Das Kaisersiegel von Sahva ================================================================================ Kapitel 1: 1. Ende und Anfang ----------------------------- Die kleine Tochter des alten Wächters bekam den Namen Liliana Lunasel. Sie wurde von ihrem Vater heiß und innig geliebt und diejenigen der Bediensteten, die der Familie des Wächters seit Generationen zur Seite standen, berichteten, dass auch die sanfte Mutter des kleinen Mädchens dieses innig geliebt hatte. Dennoch musste der alte Wächter schon so bald wie möglich mit der Ausbildung seiner Tochter beginnen, was ihm sehr schwer fiel. Doch seine kleine Tochter machte es ihm in dieser Hinsicht sehr leicht. Sie saugte das Wissen in sich auf wie ein trockener Schwamm und bereits im Alter von vier Jahren konnte sie die Sprache, die sie im Haus des Wächters sprachen, fließend lesen und schreiben, auch wenn sie vieles von den schwierigen Texten erst einige Jahre später verstand. Ihr Vater begann auch alsbald, ihr die Schriftzeichen des dunklen Volkes beizubringen, doch er hütete sich, ihr die Sprache zu unterrichten, da diese sehr schwierig zu erlernen war und bereits eine falsche Betonung der Worte eine verheerende Wirkung haben konnte. Und da er selbst nicht mehr sicher war, wie der genaue Wortlaut war, unterließ er es lieber, seine Tochter in Bezug auf die Sprache zu unterrichten. Auch sorgte er dafür, dass seine kleine Tochter trotz allen Lernens genügend Zeit fand, um mit dem zahlreichen Kindern der Bediensteten zu spielen oder sich anderweitig im Haushalt zu betätigen. Auf spielerische Art und Weise erlernte sie alle wichtigen Dinge, die es rund um ein so großes Anwesen wie das des Wächterhauses gab, und war den Angestellten gerne eine Hilfe. Solange der alte Wächter es noch konnte, unterrichtete er neben seiner Tochter auch die anderen Kinder des Haushaltes und war viel mit ihnen in der freien Natur. Doch im Laufe der Zeit begannen seine Kräfte zu schwinden. Als Liliana schließlich 17 Jahre alt war, konnte ihr geliebter Vater sein Zimmer nicht mehr verlassen. Da beide wussten, dass dem alten Mann nicht mehr viel Zeit blieb, verbrachte Liliana nun den Großteil ihres Tages an der Seite ihres Vaters und gab sich noch mehr Mühe, alles Wissen in sich aufzunehmen, welches der alte Mann ihr vermitteln konnte. Eines Tages, Liliana war fast 19 Jahre alt, half sie während einer Lernpause der Köchin des Hauses, als sie mit einem Mal eine dunkle, kalte Präsenz im Haus spürte. Sie erschrak sosehr, dass ihr der Laib Brot, den sie soeben aus dem Backofen gezogen hatte, aus der Hand auf den Boden fiel. Auch die Köchin konnte diese fremde Präsenz spüren – wie alle Bewohner des Hauses – und hielt erschrocken inne. „Einer der Dunklen ist hier. Schnell, Lilly, sieh zu, dass du das Gespräch belauschst. Sicher ist er bei deinem Vater im Zimmer.“, wisperte die Köchin. Sofort band Liliana ihre Schürze ab und hastete aus der Küche hinauf in den ersten Stock, wo die persönlichen Räume ihres Vaters lagen. Nur die Bewohner wussten, dass sich zwischen vielen der Zimmer schmale Gänge befanden, in denen sich geschickte Lauscher verbergen konnten. Lilianas Großvater hatte diese Gänge anlegen lassen, weil zu seiner Zeit öfter Dunkle im Haus erschienen waren, die im Gegensatz zu den friedlichen Reisenden den Wächter und seine Angestellten gewaltsam zwingen wollten, ihnen einen freien Durchgang zu gewähren. Nun versahen immer Sicherheitsbedienstete und einige ganz nahe Verwandte des Wächters die Position des Lauschers in den Wänden, für den Fall, dass der Wächter angegriffen und gezwungen werden sollte. Als sie schließlich den Eingang zum Geheimgang nahe dem Zimmer ihres Vaters erreicht hatte, wartete bereits einer der Sicherheitsbediensteten auf sie, der sie in die Dunkelheit begleiten würde. Da ihr schon von jeher die Schwierigkeit ihres Erbes bewusst war, hatte Liliana schon früh von den Spezialisten gelernt, sich zu verteidigen und lautlos zu bewegen. Dies kam ihr an diesem Tage sehr zu Gute, denn ihr war bewusst, dass die Dunklen über besonders feine Sinne verfügten. Lilly nickte dem Sicherheitsbeamten zu, der ihr bereits die geheime Tür für den Zwischengang geöffnet hatte, zog vor dem Gang ihre Schuhe aus, um wirklich kein Geräusch zu verursachen, und verschwand in