Heroes von Tricksy ================================================================================ Kapitel 2: Two -------------- Nach fünf weiteren Tagen hatte man es gewagt, Karyu vom Aufenthalt auf der Intensivstation zu befreien. Er teilte sich jetzt seit zwei Tagen ein Zimmer im ersten Stock mit einem kleinen, afrikanischen Mädchen, das irgendwie noch nie aufgewacht war. Manchmal hatte Karyu daran gedacht, dass sie vielleicht tot war. Und dann dachte er daran, dass er mit ihr gerne die Plätze tauschen wollte. Er hatte schon des öfteren eine Schwester auf das Kind angesprochen, doch die winkten allesamt ab, und versicherten ihm, dass es ihr gut ginge. Dass sie sich nicht einmal vergewisserten, ärgerte Karyu zutiefst. Er wollte nicht mehr. Er hatte keine Lust darauf, seine Zeit in diesem Krankenhaus zu verbringen. Und er wusste nicht einmal ob er eben diese noch irgendwo anders verbringen wollte. Einmal hatte er für lange Zeit seine Augen geschlossen und sich vorgestellt, tot zu sein. Dieser Gedanke war ihm in gewisser Weise angenehm, und es fühlte sich irgendwie echt an. Dann brachte man ihm sein Essen. Am dritten Tag, den er in seinem neuen Zimmer verbrachte, kam ihm das erste Mal wieder Kenji Oota unter die Augen. Seine Gefühle über das Erscheinen des Doktors waren gespalten, doch dann entschied er sich dafür, sich nicht über seinen Besuch zu freuen. Er sah zu, wie der junge Arzt an ihm vorbei und hinüber zu dem jungen Mädchen schritt. Mit gehobenen Augenbrauen sah er zu, wie Tsukasa ein kleines Messgerät neben dem Krankenbett überprüfte und dem Kind anschließend eine Injektionsspritze gab. Er sagte etwas, ganz leise, und Karyu strengte sich an, diese Worte zu verstehen. Es vergingen einige Minuten, dann wandte Kenji Oota sich wieder ab und schritt nun geradewegs auf ihn zu – Karyu. Mit einem Lächeln zog der Arzt einen Hocker heran und ließ sich neben ihm nieder. Karyu bedachte ihn mit zurückgezogenen Blicken, dann nickte er und wünschte ihm einen guten Tag. Tsukasa erwiderte das Nicken, und wie es Karyu schien, ein wenig nervös. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, seit dem einen Tag, wo ihm die Maske abgenommen wurde. „Wie geht es Ihnen?“, fragte Tsukasa freundlich und legte seine Akten ab. „Sie haben wirklich lange auf sich warten lassen.“ „Hatten Sie Interesse, mich zu sprechen?“ „Nein.“ Sie blickten einander für einen Moment schweigend an, dann wandte Karyu sich ab und betrachtete die leicht abgetragene Pappe, in der sich seine Akten befanden. Sie war blau, und ein wenig ausgeblichen. Karyu wunderte das. So alt konnte seine Unfallakte schließlich nicht sein. Er war noch nie zuvor nach einem Einsatz im Krankenhaus aufgewacht. „Mir geht es Bestens“, fuhr er schroff fort und wandte sich wieder Tsukasa zu. „Ich will hier raus. Auf der Stelle.“ „Das geht nicht.“ „Ich kann sie anzeigen-“ „Sie sind noch nicht vollständig genesen, deshalb wäre es sehr ratsam, hier zubleiben.“ „Ich kann Sie anzeigen, ich kenne meine Rechte. Ich bin Polizist.“ Tsukasa reagierte auf diese Drohung nicht, und Karyu klopfte sich innerlich auf die Schulter. Doch als er auch nichts auf seinen ausgesprochenen Willen erwiderte, runzelte sich seine Stirn. „Ich habe nie daran gezweifelt, dass Sie Ihre Rechte kennen, Herr Matsumura. Ich kenne meine ebenfalls. Wenn ich Sie frühzeitig der Genesungszeit entziehe und Ihnen aufgrund dessen etwas zustößt, werde ich zur Rechenschaft gezogen.“ „Dann geben Sie mir Vollmacht.“ „Nein.“ Schnaufend wandte Karyu sich wieder ab, diesmal in Richtung zweier größerer Fenster. Draußen vor ihnen stand eine riesige Eiche, an der wieder die ersten Blätter sprossen. Karyu hörte, wie Tsukasa seinen Hocker zurechtrückte. „Warum verschmähen Sie das Essen?