Oh Shit. von m0nstellar ================================================================================ Kapitel 1: Bananeneissamba -------------------------- Stellar dachte immer wieder gern an diesen Tag zurück. Obwohl es mit einer der schlimmsten Tage ihres Lebens gewesen war, hatte sie ihn in bester Erinnerung behalten. Genau genommen war sie über dieses Erlebnis sogar dankbar, denn ohne diesen Vorfall hätte sie nie den Mut gefunden, sich noch einmal eine neue Anstellung zu suchen. Viel eher hätte sie sich weiterhin dem Neid und der Missgunst ihrer Kolleginnen in diesem Salon ausgesetzt, sich stets einredend, dass sich die Situation bald besserte, bis sie gänzlich daran kaputt gegangen wäre. Und nicht nur das. Das für sie wohl Bedeutendste war ja, dass sie ohne diesen Vorfall Chris vermutlich niemals begegnet wäre.  An jenem Tag war er ihr Schutzwall gewesen, ihr Arzt und ihr bester Freund, obwohl er ein völlig Fremder war. Heute, ein halbes Jahr später, gehörte er tatsächlich zu den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, zu ihren engsten Vertrauten. Sich nun vorzustellen, nicht mit ihm befreundet, ihm gar nie begegnet zu sein – sie wollte es nicht einmal versuchen. Was immer sie und Chris zusammengeführt hatte, ob Zufall oder Schicksal – Sie war einfach nur unendlich dankbar dafür; auch wenn sich aus ihrer Begegnung nicht das entwickelt hatte, was sie sich insgeheim erhofft hatte …   Wind kam auf und brachte die Baumkronen über ihr in Bewegung. Die Sonnenstrahlen, die sich nun durch das Geäst der Bäume zwängten, tanzten am Boden im Einklang mit jedem Luftzug. Stellar genoss die flackernden Lichter im Gesicht und das Blätterrascheln über ihrem Kopf. Nicht einmal das dumpfe Geschwätz der anderen Leute um sie herum hätte ihr die Ruhe und Zufriedenheit nehmen können. Im Gegenteil: Es half ihr sogar dabei, ihre Gedanken an Früher mit der warmen Brise davonziehen zu lassen, über den nahegelegenen See hinweg, wo die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzerte. Eigentlich fehlte nur noch eines, um den Moment gänzlich vollkommen zu machen: Schokoladenkekse. Sie drehte sich um, um nach ihrer Umhängetasche zu greifen – und erblickte Chris. Mit verschränkten Händen am Hinterkopf lag er da, direkt hinter ihr und mit offenem Mund, aus dem ein leises Röcheln entwich. Typisch Chris. Ihr war schleierhaft, wie er es jedes Mal wieder fertigbrachte, so schnell einzuschlafen. Schmunzelnd beobachtete sie ihn eine Weile.  Wie es wohl wäre, bei ihm zu liegen? Dort, in seinen Armen, den Kopf auf seiner Brust ruhend und seiner Atmung lauschend; seinem Herzschlag …  Sein Röcheln wandelte sich in ein Schnarchen um und Stellars Schmunzeln wurde automatisch breiter. Eigentlich wollte sie ihn nicht wecken, aber da er es ja so wollte … Mit schadenfrohem Kichern pikste sie ihm immer wieder mit dem Zeigefinger in die Rippengegend.  Sofort zuckte Chris zusammen und schlug ihre Hand von sich. »Hey!« Stellar lachte. »Sorry, aber du hast gesagt, ich soll dich wecken, wenn du unterwegs einpennst. Schlafen kannst du heute Abend noch.« »Ich hab nicht geschlafen«, entgegnete er beleidigt, setzte sich in den Schneidersitz auf und rieb sich die Augen. »Ja, ja. Schon klar.« Ihr Grinsen wurde breiter. Nun holte sie aus ihrer Tasche die Packung Schokoladenkekse, die sie mitgenommen hatte. »Sag mal, können wir das hier nicht öfter machen?« »Was genau meinst du?«  »Na das hier: Hier, im Park in der Sonne liegen, entspannen …«, erklärte sie und fummelte an der Verpackungsfolie herum. »Ich dachte, du willst lieber kochen und DVDs gucken.« Stellar schürzte die Lippen. »“Lieber“ ist übertrieben. Natürlich mag ich kochen und DVDs gucken, aber das machen wir halt immer und das hier ist doch auch schön.