Die galvanische Fee von Technomage (Wichtelgeschichte für RekishiNoHon) ================================================================================ Kapitel 1: Zu Hause und die Gassen ---------------------------------- Das Haus, in dem das kleine Mädchen lebte, hatte zwei Ausgänge. Aus der Vordertür war ihr Bruder gegangen, in Anzug und mit schwerem Reisekoffer, und hatte das Elternhaus verlassen. „Was ist eine Universität, an der man Jurist wird?“, hatte sie ihre Mutter gefragt und diese hatte lächelnd geantwortet: „Das ist so etwas wie die Schule, Maren, und Juristen sind rechtschaffene Leute.“ Maren nickte nachdenklich und fragte: „Und warum kann er nicht hier bei uns rechts-schaffend werden?“ Ihre Mutter lachte. „Weil er die Welt kennen lernen will.“ Der andere Ausgang aus dem Haus führte durch das Hinterfenster, oben im ersten Stock, über dem Mutter das Gemälde eines Schiffes, das am Horizont verschwand, aufgehängt hatte. Wohingegen die Tür durch den kleinen Vorgarten auf die große Straße der Stadt hinausführte, konnte Maren durch das Fenster die verwinkelte Gasse erkennen, die sich schummrig an der Rückseite des Hauses entlangschlang. Das Mädchen saß oft an Regentagen dort, zählte die schimmernden Rundungen des Kopfsteinpflasters und zog sie mit Strichen in ihrem Atem auf der Scheibe nach. Nie kam dieselbe Zahl heraus, doch sie wunderte sich nur, warum sie nie die Steine auf dem Schulweg zählen wollte. Kein Glas und deshalb kein Platz zum Atmen, schloss sie für sich, und keine Zeit. „Ma, kann ich auch die Welt kennen lernen?“, fragte Maren ihre Mutter an einem sonnigen Tag, als auf der Straße die Kinder spielten und die Gassee von Sonnenschein erleuchtet war. „Aber natürlich.“ Mutter lachte, während sie gerade ein Blech voller Schokoladenkekse au dem Ofen nahm. „Es ist ein schöner Tag und du solltest nicht hier drinnen bleiben.“ Sie hatte eine lange Schürze umgebunden, die ebenso wie ihr Gesicht mit Teigkleksen übersät war. Als Maren ihre wichtigsten Sachen – auch den Beutel voll Murmeln und Münzen und das blaue Kleid – in einen Rucksack gepackt hatte und wieder in der Küche stand, hatte Mutter eine Handvoll Kekse und Schokolade in ein Tuch zusammengeschnürt und lächelte sie erwartungsvoll an. „Die kannst du mit deinen Freunden teilen, Schatz, und nimm eine Jacke mit, falls dir kalt wird.“ Als Maren das Päckchen ebenfalls im Rucksack verstaute, beugte sich ihre Mutter zu ihr herunter und zog ihr die Latzhose und das Hemd darunter zurecht. Sie strich ihr durchs lichte Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann kehrte sie wieder in die Küche zurück und widmete sich summend dem nächsten Klumpen Teig. Stirnrunzelnd stand Maren in der offenen Vordertür und sah hinaus auf die helle Straße, die nur von den sanften Schatten der Hochhäuser liniert wurde. Eine Gruppe Kinder aus ihrer Schule sprang Seil auf dem Bürgersteig und kicherte fröhlich daher. Das Mädchen wägte ab, wie man wohl am Besten die Welt kennen lernte. Da dachte sie an die Biegung, hinter der die verwinkelte hintere Gasse verschwand, und vergaß ihre Jacke, als sie kurzerhand hoch in den ersten Stock stürmte. „Komm' nicht zu spät wieder rein, es gibt bald Abendessen“, hörte sie ihre Mutter von Unten rufen, als sie gerade am Hebel des Hinterfensters hantierte, um es zu öffnen. „Wie soll ich denn bis zum Abendessen die Welt kennen lernen“, wunderte sie sich über ihre Mutter, doch dann löste sich der Hebel und sie schob das Fenster nach oben. Sie reckte sich durch den Spalt hinaus und sah einen Stapel Pappkartons unter dem Fenstersims stehen. Ein Sonnenstrahl kitzelte sie auf der Nasenspitze, als sie entschlossen ein Bein über den Fensterrahmen schwang und damit nach dem Deckel der obersten Kiste tastete. Es hatte näher ausgesehen, dachte sie, als sie die Kiste nicht erreichte und deshalb auch das zweite Bein hinausschwang, um sie weiter herunter hängen zu können. Als sie, mit den Unterarmen auf das sonnenwarme Fensterbrett gestützt, gerade erfreut feststellt, dass die Spitzen ihrer roten Turnschuhe den obersten Kasten berührten, klappte das Fenster hinter ihr plötzlich zu. Erschrocken vom lauten Krachen verloren ihre Arme den Halt und sie stand unverhofft mit zittrigen dünnen Beinen auf dem Kistenberg. Eine Sekunde lang thronte sie ruhig und fest auf dem Gipfel, wo ihr die Sonne ins Gesicht schien, doch dann flüsterte ein Windzug durch