie geschafft habe, mit den Dingen von damals abzuschließen. Aber ich habe beschlossen, dass ich so nicht mehr weitermachen, sondern mich den Dingen stellen will.“ Nervös knete ich meine Hände, wage es nicht den Blick von ihnen zu heben, aber ich merke, dass Chris mir aufmerksam zuhört. Sein ganzer Körper ist angespannt und mittlerweile starrt er auch nicht mehr auf den Boden, sondern auf meine zittrigen Finger, die keinen Halt zu finden scheinen. „Bernhard hat mir gesagt, dass man bei wichtigen Fragen in seinem Leben eine Münze werfen muss um zu erkennen, was man sich eigentlich erhofft. Ich habe die Münze zweimal geworfen. Beim ersten Mal habe ich mich gefragt, ob ich in der Lage sein werde mein Leben von nun an zu leben, ohne ständig in meiner Vergangenheit zu versinken und dieses Kapitel ein für alle Mal zu begraben. Die Antwort für mich war ein klares Nein.“ Hier sieht Chris mir direkt ins Gesicht und ich fange seinen ängstlichen Blick auf. „Ich kann meine Augen nicht davor verschließen und die quälende Frage danach wer mein Vater wirklich war, ist mit seinem Tod höchstens stärker geworden. Ich habe mich dafür entschieden, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen so gut ich es vermag. Ich will aufarbeiten, was geschehen ist und sehen, ob ich dadurch nicht doch etwas Frieden finden kann. Deswegen habe ich einen Privatdetektiv angeheuert die Familie meines Vaters zu finden. Er hat herausgefunden, dass meine Großmutter noch lebt, ebenso seine Schwester und einige andere Verwandte. Allerdings leben sie nach wie vor in Spanien, was ich mir schon fast gedacht habe. Ich werde also nach Spanien fliegen und versuchen mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“ „Wann?“, fragt Chris leise. „Übermorgen.“ Bei dieser Antwort springt Chris ruckartig auf und scheint auf mich zugehen zu wollen, doch er stoppt sich im letzten Moment und steht unschlüssig vor mir, vergräbt seine Finger in seinem Shirt und sieht mich stumm an, beißt sich dabei auf die Lippe. „Das hier ist anders als damals mit Zack“, fahre ich mit leicht brüchiger Stimme fort. „Dieses Mal laufe ich nicht einfach weg. Und… ich würde mich freuen, wenn du mit mir kommen würdest. Für dich ist das alles sehr plötzlich gekommen, deswegen weiß ich nicht wie du zu der Sache stehst, aber… theoretisch wären das auch deine Verwandte und wenn du wolltest, könnten wir zusammen…“ „Nein“, unterbricht mich Chris barsch. „Das sind nicht meine Verwandte. Meine Oma ist tot. Und ich habe einen Großvater und…“ Ich sehe ihn schweigend an und weiß, dass ihm das alles zu viel ist. Das habe ich kommen sehen und deswegen überrascht mich sein Ausbruch nicht. Doch ich wollte meinen Fehler von einst nicht wiederholen, als ich Zack einfach zurückgelassen habe. Auch an dieser Tatsache habe ich einmal mehr gemerkt, wie viel Chris mir tatsächlich bedeutet. „Okay“, sage ich schließlich. „Es ist ein Angebot, kein muss.“ „Danke“, presst er mit Tränen in den Augen hervor. „Dass du gefragt hast, Rapha.“ Ich nicke ihm aufmunternd zu und bringe sogar ein kleines Lächeln zu Stande. „Ich wollte nicht fliegen ohne dich wenigstens gefragt zu haben.“ „Wie lange wirst du fort bleiben?“, fragt Chris leise. „So lange wie es dauert. Mit Erich habe ich alles Organisatorische abgesprochen und auch Thomas ist involviert. Während meiner Abwesenheit vermiete ich meine Wohnung, beziehungsweise Thomas tut das für mich.“ Chris kann daraufhin nur schwach nicken und sackt ein wenig in sich zusammen. Ich nehme allen Mut zusammen, strecke meine Hand nach ihm aus und bekomme die seine zu fassen, die ich sanft festhalte. Er zuckt erschrocken zurück, doch er lässt seine Hand in meiner liegen und starrt mich nur mit großen Augen an. „Das war die erste Entscheidung“, spreche ich weiter. „Das zweite Mal habe ich die Münze unseretwegen geworfen. Ich wollte wissen, ob ich uns als Paar aufgeben sollte.“ Nervös tritt Chris von einem Fuß auf den anderen, doch nun greife ich auch nach seiner zweiten Hand, ziehe ihn zu mir und sehe ihm fest in die Augen. „Die Münze wäre dafür gewesen. Aber ich bin dagegen“, erzähle ich ihm. „Ich kann dich nicht aufgeben Chris, nicht einfach so. Du bedeutest mir sehr viel und ich bin mit dir so glücklich wie noch nie zuvor. Diese ganze Zeit ohne dich hat mir klar gemacht, dass ich dich um nichts in der Welt missen möchte.“ Chris laufen mittlerweile die Tränen über die Wangen und auch ich selbst bin längst nicht mehr so ruhig wie am Anfang. Ich kämpfe mit meiner Selbstbeherrschung, doch schließlich komme ich gegen den Sturm in meinem Inneren nicht mehr an und folge nur noch meinem Herzen. So wie Chris es mir einmal geraten hat. Und zum ersten Mal spreche ich es wahrhaftig aus. „Ich liebe dich“, bringe ich mühsam hervor. „Mehr als jemals einen Menschen zuvor.