der absoluten Dunkelheit. Die Dunkelheit machte Lilly keine Angst. Sie kannte sämtliche Gänge des Hauses in- und auswendig, außerdem hatte sie immer das Gefühl, trotz der Dunkelheit zumindest schemenhaft die Umgebung erkennen zu können. Niemand wusste von dieser besonderen Fähigkeit, denn Lilly wusste genau, dass niemand ihrer Freunde aus dem Haus dieselbe Fähigkeit hatte. Behutsam tastete sie sich an der Wand entlang und fand schon sehr bald die Stelle, die sich an der dünnsten Stelle der Wand zum Schlafraum ihres Vaters befand. Dort war auch eine Art Abhörvorrichtung angebracht, die sie leise aktivierte. Außerdem presste sie ihr Ohr an die Wand, um zu lauschen, was immer sich im anderen Zimmer abspielte. Der alte Wächter saß aufrecht in seinem Bett und betrachtete seinen dunklen Gast mit Misstrauen und einer gewissen Furcht, da dieser ihm persönlich in der Vergangenheit schlimme Verletzungen zugefügt hatte. Doch er ließ sich nichts anmerken, als er den Mann mit den kurzen, schwarzroten Haaren und den unheimlichen roten Augen betrachtete. „Es sieht so aus, als wäre dein Lebenslicht an seinem Ende angelangt, Wächter. Und dennoch bleibst du so stolz. Du wunderst mich, alter Mann.“, erklang die schneidend kalte Stimme des Dunklen im Raum. „Das hat nichts mit Stolz zu tun, Lord Minan.“, antwortete der Wächter mit mehr Kraft in der Stimme, als er eigentlich hatte. Der dunkle Clanlord zog mit einem hämischen Grinsen und einer ihm eigenen Unverfrorenheit einen Stuhl an das Lager des Wächters heran und setzte sich zum ihm. „Ihr wisst genauso gut wie ich, dass ihr den nächsten Sonnenaufgang nicht erleben werdet. Warum tut ihr uns allen nicht noch eine letzte gute Tat und gebt den Widerstand um das Tor auf? Nach euch kommt doch eh niemand, der den Siegelzauber aufrechterhalten kann.“, provozierte der Clanlord ruhig. „Wie kommt ihr darauf, dass es keinen neuen Wächter geben wird, Lord Minan?“, fragte der alte Wächter betont ruhig. Sofort verschwand das selbstgefällige Lächeln vom Gesicht des Clanlords und er sah den Wächter unheilvoll an. „Es gibt keinen neuen Erben, alter Mann. Wir wüssten davon.“ Nun begann der alte Wächter zu lächeln, in einer Art, welche die Laune des Dunklen noch mehr verdüsterte. „Ihr könntet es nur wissen, wenn die Geburt des neuen Wächters in die Bücher eingetragen worden wäre. Aber dem ist nicht so. Ich war nicht so töricht anzunehmen, dass ihr nicht auch diesen Erben jagen und töten lassen werdet, Minan.“ „Ich habe eure Söhne nicht getötet, alter Mann. Soweit ich weiß starben sie bei einem Unfall.“, fuhr der Dunkle den Clanlord an. Dieser sah ihm nur fest in die Augen. „Dass ihr so vehement leugnet zeigt mir nur noch mehr, dass ihr mit dem Tod meiner Söhne in Verbindung steht, auch wenn ihr nicht persönlich Hand an sie gelegt haben mögt.“ Der Wächter schwieg einige Augenblicke, um noch ein wenig Kraft zu schöpfen, denn er konnte spüren, dass sein Herz seit der Ankunft des Dunklen sehr zu kämpfen hatte. Lange würde es sicher nicht mehr schlagen. „Die Schöpfer haben vor langer Zeit dafür gesorgt, dass das dunkle Volk keine Raubzüge mehr begehen konnte und haben auch nun am Ende meines Lebenswegs dafür gesorgt, dass der Schutz weiterbestehen bleibt. Das ist alles, was ich euch zu diesem Thema sagen werde, Lord Minan.“, schleuderte er dem anderen Mann kalt entgegen, dann lehnte er sich schwer in die Kissen seines Lagers zurück. Mit einem lauten Krachen schlug der Stuhl, auf dem der Dunkle gesessen hatte, auf den Boden, als der Clanlord aufsprang und mit einer Geschwindigkeit an das Lager des Wächters herantrat, die für das Auge eines Normalsterblichen nicht wahrnehmbar war. Er beugte sich zum alten Wächter herunter und starrte ihn aus seinen nun vor Zorn glühenden Augen an. „Ich werde keine Hand an euch legen um zu prüfen, ob eure Aussage über einen neuen Wächter stimmt, alter Mann, denn das Ganze wird sich schon in naher Zukunft von allein erledigt haben. Aber seit gewiss, sollte es einen neuen Wächter geben, wird er sich seines Amtes nicht lange erfreuen können. Wir werden das Tor bezwingen und erneut über diese Welt herrschen.