« Nun lächelte Chris ihr entgegen. »Okay, wenn du das sagst … Dann machen wir das in Zukunft eben öfter.« Stellar erwiderte sein Lächeln und nachdem endlich das verschweißte Plastik nachgegeben hatte, fischte sie sich einen Keks aus der Packung. Chris bediente sich ebenfalls daran. »Dann nehmen wir aber das nächste Mal unsere Badesachen mit«, sagte er mit vollem Mund. Auch Stellar wollte gerade von ihrem Keks abbeißen, hielt nun jedoch inne. »Du willst im See baden?« »Klar, wieso nicht?« Stellar senkte den Blick und strich sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht … Ich fand den See bisher immer viel zu kalt dafür.« »Na ja, kalt muss er aber doch sein. Anders wäre es ja keine Abkühlung, oder?«, meinte Chris und zwinkerte ihr zu. Stellar schob sich den Keks in den Mund, um nichts darauf erwidern zu müssen. Er mochte damit ja Recht haben, aber − Ein Piepen ertönte zwischen ihnen; Chris’ SMS-Ton. Sofort zuckte ihr Magen zusammen. Chris wandte sich um, holte sein Handy aus seinem Rucksack und entriegelte die Tastensperre. Hoffentlich war das nicht wieder dieser – »Ah. Dylan hat mir geschrieben.« Verdammt! »Er lädt uns zum Eis essen ein«, erklärte er weiter und hielt ihr das Display unter die Nase, auf dem folgende Nachricht aufleuchtete:      Hey. Na, wie sieht’s aus?  In einer halben Stunde vorm Ice-Dealer? Ich geb ne Runde aus.  Unsere Eisprinzessin ist selbstverständlich auch eingeladen. ;) Dylan     Schweigend wandte sie den Blick ab. Blöder Fatzke. Dieser Typ führte doch nur wieder was im Schilde. Und überhaupt: Woher wusste er schon wieder, dass sie mit Chris unterwegs war?  »Und? Was denkst du?« In seinen Augen war die Hoffnung auf ihre Zusage abzulesen.  »Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust drauf.« »Okay … Und … wieso nicht?« Das fragte er noch? Sie könnte ihm sämtliche Gründe in all ihren Einzelheiten aufzählen, ohne auch nur einmal ins Stocken zu geraten. Doch bringen würde ihr das nichts. Die Tatsache, dass er ihre Sichtweise nicht nachvollziehen konnte, machte es überflüssig ihm ehrlich darauf zu antworten. Deshalb verstaute sie lieber die angerissene Kekspackung in ihrer Tasche, schweigend. »Bitte, Stellar. Er ist mein bester Freund.« Richtig, und sie fragte sich nach wie vor warum. Chris war witzig, freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend, hatte Manieren und Anstand. Er war ein richtiger Gentleman; Dylan war das völlige Gegenteil von ihm. Ungehobelt, chauvinistisch, manipulativ … Wie so jemand sein bester Freund sein konnte, war ihr unbegreiflich. Und wenn er tatsächlich vorhatte ihm zuzusagen, brauchte er nicht glauben, dass sie ohne Weiteres einfach so mitging. So oft, wie ihr dieser Typ das Leben schwer gemacht, ihr immer wieder ihre Treffen mit Chris torpediert hatte … Mittlerweile war sie sowieso der festen Überzeugung, dass er das mit Absicht tat und sich inzwischen einen Spaß daraus machte. Gott, wie sie diesen Typen hasste … In Gedanken war er es, den sie gerade zwischen ihren Zähnen zermalmte. »Bitte, mir zuliebe. Ich meine, immerhin hat er dich auch mit eingeladen. Das ist seine Art, ein Friedensangebot zu machen.«  Stellar schnaubte verächtlich auf. Normalerweise schätzte sie Chris’ Optimismus, aber im Moment fand sie ihn naiv und völlig unangebracht. »Selbst, wenn es so wäre: Ich habe kein Interesse an einem Friedensangebot, das er eh nicht ernst meint.«  Chris senkte kurz den Blick, dann suchte er in ihren Augen sichtlich nach Verständnis. »Ich weiß, er hat sich bei dir nicht gerade Sympathiepunkte geholt, aber er ist genauso ein Freund von mir wie du. Und ehrlich gesagt … Ich will mich nicht immer zwischen euch entscheiden müssen. Ich will die Zeit mit euch beiden verbringen, wenn ich schon mal welche habe.