“ Dann ist es vorbei und ich rutsche vom Bett, knie mich vor Chris und umklammere seine Hände ganz fest, reibe mein Gesicht an ihnen und genieße die Wärme seiner Haut, erzittere unter dem Beben, das seinen ganzen Körper schüttelt. „Ich liebe dich“, wiederhole ich verzweifelt. „Und es ist mir egal, was ein alberner Bluttest dazu sagt. Du bist nun mal der Mensch mit dem ich glücklich bin und mit dem ich mir zum ersten Mal eine richtige Zukunft vorstellen kann. Wenn ich Marianne, Bernhard, Thomas und die Zwillinge meine Familie nennen darf, obwohl wir nicht blutsverwandt sind, warum sollte sich dann zwischen uns etwas ändern, nur weil wir es sind? Das will ich nicht einsehen.“ „Rapha“, fleht Chris nun, versucht sich aus meinem Griff zu lösen. „Hör auf!“ „Nein“, sage ich bestimmt, stehe auf und bringe Chris dazu, mich anzusehen. „Du musst mir zuhören und verstehen was ich dir sage, Chris. Ich gebe nicht auf, hörst du? Nicht dieses Mal! Ich habe mich dafür entschieden um dich zu kämpfen, um uns. Ich lasse mir nie wieder jemanden wegnehmen, der mir so viel bedeutet. Für mich ändert sich durch den Test gar nichts.“ „Aber du haust doch ab, oder nicht?“, wirft Chris ein, windet sich in meinem Griff. „Nein. Ich hau nicht ab. Aber ich kann dir, und vor allem mir, nie wieder in die Augen sehen, wenn ich jetzt nicht versuche die Schatten meiner Vergangenheit zu begraben. Erst wenn ich damit wirklich abgeschlossen habe, kann ich mit dir zusammen sein. Erst dann. Es ist mir wichtig und ich weiß einfach, dass es mich weiterbringt, wenn ich mich dem nun endlich stelle. Ich will dir ebenbürtig sein, Chris, deiner würdig.“ „Wie meinst du das?“ „Ich habe dir mal gesagt, dass ich deinen Mut bewundere. Und du meintest, du hättest nur getan was du für richtig hältst. Und diese Entscheidung, halte ich für richtig. Von dir habe ich gelernt wie wichtig es ist seine Träume und Ziele zu verfolgen und sich auch gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen. Ich dachte immer, ich könne das auch, aber in Wahrheit bin ich nur davongelaufen. Jetzt aber fange ich endlich damit an das zu tun, was ich für richtig halte.“ „Ich weiß nicht was ich tun soll…“, schluchzt Chris auf und das ganze Ausmaß seiner Verzweiflung macht sich in seinem Gesicht bemerkbar. Unwirsch wischt er die Tränen fort, die jedoch einfach nicht aufhören wollen. „Woran soll ich noch glauben? Was ist richtig? Ist es nicht falsch, dich zu lieben? Ist Jamie jetzt auch mein Bruder? Was ändert das? So viele Fragen… und ich scheine keine Antworten zu finden.“ „Hey“, rufe ich ihn sanft und wische ihm über das tränennasse Gesicht. „Ich weiß besser als jeder andere wie sich das anfühlt. Es ist furchtbar grausam und ich wünschte, dass du all diese Dinge nie erfahren hättest. Aber es ist passiert und nun müssen wir damit fertig werden. Ich habe die gesagt was ich denke. Ich werde dich nicht aufgeben und auch meine Reise nach Spanien wird nichts an der Tatsache ändern, dass ich hoffe, eines Tages mit dir zusammen sein zu können. Wenn du bereit dazu bist und auf mich warten kannst, denn ich weiß nicht wie lange ich brauchen werde um alles zu verarbeiten. Für mich wird das auch nicht leicht.“ „Wie kannst du mich nur lieben? Jetzt noch?“, fragt Chris verzweifelt. „Gerade jetzt, Chris“, lächle ich ihn liebevoll an. „So stark wie nie zuvor, weil ich erst jetzt bemerkt habe, was ich verlieren könnte. Aber ich weiß selbst, dass ich die Dinge nicht beschleunigen kann. Du brauchst deine Zeit um herauszufinden, ob du ebenso dazu bereit bist wie ich, uns beiden noch eine Chance zu geben. Auch deswegen reise ich ab. Wenn ich hierbliebe würde ich dich sicherlich bedrängen und das will ich vermeiden. Du sollst alle Zeit bekommen, die du brauchst. Ich werde immer für dich da sein, egal was ist.“ „Aber Spanien… du sprichst gar kein Spanisch“, wirft Chris schluchzend ein. „Dann werde ich es lernen“, sage ich schlicht. Als Chris jetzt in meine Arme stürzt, fange ich ihn bereitwillig auf, halte ihn fest an mich gedrückt und streichle ihm sanft über den Rücken. Ich lasse ihn so lange weinen wie er es braucht, wiege ihn dabei sanft hin und her und lehne meinen Kopf an seine Schulter an, genieße seine Nähe und die Gefühle, die in mir aufsteigen. Ich liebe Chris. Das ist mir jetzt so klar wie nie zuvor. Und ich schäme mich nicht, dass zuzugeben. „Chris, du bist mein Halbbruder“, beginne ich schließlich erneut. „An dieser Tatsache kann ich nichts ändern. Aber… ich weigere mich, dem einfach so nachzugeben. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen, wir sind uns fremd gewesen, und haben nach unserem Verständnis verschiedene Eltern. Glaubst du nicht, dass das genug Gründe sind, auf unsere DNA zu pfeifen und uns weiterhin nur als… Liebhaber zu sehen?“, frage ich ihn, stolpere dabei über das bedeutende Wort mit dem ich zugebe, dass ich mehr sein will, als nur sein platonischer Freund. „Ich weiß es nicht“, gibt Chris zu. „In meinem Kopf dreht sich alles. Meine Mum, mein Großvater… alle haben mich angelogen, es mir verheimlicht und… ich kann nicht aufhören daran zu denken, dass… ich der Sohn von einem solchen Scheusal sein soll.