“, fragte dieser. „Weil es scheiße ist. Das würde ich ja nicht einmal meinem Hund geben.“ „Sie haben einen Hund?“ Als Antwort bekam Tsukasa ein Schnaufen. Anschließend erntete er einen verärgerten Blick, als ihm ein leises Lachen herausrutschte. „Verzeihen Sie.“ Tsukasa griff nach den Akten und blätterte ein wenig wahllos in ihnen herum, um die eintretende Pause zu überbrücken. Draußen in der Eiche zwitscherten für einen Moment Vögel, dann wurde wieder alles still. „Weshalb sind Sie eigentlich hier? Wollen Sie mich untersuchen?“ „Ich will mit Ihnen reden.“ Karyu schenkte Tsukasa einen skeptischen Blick und wartete darauf, dass er fortfuhr. Doch das tat er nicht, und er schaute Karyu so an, als warte er ab, ob er selbst drauf käme. Es beschlich ihn eine leise und böse Vorahnung. „Und worüber?“, fragte er trotzdem. „Über-“ „Falls es um Tatsuro und Makoto geht, dann habe ich kein Interesse“, unterbrach Karyu ihn säuerlich. Tsukasa hob verwundert die Augenbrauen und setzte wieder zum Wort an, doch wieder kam Karyu ihm zuvor. „Es geht niemanden etwas an, außer vielleicht ihre Familien und Freunde. Gehen Sie woanders Seelenklempner spielen, ich brauche so was nicht.“ „Aber-“ „Ich bin Polizist und erlebe öfter Verluste. Das ist nicht neues für mich.“ „Herr Matsumura, ich-“ „Sie sind Arzt, ich weiß! Aber das hat mit der Sache nichts zu tun, lassen Sie sich gefälligst bessere Ausreden einfallen! Sie-sind-kein-Psychater. Und selbst WENN ich einen bräuchte und SIE einer wären, dann würde ich Abstand halten! Was wissen Sie schon? Was wissen Sie? Sie haben doch gar keine Ahnung, wie es ist, unter Einsatz des eigenen Lebens zu arbeiten, Sie stehen in ihrer OP, und wenn es mal nicht funktioniert, dann-“ „Herr Matsumura, wir beide haben einen Beruf gewählt, in dem wir Leben retten!“ „RICHTIG“, sagte Karyu so laut, dass er schon fürchtete, das kleine Mädchen könne aufwachen. „Aber Sie setzen nicht ihr eigenes Leben aufs Spiel. Sie können sich nicht einmal ansatzweise vorstellen wie es ist, wenn um einen herum Leute sterben, um Leute zu retten. Ihr scheiß Ärzte seid alle gleich. Hauptsache, ihr bekommt die Kohle. Ob eure Patienten verrecken oder nicht, das ist euch scheißegal. Hauptsache-“ Karyu hielt ganz plötzlich inne und blickte starr an die weiße Decke des Zimmers. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Tsukasa sich rührte. Eigenartigerweise schien er sich über seine Beleidigungen nicht weiter aufzuregen. Karyus Hände ballten sich zu Fäusten und er schloss die Augen. „Wenn Sie so denken, Herr Matsumura, dann tun Sie mir leid.“ „Ach, tu ich das?“, fragte er leise. „Ich bin mir sicher, dass viele Menschen hätten überleben können, wenn Ärzte eine andere Moral hegten.“ Tsukasa faltete die Hände im Schoß, und ohne dass er es wirklich merkte, begann er damit an ihnen herumzukneten. „Ihnen muss etwas schreckliches passiert sein“, stellte er fest. „Da fragen Sie noch? Sie selbst haben mir die Nachricht überbracht.“ „Ich rede nicht von ihren Freunden.“ „Ich-“ „Ich bin mir sicher, dass Sie schon viel länger eine Ablehnung gegenüber uns scheiß Ärzten hegen. Das geht weiter zurück.“ Karyu öffnete seine Augen und sah Tsukasa mit einer Mischung aus Verwunderung und Zurückgezogenheit an. Eine ganze Weile geschah nichts, und selbst als Karyu das Wort erheben wollte, funktionierte es nicht. Er hörte, wie eine Windbö ein wenig an den Fenstern rüttelte. Sie knackten leise. „Ich habe gesagt, Sie sollen das nicht tun“, presste er zwischen den Lippen hervor. Er fragte sich, wieso es ihn so viel Kraft kostete, zu reden. „Warum wollen Sie sterben?“ „Lassen Sie mich in Ruhe!“ Auf den kleinen Ausbruch hob Tsukasa bloß seine Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut“, meinte er. „Ich lasse Sie in Ruhe. Und wenn Sie zu eben dieser gekommen sind, haben Sie vielleicht was zu sagen.