« Ihr war die Zwickmühle bewusst, in der er sich befand. Er hatte es allein durch seinen Job schon schwerer als andere, sich Zeit für seine Freunde zu nehmen. Sich dann auch noch zwischen seinen Freunden entscheiden zu müssen, war eine unnötige, zusätzliche Belastung. Aber auch sie saß dadurch zwischen den Stühlen. Denn ihm zuliebe mitzukommen bedeutete ein großes Opfer für sie. Es bedeutete, Dylan und seine anstrengende, nervtötende Art ertragen zu müssen, sie geradezu über sich ergehen zu lassen, nur um Chris’ Wunsch erst möglich zu machen. Aber andererseits … Jede Zeit mit Chris ist wertvolle Zeit. Und wenn es ihn glücklich machte … »… bitte.«  »Ist ja gut, ich komme mit«, murrte sie und stopfte ihre Jacke, die neben ihr lag, in die Tasche.  Am Druck seiner plötzlichen Umarmung konnte sie deutlich die Dankbarkeit und Erleichterung spüren. Sie hatte fast das Gefühl, sich richtig entschieden zu haben; innerlich aber behielt die Skepsis die Oberhand. Und das nicht ohne Grund. Bisher war kein einziges Aufeinandertreffen mit Dylan gut verlaufen. Schon allein deshalb bezweifelte sie, dass es ausgerechnet heute anders sein würde. Und dieses ominöse Friedensangebot, sofern es überhaupt eines war, würde daran auch nichts ändern. Trotzdem versuchte sie es positiv zu sehen. Immerhin könnte man ihr nicht vorwerfen, dass sie es nicht versucht hätte und Chris machte sie damit ja auch eine Freude.    Die Warteschlange am Eingang vom Ice-Dealer war ewig lang und schon von Weitem zu sehen; und damit auch Dylan. Ihn unter vielen zu identifizieren war nicht sonderlich schwer: Als Riese mit blauen Haarsträhnen an den Schläfen und zerrissenen Jeans stach er in der Menge regelrecht heraus.  Je näher sie ihm kamen, desto größer wurden ihre Zweifel. Vielleicht hätte sie doch besser nach Hause gehen und die Jungs unter sich lassen sollen … Doch jetzt, wo sie direkt vor ihm standen, war es für derartige Überlegungen zu spät.  Chris begrüßte ihn mit ihrem gewohnten Handschlag, dann wandte sich Dylan mit einem schiefen, provokanten Grinsen Stellar zu.  »Na sieh mal einer an. Hätte nicht gedacht, dass du auch mitkommst.« Seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. Das wirklich Unangenehme aber war sein wohl absichtlich etwas zu fester Klaps auf die Schulter. »Und, alles klar?«  »Dylan, reiß dich zusammen.« »Was denn? Ich mach doch –« »Ist schon gut, Chris«, entgegnete sie und lächelte Chris dankbar an, ehe sie wieder – mit wesentlich ernsterer Miene – zu Dylan sah. »Lassen wir diesen ganzen Smalltalk-Quatsch doch einfach weg, hm? Du willst es nicht wissen, ich will es dir nicht sagen. Überspringen wir also das Ganze und holen uns einfach nur das Eis, ja?«   Zuerst sah Dylan sie einen Moment lang pikiert an, doch dann nahm er beschwichtigend die Hände nach oben und grinste sie erneut schief an. »Okay, wenn’s dich glücklich macht … Ich wollte nur nett sein.« Nett?! »Natürlich. Ganz bestimmt sogar.« Die Augen verdrehend verschränkte sie die Arme und wandte ihm den Rücken zu. Sie wollte sich nicht länger mit ihm unterhalten, was er Gott sei Dank verstand und überraschenderweise respektierte. Stattdessen unterhielt er sich mit Chris über Sport und seine belanglosen Erlebnisse der letzten Zeit. Stellar war froh darüber, dass sie es schaffte, ihm nicht zuzuhören. Nichts von dem, was er erzählte, hatte je ihr Interesse geweckt und diesmal würde es sicherlich genauso uninteressant für sie sein, davon war sie überzeugt. Weggehen konnte sie allerdings trotzdem nicht. Sie musste mit ihnen in der Schlange stehen bleiben und warten, bis sie an der Reihe waren. Nicht nur, dass Dylan ihr es sonst ewig nachsagen würde. Auch Chris wäre bestimmt enttäuscht, wenn sie jetzt ohne Grund einfach so verschwände.  