Ein Wunder
Während er zur Straße hinaufkletterte, wo sein grauer Wagen ihn erwartete, ließ er Handgelenke und Ellenbogen in vermeintlich komischer Nachahmung rudimentärer Flügel flattern. Warum gelangte er nicht weiter nach oben?
Warum kam er nicht an, wo er hinwollte?
Mühsam ließ er sich auf einem Findling nieder und schaute hinab aufs Meer, wo sie Sonne langsam im Meer zu versinken schien. Es war hoffnungslos. Er konnte nichts mehr tun. Gar nichts mehr.
Niemand würde diesen Schmerz je wieder vergehen lassen können.
Wenn er seinen Wagen erreichte, dann würde er vielleicht der Retter werden. Das heilige Wasser ruhte in einer Mineralwasserflasche auf dem Rücksitz. Wasser aus den Quellen von Lourdes... er war kilometerweit gefahren, um dieses Wasser zu holen und es nach Hause zu bringen. Sein kleiner Bruder brauchte dieses Wasser und gerade jetzt, wo sein Bruder ihn am Meisten brauchte, verreckte der verfluchte Wagen. Bei der Tankstelle hatte man ihm gesagt, dass der nächste Abschleppwagen in zwei Stunden käme. Das war drei Stunden her und er war in der Zeit hierher gelaufen.
Ob sein Wagen wohl gesund würde, wie ein Mensch, wenn er etwas von dem Wasser hineinlaufen ließ?
Auf dem Berg war eine weitere Tankstelle.
Ein Funken Hoffnung keimte in ihm und er rannte zum Wagen.
Gleich war er da und konnte seinem Bruder helfen. Das heilige Wasser würde ihm helfen. Bis zu Hause waren es ja nur noch etwas über einhundert Kilometer. Nur fuhren in ihr abgelegenes Dorf kaum Busse und Züge gab es nicht. Es würde zu lange dauern zu versuchen öffentliche Verkehrsmittel zu nehmen.
Er erreichte den Wagen, entriegelte die Tür und nahm das Wasser heraus.
„Herr, hilf mir bitte. Lass den Wagen fahren.“
Sehr vorsichtig öffnete er den Verschluss des Kühlers, der ihn soeben verlassen hatte und danach den Schraubverschluss der Flasche. „Hilf mir, bitte!“, flehte er mit direktem Blick in den Sonnenaufgang.
Dann gab er nur ein wenig Wasser hinein und flüsterte: „Den Rest brauch ich für meinen Bruder.“
Er schraubte die Flasche zu und schob sich zum Wagen. Lies ihn an und er lief.
Wasser aus den heiligen Quellen... Das würde seinen Bruder helfen. Er fuhr und fuhr so schnell, wie er nur konnte. Sein Wagen stotterte nicht einmal.
Zu Hause parkte er den Wagen in der Einfahrt, ergriff die Falsche und rannte. Seine Arme fühlten sich an, als wären sie zu gewaltigen Schwingen geworden.
„Mutter, ich bin zurück! Ich habe das Wasser! Er wird gesund.“
Das Haus lag in Stille da und war in Dunkelheit gehüllt. War jemand da, um zu sehen, welches Wunder er mitgebracht hatte?
Leben...
Niemand war da. Es herrschte Stille, als er durch die Küche ins Schlafzimmer seiner Eltern trat. Wo waren sie?
Er umklammerte das Wasser aus dem heiligen Quellen, wie einen Schutzschild.
Er war auf Knien zur Madonna gerutscht, hatte sie angefleht Antoinio gesund zu machen und nun war er hier und niemand war dort.
"Mama?" Seine Stimme klang brüchig.
"Papa?", erneut ein halblauter Ruf in der Stille.
Wo waren seine Eltern?
"Nonna?", rief er seine Großmutter. Auch sie antwortete nicht.
Wie ihm Wahn durchsuchte er die Zimmer und stand schließlich vor der Tür des Kinderzimmers.
Würden sie alle dort wachen und auf ihn warten?
Er schluckte leicht und drückte die Klinke herunter. "Antoinio, ich bringe dir das heilige Wasser der Madonna mein Kleiner. Wenn du das trinkst, wirst du gesund..."
Doch Antoinio lag nicht mehr in seinem Bett.
Wo war er? Was war geschehen?
Die Erkenntnis erfüllte sein Herz mit einem Mal.
Er kam zu spät!
Das Heilmittel lag in seinen Händen und er kam zu spät!
Mühsam schleppte er sich die Stufen hinab und rief beim Padre an.
Padre Anton war ein alter, friedlicher Herr, der immer wusste, was vor sich ging. Als dieser abhob, war seine Stimme nur ein Flüstern: "Ist Antonio... ist er...?"
Seine Stimme brach vor Angst.
"Antoinio ist beim heiligen Vater und schläft den ewigen Schlaf. Er ist vor zwei Tagen einfach eingeschlafen. Er konnte nicht auf das Wasser der heiligen Jungfrau warten. Es war an der Zeit. Es tut mir Leid Marcellino."
Er starrte den Hörer an.
"Heiliger Vater, das kann nicht sein. Pater, ich bin doch gefahren, um ihn zu retten... Wo ist dann... wo sind die anderen?"
"Fort. Ich soll ihn alleine zu Grabe tragen, sie vermögen das nicht zu tun..."
"Ich komme zu Ihnen Padre."
Damit legte er auf. Sein kleiner Bruder war gestorben, hatte nicht auf ihn warten können. Das also hatte er mit: "Bleib bei mir, es ist zu spät, bleib doch bitte bei mir", gemeint, als Marcellino sich von ihm verabschiedete.
Sein kleiner Bruder war gestorben, einfach so...
Zitternd betrat er die Leichenhalle der Kirche, fand seinen kleinen Bruder dort. Noch immer presste er das Heilige Wasser aus Lourdes an sich und benetzte damit leicht die Lippen seines Bruders.
"Liebe Gott, ich bitte dich, mach ihn jetzt gesund", flehte er und küsste seinen Bruder auf die Stirn.
Am nächsten Tag trug er allein mit dem Padre seinen kleinen Bruder zu Grabe und wartete auf seinen eigenen Tod, denn er war zu spät gekommen, was gab ihm nun noch das Leben, wenn er zu spät kam, um ein anderes zu retten?