“ Mit diesen Worten erhob Tsukasa sich und ging – wider Karyus Willen – anstatt zur Tür, zu einem der Fenster, stützte sich auf dessen Bank ab und blickte hinaus. Karyus Hände krampften sich erneut zusammen. Eine immense Ladung Wut kroch in ihm hinauf, doch er konnte sie gerade noch zügeln, bevor er aufgesprungen wäre und diesem Arzt den Hals umgedreht hätte. Er schloss die Augen, atmete tief durch, und öffnete sie wieder. Langsam wandte er den Kopf zur Seite, und blickte starr auf Tsukasas Rücken, der sich schwarz von der hereinscheinenden Sonne abhob. Sicher war, dass er nicht gehen würde, bevor Karyu sprach. Das ließ erneute Wut in ihm aufkommen. Seine Augen verschmälerten sich, ganz so, als überfiele ihn Müdigkeit. „Ich... ich habe noch nie in meinem Leben so kläglich versagt“, sagte er, und er sprach so leise, als beschäme ihn diese Tatsache zutiefst. „Dreiundzwanzig Tote. Und alle sind sie wegen meiner Unfähigkeit gestorben.“ Er setzte erneut an, doch er schloss den Mund wieder und dachte nach. Seine Augen wandten sich wieder gen Decke. Er hörte, wie Tsukasa sich vom Fenster abwandte und langsam – ihm kam es vor, als sei er vorsichtig – wieder zu seinem Bett schritt. „Ich habe dem falschen Mann die Verantwortung gegeben. Er-... ich hätte wissen müssen, dass er der Falsche ist. Er ist für solche Aufgaben nicht qualifiziert.“ Karyu hörte, wie Tsukasa sich wieder neben ihm niederließ. „Ich habe ihn gut genug gekannt, um zu wissen, dass es Probleme geben könnte. Diese ganzen Nachforschungen, die er- ich hätte sie selbst anstellen sollen!“ Er runzelte für einen Moment die Stirn, dann blickte er Tsukasa wieder direkt an. „Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Man steht mitten im Kreuzfeuer und sieht seine Kameraden sterben. Man kann nichts dagegen tun, und das Einzige, was einem im Kopf herumspuckt ist: Du bist schuld. Ich glaube, das können Sie nicht. Selbst mir kommt es so vor, als wäre es nie geschehen.“ „Wissen Sie, mir wurde etwas anderes erzählt.“ „Wie meinen Sie das?“, fragte Karyu verwirrt und regte sich in seinem Bett. Seine Hände hatten sich wieder ein wenig entspannt. „Ihr Vorgesetzter war hier, Sie erinnern sich?“ „Ja“, meinte Karyu und überlegte. „Besonders gesprächig mir gegenüber war er nicht.“ „Ich habe ihn gebeten, sich zurückzuhalten. Ihr Zustand war an diesem Tag nicht besonders lobenswert.“ Tsukasa machte eine Pause und lehnte sich ein wenig zurück, sofern das auf einem Hocker funktionierte. „Ich habe mich anschließend mit ihm unterhalten. Er teilte mir zwei wichtige Dinge mit, von denen ich denke, dass es sehr angebracht wäre, Sie über eben diese zu informieren.“ Karyu drehte seinen Kopf auf die Seite, um Tsukasa besser im Blick zu haben. Im Hintergrund sah er, wie sich das kleine Mädchen drehte und ihnen nun den Rücken zuwandte. „Der Name dieses Mannes, dem Sie aufgrund seiner Unerfahrenheit – oder was es auch immer sei – Misstrauen entgegenbringen, ist Hetatsu Shimasa, nehme ich an. Nun...“ Tsukasa hielt für einen Moment inne und bemerkte, wie Karyu ihn mit seinen Blicken durchbohrte. „Ihr Vorgesetzter sagte mir, dass Herr Shimasa ihre Anweisungen nicht richtig durchgeführt hat. Er hat laut ihm einen entscheidenden Punkt missachtet. Welcher das ist, weiß ich nicht.“ „Das ändert nichts.“ „Nein, das tut es nicht. Aber dieser Mann ist nur halb so unfähig, wie Sie denken. Man konnte ihm nachweisen, dass er Teile Ihrer Befehle bewusst missachtet hat, in der Annahme, sie seien überflüssig.“ „Trotzdem hätte ich ihn nicht beauftragen sollen.“ „Ihre Wahl war eine gute Wahl. Zwar meinen Sie, ihn gut genug zu kennen, doch Sie konnten nicht wissen, dass er egozentrisch ist. Das heißt, Sie trifft keine Schuld. Und zwar in keiner Hinsicht. Herr Shimasa wurde vom Dienst suspendiert und hat damit zu rechnen, vor Gericht gezogen zu werden.