Zu ihrer Erleichterung aber ging es schnell voran. Bereits nach fünfzehn Minuten waren sie die nächsten und Stellar entschied sich spontan – entgegen ihrer üblichen Wahl – für einen Jumboeisbecher mit Vanille, Zitrone, Joghurt, Stracciatella, Amarena und Banane. Ihr war klar, dass sie sechs Kugeln Eis niemals schaffte, aber genau genommen war sie weder dazu gezwungen bescheiden zu bleiben, noch das Eis aufzuessen, nur weil er sie einlud. Aber es verschaffte ihr eine kleine Genugtuung für den ruinierten Nachmittag mit Chris, mochte es auch noch so kindisch sein. Sie wartete, bis jeder von ihnen seinen Eisbecher hatte, dann machten sie es sich ein paar Meter weiter auf der Rückenlehne einer Parkbank bequem. »Ich hoffe, dir schmeckt dein Zwölf-Pfund-Eis«, murrte Dylan.  »Kann mich nicht beklagen«, antwortete sie, mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. Eine Zeit lang herrschte angenehme Stille zwischen ihnen, während sie ihr Eis aßen – bis Dylan sie unterbrach.  »Sag mal, rein aus Neugier: Wählst du im Restaurant auch ganz selbstverständlich das teuerste Gericht auf der Karte aus, wenn dich ein Typ zum Essen einlädt?« »Dylan!« »Was? Ist doch so!« »Schon okay, Chris«, entgegnete Stellar und löffelte von der Kugel Bananeneis. »Nur zu deiner Information: Nein, würde ich nicht. Dieser Typ, mit dem ich ausgehen würde, hätte nämlich Anstand und Manieren. Ganz im Gegensatz zu dir, du Arsch.« »Wow. Ganz schön große Töne, die du da spuckst, Prinzessin.« Sein schiefes, selbstgefälliges Grinsen provozierte sie nur noch mehr. »Stell dir vor, es gibt noch solche Menschen.« »Daran zweifle ich auch nicht. Nur daran, dass so jemand mit dir ausgehen will.« »Leute, bitte –«  »Was kümmert’s dich überhaupt? Ich kümmere mich ja auch nicht darum, mit welchen aufgeblasenen Ballonbusenweibern du rummachst?!« »Hey, hallo?« »Ballon-was?« Er sah eher amüsiert aus als entrüstet. »Jetzt pass mal auf —« »HEY!«  Chris’ lauter Ausruf überraschte sie beide und ließ sie zusammenzucken. Sofort stieg in Stellars Ohren die Hitze auf.  »Ist es für euch wirklich so schwer, sich mal einen Nachmittag lang zusammenzureißen?!«  Keiner von beiden antwortete ihm, doch das schien ihm Antwort genug zu sein. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. »Ein normaler Umgang zwischen zwei Erwachsenen, mehr wollte ich von euch nicht. Aber anscheinend ist selbst das zu viel verlangt.« Mit einem Satz sprang er von der Parkbank. »Ich gehe jetzt erst mal pinkeln und wenn ich wiederkomme, habt ihr zwei euch im Griff, verstanden?« Ein letztes Mal sah er jedem von ihnen mahnend in die Augen, dann drehte er sich um und verschwand in der Eisdiele. »Super. Ganz toll«, motzte Stellar, während ihr Blick nach links zu Dylan wanderte. »Wirklich, ganz großes Kino. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.« Entrüstet verzog er das Gesicht. »Hey, habe ich mich wie eine pubertierende Fünfzehnjährige aufgeführt oder du? Ich wollte euch beiden nur ein Eis spendieren. Wenn dir deswegen schon wieder ein Furz quer sitzt, kann ich nichts dafür.« »Oh, entschuldige bitte! Hab ich glatt vergessen. Selbstverständlich bist du ja nie an irgendwas Schuld.« Typisch Dylan. Immer schön die Schuld bei anderen suchen. Hoffentlich war Chris schnell wieder zurück. Sie wollte nicht länger als nötig mit diesem Vollidioten allein sein. Über die Schulter hinweg hielt sie nach ihm Ausschau.  »Ich glaub, du brauchst mal ’ne Abkühlung.