“ Damit verschwand der Clanlord und ließ den alten Wächter allein zurück. Liliana hatte die Auseinandersetzung ihres Vaters mit dem Dunklen mit Grauen belauscht und bemühte sich nach dem Verschwinden des unheimlichen Gastes, zu ihrem Vater zu gelangen. Rasch eilte sie durch den schmalen Gang zurück zum versteckten Einlass, hastete an dem dort noch immer wartenden Sicherheitsbeamten wortlos vorbei und rannte schließlich so schnell sie konnte zur Zimmertür ihres Vaters, die sie schließlich schwungvoll öffnete. Sie erbleichte voller Angst, als sie ihren Vater auf seinem Lager sitzen saß. Seine Haut war grau geworden und eine Hand krampfte sich im Stoff seines Tagesanzugs, in dem sein Leibdiener ihn am Morgen gekleidet hatte. Sogar von der Tür aus konnte Liliana sehen, dass ihr Vater am ganzen Leib zitterte. „Gütiges Schicksal, Vater!“, rief sie erschüttert aus und eilte an seine Seite, wo sie seine Hand ergriff. Erschreckt stellte sie fest, dass die dünne, knotig wirkende Hand eiskalt und mit Schweiß bedeckt war. „Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte sie ihn ängstlich, doch sie kannte die Antwort bereits, seit sie ihn berührt hatte. Ein Arzt würde nicht mehr helfen können. Die Anwesenheit des Dunklen hatte sein müdes Herz zu sehr belastet. „Meine geliebte Lilly…“, murmelte der alte Wächter so liebevoll, wie er es trotz seiner Schüttelkrämpfe konnte. „Gib bitte immer gut Acht auf dich. Ich wünschte, ich könnte dich noch länger beschützen, doch Lord Minan hat Recht, ich werde den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.“ Er löste seine verkrampfte Hand von seiner Brust und strich seiner Tochter die Träne fort, die über ihre Wange rollte. „Du wirst alles erfahren, was ich dir nicht sagen konnte, wenn du dieses schwere Los antrittst, welches dir bestimmt ist. Das Weltentor wird dich einweisen. Bitte versteck dich immer gut vor den Dunklen. Sie dürfen dich nicht auch noch finden und töten.“ Liliana ergriff auch die zweite Hand ihres Vaters und küsste die zitternde Hand inbrünstig, während weitere Tränen über ihr schmales Gesicht liefen. Sie hörte, wie sich die Tür zum Zimmer ihres Vaters erneut öffnete und die besorgten Bediensteten den Raum betraten. Sie alle holten erschüttert Luft, als sie ihren sterbenden Herrn sahen. Dieser betrachtete seine langjährigen Vertrauten mit einem sanften Lächeln. „Ich bitte euch, steht auch weiterhin dem Wächterhaus zur Seite. Lilly wird es schon schwer genug haben, ihre Aufgabe zu erfüllen.“, bat er die Anwesenden leise. Mit leisen Stimmen versicherten die Anwesenden ihm ihre Zustimmung und versuchten, ihren eigenen Kummer zu verbergen. Liliana unterdessen legte die Hände ihres Vaters auf die Decke zurück und strich eine seiner Haarsträhnen zurecht. „Hab keine Sorge, Vater. Ich werde von nun an noch vorsichtiger sein als eh schon.“, versprach sie ihm leise. Der alte Wächter lächelte, während er seine Tochter betrachtete. „Du bist das Ebenbild deiner Mutter, von der ich hoffte, sie vor meinem Tod noch einmal wiederzusehen. Dieselben mondblonden Haare und dasselbe sanfte Antlitz. Mögest du einen würdigen Partner finden, mein Schatz.“ Er nahm seine Hände aus dem Griff seiner Tochter. „Und nun geh zum Tor, Lilly. Wir dürfen Minan keine Gelegenheit bieten, um in einem Augenblick des Wartens zwischen meinem Tod und deiner Weihe durch das Tor zu gelangen.“ Erschüttert sah Lilly ihren Vater an. „Ich möchte dich nicht allein gehen lassen, Vater.“, sagte sie leise unter Tränen. „Ich bin nicht allein, Liebes. Das ist meine letzte Bitte an dich. Geh und betrete den Raum des Tores in dem Moment, wenn ich nicht mehr bin. Du wirst wissen, wann es soweit ist.“, bat ihr Vater schwach. Liliana zögerte noch einen Moment, dann stand sie auf und küsste ihrem Vater noch einmal auf die Stirn. „Bitte grüße im Reich der Seelen deine Gefährtin und meine Brüder von mir, Vater. Ich werde mir alle Mühe geben, euch zu Gefallen zu sein.“, versprach sie. „Ich weiß, dass du es schaffen wirst, Lilly. Ich habe grenzenloses Vertrauen in dich. Und niemals kann ein Vater stolzer auf sein Kind gewesen sein wie ich es bin, seit ich dich habe.“ Mit Tränen in den Augen sah Liliana ihren Vater noch einmal an, dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal zu ihm um und sah ihn mit einem sanften Lächeln an, obwohl ihr zum weinen zumute war. „Ich liebe dich, Vater. Mögest du in Frieden und Glück ruhen.