“ „Hm“, mache ich nur, fische dann in meiner Hosentasche nach meinem kleinen Andenken. Als ich Chris die Münze reiche, werden seine Augen ganz groß und er starrt mich verunsichert an. „Wie gesagt, wenn man eine Münze wirft, wird einem schnell klar, was man sich wirklich wünscht und erhofft. Ich hab Zeit gebraucht, ehe ich sie werfen konnte, vor allem beim zweiten Mal, weil ich mich doch vor der Antwort gefürchtet habe. Wenn du bereit bist, dann kannst du sie ja auch bei jeder wichtigen Frage benutzen. Und so eine nach der anderen abarbeiten. Du musst nicht gleich bei der schwersten anfangen.“ Unsicher dreht Chris die Euromünze in den Händen. Auf ihrer Rückseite ist Juan Carlos zu sehen, mit dem Schriftzug España. „So weißt du immer, wo du mich findest“, raune ich ihm zu. „Ich bin nicht aus der Welt Chris, du kannst mich anrufen, oder mir schreiben, sobald ich eine Adresse habe. Wenn ich gutes Internet finde, dann können wir miteinander chatten und… du kannst jederzeit gerne zu Besuch kommen.“ Nun bin ich derjenige, der verunsichert ist. Ich drücke Chris an mich und atme seinen herrlichen Duft ein. Schon jetzt vermisse ich ihn schrecklich. „Ich muss das tun, Chris. Um endlich Frieden zu haben.“ „Ich weiß“, flüstert er schwach, dreht die Münze unruhig zwischen seinen Fingern. „Aber was ist, wenn ich mich nicht für uns entscheiden kann?“ „Dann muss ich mich wohl oder übel damit abfinden“, seufze ich und schaue ihm traurig ins Gesicht. „Auch wenn ich nicht hoffe, dass es dazu kommt.“ Eine ganze Weile schweigen wir einander an, berühren uns nur ganz zaghaft. Chris geht soweit, dass er seine Hand an meine Wange legt und mir mit dem Daumen einmal über die Lippen streicht, aber mehr wird daraus nicht und auch ich beschränke mich darauf, seine Hände zu streicheln. Bevor nicht auch Chris sich entschieden hat, hätte alles andere keinen Sinn. „Ich denke darüber nach. Danke für die Münze“, sagt Chris schließlich und es klingt nach dem finalen Abschluss. Also lasse ich seine Hände los, streiche ihm sanft durch die Haare und sehe ihn eindringlich an. „Ich werde auf dich warten“, versichere ich ihm zum Schluss noch einmal. Dann drehe ich mich um und lasse ihn allein. Ich halte mich davon ab noch einmal zurück zu blicken, denn ich könnte es nicht länger ertragen, ihn so zu sehen. Ich wünsche mir den fröhlichen, beinahe sorglosen Chris zurück, der mich so verzaubert hat. Aber dieser Chris wird gerade erwachsen und stellt sich seiner ersten Lebenskrise. Wie viel von ihm danach übrig sein wird, werde ich sehen. Auf dem Weg nach draußen, komme ich an Frau Berger vorbei, die am Treppenabsatz scheinbar auf mich gewartet hat. Wir sehen uns noch einmal lange in die Augen, suchen in dem anderen etwas, dass es uns verzeihen ließe, was wir durch die Hand des anderen erleiden mussten. Ob sie es bei mir gefunden hat weiß ich ebenso wenig, wie ich weiß, ob ich ihr eines Tages verzeihen kann. Draußen angekommen, rufe ich Thomas an, bitte ihn mich abzuholen und komme ihm ein Stück entgegen. Gemeinsam fahren wir nach Hause. Zwei Tage später fahren Familie Vogel, Jamie, Martina und ich zum Flughafen. Trotz all meiner Hoffnung bin ich nicht überrascht, dass Chris nicht hier ist. Ich kann es ihm nicht verübeln und verstehe, dass er noch nicht bereit war mich zu sehen. Als ich meine Reisetasche aufgegeben habe, beginnt das Warten und natürlich auch schon das Verabschieden. Johannes und Lars reden auf mich ein, dass ich ihnen was Cooles mitbringen soll und fragen immer wieder, wann ich denn nach Deutschland zurückkomme. Ich drücke die beiden ganz fest, als mein Flug das erste Mal aufgerufen wird und verspreche, ihnen regelmäßig zu schreiben und zu versuchen berühmte Spanier zu treffen. Jamie und Martina wünsche ich nur das Beste und hoffe, dass sie ihre Differenzen überwinden können. Die Umarmungen sind hier kurz, aber herzlich und Jamie erinnert mich daran mich bei ihm zu melden, wenn ich einmal heimische Verpflegung brauche. Thomas kann am Ende einfach nicht mehr ruhig bleiben und wird ziemlich emotional, ebenso wie ich. Aber nun ist endlich alles gut zwischen uns und er verspricht mir hoch und heilig, sich in meiner Abwesenheit um Chris zu kümmern und auch mit Erich Kontakt zu halten, wobei das selbstverständlich ist. Und ganz zum Schluss nehmen mich Bernhard und Marianne jeweils in den Arm und Marianne laufen die Tränen die Wangen hinunter als sie mir sagt, wie stolz sie auf mich ist und dass ich immer gut auf mich aufpassen soll. Ich versichere ihr das und als mein Flug zum zweiten Mal aufgerufen wird und wir bereits am Gate stehen, umarme ich die beiden noch einmal und nenne sie zum ersten Mal Mama und Papa. Das Strahlen, dass sich daraufhin bei den beiden zeigt, macht mich unendlich glücklich und ist das letzte Zeichen, dass ich brauche, um mir einzugestehen, dass es wirklich nicht zählt ob man blutsverwandt ist oder nicht um eine Familie zu sein. Ich winke allen noch einmal zu, ehe ich mich in die relativ kurze Schlange einreihe, meine Bordkarte vorzeige und mich dann auf dem Weg zum Flugzeug