« Sie hatte sich noch nicht ganz zu ihm umgedreht, als ihr mit einem leichten, aber schwungvollen Klaps auf ihre Rückhand die Kugel Bananeneis über den Becherrand hinausrutschte und direkt in ihrem Ausschnitt landete. Hell aufkreischend von der überraschenden Kälte, fuchtelte sie unkontrolliert mit den Armen herum, verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten von der Bank. Nun lag sie da im Grün – während in ihrem Ausschnitt das Bananeneis zerlief und zwischen ihren Brüsten Samba tanzte. Hastig rollte sie sich auf die Seite, beförderte so das Eis ins Gras und richtete sich dann auf.  »Sag mal, hast du sie noch alle?!«, schrie sie und wischte sich mit der Hand ihren Ausschnitt aus.  Dylan aber lachte; lauthals, dreckig und schadenfroh. »Oh Gott. Sorry, aber –« Sein Versuch einer Entschuldigung ging im Gelächter unter. »Oh, Mann. Ich wollte zwar, dass du dich abkühlst, aber so hatte ich das nicht geplant.« Immer noch dreckig kichernd stand er auf, kam um die Bank herum und auf sie zu, reichte ihr die Hand. »Sorry, ehrlich.« Stellar nahm nicht ein einziges Wort davon ernst. »Schieb dir dein „Sorry“ sonst wo hin.« Sie wandte ihm den Rücken zu, zog ihr Tank Top aus und wischte sich damit den letzten Rest aus dem Dekolleté.  »Ach, komm schon. Jetzt sei nicht eingeschnappt. Ich mein’s ernst, mir tut’s wirklich leid.« »Ist ja schön für dich, ich mein’s auch ernst?!« Vor sich breitete sie ihr besudeltes Oberteil aus und begutachtete die Flecken. Alles nur wegen diesem … Stronzo. »Oh, warte mal. Ich glaub, dein BH ist grad aufgegangen.« »Was?« »Kein Ding, ich mach das schon.« Plötzlich spürte sie etwas am Rücken. »Warte, nein! Der ist –«  SCHNAPP – zu spät: Die Verschlussenden ihres Büstenhalters schossen nach vorn, die Träger entspannten sich und der BH rutschte ihr von den Schultern. Panisch ließ sie das Tank Top fallen, presste ihre Arme fest an den Körper und fing mit den Körbchen ihre Brüste ein. Als sie beide eingefangen hatte, sah sie fassungslos zu Dylan – und zu Chris, der vollkommen unerwartet neben ihm stand.  »Was –?!« Chris irritierter Gesichtsausdruck wechselte zwischen Dylan und Stellar hin und her.  Scheiße. Sie war halbnackt. Mitten in der Öffentlichkeit. Und nicht nur Dylan, sondern auch Chris konnte sie sehen. Alle konnten sie sehen. Rasch griff sie nach ihrem Oberteil, unterdrückte bis zuletzt den Drang zu heulen und lief los. Sie wollte weg. Weg von Dylan, weg von Chris – und so weit wie nur irgend möglich. »Stellar, warte!«, rief Dylan ihr nach. »Bleib stehen!« Nicht in tausend Jahren wäre sie jetzt stehen geblieben. Schon gar nicht für ihn. Dumme Sprüche, verschüttetes Eis; Alles schön und gut. Aber das hier war kein Streich mehr. Das war viel schlimmer.   Es dauerte nicht lange, bis ihr Brustkorb das letzte Bisschen an Sauerstoff herausgepresst hatte und vor Anstrengung zu schmerzen begann. Mit Seitenstechen und ausgequetschten Lungenflügeln ließ sie sich keuchend auf die nächstbeste Parkbank fallen, kämpfte weiterhin gegen die Tränen an. Nebenbei versuchte sie verzweifelt die Träger des Büstenhalters auf ihre Schultern zu rücken, doch sie wollten einfach nicht halten. Immer und immer wieder schob sie sie hinauf; ohne Erfolg. Gott, sie fühlte sich so grauenvoll. Ihr mangelte es an Kondition, Luft bekam sie auch keine und zur Krönung des Tages saß sie halbnackt im Clayton National Park.  Noch nie war sie so gedemütigt worden. Von niemandem. Nicht einmal, als ihre Ex‑Kolleginnen sie wegen Mrs. Jenkins fertiggemacht hatten, hatte sie sich so gefühlt wie jetzt. Um sich zumindest nicht mehr nackt zu fühlen, legte sie sich ihr dreckiges Tank Top auf den Oberkörper. Wenn sie doch nur ihre Tasche mitgenommen hätte, dann könnte sie sich ihre Strickjacke anziehen. Dylan hatte inzwischen zu ihr aufgeschlossen und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder, keuchte genauso wie sie. »Scheiße. Du bist ganz schön schnell … Hör zu, das habe ich absolut nicht gewollt, okay? Das war wirklich keine Absicht, das tut mir ehrlich leid. Ich ­­­­–« »Schieb dir deine Entschuldigung in den Arsch«, schluchzte sie, wandte sich von ihm ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. Länger hatte sie sie nicht mehr aufhalten können. In ihren Augen brannte die zerlaufene Mascara, sodass ihr unfreiwillig noch mehr Tränen in die Augen traten und als schwarze Rinnsale über ihre Wangen liefen. »Stellar, bitte. So ein Arsch bin ich nicht.