100 Themen Herausforderung von Karopapier ================================================================================ Kapitel 3: #007 - Mit dem Kopf durch die Wand --------------------------------------------- Es war einmal ein Mann, dessen Kopf an der Außenseite eines sehr seltsamen Gebäudes steckte. Das Gebäude war aus Beton und hatte auf der Seite, auf der der Kopf war, kein Fenster und keine Tür, sondern nur eine hohe, glatte Wand. Der Mann war nicht tot, oh nein, er war sogar sehr lebendig. Immerhin hatte er nicht nur einen Kopf, sondern auch einen Körper, aber der war eben auf der anderen Seite der Wand. Jeden Tag kam seine Mutter vorbei und gab ihm etwas zu Essen und etwas zu Trinken und versorgte ihn, so gut es nur ging. Ihm wurde auch nicht langweilig, denn wie konnte ihm langweilig werden, wenn jeden Tag so viele verschiedene Menschen an ihm vorbeiliefen? Natürlich gab es auch Momente, die den Mann ärgerten. Einige Male gingen Menschen mit ihrem Hund an ihm vorbei und ließen zu, dass der Hund direkt unter seinem Kopf an die Wand pinkelten. Das fand er nicht so schön. Auch wenn an Silvester manche Leute dachten, er wäre ein Betonstück, das man zum Abschießen von Böllern benutzen oder auf das man Flaschen stellen konnte, fand er das gar nicht lustig. Aber alles in allem freute er sich, so eine privilegierte Stelle gefunden zu haben, denn hier stand er niemandem im Weg und dennoch konnte er jeden Tag alles sehen, was auf der Straße passierte. Nur eine Sache nervte ihn sehr und auch dauerhaft, etwas, das wirklich das gesamte Jahr über immer wieder passierte. Und das waren die Menschen, die ihm dumme Fragen stellten. "Warum stecken Sie denn in der Wand fest?", fragte ihn eines Tages eine ältere Frau. "Warum haben Sie blaue Augen?", fragte der Mann ihn zurück. "Und warum sind Sie eine Frau? Warum ist die Welt so, wie sie ist?" Daraufhin drehte sich die Frau beleidigt um und schimpfte und ging weg, weil sie dachte, dass der Mann dumm war und dass Menschen einfach nicht in Wänden stecken sollten. Ein anderes Mal fragte ihn ein Kind: "Hast du dann noch eine Windel? Du kannst ja so gar nicht aufs Klo gehen!" So Fragen ärgerten den Mann. Er fand sie dumm und aufdringlich. Nur weil er seinen Kopf in der Wand hatte, hieß das ja nicht, dass er automatisch eine Windel tragen musste. Er war ja kein Baby mehr. Als er sich schon fast mit solchen Fragen abgefunden hatte, weil sie tagein, tagaus gefragt wurden und es sich einfach nicht mehr lohnte, sich über sie aufzuregen, kam eines Abends ein junger Mensch auf ihn zu. Er sah ihn lange an, nahm einen Zug von einer sehr seltsam aussehenden Zigarette, setzte sich dann auf den Bürgersteig vor der Wand und sah den Mann weiter an. Der Mann wurde nervös. Er wurde immer etwas seltsam angeschaut, aber nicht so lange und so intensiv. Zuerst versuchte er zurückzustarren, aber der junge Mensch starrte so intensiv, dass der Mann bald weggucken musste. Dann versuchte er, den jungen Menschen zu ignorieren, aber das schaffte er nicht. Der junge Mensch saß einfach genau in der Mitte seines Sichtfeldes und es gab nichts, das sonst auf der Straße passierte. Dann versuchte er, die Augen zuzumachen und zu schlafen, aber er fühlte sich einfach zu beobachtet. Schließlich gab er es auf und fragte den jungen Menschen mit einem bitterbösen Blick: "Was ist los? Warum starrst du mich so an? Hat dir schon mal jemand beigebracht, dass das unhöflich ist?" Der junge Mensch zuckte mit den Schultern. "Hat dir schon mal jemand gesagt wie scheiße es aussieht, wie du da hängst?" Der Mann runzelte die Stirn. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Sie sahen sich lange an und beide überlegten, der Mann, ob die Frage beleidigend gemeint war, der junge Mensch, ob der Mann ihm noch antworten würde. Dann, fast synchron, fingen sie an zu lachen. "Nein", antwortete der Mann. "Aber vielleicht ist es nötig, dass jemand damit anfängt." Er zog den Kopf aus der Wand, nahm seine Jacke vom Stuhl im Haus, die schon sehr alt und eingestaubt war, und ging hinaus auf die Straße. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)