“ Karyu schwieg. Und obwohl er das tat, verfolgte Tsukasa mit einem Lächeln, wie er sich entspannte. Jedoch nicht völlig. „Die andere Sache ist die“, fuhr Tsukasa fort und verschränkte die Arme vor der Brust. „Einer ihrer Freunde, einer von denen, die sie kürzlich verloren haben, hat ihnen das Leben gerettet. Es war Makoto Ryuusen. Augenzeugen berichten, dass er sich direkt in die Front einer Waffe begab, als diese auf Sie gerichtet wurde. Statt Sie traf ihn die Kugel.“ Dass Tsukasa so unverfroren darüber redete, wie einer von Karyus Freunden zugrunde gegangen war, rief eine gewaltige Woge von Abneigung in ihm hervor, die jedoch zu seiner Verwunderung bald wieder schwand. „Sehen Sie, er hat sein Leben für Sie aufs Spiel gesetzt, und letztendlich auch damit bezahlt. Strafen Sie ihn nicht damit, dass auch Sie ihres nicht mehr wollen. Wäre es dann nicht umsonst gewesen?“ Wieder kehrte Schweigen ein. Tsukasa lauschte Karyus Atem, der regelmäßig und tief ging. „Herr Matsumura, Sie können sich von jeder Schuld freisprechen. Keines der Opfer ist durch sie gestorben, und man hat sich für das Erhalten ihres Lebens eingesetzt. Es gibt keinen Grund für Sie, sterben zu wollen. Sie-“ „Warum tun Sie das?“ Karyus Stirn hatte sich gerunzelt, und es sah aus, als wäre er in tiefe Gedanken verfallen, während er leise diese Frage stellte. Er beobachtete Tsukasa aufmerksam, was diesem ein Lächeln abrang. „Ich ertrage es nicht, wenn Menschen leiden, Herr Matsumura. Aus diesem Grund bin ich Arzt geworden.“ Er konnte genau sehen, wie Karyu zum Wort ansetzte, jedoch keines über seine Lippen kam. Stattdessen musterte er Tsukasa mit einem undefinierbaren Blick, der ihm beinahe unangenehm offen war. Doch er ließ es sich nicht anmerken und hielt sein Lächeln aufrecht. „Es gibt noch etwas, was Sie vielleicht wissen sollten, bevor Sie endgültig sprachlos sind. Ich bin lediglich mit der Absicht zu Ihnen gekommen, Sie über das gesamte Ausmaß Ihrer Verletzungen aufzuklären. Und ich hatte nie vor, Sie auf persönliche Dinge anzusprechen. Sie haben sich selbst einen Streich gespielt.“ Für einen Augenblick starrte Karyu ihn verständnislos an, doch dann verstand er, stöhnte einmal auf und fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. „Einen Streich, den Sie gemeinerweise genutzt haben!“ „Das habe ich wohl“, meinte Tsukasa und kam nicht umhin einmal aufzulachen. „Aber es geht Ihnen besser.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Ich sehe es, Herr Matsumura. Ich bin darauf geschult, die Zustände eines Menschen zu beobachten.“ „Sie sind ein Pseudo-Psychater.“ „Weder das, noch ein richtiger. Das hat nichts mit der Psyche zu tun, ihre Körperhaltung sagt alles. Denken Sie über das nach, was Sie gehört haben. Und zwar gut.“ Tsukasa rollte mit dem Hocker ein wenig zurück, griff nach Karyus Akten und erhob sich. Doch noch während er sich vom Bett fortdrehte, wurde er am Handgelenk gepackt und zurückgehalten. Überrascht wandte er sich wieder Karyu zu. Der hatte sich aufgerichtet und bedachte ihn mit so einem entschlossenen Blick, dass Tsukasa sich fast fragte, ob er tatsächlich einmal vorgehabt hatte, zu sterben. Oder ob er es vielleicht noch immer tat. „Was ist denn nun mit dem gesamten Ausmaß meiner Verletzungen?“ „Oh, ich habe mir gedacht, dass wir uns für heute genug unterhalten haben.“ „Aber ich nicht.“ „Nur weil Sie wieder reden können ohne zu nuscheln, heißt das nicht, dass Sie sich überanstrengen sollten.“ „Ach!“, stieß Karyu hervor, verfestigte kurz seinen Griff und ließ Tsukasa letztendlich los. Zu dessen Überraschung lächelte er. „Ich hatte Recht, Sie sind doof.