« »Hörst du mir nicht zu? Du sollst mich in Ruhe lassen! Was verstehst du daran nicht?« Warum? Warum verstand er nicht, dass es nur noch schlimmer machte? Plötzlich spürte sie wieder etwas am Rücken und ihr war sofort klar, dass er sich erneut dort zu schaffen machte. Blitzartig drehte sie sich um und schlug ihm Wut entbrannt die Hände weg, funkelte ihn düster an. »NON TOCCARMI! NON TOCCARMI HAI PIÙ, CAPITO?!« Augenblicklich zog er seine Hände zurück hielt sie nach oben. »Ehrlich … Ich will dir nur helfen.« »DU SOLLST MIR NICHT HELFEN SONDERN VERSCHWINDEN! VERPISS DICH ENDLICH!«  »… okay, ich weiß, du bist sauer, vielleicht auch zurecht. Aber ich will dir gerade wirklich nur helfen. Ich will dir nur den BH zumachen, mehr nicht.« Stellar schniefte nur, wischte sich fahrig mit dem Handrücken übers Gesicht.  »Es ist mir scheißegal, was du willst?!« »Bitte, Stellar. Gib mir eine Chance, es wieder gut zu machen. Okay, ich gebe zu, ich wollte dich ein bisschen ärgern, aber das habe ich ganz bestimmt nicht im Sinn gehabt.« Er war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Und irgendetwas sagte ihr, dass er es tatsächlich ernst meinte. Er war so ungewöhnlich ernst und ruhig … Unsicher, aber auch skeptisch starrte sie ihn weiterhin an.  Seine Augen machten sie wahnsinnig. Sein vernarbtes, linkes Auge war dunkelbraun, das rechte seltsam grün mit honigfarbener Scheckung. Woher sollte man da wissen, in welches man sehen sollte? Und in welchem der beiden Augen lag die Aufrichtigkeit und Reue, die er gerade vorgab? »Bitte.« Eigentlich wollte sie sich von ihm nicht helfen lassen. Viel lieber hätte sie stattdessen Gift geschluckt. Tatsache aber war, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte den Verschluss allein nicht wieder schließen, ohne sich dabei zu entblößen. Folglich war sie auf seine Hilfe angewiesen.  Zögerlich wandte sie ihm den Rücken zu und strich sich ihre langen, blonden Haare nach vorn.  »Einer der beiden Haken fehlt. Und den, der noch da ist, musst du ein bisschen in die Öse biegen.« Behutsam nahm Dylan beide Enden des BHs und schaffte es, nach einigem Gefummel sie ineinander zu verhaken. Als sie schließlich den festen Sitz des Büstenhalters spürte, nahm Stellar erleichtert die Arme von der Brust, setzte sich die Träger auf die Schultern und schlüpfte in ihr Tank Top. Dann stand sie auf und wollte gerade aufbrechen, als sie ihre Tasche neben Dylan entdeckte. Sofort riss sie sie an sich und wühlte ihre Strickjacke heraus, warf sie sich über und zog den Reißverschluss bis hoch zum Kragen. Ihr war es egal, dass es fünfundzwanzig Grad hatte. Sie war wieder angezogen, mehr zählte für sie gerade nicht. »Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Willst du das Ding nicht mal wegschmeißen und dir einen neuen BH kaufen? Sollten doch kein Vermögen kosten, oder?« Über ihr Unterwäschesortiment wollte sie jetzt bestimmt nicht reden, schon gar nicht mit ihm. »Wo ist Chris?«, fragte sie und ignorierte seine Frage. »Chris ist immer noch vorn beim Ice-Dealer und wartet … Hör zu, es tut mir wirklich wahnsinnig leid.« Stellar schnaubte verächtlich auf. »Ja, genau. Als ob du jemals irgendeine deiner Entschuldigungen ernst gemeint hättest.