mache. Im Shuttlebus, sehe ich noch einmal zurück und gestehe mir ein, dass ich Angst habe. Angst vor dem, was ich in Spanien erleben werde, was ich vielleicht über meinen Vater lernen werde. Vor allem aber habe ich Angst, dass ich Chris verlieren werde. Doch diese Entscheidung ist richtig und ich setze dafür auch aufs Spiel nie wieder mit Chris zusammen sein zu können. Die Geister der Vergangenheit gehören begraben und vergessen, erst dann kann ich wirklich nach vorne sehen. Ende Epilog: Vater und Tochter ------------------------- "Alex, wach auf." Leise murrend drehe ich mich noch einmal herum, lege die Hände über die Augen und versuche so das helle Licht des Tages auszublenden. "Na komm, Kleines", lockt mich seine sanfte Stimme, die von dem zarten Streicheln seiner Hand begleitet wird. Ich seufze einmal kurz auf. "Noch zehn Minuten", maule ich, wende mich von seinem warmen Körper ab und vergrabe meine Finger in dem weichen Stofffell meines Teddybären, der wie immer rechts neben meinem Kopfkissen sitzt. "Na gut", gibt er nach. "Aber wirklich nur zehn." Ich brumme noch etwas Unverständliches, höre meinen Vater leise lachen und kurz darauf das Zufallen der Tür. In diesem Moment bin ich hellwach. Ein paar Mal blinzle ich noch gegen das Sonnenlicht an, drücke meinen Teddy an meine Brust und gähne ein allerletztes Mal ganz ungeniert. Ich recke und strecke meine Arme über meinen Kopf gen Decke, bewege jeden Finger und drehe mich hin und her. Langsam weicht die Müdigkeit aus meinem Körper und ich schlage die Decke zurück, schwinge die Beine über die Bettkante und wackle lächelnd mit den Füßen. "Aufstehzeit", raune ich meinem Teddy zu, den ich ein wenig zerknautscht auf meinem Kopfkissen zurück gelassen habe. Ich schlüpfe in meine Hausschuhe, stapfe gut gelaunt und wild mit den Armen rudernd ins Bad, wasche mir dort gründlich Gesicht und Hände, trockne mich ab und grinse mein Spiegelbild an. "Heute kommt er wieder", flüstere ich zu mir selber, schneide Grimassen und Maskeraden bis die Tür schließlich von meinem lächelnden Vater aufgemacht wird und er mit nur einem Schritt bei mir ist und mir einen Kuss aufs Haar drückt. "Guten Morgen", haucht er, greift nach der Bürste, die links neben uns auf der Anrichte liegt. "Morgäään!", gebe ich gut gelaunt zurück und lasse mir brav von ihm die Haare durchkämmen, während ich mir einmal kurz die Zähne putze, damit ich nicht mehr diesen schrecklichen Atem habe. "Frühstückst du heute alleine? Ich wollte dann schon mal in den Garten gehen." "Machst du heute wieder Fotos?", frage ich neugierig nach, lehne mich etwas nach vorne um den Schaum auszuspucken. "Ich weiß noch nicht, vielleicht. Die Blumen brauchen aber Wasser." "Aber wehe du ertränkst die Ameisenfamilie!", mahne ich streng, schaue ihn durch den Spiegel her grimmig an, was ihn erneut zum lachen bringt. Ich mag es, wenn mein Papa lacht. Das tut er nur gar nicht mehr so oft, wenn mein Onkel nicht da ist. "Ich verspreche hoch und heilig, dass ich nichts tue." "Dann ist gut." "Halt still, Süße, dann kann ich dir einen Zopf machen." Schweigend arbeitet mein Vater mit meinem Haar und ich kann ihn dabei im Spiegel beobachten. Heute flechtet er sie mir zu einem langen Zopf. Am Ende dreht er ihn wie einen Kringel auf und befestigt ihn mit zahlreichen Spangen und Klammern an meinem Kopf. Ich drehe mich einmal hin und her, bewundere seine Arbeit und nicke anerkennend. "Prima! Dann ziehst du dich jetzt an und ich gehe schon mal nach draußen bevor es auch mir zu warm wird." Damit schiebt er mich sanft aus dem Bad und ich Richtung meines Zimmers. "Ich kann dich ja dann auch gießen!", schlage ich ihm lachend vor. "Lieber nicht", wehrt er ab, verabschiedet sich und geht die Treppe nach unten, während ich in mein Zimmer zurückkehre und dort einige Zeit unschlüssig vor meinem Kleiderschrank stehe. Ein wenig verstimmt ziehe ich mir mein Nachthemd aus, werfe es achtlos auf den Boden. "Grün oder gelb?", frage ich meinen Teddybären, der sich jedoch zu keiner Antwort hergibt und mich die Entscheidung selber fällen lässt. Kritisch beäuge ich beide Shirts und wähle letztendlich das Gelbe mit dem großen roten Herzsymbol aus. Die Hose ist schnell gefunden und ich schlüpfe in eine nur bis zum Knie gehende Jeanshose. Ich mache den Kleiderschrank wieder zu, verzichte auch weiterhin darauf Socken zu tragen und wende mich meinem Bett zu. Ich setze meine Kuscheltiere wieder ordentlich hin, lege das Nachthemd unter mein Kopfkissen und ziehe die Decke richtig, streiche sie noch einmal glatt. Ich werfe einen Blick auf das Foto, das auf meinem Nachtschränkchen steht und lächle es an. Mein Vater hält mich darauf an der Hand, strahlt in die Kamera, während mein Onkel neben ihm steht, den Arm um ihn gelegt hat und eine wirklich lächerliche Grimasse zieht. Als ich in die funkelnden Augen meines Onkels schaue wird mir ganz schwer ums Herz und ich kämpfe die aufwallenden Tränen nieder. "Er ist heute ja wieder da", raune ich mir selber zu, drücke meinen