“ Die Tür schwang geräuschlos auf, nachdem Tsukasa sachte die Klinke hinuntergedrückt hatte. In aller Ruhe trat er in sein Heim, schloss hinter sich und ließ seine Sachen an Ort und Stelle zu Boden gleiten. Die Tasche plumpste in eine Ecke neben einem kleinen Regal im Flur, der Mantel zierte nun den Lamynaht und die Schuhe versteckten sich gekonnt unter ihm. Mit einem Seufzen entfernte Tsukasa sich aus dem Wohnungsflur und wie von allein steuerten seine Füße ihn in Richtung Küche. Kaum hatte er den Kühlschrank einer Flasche Wasser entledigt, fühlte er wie seine kleine, pelzige Mitbewohnerin um seine Beine strich und ein beinahe klägliches Miauen von sich gab. Mit rollenden Augen, jedoch mit einem Lächeln stellte Tsukasa die Flasche auf den Tisch und beugte sich zu seinem kleinen Tiger hinab. Kaum eine Sekunde später drückte er Ankouru an sich. Zwar schnurrte sie einmal kurz auf, doch dann drückte sie ihm ihre kleinen, pelzigen Tatzen in den Hals, damit er sie wieder hinunter ließ. Mit einem erneuten Augenrollen tat Tsukasa wie ihm geheißen. „Ist ja gut. Ich weiß, dass du Hunger hast.“ Sich am Kopf kratzend kramte er in einem Schrank nach dem Futter und passte gleichzeitig auf, dass er nicht auf seine Katze trat, was sich bei dieser alltäglichen Tortur allerdings als schwerer als gedacht entpuppte. Nur einige Minuten später machte Tsukasa sich – mit Wasser und einer Portion Yakisoba bis über beide Ohren bewaffnet – auf den Weg in seinen ‚Kunstraum’. Eigentlich nichts besonderes, darin ließen sich einzig Malutensilien finden, inklusive einer neuen Leinwand, die er erst vor kurzem gekauft hatte. Er fragte sich, wann. Und dann wunderte er sich darüber, überhaupt Zeit zum Kauf gefunden zu haben. Er stellte seine geliebten Nährstoffe auf einem kleinen, japanischen Tisch ab und setzte sich anschließend vor die Staffelei. Es verging eine Weile, in der er sich nicht rührte, sondern nur auf das Leinen vor sich starrte, bis es ihm schien, als bewegen sich die einzelnen Fasern. Er wusste, dass er malen wollte. Aber er wusste nicht, was. Und zusätzlich gelang es ihm heute nicht, seine Freizeit vom Beruf zu trennen. Als ihm das bewusst wurde, fasste er sich an den Kopf und lachte einmal auf. Während er nach dem Pinsel griff, schmiegte sich Ankouru an sein Knie. Vier Stunden waren vergangen, in denen Tsukasa schweigend seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Währenddessen hatte er seine Mahlzeit eingenommen, und er fühlte, dass seine Beine schwer wie Blei waren – sie waren ihm eingeschlafen. Ankouru hatte sich in seinem Schoß eingerollt, und da er sie nicht beim Schlafen stören wollte, verwarf Tsukasa den Gedanken sich zu erheben und seine Extremitäten zu entlasten. Die Farbpalette neben ihm auf dem Boden war frisch besudelt, fünf verschiedene Pinsel hatten sie sich zum Heim gemacht. An Tsukasa Fingern klebte Farbe, und da er es merkte, wischte er sich bloß mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn. Ein Blick auf sein Kunstwerk genügte, und er seufzte resignierend auf. Ein weiteres Mal fuhr seine Hand über seine Stirn, dann ließ er die Schultern hängen und betrachtete das Bild genauer. Eigentlich konnte er es kaum glauben, dass dieser Mensch ihn bis in seine Wohnung verfolgte. Karyus Stirn hatte sich unter aller Anstrengung gerunzelt, sodass sie ein wenig wulstig wirkte. Die halb aufgeschlagenen Augen waren noch von der Narkose benebelt und zeigten, wie schwach er noch war. Auf Mund und Nase ruhte noch immer die durchsichtige Atemmaske, und seine Lippen waren leicht geöffnet, da er kurz zuvor gesprochen hatte. „’Wo bn ish eienlich...?’“ Tsukasa musste grinsen und senkte seinen Kopf. Er fühlte, wie Ankouru sich in seinem Schoß streckte und kraulte ihr den Rücken. „Ah, Herr Oota!