« Sie wischte sich mit den Ärmeln das Gesicht trocken und gewann langsam die Kraft in ihrer Stimme zurück. »Für dich ist das alles doch nur ein Spiel. Das „Wie kann ich Stellar heute wieder vor Chris blamieren“-Spiel.« Nun wurde Dylan energischer. » Ey … Du tickst doch nicht richtig. Natürlich meine ich das ernst! Noch mal: Es war keine Absicht. Es war keine Absicht, dass es dich von der Bank gezimmert hat und es war auch keine Absicht, dass du – warte mal …« Er redete nicht weiter und zu Stellars Verwunderung wich seine bis eben noch zornige Miene einem immer breiter werdenden, diabolischen Grinsen. »Du magst ihn, nicht wahr?« Die Frage zog er in die Länge wie Kaugummi. Überfordert runzelte sie die Stirn. Sein ruhiger, neckischer Tonfall gefiel ihr gar nicht. Warum fragte er das?  »Chris«, ergänzte er, half ihr damit auf die Sprünge. »Du magst ihn, stimmt’s? Ziemlich gern sogar.« Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Wir … sind Freunde, mehr nicht.« Super. Das klang noch nicht mal in ihren eigenen Ohren überzeugend. »Außerdem tut das gerade nichts zur Sache.« »Komm schon Stellar, sei ehrlich. Du bist in ihn verknallt, hab ich Recht?« Verunsichert strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »N-nein, bin ich nicht. Wie gesagt, wir sind Freunde, mehr nicht.« »Ha! Ich wusste es!« Dylan klatschte triumphierend in die Hände. Shit. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, sich nichts anmerken zu lassen – und ausgerechnet Dylan kam dahinter. Hilflos und nicht wissend, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, strich sie erneut die Haarsträhne hinters Ohr, die sich seit dem ersten Mal nicht fortbewegt hatte.  Bestimmt würde er es Chris erzählen. Ganz sicher sogar. Und was das Schlimmste war: Sie könnte es noch nicht einmal verhindern. Selbst, wenn er ihr versprechen sollte es nicht zu tun, könnte sie sich nie wirklich sicher sein, dass er nicht doch einmal die Gelegenheit nutzen würde, um es ihm zu erzählen. Und dann wäre alles aus. Das einzige, das sie tun konnte war, wenn es soweit war, zu versuchen, es vor Chris glaubhaft zu leugnen.  »Also, ich weiß ja nicht, was du gerade denkst, aber … deinem Gesicht nach zu urteilen muss es furchtbar sein«, meinte er und grinste sie hämisch an.  Stellar schnaubte verächtlich auf. »Du bist ein riesengroßes Arschloch, hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Keine Sorge, du bist nicht die Erste.« Sein Grinsen wurde noch breiter. Warum redete sie überhaupt noch mit ihm? Zeit zu verschwinden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen schulterte sie ihre Tasche, drehte sich um und ging. Sie musste weg. Weg von hier und vor allem von ihm, bevor sie alles nur noch schlimmer machte. »Weißt du eigentlich, wie einfach du es haben könntest?« Sie antwortete nicht darauf, ging stur weiter.  »Du müsstest dich nur ein bisschen locker zu machen. Dann hättest du auch eine reelle -« »Ich bin locker«, schrie sie ihm entgegen, während sie sich wieder zu ihm wandte. »Ich bin sogar tiefenentspannt, wenn -« »Du? Tiefenentspannt? Nee, Mann«, unterbrach er sie und schüttelte hämisch lachend den Kopf. »Du flippst doch schon bei Kleinigkeiten total aus. Von deinem fehlenden Humor mal ganz abgesehen.« Langsam reichte es ihr mit ihm. »Jetzt hör mir mal gut zu: Nur weil du einen kranken Sinn für Humor hast, heißt das noch lange nicht, dass ich keinen habe?!« Nun stand er von der Bank auf, kam bedrohlich auf sie zu. »Mein Humor ist krank?« Sie zuckte lediglich mit den Schultern. »Keine Ahnung, sag du’s mir. Wie würdest du’s denn nennen, wenn dich jemand vor aller Welt nackt zur Schau stellt?!