Teddybären jedoch fest an meine Brust und bleibe einige Momente unschlüssig auf dem Bett sitzen. Eigentlich ist mein Onkel nur ein paar Wochen weg gewesen, nach Spanien, zu seiner Arbeit und um seine Familie dort zu besuchen, aber irgendwie fühle ich mich jedes Mal schlecht, wenn er fort ist. Auch Papa ergeht es so. Er ist dann abends sehr still, immerzu nachdenklich und besorgt. Und dann lacht er viel weniger. Deswegen versuche ich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich meinen Onkel tatsächlich vermisse. Ich will nicht, dass mein Papa noch trauriger wird und gebe mein Bestes um ihn wieder aufzumuntern. Weil ich mich sonst einsam fühlen würde, behalte ich meinen Teddy im Arm, als ich schließlich mein Zimmer verlasse und nach unten in die Küche gehe, wo der gedeckte Frühstückstisch auf mich wartet. Heute ist Samstag, Schul- und Arbeitsfrei und Papa und ich unternehmen meistens etwas zusammen. Heute will er aber zuerst im Garten arbeiten, die Blumen gießen, Unkraut zupfen und vielleicht schießt er sogar das ein oder andere Foto. Als ich auf meinem Platz sitze kann ich mich nicht entscheiden was ich nun eigentlich essen will. Ich habe nicht wirklich Hunger, bin viel zu aufgeregt und nervös. Mein Onkel hat vor zwei Tagen angerufen und gesagt, dass er heute kommen würde, jedoch nicht wüsste wann genau sein Flug ginge. Wenn er erst abends nach Hause kommt, dann bin ich wahrscheinlich schon längst wieder im Bett. Ab und an sehe ich ihn erst am nächsten Morgen. Zwar eine sehr nette Überraschung, aber ich finde es schöner, wenn ich noch wach bin, wenn er endlich ankommt. Seufzend erhebe ich mich von meinem Platz, angle mir im vorbeigehen ein trocknes Brötchen aus der Schüssel, trete zur offenen Terassenentür und spähe nach draußen. Mein Vater trägt eine seiner alten und schon ganz abgenutzten Jeanshosen und eins von seinen versauten Unterhemden, die er immer anzieht wenn er im Haus etwas anstreicht oder verputzt oder so was. Gerade beugt er sich tief über das Blumenbeet, das er extra für seine Fotos angelegt hat. Da mein Papa von Beruf her Fotograf ist, kümmert er sich sehr fürsorglich um unseren Garten, da manchmal Tierbesitzer zu uns nach Hause kommen um in einer ganz natürlichen Umgebung ein Foto von ihrem Liebling machen zu lassen. Ab und an macht mein Papa auch Fotos von Kindern hier draußen. Dieses Blumenbeet ist deswegen so besondern, weil er da eine kreisrunde Lücke gelassen hat. Das ist der Platz wo dann die Hunde und Katzen sitzen sollen, umrahmt von den Tulpen, die Drumherum wachsen. "Wie geht es den Ameisen?", rufe ich nach draußen, bringe ihn so dazu zu mir aufzusehen. "Wollen wir zusammen nachschauen?", streckt er mir die Hand entgegen und freudig lachend laufe ich zu ihm, vergrabe meine Finger in seinem Hemd und gemeinsam gehen wir zu dem hinteren Teil unseres kleinen Gartens. Dort steht ein junger Apfelbaum in dessen Schatten sich eine Ameisenkolonie niedergelassen hat. Man kann sie auf ihren Straßen herumkrabbeln sehen und ich hab die Insekten richtig lieb gewonnen. Vorsichtig knie ich mich auf den Boden, setze meinen Teddy neben mir ab und beobachte mit meinem Papa die emsigen Tierchen, die ganz geordnet hin und her krabbeln. Jeder scheint etwas zu tun zu haben. "Wovon leben die eigentlich?", frage ich. "Oh, die werden hier schon was finden. Blätter sind hier genug, im Herbst bleiben ja immer ein paar Äpfel von uns liegen und beim Nachbarn ist sicher auch was zu holen. Ich weiß gar nicht ob die auch Pollen essen." "Lass uns nachher nachgucken gehen, ja?" "Okay", lacht mein Papa, deutet dann an mir vorbei auf meinen Teddy. "Schau mal." Eine kleine Ameise hat sich verirrt und krabbelt gerade über das kurze braune Stofffell meines Schmusetiers. Unermüdlich kämpft sie sich weiter nach oben, streckt immer wieder ihre Fühler aus, tastet den Weg ab. Ich pflücke mir ein großes Blatt vom Boden, halte es vor die Ameise hin, doch augenblicklich kehrt sie mir den Rücken zu. Auf der anderen Seite versuche ich es dann noch einmal und nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass ihr nichts passieren kann, klettert sie tatsächlich darauf. Vorsichtig setze ich sie wieder auf der Erde ab, beobachte zufrieden wie sie sich langsam wieder bei ihrer Kolonie einreiht. "Schau lieber nach ob sich nicht mehr dahin verirrt haben", mahnt mich mein Vater sanft, steht auf und klopft sich ein wenig den Staub von der Hose. "Hm...", mache ich nachdenklich, während ich meinen Teddy in meinen Händen herum drehe. "Sieht nicht so aus." "Hast du gefrühstückt?" "Kein Hunger", maule ich, wende meinen Blick von ihm und schaue den Ameisen zu, die sich langsam den Stamm des Apfelbaums hinaufkämpfen. "Nicht schon wieder, Alex", seufzt mein Vater auf, sieht mich von oben her mahnend an. "Das hatten wir doch gestern schon. Ich möchte, dass du frühstückst." "Ich will aber nicht", beharre ich trotzig. Papa stemmt zunächst die Hände in die Hüfte, öffnet den Mund um etwas zu sagen, doch dann besinnt er sich