“ Tsukasa wandte sich von der Rezeption ab und blickte suchend um sich. Fushimasu kam auf ihn zugetrabt und winkte ihm vom Weiten. Tsukasa nickte grüßend, klaubte seine Unterlagen von dem kleinen Tresen und ging ihm entgegen. „Was gibt es, Fushimasu?“, fragte er gut gelaunt. Er beobachtete wie sich der gehetzte Blick seines Kollegen legte, noch während er bei Tsukasa angelangte. Stattdessen warfen ihm seine Augen nun pure Verwirrung entgegen. Tsukasa hob eine Augenbraue und verlagerte sein Gewicht. „Es geht um Herr Matsumura. Er verlangt, Sie zu sehen.“ „Mal wieder? Wie geht es ihm?“ Fushimasu zögerte, dann zuckte er mit den Schultern, während er sich mit Tsukasa auf den Weg zu Karyu machte. „Eigentlich ziemlich gut. Er war sehr...lebhaft.“ „Lebhaft.“ Über Tsukasas Gesicht kam ein Grinsen, doch er ersparte sich jegliche Erklärungen. „Darf ich fragen Doktor, wann waren Sie zuletzt bei ihm?“ „Oh, das muss ungefähr anderthalb Wochen her sein.“ Fushimasu nickte. „So hat er sich auch verhalten.“ „Bitte?“ „Er schien ziemlich verärgert darüber zu sein, dass Sie sich bezüglich seiner Diagnose nicht noch einmal bei ihm gezeigt haben.“ „Ach, ist das so?“ Tsukasas Augenbrauen schossen in die Höhe, die beiden Ärzte bogen in einen breiten Gang ab. An dessen Ende blieben sie vor der vorletzten Tür stehen, und Tsukasa drückte sie sachte auf. „Herr Matsumura, hier- Nani?“ Tsukasa hielt inne und starrte genau wie Fushimasu auf das leere Bett, in dem eigentlich ein großer, schlaksiger Japaner liegen müsste. Ihre Münder öffneten sich langsam, dann nahmen sie aus den Augenwinkeln war, wie die kleine Kaimah Tale im Schneidersitz auf ihrem Bett hockte. Ihre dunklen Augen waren groß und blickten hilfesuchend zu Tsukasa auf. „Ich wollte ihn ja aufhalten“, sagte sie leise, und ihr Französisch mochte so gar nicht zu den Kanjis passen, die sich auf einem Bild direkt hinter ihr finden ließen. „Aber er hat mich wohl nicht verstanden.“ Während Fushimasu die Kleine nur fragend anblickte, nickte Tsukasa langsam und fasste sich an den Kopf. „War er, ehm... sehr lebhaft?“ „Mir kam er eher ein bisschen verrückt vor.“ „Danke.“ Tsukasa atmete tief ein, nickte Kaimah zu und legte langsam einen Arm um Fushimasus Schulter. Langsam drehten sie um, verließen den Raum, und Tsukasa zog die Tür wieder zu. Auf dem Gang blickten sie sich gegenseitig ungläubig an, und im nächsten Moment rannten sie wie von Teufeln gehetzt los. „Fushimasu! Gehen Sie, da, da und da lang! Und informieren Sie jeden Kollegen, dem Sie über den Weg laufen! Ich nehme mir das Erdgeschoss vor!“ Mit einem Nicken verschwand der Arzt in einem Seitengang, er schlitterte ein wenig und rannte seines Weges. Tsukasa stolperte auf eine breite Treppe zu, klammerte sich an das Geländer und nahm drei Stufen auf einmal. Unten angekommen stürzte er sich zu allererst auf die Rezeption und gab dort Karyus Ausriss bekannt. Die Schwestern und Sekretärinnen sahen verwundert einander an, dann verfielen sie mit einem Mal in tiefe Geschäftigkeit. Manche von ihren schwärmten aus, um wie Tsukasa und Fushimasu das Krankenhaus abzusuchen, andere machten die Besucher darauf aufmerksam. Tsukasa drehte sich weg und blickte sich im riesigen Foyer um. Ohne es wirklich zu registrieren, ließ er seinen Akten fallen und raufte sich die Haare. Sich um sich selbst drehend entfernte er sich von der Rezeption und durchforstete die hohe Halle mit seinen Augen. Bänke, Pflanzen, Passanten. Sogar eine Kaffeekanne fand er. Aber er bezweifelte, dass Karyu sich in sie hineingezwängt hatte. „Kann ich Ihnen helfen, Doktor?“ „Was? Oh-“ Er nickte der stabil gebauten Schwester neben sich zu und zwang sich zu einem Lächeln. „Nun, wir haben eh- einen Ausreißer. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir bei der Suche helfen könnten.“ Die Schwester nickte ihm zu, und zusammen durchquerten sie das Foyer, nach links und rechts blickend, aber ohne Fund. Nach zehn Minuten intensiven Suchens überfiel Tsukasa eine leichte Panik. Wenn Karyu es tatsächlich geschafft hatte, einfach so aus dem Krankenhaus auszubüchsen, dann konnte das vermutlich das letzte sein, was er getan hatte. Immerhin war er noch nicht so weit. Er seufzte und wandte sich der Schwester zu. „Fragen Sie ruhig einige Besucher. Vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen. Aber bleiben Sie bitte unauffällig!“ Die Frau hob die Augenbrauen und stieß einen dunklen Lacher aus. Sie hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt und fixierte einen großen Topf mit einem Citrusbaum. „So unauffällig wie der?“ Tsukasa folgte verwirrt ihrem Blick und blinzelte. Dann sah er, wie etwas weißes hinter dem Topf hervorrannte und auf die große Glasdrehtür am Eingang zuhielt. Ihm kippte der Unterkiefer gen Boden. „Da-das... DAS IST ER! HEY!“ Von null auf hundert schoss Tsukasa Karyu hinterher, der sah kurz über seine Schulter und schien dann noch schneller zu werden. Besucher und Patienten zeigten auf Karyu der, bloß mit seinem weißen Hemd bekleidet, wie ein Irrer auf die Tür zu schoss. Tsukasa verblüffte es, wie er rennen konnte, doch er schüttelte diese Gedanken ab und winkte, bis ihm die Arme lahm wurden. „HERR MATSUMURA! BLEIBEN SIE STEHEN!“ „TRÄUMEN SIE WEITER!“ Karyu wandte sich noch einmal zu Tsukasa um, und er lachte auf. Er hatte die Drehtür beinahe erreicht, und die Menschen, die sich dort befanden, gingen bereits mit aufgerissenen Augen in Deckung. Tsukasa nahm an, dass sie wohl keine Angst vor ihm hatten, sondern vielmehr von Karyus karg ausgefallenen Verhüllung berührt wurden. Er rollte mit den Augen und wurde schneller. Gleichzeitig wunderte er sich, wie groß das Foyer tatsächlich war, wenn es einmal darauf ankam. Hinter sich konnte er die Schwester schnaufen hören, die ihm gefolgt war. „HALTEN SIE SOFORT AN, YOSHITAKA!“ Tsukasa streckte seinen Arm aus, auch wenn das ziemlich irrsinnig war. Es befanden sich noch immer gute zehn Meter zwischen ihm und Karyu. Der drehte sich ein drittes Mal um und sein Gesicht glänzte. Schweiß war ihm vor Anstrengung auf die Stirn getreten, doch er grinste siegessicher. „Sie kriegen mich nicht, Oota!“ Tsukasas Augen wanderten zu der Drehtüre. Eine der Glasscheiben schob sich langsam in Richtung Karyu. In stummer Erwartung drosselte er sein Tempo und hob die Augenbrauen. Karyu wandte seinem Fluchtweg wieder seine volle Aufmerksamkeit zu. Dann krachte es. Die Glasscheibe bog sich leicht nach innen, dann schleuderte sie Karyu zurück. Er presste sich beide Hände ins Gesicht, während er nach hinten umkippte und reglos liegen blieb. Völlig perplex blieb Tsukasa stehen, und auch die Schwester kam keuchend zum Stillstand. Sie beobachteten wie sich eine kleine Menschentraube um Karyu bildete, dann setzte Tsukasa sich seufzend wieder in Bewegung und drängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. „Gehen Sie bitte beiseite? Hier gibt es nichts zu sehen.“ Die typischen zwei Sätze eines jeden Arztes bei Notfällen. Kopfschüttelnd ließ er sich neben Karyu nieder und zog ihm die Hände aus dem Gesicht. Er sog die Luft scharf ein, und auch durch die Menge um ihn herum, die sich nicht so recht verflüchtigen wollte, ging ein bemitleidendes Raunen. Karyus Nase schien sich vor den Augen aller auf ihr zweifaches zu vergrößern. Auf seiner Stirne prangte bereits eine breite Beule. Seufzend winkte er die Schwester heran. Karyu blinzelte, ließ aber die Augen geschlossen. „Würden Sie ihn zurück zu seinem Zimmer bringen? Ich kümmere mich später um ihn.