“, wünschte sie ihm von ganzem Herzen, dann verließ sie das Zimmer. So schnell sie konnte, hastete Liliana die Gänge entlang zu einer kleinen Tür, die im hintersten Winkel im Keller des Hauses lag. Diese Tür war bislang immer für sie verschlossen gewesen und hatte nie einen Türgriff gezeigt, als sie ihren Vater hierher begleitet hatte. Auch jetzt war die Tür fest verschlossen und sah genauso abweisend aus wie sonst auch. Doch sie wusste, dass sich dies nach dem Tod ihres Vaters ändern würde. Für den neuen Wächter würde sich diese magische Tür dann öffnen. So kniete sie sich ergeben auf den Boden vor der Tür, da ihr nichts anderes mehr übrig blieb, als zu warten. Wie lange sie vor der Tür gewartet hatte, konnte sie schließlich nicht sagen. Es kam ihr wie Stunden vor, doch sie wusste, wie sehr man sich in diesem fensterlosen Raum täuschen konnte. Schließlich spürte sie einen warmen Lufthauch über ihre Haut streichen, was sie sofort aufsehen ließ. Die schlichte Holztür ohne Griff schien auf einmal wie in Sonnenlicht getaucht und eine goldene Türklinke erschien auf dem makellosen Holz. Schmerz schlug über ihr zusammen, dennoch erhob sie sich wie automatisch, ergriff die Türklinke und betrat schnellstmöglich den dahinterliegenden Raum. Tränen liefen ihr nun ungehindert über die Wangen und sie brauchte einen Augenblick, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Dann erst drehte sie sich um und betrachtete den neuen Raum. Er war nicht sonderlich groß und hatte nur den einen Eingang. Sämtliche Wände waren in einem warmen Cremeton gestrichen und der Boden war anscheinend aus einem einzelnen, glatt polierten schwarzen Stein gefertigt worden. Genau in der Mitte standen zwei Säulen aus silbrig glänzendem, schwarzen Gestein, welches sie noch nie gesehen hatte. In diese Säulen waren Zeichen hineingeschlagen worden, die mit Silber gefüllt waren. Sie konnte nicht alles auf Anhieb lesen, doch es waren sowohl Worte in ihrer Sprache, wenn auch in einem altertümlichen Wortlaut, wie auch in der Sprache der Dunklen. Und aus dem, was sie lesen konnte, schloss sie, dass es sich um mächtige Zauberformeln handeln musste. Kaum, dass sie auf die Stelen geblickt hatte, begann der Zwischenraum zwischen ihnen seltsam zu schimmern. Es bildete sich eine Art Spiegel aus ruhigem Wasser, von dem eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie ausging. „Willkommen, junge Wächterin. Ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen.“, erklang mit einem Mal eine fremde Stimme in ihrem Kopf, von der sie nicht sagen konnte, ob sie männlich oder weiblich war. Noch während die Stimme erklang, hatte Liliana das Gefühl, dass ein warmer Wind um sie herum strich. „Ihr kennt mich?“, fragte sie als erstes, weil ihr nicht wirklich etwas Intelligentes einfiel. Ein leises Lachen erklang in ihrem Kopf. „Aber selbstverständlich. Euer Vater hat mir viel über euch berichtet, als er noch in der Lage war, mich in diesem Raum zu besuchen. Ich habe mich in der Zeit der Abwesenheit meines Wächters sehr auf unser erstes Treffen gefreut. Schließlich bist du die erste Frau, die mir zur Seite steht.“ Lilliana kam nicht darum, die sanfte Stimme sympathisch zu finden. „Ich weiß, wie schwer dir der Abschied von deinem Vater gefallen sein muss, Liebes. Wenn du möchtest können wir noch etwas warten, bis du in Ruhe getrauert hast.“, schlug der Geist – Liliana hatte für sich beschlossen, dass diese Stimme zu einer Art Schutzgeist gehören musste – ruhig vor. „Geist ist nicht ganz richtig“, korrigierte die Stimme sie ruhig. „Ich bin das Tor selbst. Und nur die Wächter des Lichts können mit mir sprechen. Das kommt uns dahingehend zu Gute, weil mich dein Vater gebeten hat, dich weiter zu lehren, wenn du einmal sein Amt übernommen hast.“ Liliana bemühte sich tapfer, ihre Tränen in ihren Augen zu behalten, was sie auch schaffte. „Ich danke dir für dein Angebot, aber ich habe meinem Vater versprochen, schnellstmöglich sein Amt zu übernehmen, wenn er diese Welt verlassen hat. Es darf nicht dazu kommen, das Lord Minan oder andere mit seiner Gesinnung in die Welt des Lichts einfallen.