auf etwas, beugt sich zu mir herab und küsst mich aufs Haar. "Was hältst du von einer Abmachung, hm?", fragt er leise. "Welche?", will ich wissen, schmiege mich an seine Hand, die er an meine Wange gelegt hat. Ich sehe mit einem zaghaften Lächeln zu ihm auf, da ich weiß, dass Papa jetzt nicht mehr sauer auf mich sein wird. Wahrscheinlich weiß er warum ich nichts essen kann. Ich bin viel zu nervös. "Wenn du heute ordentlich isst, dann wecke ich dich, sobald er ankommt, oder ich ihn abholen fahre. Ist das gut?" "Jaaa!", rufe ich freudig, werfe mich meinem Papa um den Hals, lasse mich von ihm wie auf einem Karussell drehen, quietsche vergnügt und küsse seine Wange, sobald er mich nur noch fest in seinem Arm hält. "Du bist der Beste." "Und du bist mein Engel", flüstert er gerührt zurück, trägt mich zurück ins Haus, setzt sich zu mir und sieht mir dabei zu wie ich mir ein Brot etwas ungeschickt mit Butter bestreiche und Käse darauf lege. Er schneidet mir schnell eine Gurkenscheibe ab, legt sie auf meine Schnitte und mit einem breiten Grinsen beginne ich zu essen. Als mein Vater davon überzeugt ist, dass ich ohne weiteren Aufstand und ganz in Ruhe frühstücke, geht er wieder nach draußen in den Garten. Ich kann ihn aus dem Fenster raus beobachten wie er zu dem kleinen Schuppen geht, darin verschwindet und erst wieder heraus kommt, als ich bereits mein zweites Glas Orangensaft getrunken habe. Er hält den aufgerollten Gartenschlauch in der Hand und in der anderen schiebt er unseren kleinen Rasenmäher. Noch einmal verschwindet er im Schuppen, holt das lange rote Kabel daraus hervor, schließt damit den Rasenmäher an den Strom an und kurz darauf höre ich das laute dröhnende Geräusch. Während ich zu Ende frühstücke und dann auch mein Brettchen und mein Messer wegräume, kann ich ihn draußen mähen hören. Auch wenn ich weiß, dass Papa das eigentlich nicht gerne sieht, klettere ich dennoch immer wieder auf meinen Stuhl, den ich vor den Kühlschrank geschoben habe und räume die ganzen Dosen vom Tisch. Ich bemerke eine Flasche Wein die in der Tür des Kühlschranks steht und wundere mich einen Moment lang darüber, da mein Vater sonst kaum trinkt und Wein nicht einmal sonderlich mag. Ich besehe mir die Flasche daher näher und erkenne die spanische Schrift darauf und muss unwillkürlich schmunzeln. Scheinbar hat er sie für meinen Onkel besorgt. Das Abräumen dauert eine ganze Zeit, weil ich mich auch immer wieder bis zum dritten Fach recken muss, aber als es endlich geschafft ist, kann ich auch den Rasenmäher nicht mehr hören. Ich spähe aus dem Fenster hinaus und kann meinen Vater sehen, wie er nun den Schlauch an den Hahn draußen angeschraubt hat und gerade den Schlüssel oben drauf steckt und das Wasser aufdreht. Als er den Strahl auf einen feinen Nieselregen eingestellt hat, wendet er sich den Pflanzen zu, gießt all die Blumen die ein Team von Gartenarbeitern für ihn angelegt hat, schließlich die Sträucher die auf der anderen Seite wachsen und dann auch den Apfelbaum. Allerdings aus einiger Entfernung, damit nicht all zu viele der Ameisen zu Schaden kommen. Da ich weiß, dass mein Vater jetzt erst noch alles wieder wegräumen und dann duschen wird, setze ich mich schon einmal ins Wohnzimmer, schalte den Fernseher an und bleibe auf einem Sender hängen, der immer Cartoons zeigt. Ich finde sie witzig, auch wenn ich die Hälfte der Zeit nicht verstehe worum es eigentlich geht. Tatsächlich habe ich Glück und die Sendung fängt gerade erst an. Während ich den Ton regle kann ich Papa hören, wie er gerade wieder in die Küche kommt und nach mir ruft. "Im Wohnzimmer", antworte ich. Seine Schritte kommen näher, dann spüre ich wie so oft seine Hand auf meiner Schulter, er beugt sich langsam zu mir herunter und kitzelt mich mit seinem warmen Atem. Ich kichere und rücke ein wenig zur Seite. "Ich räume schnell auf und geh dann duschen, okay? Wenn das Telefon klingelt und du seine Nummer nicht auf dem Display siehst, dann lass die Maschine ran gehen, ja?" "Ist gut." "Brav", streichelt er mir über den Kopf. Lange Zeit ist es dann still, ich konzentriere mich auf den Fernseher, und lache mich immer wieder über diesen sprechenden Fisch kaputt, der eine so lustige Stimme hat. Als die erste Folge fast zu Ende ist, höre ich meinen Vater im Hintergrund, dann seine Schritte auf der Treppe, schließlich die Badezimmertür. Es dauert jedoch nicht besonders lange und schon bei der Hälfte der zweiten Folge ist er wieder unten, frisch geduscht und ganz lecker nach unserem Shampoo riechend. "Was schaust du denn da?", fragt er mich, doch ich kann nur mit den Schultern zucken. Er nimmt mir die Fernbedienung auf den Händen, schaltet den Text ein und sucht den Namen der Sendung. "American Dad", murmelt er dann. "Ich finde den Fisch so lustig. Und dieses Alien." "Was für ein Alien?", hakt er zweifelnd nach, als es gerade ins Bild kommt. "Das da!", deute ich auf den Bildschirm. "Sag mal, was trinkst du da eigentlich, Roger?", dringt die Stimme des Jungen aus dem