« »Meine Fresse … Wie nachtragend kann man eigentlich sein? Es war, verdammt nochmal, keine Absicht! Es tut. Mir. Leid! Soll ich’s mir mit dem Fingernagel in die Haut ritzen? Bist du dann glücklich?« »Glücklich bin ich erst dann, wenn du wieder von hier verschwindest und nie wieder auftauchst!« Dylan seufzte schwer und rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Dann schaute er sie entschlossen an. »Okay, fein. Wie wär’s dann mit ’nem Deal? Ich helfe dir, dass ihr zusammenkommt, du und Chris. Wenn ich es nicht schaffe, verschwinde ich von hier. Für immer.« Erst wollte sie etwas kontern, verschluckte es jedoch, als sie verstand, was er sagte. Hatte sie da gerade richtig gehört? »… für immer?«  »Wenn ich es nicht schaffe, packe ich meine Sachen und du siehst mich in dieser Stadt nie wieder.« Tatsache, sie hatte sich nicht verhört. »… ist das dein ernst?« Dylans Selbstsicherheit blieb unverändert, als er nickte.  »Und wie willst du das anstellen?« »Ich bin sein bester Freund. Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, welche Hebel man bei ihm in Bewegung setzen muss.« Okay … Das kam unerwartet. Warum um alles in der Welt wollte er ihr auf einmal helfen?  »Und was, wenn Chris und ich dann zusammen sind? Was ist dann?« Jetzt wurde sein Blick noch entschlossener. »Wenn ich es schaffe, hörst du endlich auf, mir mit deinem arroganten, pubertären Teenager-Gehabe auf den Sack zu gehen und verhältst dich endlich wie eine erwachsene Frau!« »Im Gegensatz zu dir verhalte ich mich bedeutend erwachsener.« »Oh, oooh! Bitte entschuldige, ich vergaß. Es ist ja ein so überaus erwachsenes Verhalten, sich sechs Kugeln Eis auf Kosten anderer zu bestellen, obwohl man weiß, dass einem nach mehr als zwei Kugeln kotzübel ist. Und natürlich bist du vorhin auch überhaupt nicht zur Terrorzicke geworden, als ich dich auf dein Prinzessinnen-Verhalten aufmerksam gemacht habe.«  Stellar verstummte. Sie gab es äußerst ungern zu, aber er hatte leider Recht. Sie hatte sich ziemlich kindisch benommen und obendrein auch noch Chris damit vergrault. Trotzdem - Sie fragte sich, woher auf einmal dieses Angebot kam. »Wieso willst du mir helfen?« »Glaub mir, ich helfe mir selbst damit mehr, als dir.« Sich selbst helfen? Wie meinte er das? »Jetzt komm schon. Bei dem Deal kannst du doch gar nicht nein sagen. Wenn ich verliere, dann bist du mich für immer los und wenn es klappt, hast du deinen Chris. Klingt doch nach einem super Geschäft, oder nicht?« Erwartungsvoll sah er sie an und reichte ihr die Hand.  Stellar zögerte, verharrte mit den Augen auf seiner Hand. Es klang wirklich nach einem guten Deal. Warum hatte sie dann das Gefühl, dass an der Sache etwas faul war?  »Oh, und da wäre noch etwas. Damit das auch klappt, musst du mir natürlich vertrauen.« »Dir soll ich vertrauen? Wieso?« »Ganz einfach: Wenn du es nicht tust, kann ich dir nicht helfen.« Das klang logisch … aber irgendwie sträubte sie sich immer noch dagegen. Nachdenklich senkte sie den Blick.  Ja, sie wollte mit Chris zusammen sein. Sie wollte wissen, ob eine Beziehung mit ihm überhaupt möglich wäre, ob er dieselben Gefühle für sie hegte, wie sie für ihn. Und wenn es nicht so war, wollte sie die Gewissheit haben, dass ihre Gefühle nichts an ihrer Freundschaft änderten. Dass ihre Freundschaft weiterbestünde. Dass sich die Geschichte von damals nicht wiederholte … »Oh Mann, ich merk schon … Du bist dermaßen in deiner Komfortzone gefangen, dass du nicht mal eine Chance erkennst, wenn sie dir mit Anlauf ins Gesicht springt.« Gelangweilt seufzte er und steckte seine Hand in die Hosentasche. Sofort schnellte sie ihm ihre Hand entgegen und sah ihn mit unbeugsamer Miene an. »Okay, abgemacht.«  Zufrieden lächelnd schlug Dylan ein, drückte sanft zu. »Perfekt.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)