“, erklärte sie leise. „Er kann das Tor nicht benutzen, weil du es in dem Moment versiegelt hast, als du diesen Raum betreten hattest. Und ich werde deinem Wunsch entsprechen und für die Feinde dieser Welt auch weiterhin das Tor geschlossen halten. Dennoch werden wir noch etwas warten, bis wir dich als Wächterin weihen. Es ist nicht auszuschließen, dass er hier in der nächsten Zeit erscheinen wird. Das kann ich leider nicht vermeiden, da die Zwischenwelt um dieses Haus immer den Dunklen offen stehen muss. Nur ihre magischen Kräfte kann ich versiegeln. Und sobald du geweiht bist würde er dich als neue Wächterin erkennen.“ Liliana dachte einige Augenblicke über das nach, was das Tor zu ihr gesagt hatte und nickte dann langsam. „Ich verstehe. Auch wenn ich nicht behaupten kann, dass mich die Aussicht erfreut, Lord Minan bald persönlich gegenüber stehen zu müssen.“ „Es wird dir nichts geschehen. Schließlich bist du weiblich und somit in seinen Augen nicht dafür prädestiniert, der Erbe zu sein.“ Liliana nickte zustimmend. „Dann wird es so sein. Wir warten mit der Weihe, bis Lord Minan hergekommen ist.“ „Nun geh zurück, meine Liebe. Alles Weitere besprechen wir, wenn der dunkle Clanlord abgereist ist. Dann habe ich noch einige andere Dinge, die dich sicher interessieren werden.“ Verwundert sah Liliana auf, doch der schimmernde Spiegel fiel in sich zusammen und verschwand. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den Raum wieder zu verlassen. Sie begab sich auf direktem Wege in das Zimmer ihres Vaters, wo noch immer die Angestellten des Hauses saßen und mehr oder weniger stumm über den Verlust des alten Mannes trauerten. Nun ließ Liliana es auch zu, dass ihr die Tränen kamen. Stumm trat sie an das Bett ihres Vaters heran, worauf er von jemandem liebevoll gebettet worden war, nachdem er in seine Zeremoniengewänder gehüllt worden war. In seinen aufeinandergelegten Händen hielt er das Medaillon, welches ihn als Wächter auswies, sowie kleine Bildnisse seiner Gefährtin und seiner Söhne. Liliana kniete vor dem Bett nieder, während ihre Tränen ungehindert ihre Wangen herabflossen. Dann legte sie ihre Stirn auf die bereits ausgekühlten Hände ihres Vaters und schluchzte hemmungslos einige Minuten. Die Angestellten verharrten stumm und betroffen hinter ihrer neuen Herrin. Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, richtete sie sich schließlich mühsam wieder auf und setzte sich auf ihre Fersen zurück. „Wir müssen schnellstmöglich seine Bestattung vollziehen. Wie lange benötigen wir, bis wir die Feuerzeremonie vollziehen können?“, fragte sie schließlich leise. „Nur einige Stunden. Wir können die Zeremonie vor Beginn des Sonnenaufgangs vollziehen. Wollt ihr wirklich nicht warten, bis die auswärtigen Freunde des Herrn angereist sind?“, fragte der Butler ihres Vaters. „Dafür haben wir leider keine Zeit. Sicher wird Lord Minan schon sehr bald wieder hierher kommen und den neuen Wächter herausfordern wollen. Und wer weiß, was er mit einem toten Körper alles anstellen würde.“ Der Butler neigte leicht seinen Kopf. „Ihr habt recht, ich vergaß diese Tatsache. Ich kümmere mich darum, dass alles bis zum Morgengrauen bereit ist.“ Liliana nickte nur, löste aber ihren Blick nicht vom toten Körper ihres Vaters. So langsam sickerte die Bedeutung des Todes ihres Vaters in sie. Sie hatte nun niemanden mehr, dem sie ihre Sorgen anvertrauen konnte. Sie wünschte sich insgeheim in die alten Zeiten, wo der dunkle Wächter einem neugeweihten Lichtwächter als Freund und Vaterersatz zur Seite gestanden hatte. Wie sehr hätte sie einen solchen Freund gebrauchen können. Doch sie war die Letzte Wächterin, deren hauptsächliche Aufgabe von nun an darin bestand, zuerst das kaiserliche Siegel in ihrer Welt wiederzufinden und danach den neuen Kaiser zu wählen. Ihr war angst und bange bei dieser Last, die auf ihren Schultern ruhte. Mit einem Mal legte jemand seine Hand auf ihre Schulter und sie sah auf. Ihre Zofe und beste Freundin stand neben ihr und sah sie mit einem traurigen Lächeln an. „Komm, Lilly. Sorgen wir dafür, dass du bis zur Trauerzeremonie bereit bist.“, schlug Selen vor. Immer noch wie betäubt starrte Liliana ihre Freundin erst einige Augenblicke an, dann nickte sie und stand auf. „Du hast ja recht, Selen. Hier herumsitzen und Löcher in den Boden starren bringt mir Vater auch nicht zurück. Außerdem wusste ich ja schon seit langem, dass dieser Tag kommen würde. Schließlich war Vater auch für einen Wächter schon sehr alt.