Fernseher, als der graue Alien sich gerade einen komisch braun aussehenden Mix in ein Cocktailglas füllt. "Eine meiner Spezialmischungen, die meine Haare sprießen lassen sollen", lautet darauf die Antwort und Roger kippt das Getränk in einem Zug hinunter, verzieht kurz sehr wehleidig das Gesicht. "Alles für die Schönheit." "Was ist da denn alles drin?", will der Junge jetzt wissen. "Also Steve... na gut, nur weil du es bist und ich finde, dass dir so ein bisschen mehr Haarwuchs auch nicht schaden könnte. Also: Äpfel, Bananen und Kiwi." "Und das ist alles?", hakt Steve ungläubig nach, riecht einmal an dem leeren Glas und verzieht daraufhin angewidert das Gesicht. "Und das soll helfen?" "DU SOLLST MICH NICHT DAUERND UNTERBRECHEN!", schreit Roger aufgebracht und ich lache laut auf, weil das schon die ganze Folge über der Fall war. Roger wurde dauernd von allen unterbrochen und glaubte schließlich, dass es daran läge weil er keine Haare hat wie ein richtiger Mensch. "Entschuldige", macht Steve abwehrend und Roger beruhigt sich allmählich wieder, auch wenn er immer noch böse Blicke auf den Jungen wirft, der an seiner selbstgebauten Theke sitzt. "Schon gut. Tu’s nur nicht wieder. Also wie ich schon sagte, kommen in meine Haartinktonika Äpfel, Bananen und Kiwi und eine geheime Zutat, die das ganze Wachstum beschleunigt. Klaus war so freundlich es zu spenden." "Was hat Klaus denn gegeben?" "Exkremente." Steve verziert angewidert das Gesicht, läuft grün an und hängt sich mit würgendem Laut über die Theke, während Roger sich summend einen neuen Drink mixt. Mein Vater schaut wie erstarrt auf den Fernseher, nimmt schließlich die Fernbedienung und schaltet um, was mich laut aufschreien lässt. "Was tust du?" "Das ist nichts für eine Achtjährige", entscheidet er, blickt mich böse an, schaltet den Bildschirm nun ganz aus und sieht mich ermahnend an. "Wehe du schaust so was noch einmal, verstanden? Das ist ja grausam." "Ich finde es lustig", verteidige ich mich mit verschränkten Armen. "Ich verbiete es dir", schüttelt er energisch den Kopf und geknickt sinke ich in ein Kissen, blicke ihn nicht an und schnaube laut als er aus dem Wohnzimmer geht. Ich kann ihn in der Küche hören wie er in den Gefrierfächern herumstöbert. Ich bin beleidigt und schmolle stumm vor mich hin, während ich meinem Vater beim herumwerkeln zuhören kann. Es ist jedes Mal dasselbe. Wann immer mein Onkel sich auf seine Reisen nach Spanien begibt, dreht mein Papa total am Rad und verbietet mir plötzlich Dinge, die ich vorher noch machen durfte. Auch wenn ich zugeben muss, dass er nicht gewusst hat, dass ich diese Sendung gucke. "Alex, ich muss noch mal schnell zum Supermarkt flitzen. Ich hab den Spinat für heute Abend vergessen. Sei artig!", ruft er mir aus dem Flur zu und kurz darauf höre ich unsere Haustür zufallen. Mit klopfendem Herzen warte ich noch einen Moment ab, ehe ich flink aufspringe und den Fernseher schnell wieder anmache und das richtige Programm suche. "Hey Klaus!", ruft Steve gerade, kommt die Treppe in einem lächerlich zusammengestellten Cowboy-Kostüm herunter und stellt sich mit gezückter Pistole vor das Fischglas. Der Goldfisch liest jedoch unbeeindruckt weiter in seiner Zeitung. "Lass uns in den Sonnenuntergang reiten." "So siehst du aus", lautet die trockene Antwort des Fisches und sofort schmunzle ich als ich diese seltsame Stimme höre, doch kurz darauf läuft schon der Abspann und diese zweite und letzte Folge ist vorbei ohne das ich viel von ihr mitbekommen hätte. "Och Menno", jammere ich, schalte den Fernseher wieder aus und werfe die Fernbedienung frustriert auf den Wohnzimmertisch, lasse mich rücklings auf das Sofa fallen und schließe gefrustet die Augen. Irgendwie ist heute der Wurm in diesem Tag. Ich glaube das ich kurz weggedöst bin, denn als ich die Augen wieder öffne liegt eine leichte Decke auf mir und in der Küche kann ich Geräusche hören, die darauf schließen lassen, dass mein Vater wieder zu Hause ist und bereits mit dem Mittagessen angefangen hat. Ich reibe mir einmal über die Augen, lege die Decke unachtsam beiseite und tapse dann in Richtung des leckeren Geruchs. Mein Papa schaut auf, als ich hereinkomme, schmunzelt mich an und schiebt mir ein Glas mit Orangensaft zu, das ich dankbar annehme und beinahe in einem langen Zug austrinke. "Na, wieder wach?" "Hm", brumme ich schwach. "Hat er angerufen?" "Nein, bisher nicht", antwortet Papa, dreht sich wieder dem Herd zu, rührt in einer Pfanne herum, ehe er die Herdplatte ausschaltet und das Reisgericht, das er gekocht hat auf zwei Teller verteilt, von dem er einen vor mich hinstellt. "Guten Hunger." "Ja, dir auch", antworte ich leise, ergreife meine Gabel mit einer leicht zitternden Hand und beginne klaglos zu essen. Ich hatte es Papa ja versprochen. Nach dem Essen räumt mein Vater auf und ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück, schlage Bücher auf, fange an Bilder zu malen und spiele dann doch lieber mit meinen Puppen. Nichts jedoch hält lange und