“ Die Schwester nickte, hockte sich hin, und wollte ihre Arme ausstrecken, in dem Moment schien sich Karyu doch dazu entschieden zu haben, seine Augen zu öffnen, und die beiden blickten einander an. „Wah!“, machte Karyu, und schien langsam zur Besinnung zu kommen. Er versuchte sich auf seine Ellenbogen zu stützen und wegzurutschen, doch Tsukasa packte seine Arme und hielt ihn davon ab. „Nichts da“, meinte er säuerlich. „Gestatten? Das ist Betty. Sie wird Sie dahin bringen, wo Sie hingehören.“ Karyus malträtiertes Gesicht verzog sich, und Tsukasa kam nicht umhin, Mitleid mit ihm zu haben. Er beugte sich zu seinem Ohr hinab. „Wären Sie kein naiver Idiot, dann müsste ich Ihnen das gar nicht antun!“ Mit vielsagend gehobenen Augenbrauen, richtete er sich wieder auf und sah zu, wie Betty Karyu hochhievte und sich über die Schulter legte. Er boxte ihr schwächlich auf den Rücken und strampelte mit seinen langen Beinen, aber er konnte sich nicht von ihr losmachen. Tsukasa versuchte soviel Mitgefühl und Das-geschieht-Ihnen-Recht in einem Blick zu kombinieren wie es ging, und sah den beiden hinterher. „Ist Ihnen übel?“ „Nein.“ „Haben Sie Kopfschmerzen? Ich meine, ehm- außer hier.“ Tsukasa deutete auf die Beule auf Karyus Stirn und zog seine Hand wieder zurück. Karyu schüttelte den Kopf und blickte grimmig zu ihm auf. „Nein.“ „Gut. Ihr kleiner Unfall ist jetzt um die zwei Stunden her, ich bezweifle, dass Sie noch eine Gehirnerschütterung erleiden werden.“ Karyu schnaubte, was durch das dicke Pflaster, dass auf seiner Nase klebte, jedoch nicht richtig ging. Er löste seine Arme aus der Verschränkung und betastete es. „Warum muss das alberne Ding sein?“ „Damit die Salbe nicht abgetragen wird. Sie können froh sein, dass Ihre Nase bloß geprellt ist.“ Karyu versuchte wieder zu schnauben, was sich aber nur wie ein verunglücktes Niesen anhörte. Tsukasa seufzte, setzte sich auf die Bettkante und ließ Karyus Akte auf seinen Schoß sinken. Es kam ihm vor, als behandelte er einen kleinen Jungen. „Sie mussten nur noch eine Woche hier bleiben. Wieso wollten Sie schon verschwinden?“ Karyu zuckte mit den Schultern. „Das Essen“, sagte er. „Natürlich.“ Tsukasa lachte leise, und schlug sich mit der Akte leicht auf den Oberschenkel. „Sie wissen doch, dass ich solche Orte verabscheue.“ „Ja, aber mich interessiert eher das Warum.“ „Passen Sie lieber auf, bevor Sie es schon wieder tun.“ Karyu blickte an die Decke und ließ sich auf sein Kissen fallen. Dann wanderten seine Augen durch den Raum, blieben kurz bei Tsukasa und setzten ihre Reise zu seinem Nachbarbett fort, in dem Kaimah lag. Sie schlief. „Ist die Kleine Franzosin?“, fragte er. „Sie kommt aus Namibia.“ Karyu runzelte die Stirn und seine Schultern kreisten ein wenig, um es sich gemütlicher zu machen. „Und was macht sie dann hier in Tokyo?“ „Erst dachte man, sie sei an Malaria erkrankt, und man behandelte sie in ihrer Heimat. Als sie aber herausstellte, dass es etwas völlig Unbekanntes war, hat man sie nach Japan gebracht, da unsere Medizin deutlich fortgeschrittener ist. Ich kümmere mich hier um sie.“ Karyu nickte und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Seine Augen wanderten zurück zu Tsukasa, und sie musterten sich eine Weile. Tsukasa begann zu Grinsen. „Das war eine ziemlich peinliche Nummer.“ „Ach, seien Sie doch still!“ Karyus Mundwinkel zogen sich nach unten, und er wandte den Blick ab. „Kann jedem mal passieren.“ „Natürlich. Mir passiert das jeden Tag, wenn ich meine Wohnung verlasse.“ Karyu lachte trocken auf und rollte mit den Augen. „Keine Angst, ich werde brav bleiben, bis ich gehen darf.“ Diese Worte hallten lange in Tsukasas Kopf nach, und erst nach einer ganzen Weile traute er sich zu glauben, richtig gehört zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)