“ Selen legte ihren Arm um ihre Freundin und zog sie behutsam mit sich, hinaus aus dem Zimmer des alten Wächters in den Flur. Lilianas Zimmer lag nicht weit hiervon entfernt am anderen Ende des Ganges. „Wir sollten für die Trauerzeit mein Haar dunkel tönen, Selen. Es ist vielleicht besser, wenn wir mein auffälliges Haar für die nächste Zeit vor den Augen anderer verbergen.“, schlug Liliana zaghaft vor. Man sah ihrer Freundin deutlich an, dass sie von dieser Idee alles andere als begeistert war. „Wieso willst du dich denn unbedingt auf diese Weise verunstalten? Deine Haarfarbe ist doch unglaublich schön.“ „Aber es fällt sofort auf, dass ich anders bin als die anderen Bewohner des Hauses. Ich rechne fest mit der Ankunft des Dunklen innerhalb der nächsten 24 Stunden. Bis dahin sollte auch bis in das dunkle Reich durchgedrungen sein, dass der alte Wächter verschieden ist. Schließlich sagte Lord Minan zu meinem Vater, dass er nicht damit rechnete, dass dieser den Sonnenaufgang erleben würde. Sicher hat er spätestens da erkannt, dass das Tor weiter verschlossen ist und es wirklich einen neuen Wächter gibt. Ich kann mir nicht helfen, aber ich hatte das Gefühl, dass er Vater nicht wirklich geglaubt hat.“ „Er wird feststellen, dass dein Vater niemals gelogen hat.“, kommentierte Selen das Gesagte ihrer Freundin grimmig. Beide betraten Lilianas Zimmer, wo Selen ihre Freundin zu deren Frisierkommode begleitete und sie auf den davor stehenden Hocker drückte. „Es ist gut, dass wir schon seit Wochen auf diesen traurigen Tag vorbereitet sind, Lilly. So haben wir wenigstens alle schon unsere Trauergewänder bereitliegen, damit wir deinem Vater bei der kurzfristigen Feuerzeremonie richtig ehren können.“ Liliana seufzte leise. „Ich habe ein schlechtes Gewissen bei der Tatsache, dass wir die stille Zeremonie so überhastet ausrichten müssen. Doch ich habe wirklich Angst davor, was passieren würde, wenn Vater zu lange hier bleibt. Ich habe einiges in den Büchern der Bibliothek gelesen, dass es den Magiern der Dunklen möglich ist, einen toten Körper soweit wiederzubeleben, dass dieser selbst ohne Seele umherwandeln kann, wie eine Marionette. Das könnte ich nicht ertragen.“ Selen hatte ihrer Freundin das hüftlange hellblonde Haar gebürstet und hielt nun entsetzt inne. „Du machst Witze, oder?“ Liliana schüttelte nur knapp mit dem Kopf. „Leider nicht.“ „Die Dunklen sind grausam, so etwas mit einem ehrenwerten Toten zu machen.“, regte sich die Zofe auf. „Ihnen fehlt schon zu lange der mäßigende Einfluss ihres Kaisers. Sie sind nicht von Natur aus grausam, Selen. Es sind einfach die Falschen derzeit an der Macht.“, murmelte Liliana niedergeschlagen. Sie dachte dabei an den Einen, der vor so vielen Jahren ihrem Vater geholfen hatte. Nur diese Episode in ihrem Wissen hielt sie davon ab, alle Dunklen als Schlecht zu verdammen. Selen betrachtete ihre Freundin sorgenvoll, denn sie konnte sich vorstellen, wie schwer die Bürde auf deren schmalen Schultern lasten musste. So legte sie die Bürste aus der Hand und berührte sanft die Schulter der Freundin. „Komm. Wir werden einige Zeit benötigen, bis wir dich für die Trauerfeier zurechtgemacht haben. Deine langen Haare benötigen die Zeit zum tönen.“ „Dann schneid sie doch einfach ab.“, meinte Liliana trocken. „Gütiges Schicksal, das werde ich ganz sicher nicht, Lilly. Dein Haar ist so wunderschön und ich pflege es schon seit so vielen Jahren.“ Selens Entrüstung zauberte ganz kurz ein leichtes Lächeln auf Lilianas Lippen, auch wenn dies ihre Augen nicht erreichte. „Na gut, dann nur tönen.“, meinte sie leise und stand auf, um ihrer Freundin ins Bad zu folgen. Eine knappe Stunde vor Beginn der Morgendämmerung hatten sich alle Bewohner des Wächteranwesens im großen Garten des Hauses an einer Stelle eingefunden, die seit jeher für die Feuerbestattungen der Bewohner vorgesehen war. Die Bediensteten hatten in aller Eile, aber auch mit aller Sorgfalt den Scheiterhaufen für den toten alten Wächter aufgetürmt. Liliana war gerührt, dass das Holzbett so hoch vor ihnen aufragte, denn es zeigte ihr, dass sich die Anwohner schon seit langer Zeit gewissenhaft mit dem bevorstehenden Tod ihres alten Herrn auseinandergesetzt hatten. Für sie war es wichtig, dass ein toter Körper in den Flammen in die Unendlichkeit geschickt