Tarot von Illuna (OS-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 4: Tod - Geheimnis und Erinnerungen ------------------------------------------- Hier zu bedenken: Der siebte Band wurde vollkommen außer Acht gelassen! Tod Natürliches Ende, ermattete Kräfte Geheimnis und Erinnerungen Das Feuer prasselte leise. Der Schein warf verzerrte Schatten an die Wände. Die Kronleuchter an den Wänden waren schon seit längerer Zeit erloschen. Die einzige Lichtquelle in diesem Raum, der früher einmal ein gemütliches Wohnzimmer dargestellt haben musste, waren die Flammen in dem Kamin. In einem verstaubten Sessel saß ein alter Mann. Das ergraute blonde Haar fiel ihm ins Gesicht, doch das schien er nicht zu bemerken. Unverwandt war sein Blick auf den Tanz des Feuers gerichtet. Der Sessel war nur einer der vielen, die in diesem Zimmer verteilt standen. Meist waren sie noch zu Gruppen zusammengestellt, vor dem Kamin jedoch stand noch vor wenigen Stunden keiner. Der Mann hatte ihn dort hingerückt. Denn er wusste, dass dieser Raum kaum eine Bedeutung gehabt hatte. Damals. Als dieses riesige Haus noch Leben in sich gehabt hatte. Aber schon seit Jahren waren die Wände kahl, kein Lachen hallte von ihnen wider, keine Familie hatte sich in diesen Mauern niedergelassen. Schon viel zu lange herrschte hier eine eisige Kälte. Eine Tür knarrte. Er schaute nicht auf. Eine ebenso alte Frau betrat den Raum, sah den Mann traurig an. „Komm, hier ist es kalt. Lass uns wieder nach Hause gehen.“, sagte sie. „Mein Zuhause ist hier.“, meinte er. Aus seiner Stimme sprach Trauer, Verlust und Erinnerung. Bittersüße Erinnerung. Hinter sich schloss sie die Tür, schob einen der Sessel zum Feuer und setzte sich schräg neben den Mann. „Warum antwortest du mir?“ „Weil ich hier bleiben möchte. Lass mich allein.“ Seine Worte waren scharf, aber sie ließ sich jetzt nicht mehr beirren, das wusste er. So war sie, das hatte er in all ihren Ehejahren gelernt. Beharrlich wiederholte sie ihre Frage. Denn seine Antwort darauf war nicht das, was sie hören wollte. Auch dessen war er sich bewusst. Aber er würde es ihr nicht sagen. Niemandem und vor allem nicht ihr. „Geh und lass mich in Frieden.“ „Du weißt, dass ich nicht gehen werde, warum willst du mich also loswerden? Damit ich dein Geheimnis nicht erfahre? Damit ich nicht weiß, was du all die Jahre vor mir verheimlicht hast?“ Er wandte das Gesicht vom Feuer ab, schaute sie aus seinen grauen Augen an. Die Augen zeigten mit einem Mal so viel mehr als in all den Jahren zuvor. Er ließ es zu, dass sie die Einsamkeit erkennen konnte, ewig quälende Einsamkeit. Ebenso den Schmerz, die Verzweiflung und die Sehnsucht, die ihn zerfraß. „Was willst du nur so krampfhaft vor mir verstecken? Ich weiß, dass wir nicht aus Liebe geheiratet haben, aber trotzdem kann ich es nicht länger mit ansehen, wie du leidest. Tage vergingen, ohne dass du ein Wort über dein Leid verloren hast. Diese Tage wurden zu Monaten, diese wiederum zu Jahren und diese zu Jahrzehnten. Verstehst du denn nicht? Ich mache mir Sorgen um dich.“ Sie wartete ab, musterte seine Gesichtszüge, ob sie sich regen würden. Doch sie blieben genauso starr wie davor. Ein Seufzen entfloh ihren Lippen. „Ich hätte dich schon gleich am Tag vor unserer Hochzeit fragen können. ‚Was ist dein Geheimnis?’ Aber ich habe es gelassen, aus Respekt vor dir. Du weißt, dass ich dich nicht liebe, genauso wenig wie du mich. Aber dennoch achten wir uns und aus diesem Grund habe ich dich in Ruhe gelassen. Habe darauf vertraut, dass dein Respekt, dein Vertrauen mir gegenüber so groß ist, dass du zu mir kommen würdest, wenn es dir zuviel werden würde. Aber du kamst nicht. Ich bin weder blind noch taub, auch wenn es das Alter mich werden lässt. Ich habe all deinen Schmerz gesehen, wenn du glaubtest alleine zu sein. Und ich habe es nicht vergessen.“ Wieder legte sie eine Pause ein. Die Frau strich sich eine graue Haarsträhne hinter die Ohren. Dann fasste sie nach seiner Hand. Er zuckte zurück, obwohl die Berührung nur sehr flüchtig war. „Was ist dein Geheimnis?“, wollte sie wissen. Nun war er sich sicher, dass er heute nicht davonkommen würde. Mit keiner Ausrede, mit keinen Ausflüchten, die er sich sonst hatte einfallen lassen. Er würde sein gut gehütetes Geheimnis wohl vor seiner Ehefrau offenbaren müssen. Aber war er dazu schon bereit? Auch wenn er diese Last schon Jahrzehnte mit sich herum trug, konnte er es einfach so erzählen? „Ich.. kann es nicht.“, krächzte er, blickte wieder in Richtung Feuer. Noch immer schien es mit den Schatten zu spielen, verzerrte die Gesichtszüge des Mannes, die für sein Alter nur wenig Falten zeigten. Ebenso schien die Frau zu einem gewissen Zeitpunkt aufgehört haben zu altern. Ihr Gesicht wirkte noch immer jugendlich, vor allem wenn sie lachte. Und gerade weil sie von grauem Haar eingerahmt wurde, erschien diese Frau wie eine weise Göttin. Vielleicht war sie das auch. Vielleicht verkannte er das wunderbare Wesen, das in ihr schlummerte. Aus ihren Augen sah er ebenfalls so aus, als hätte er der Zeit ein Schnippchen geschlagen. Es kam ihr in diesem Moment vollkommen falsch vor, über sein Aussehen nachzudenken, aber sie konnte einfach nicht anders. Der Respekt hatte sich nach ihrer Hochzeit mehr und mehr in Liebe umgewandelt und dennoch belog sie ihn jetzt. Im Grunde verachtete sie sich dafür, es war abfällig ihm gegenüber, aber trotzdem tat sie es. Denn ihr einziges Anliegen in diesem Moment war, ihren Ehemann von seinem Kummer zu erlösen, ihm seinen Schmerz zu nehmen. Was sie nicht wissen konnte, war, dass er diesen Schmerz schon sein ganzes Leben lang mit sich trug und auch mit in den Tod nehmen würde. Denn sei er auch noch so grausam und trieb ihn zur Verzweiflung, er war da und erinnerte ihn an schöne Zeiten, an wunderbare Momente. „Erzähl mir, was dich nicht lachen lässt. Sag mir, warum du dich einsam fühlst, obwohl so viele Freunde um dich herum sind.“ Sein Kopf ruckte hoch, beäugte sie misstrauisch. Da konnte sie ein wehmütiges Lächeln nicht unterdrücken. Er hatte sich nicht ganz verändert, manches würde wohl immer so bleiben wie es zuvor gewesen war. „Woher willst du das wissen?“ „Wenn andere lachen, Scherze machen, stehst du nur dabei, setzt dein alltägliches, kaltes Lächeln auf. Meinst du, ich erkenne das nicht? Ich bin nicht blind.“ „Du beobachtest mich mehr, als du solltest, wenn du mich nur achtest, Maya.“, gab er kühl zurück. Sie zuckte zusammen, raffte sich aber sogleich wieder. „Ich habe mir eben Sorgen gemacht.