je später es wird, desto trauriger werde ich, fange an daran zu zweifeln, dass mein Onkel heute überhaupt noch kommt. Vorsichtig schleiche ich mich langsam nach unten, erspähe meinen Vater durch die einen Spalt breit offen stehende Wohnzimmertür. Er sitzt auf dem Sofa, starrt reglos auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers. So leise ich kann gehe ich näher heran, stoße die Tür auf, die lautlos dahin gleitet, mir den Blick nun ganz freigibt. Die Schultern meines Vaters beben unterdrückt und seine Hand liegt über seinen Augen. Auf einmal bin ich wütend auf meinen Onkel, der uns so lange warten lässt; der sich den ganzen Tag über nicht einmal kurz gemeldet hat. Ich laufe um das Sofa herum, springe darauf und lege meine Hände auf Papas Gesicht, ziehe seine eigene fort und suche seinen Blick mit dem meinen. Seine Augen schimmern mir feucht entgegen, doch sein Mund verzieht sich sofort zu einem warmen Lächeln. Er vergräbt seine Hände in mein Shirt, zieht mich nahe an seine Brust und wiegt mich hin und her so als ob ich diejenige gewesen wäre, die geweint hat. "Schon gut", flüstert er beruhigend. "Ist alles gut." "Nicht traurig sein, Papa." "Nein", antwortet er leise. "Nicht mehr. Ich hab ja meinen Engel." "Hm", mache ich leise, schmiege mich so dicht an ihn wie ich kann und spende ihm all den Trost den ich habe. Ich will meinen Papa einfach nicht traurig sehen. Er soll sein tolles Lachen lachen und mich mit diesen strahlenden Augen ansehen, die mich damals als Allererstes aus meinem Schneckenhaus geholt haben. "Mein Engel", raunt er mir ins Ohr, verstärkt seinen Griff um mich, streicht mir über den Rücken und hält mich ganz fest, unendlich fest an seiner Brust. Eine ganze Weile sitzen wir so zusammen, schenken uns Nähe und Wärme, Trost und Hoffnung. Mein Vater beruhigt sich langsam, wirkt wieder gefasst und lächelt mich immer wieder an, dann beginnt er plötzlich damit mich zu kitzeln und zu ärgern und eine kleine Balgerei entsteht aus der uns erst das Läuten der Türglocke reißt. "Nanu?", macht mein Papa, schaut auf die Uhr. "Wer ist das denn noch?" "Ich will mit!", rufe ich aus, lasse mich von ihm hochheben und gemeinsam gehen wir so zur Tür und mit einem etwas verknitterten Ausdruck öffnet mein Vater. Gleich darauf glätten sich die Falten und ein überraschtes Keuchen kommt über seine Lippen. "¡buenas noches!", dringt die dunkle, sonore Stimme an mein Ohr und augenblicklich hüpfe ich vom Arm meines Vaters, werde von zwei starken Händen aufgefangen und an einen harten, aber unglaublich warmen Körper gezogen. Dunkelbraune Augen funkeln mich verschmitzt an und die etwas rauen Lippen legen sich auf meine Wange. Er wirbelt mich herum, drückt mich ganz fest an sich und lässt es zu, dass ich mit meinen beiden Händen durch sein Gesicht fahre, über seinen kleinen Bartansatz streiche. "Wir haben auf dich gewartet! Wo warst du solange?", will ich schließlich wissen, schmiege mich in seine Halsbeuge und genieße das Gefühl seines ruhigen Herzschlags unter meinen Fingern. "Entschuldige, der Flug hatte Verspätung und ich wollte euch mit meinem Anruf nicht aufwecken, aber dann habe ich gesehen, dass ihr doch noch wach seid", erklärt er sich und ich kann diesen seltsamen Singsang in seiner Stimme hören, den er immer hat, wenn er in Spanien war. Auch wenn es nur eine Woche oder nur ein paar Tage waren. Immer wenn er wiederkommt redet er so anders, als wenn er noch nie Deutsch geredet hätte. "Papa hätte dich doch abgeholt. Und ich wäre mitgekommen", erzähle ich ihm. "So? Das wäre doch viel zu spät für dich gewesen." "Papa hat es erlaubt, weil ich brav gegessen habe." "Aha", macht er leise, streicht mir vorsichtig über die Haare. "Du hast einen schönen Zopf." "Hat Papa gemacht", kichere ich. Mein Onkel gibt mir daraufhin keine Antwort und ich weiß ganz genau, dass er jetzt endlich meinen Vater ansieht, der noch immer wie versteinert im Türrahmen steht. Ich muss die beiden nicht sehen um das zu wissen, es ist jedes Mal dasselbe. "Hallo, Chris", sagt mein Onkel zaghaft, als wenn er genau wüsste, dass mein Vater ihm böse ist. Aber die zwei kennen sich schließlich schon ewig, also wird er es wohl tatsächlich wissen. "Raphael", kommt es stockend zurück und dann geht ein Ruck durch meinen Onkel, er geht auf meinen Papa zu, zieht ihn an sich und ich kann die beiden spüren, wie sie mich in ihre Umarmung mit einbinden. Als ich die Augen, die ich kurz zuvor geschlossen habe, wieder öffne, sehe ich wie die beiden einen ersten zaghaften Kuss austauschen und muss insgeheim darüber lächeln. Jedes Mal ist es dasselbe. "Lass uns reingehen, Papa", melde ich mich nun zu Wort, schrecke die beiden Männer wieder auf, die mich beide mit einem knappen Lächeln mustern. Mein Onkel küsst mich auf die Stirn und trägt mich über die Schwelle, während mein Vater dessen Gepäck mitnimmt. Als hinter uns die Tür ins Schloss fällt weiß ich, dass wir wieder glücklich sind. Mein Vater und ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)