wurde, die aus den Ästen der Eiche geboren wurden, die ihnen seit jeher so heilig war. Und da rund um das Wächteranwesen nicht übermäßig viele Eichen wuchsen, musste das Holz schon seit sehr vielen Jahren gesammelt worden sein. Der Körper von Lilianas Vater lag bereits auf dem Scheiterhaufen aufgebahrt, der Körper mit einem durchsichtigen Schleier aus feinster Seide vor der Umwelt beschützt. Ein leichter Wind strich leicht über die Seide und bewegte sie sachte, ohne sie anzuheben. Die Bewohner des Wächteranwesens hatten sich alle mit einer kleinen Fackel am Platz eingefunden, alle in schlichte weiße Trauergewänder gehüllt. Niemand von ihnen trug Schmuck oder Zierrat am Körper und die Haare der Frauen waren mit Lederbändern streng zurückgebunden. Liliana stand kummervoll inmitten der Bewohner und starrte wie betäubt auf den Scheiterhaufen. „Wir sollten beginnen, Herrin.“, raunte der ehemalige Kammerdiener ihres Vaters ihr zu. Liliana hob ihren Kopf und betrachtete den Himmel im Osten. Noch wartete sie ein wenig auf das erste Aufleuchten des kommenden Tages, damit ihr Vater nicht auch noch in völliger Dunkelheit seinen Weg in die Unendlichkeit antreten musste. Doch schon wenige Minuten später begann sich die Dunkelheit zu heben und das Leuchten der Sterne verblasste. Als der erste Silberstreif am Horizont erschien und den Anwesenden einen wolkenlosen Morgen versprach, trat Liliana sofort vor und senkte ihre Fackel auf das trockene Holz des Scheiterhaufens, der die Flammen sofort annahm. Kaum leckten die ersten Flammen eigenständig am heiligen Holz, da traten auch die anderen Bewohner des Hauses an den Scheiterhaufen heran und senkten ihre Fackeln mit ihren guten Wünschen für den Verstorbenen in das Holz. So schloss sich schnell der Ring aus Feuer, den die Bewohner legten. Innerhalb weniger Minuten war der tote Körper des alten Wächters komplett von den Flammen eingeschlossen und verbrannten zuerst die Seide, bevor die Flammen so hoch schlugen, dass niemand mehr zum Leichnam durchdringen konnte. Erst jetzt legte sich die Anspannung bei allen Anwesenden, denn alle hatte die Furcht in sich getragen, dass einer der Dunklen kommen und den Leichnam rauben würde. Wie Recht sie mit ihrer Furcht hatten zeigte sich, als sie zum Haus zurückkehrten, als das Feuer zusammengesunken und nur noch Glut übrig geblieben war. Kaum hatten sie das Haus betreten, da zuckten alle zusammen, ganz besonders Liliana. Alle spürten mit einem Schlag die Anwesenheit eines Dunklen im Haus, der sie auch bereits an der großen Treppe des Hauses erwartete. Zum ersten Mal erblickte Liliana den Gegner ihres Vaters und musste sich ein Erschaudern unterdrücken. Trotz der edlen Kleidung und der kostbaren Schmuckstücke, die er trug, konnte er seine Wildheit und Grausamkeit nicht wirklich verbergen. „Ich stelle mit Bedauern fest, dass ich anscheinend zu spät zur Trauerfeier für den alten Wächter gekommen bin.“, sprach Lord Minan ruhig, dennoch verursachte seine dunkle Stimme bei Liliana eine Gänsehaut. Der Kammerdiener ihres Vaters trat vor und verneigte sich vor ihm. „Lord Minan, wir haben nicht so bald mit eurer Rückkehr gerechnet.“, begrüßte dieser ihn betont neutral. Missgünstig sah der Dunkle zuerst den Diener an, dann schweifte sein Blick über alle Anwesenden. „Ich würde gerne mit dem neuen Wächter sprechen.“ Liliana trat einen Schritt hervor, obwohl einer der Sicherheitsbeamten sie zurückhalten wollte. „Der neue Wächter hat bereits das Haus verlassen, Lord Minan.“, erklärte sie ihm und sah ihm ruhig in die roten Augen. Der Dunkle sah sie überrascht an, dann trat er vor sie und starrte sie aus brennenden Augen an. „Wer bist du und wieso richtest du ungefragt dein Wort an mich, Frau.“, knurrte er sie an. „Ich bin die angehende Hausdame des Anwesens, hoher Lord und durchaus berechtigt, mit allen Gästen zu sprechen. Ihr verlangtet eine Auskunft und ich konnte sie euch geben. Bei uns wird niemandem das Wort verboten, wie ihr wissen solltet.“, erklärte sie ruhig, aber mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Der Dunkle starrte sie von oben herab an, was nicht sonderlich schwer war, da er mindestens 10 Zentimeter größer als sie selbst war. Und sie gehörte sicher nicht zu den kleinen Bewohnern des Hauses. „Und wieso hat euer neuer Herr das Haus bereits wieder verlassen, wenn er sich doch denken konnte, dass ich ihm schon bald nach seiner Weihe aufsuchen und beglückwünschen würde?