“, erwiderte sie. „Dum excusare credis, accusas. (Wer sich rechtfertigt, klagt sich an. [1]) Du kennst den Spruch doch noch, oder nicht?“ Beschämt wandte sie sich ab. „Natürlich.“ Sie knetete die Hände in ihrem Schoß. „Das hast du immer zu mir gesagt. Und nun sage ich es dir.“, sagte er. Er musste nicht weiterreden. Durch die Reaktion der Frau wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte. Auch war er sich dessen bewusst, dass die Frau vor ihm mehr für ihn fühlte, als sie ihm gestand. Aber sie brauchte es ihm nicht mehr zu sagen. Manchmal verstanden sie sich auch ohne viele Worte. Ein paar Momente lang hingen beide ihren eigenen Gedanken nach. Dann brach die Frau das Schweigen. „Draußen schneit es schon wieder. Ich muss unserer Tochter Bescheid geben, dass sie auf die Kinder aufpasst, sonst holen sie sich noch eine Erkältung.“ Es war ein ganz normaler Plauderton, den sie angeschlagen hatte und dennoch weckte es den Zorn in seinem Innern. „Lass sie doch. Dann wird wenigstens ihr Immunsystem gestärkt!“, meinte er ironisch, machte ihr somit klar, dass es ihn nicht wirklich interessierte, wie es dem Rest seiner Familie ging. „Lass deinen Unmut nicht an unseren Kindern aus!“, meinte sie gereizt. Sie war es immer, die ihre Tochter und deren Kinder in Schutz nahm. Sie hatte sich mit ihrer Tochter gemeinsam um deren Kinder gekümmert. Sie hatte ihnen in schweren Zeiten beigestanden. Er hatte nie Kinder wollen. Nicht mit ihr, das wussten sie beide. Noch einmal sammelte sie ihren Mut zusammen und fragte ihn: „Lass mich an deinem Geheimnis teilhaben. Bitte, Draco.“ Überrascht sah er auf. Dass sie ihn bat, hätte er nicht erwartet, eher dass sie wütend gehen würde, weil er es mal wieder gewagt hatte, seine Kinder nicht ernst zu nehmen. Vielleicht war er doch dazu bereit. Vielleicht sollte er es ihr erzählen, um ihr damit zu beweisen, dass er sie immer noch respektierte. Ja vielleicht.. „Was willst du wissen?“, fragte er matt, sank in dem Sessel zurück. Er spürte, dass sich seine Muskeln schmerzhaft anspannten. „Warum lachst du nie? Warum fühlst du dich so einsam? Wieso vergehst du in deinem Schmerz?“ Ihre Stimme wurde brüchig. Ihm war klar, dass sie mit den Tränen kämpfen musste. Während er anfing zu sprechen, starrte er weiterhin in das Feuer. Dies war einfacher, als seiner Frau bei diesem Geständnis in die Augen blicken zu müssen. „Es gibt keinen Grund für mich zu lachen. Niemand hat es verdient. Warum sollte ich diese Menschen anlachen, wenn sie mir doch nicht das zurückgeben können, was sie mir weggenommen haben? Sie haben mir das entrissen, was das Wichtigste in meinem Leben war. Das, wofür ich gelebt habe.“ Er schloss gequält die Augen. Schlimmer als all die Zeit zuvor drängten sich die schmerzhaften Erinnerungen an die Oberfläche. Er hatte vergessen, wie unerträglich sie in Wirklichkeit doch waren. Die Zeit hatte die Wunden geschlossen, sie ein wenig vergessen lassen, aber ganz sicher nicht geheilt. „Dieser Schmerz ist das Einzige, was ich noch habe. Was real ist, was mich nicht alles vergessen lässt. Was sie mir nicht rauben können.