“, fragte er weiter. Liliana schossen einige sehr beleidigende Worte durch den Kopf, doch sie blieb freundlich. „Unser alter Herr hat den neuen Wächter umgehend mit der Suche nach dem Wächtersiegel beauftragt. Nachdem der Wind die Überreste unseres alten Herrn aufgenommen hatte beeilte der neue Wächter sich, dem Wunsch seines Vorgängers zu entsprechen. Ihr habt ihn ungefähr um eine Stunde verpasst, Herr.“ Die Lüge kam Liliana so leicht über die Lippen, obwohl sie das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen. Doch sie sah keine andere Möglichkeit für ihre eigene Sicherheit, als das Gebot der immer währenden Wahrheit zu brechen. Die anderen Bewohner waren vollkommen still, obwohl sie sicher durch ihre Lügen schockiert waren. „Bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich.“, sprach Lord Minan ruhig, doch Liliana konnte seine aufkommende Wut spüren. Sie hatte Sorge um denjenigen, der sich ihm in seiner Wut in den Weg stellen würde. „Darf ich euch dennoch eine kleine Stärkung anbieten, Lord Minan? Schließlich habt ihr eine weite Reise auf euch genommen.“ „Nein. Ich werde mich direkt wieder auf die Rückreise begeben. Schließlich kann ich hier nichts weiter erreichen.“, knurrte er leise. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand vor ihren Augen. Dennoch konnte Liliana sehen, dass sich der dunkle Nebel, der den Lord bei seinem Verschwinden nicht vollkommen aufgelöst hatte, sondern sich zu den Schatten an den Wänden zurückzog und dort verblieb. Ihre Anspannung blieb und verstärkte sich. Nun hatten sie einen ständigen Spion im Haus und sie konnte nicht in die Bibliothek oder zum Tor gehen, ohne sich zu verraten. Und der Dunkle war durch den Spion sicher schneller bei ihr, als sie beim Tor Schutz suchen konnte. Die anderen Anwesenden atmeten erleichtert auf, als der Dunkle sich zurückgezogen hatte. „Nun haben wir endlich Ruhe, H…“, begann der Kammerdiener ihres Vaters, doch bevor er sie Herrin nennen konnte, sah sie ihn sofort sehr streng und durchdringend an, was ihn sofort zum schweigen brachte, ebenso wie alle anderen. „Was ist los, Lilly?“, fragte die Köchin ängstlich auf die seltsame Reaktion ihres Schützlings. Sofort umringten alle Anwesenden Liliana und bildeten eine enge Mauer um sie. „Er hat einen Spion zurückgelassen, einen Schatten.“, wisperte Liliana fast tonlos, dennoch verstanden sie alle. Sie erbleichten. „Können wir denn nichts tun?“, fragte Selen erschaudernd. Liliana schüttelte nur leicht ihren Kopf. „Niemand kann unbemerkt in den Keller. Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen.“, gab sie ängstlich zu. „Wir machen ganz einfach normal weiter.“, meinte der Kammerdiener so laut, dass es auch der Spion mitbekommen musste. Alle hoben ihre Köpfe, nickten sich zu und gingen zu ihren Wohnungen, um die Trauerkleidung abzulegen und danach ihr Tagwerk zu beginnen, obwohl niemand von ihnen in dieser Nacht geschlafen hatte. Auch Liliana begab sich in ihr Zimmer, zog sich um und begab sich dann zur Haushälterin des Anwesens, um dort als angeblicher Lehrling den Arbeitstag zu beginnen. Der Tag war schließlich für alle mit Beginn der Dämmerung zu Ende. Die Haushälterin hatte nun im Angesicht der Gefahr, in der sich alle befanden, die Rolle des Hausvorstands souverän übernommen und auch ihre eigentliche Herrin wie eine strenge Ausbilderin an die Arbeit gescheucht. Schließlich ließ sie alle vor der großen Treppe versammeln, wie immer, wenn die Arbeit des Tages vollbracht war. „Ich weiß, eigentlich wäre noch einiges zu erledigen, doch wir alle sind bereits seit gestern auf den Beinen und haben einen schweren Verlust zu verkraften. Macht Feierabend für heute, damit ihr in Ruhe den Tod des alten Herrn betrauern könnt. Wir sehen uns Morgen dann zur gewohnten Stunde wieder in der Küche zum Frühstück. Euch allen eine beschützte Nacht.“ Mit zustimmendem Gemurmel und dem gleichen Gruß gingen alle auseinander. Als Selen ihre Herrin und Freundin in ihr Zimmer zum Auskleiden begleiten wollte, schüttelte diese nur leicht den Kopf. Selen verstand, doch es behagte ihr nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)