“ Aus den Augenwinkeln sah er, dass ihn seine Frau entsetzt ansah, bereits den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, aber er hob die Hand. „Ich bin nicht auf Rache aus. Das wäre nicht das, was er sich gewünscht hätte. Aber dennoch kann ich ihnen nicht verzeihen. Also reagiere ich so, wie ich es schon zu meiner Schulzeit getan habe. Ich verschließe mich, bemitleide mich selbst, verachte andere, die ich dafür verantwortlich machen kann. Ich weiß selbst, dass sie nicht Schuld sind. Andere sind schuldig, die schon lange nicht mehr am Leben sind. Und dennoch kann ich den Hass, der irgendwo in meinem Innern brodelt, nicht abstellen. Er ist einfach da. Auch wenn er das nicht gewollt hätte.“ Nun hielt sie es nicht länger aus und unterbrach ihn: „Wer ist er?“ Ein leises trauriges Lachen war zu hören. Er legte den Kopf in den Nacken, starrte an die Decke, an der man die Schatten tanzen sehen konnte. „Ihr feiert doch alle seinen Tod. Ihr seid so kalt.. Ihr tut alle so, als sei etwas Gutes geschehen. Und dabei ist er gestorben. Wegen uns. Für uns. Und ihr beschmutzt sein Andenken mit solchen lächerlichen Festen. Niemand trauert, niemand würdigt seine Person. Seine Tat wird hoch gepriesen, aber was ist mit dem Menschen, der sich dahinter verborgen hatte? Habt ihr ihn etwa vergessen? Wusstet ihr nicht, wie sehr er leiden musste, nur um euch zufrieden zu stellen?!“ Seine Stimme wurde lauter, er sprang auf und wanderte aufgewühlt vor dem Feuer auf und ab. „Ihr hattet es, verdammt noch mal, nicht verdient, gerettet zu werden! Und trotzdem ging er für euch in den Kampf! Ich hasse euch dafür!“ Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und ihm wurde klar, dass er verloren hatte. Den Kampf in seinem Inneren hatte er nun nach knapp fünfzig Jahren verloren. Es waren nicht die ersten Tränen, die er vergoss, aber sicherlich die ersten nach einem halben Jahrhundert. Mit einem Mal sah er so viel älter aus als zuvor. Die Frau beobachtete ihn traurig. So lange hatte er es durchgehalten, ohne jemanden eingeweiht zu haben. „Ich werde nicht weiter fragen. Verzeih mir, dass ich es gewagt habe.“, ihre leise Stimme hing schwer im Raum. Es schien so, als würden diese Worte alles bedeutungslos machen, was er gerade ausgesprochen hatte. Genau aus diesem Grund wandte er sich ihr zu. „Sag nicht, dass es dir Leid tut. Sprich nicht davon, dass du all dies rückgängig machen würdest, wenn du es könntest.“ Sie sah ihn ausdruckslos an, verstand nicht, was er damit meinte. Doch eine letzte Frage fiel ihr dann doch noch ein. „Warum warst du nicht bei seiner Beerdigung? Du hast gearbeitet. Ich hatte dich an diesem Tag in deinem Arbeitszimmer gesehen.“ Während sie dies sagte, stand sie bereits auf. Der Mann drehte sich dem Kaminfeuer entgegen, kehrte ihr somit wieder den Rücken. Auf die Frage lachte er nur trocken auf. „Wenn du das Arbeiten nennen willst.“, wisperte er. „Was?“ Eine letzte Antwort würde sie noch von ihm erhalten, dann würde er schweigen. Solange bis sein Ende gekommen war. Er hatte es versprochen. Versprechen brach man nicht. „Am Leben bleiben.“ Die Tür fiel ins Schloss. Das Feuer flackerte unruhig. Ein leises Lachen gefüllt mit unnennbarer Trauer verhallte. [1] Zitat von Hieronymus *** Hosted by Animexx e.V. 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