die gewundene Gasse und die leeren Pappkartons bemerkten das Gewicht eines kleinen Mädchens. Die Pyramide wankte und schwankte und kleine rote Schuhe verloren den Boden unter den Füßen, während Maren eine Sekunde später in einer Höhle aus Pappe begraben lag. „Auauau“, jammerte das Mädchen und rieb sich die Knie, doch nichts Schlimmes war passiert. Sie bahnte sich ihren Weg aus den Kisten und sah sich in der Gasse um. Die hohen Gebäude zu allen Seiten waren wie steile Felswände um eine verborgene Passage geschlungen und lägen nicht die zerdrückten Kartons darunter, hätte Maren ihr eigenes Fenster in der Gasse nicht wiedererkannt. Alles sah gleich aus, alte Mauern von gläsernen Punkten durchdrungen, wie Bullaugen im ansteigenden Rumpf eines Schiffes, und den Farbfetzen von Kleidung an Wäscheleinen untermalt, die weit entfernte Takelage. Hier unten war es kühl wie auf dem Grund eines Brunnens und die hinaufwachsenden Häuser schienen kurz davor sich gegenseitig zu überkreuzen; dort, an der höchsten Stelle, zu der Maren ihren Kopf in den Nacken legen konnte. Nur ein schmaler Pfad aus Sonnenlicht schlängelte sich durch die Mitte der Gasse und bog alsbald um die Ecke, hinter welche das Mädchen von ihrem Fenster aus nie hatten sehen können. Sie blickte zum Fenster hinauf und es war viel zu weit entfernt, um es zu erreichen. „Wenn ich nur auf der anderen Seite bin, dann folge ich einfach der Sonne, bis ich wieder auf die große Straße komme“, murmelte sie halblaut zu sich selbst und fand das eine kluge Idee. Außerdem wollte ich ja die Welt kennen lernen und was hinter der Biegung liegt, weiß ich noch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu, doch es war kalt hier und gefiel ihr nicht. Vor allem nicht ohne Jacke. Nachdem sie nachgesehen hatte, ob alles in ihrem Rucksack in Ordnung war, machte sie sich auf den Weg. Maren folgte dem Lichtpfad und sah neugierig in die kleineren Abzweigungen von der großen Gasse hinein, in die keine Sonne schien. Hier roch es nass, aber die Luft war nicht so stickig und abgestanden wie auf der Straße, an der sie immer mit Mutter zusammen zur Schule ging. Es gab blecherne Tonnen und noch mehr Pappkästen und einem lief ein Hund von einer Seitengasse in die andere, wo er kurz inne hielt um sie begutachtend und hechelnd anzusehen. „Vermutlich laufen hier nicht oft kleine Mädchen herum“, dachte sie und ging auf ihn zu, um ihm vielleicht einen von Mutters Keksen zu geben, doch als sie näher kam, verschwand der Hund zwischen den Häusern und sie traute sich nicht ihm zu folgen. Sie wog das Päckchen, das ihre Mutter Maren mitgegeben hatte, in Händen ab und mit einem Grummeln aus ihrem Magen, dachte sie darüber nach, selbst einige davon zu essen. Sie überlegte eine Weile, doch packte es dann wieder in den Rucksack zurück und beschloss die Kekse und die Schokolade aufheben, bis sie sie brauchte. Eine Weile streifte durch die Windungen der Gasse und suchte nach Mustern im lückenhaften Kopfsteinpflaster. Sie bemerkte, dass die Gardinen der meisten Fenster hier zugezogen waren und fragte sich, wie lange der Weg zur großen Straße wohl noch sein konnte. Wie die Zeit verging, wurde es immer schwerer sich auf die Kreise und Gesichter in den Steinen zu konzentrieren und als sie stehen blieb und sich herunterbeugte, um nach einer kleinen orangen Blume zu sehen, die unerwartet am Rande einer Hauswand hervorspross, erkannte Maren den Grund dafür. Hinter den Häusern in der Ferne, die das Mädchen durch den schmalen Pfad erkennen konnte, versank gerade die Sonne als goldgelbes Halbrund hinter einem Dach und tauchte die Stadtlandschaft in die letzten tiefen Lichttöne des Tages. Maren erschrak. Nicht nur hatte sie übersehen wie der Nachmittag so weit fort gewandert war, auch wusste sie immer noch nicht, wie weit sie von der großen Straße und von zu Hause entfernt war. Nachdenklich ließ sie sich auf den Pflastersteinen in der Hocke nieder und sah die kleine Blume an, die sie zunehmend undeutlicher ausmachen konnte, während sich wie im Zeitraffer ihre Blütenblätter schlossen. Natürlich hatte sie, erinnerte das Mädchen sich selbst, vor die Welt kennen zu lernen, wie ihr Bruder es tat, und dafür musste man zu Hause verlassen. Als sie sich über Mutters Erinnerung an das Abendessen verwundert hatte, war ihr klar gewesen, dass die Welt weiter als einen Nachmittag entfernt lag. Doch wie weit war es? Als der Schein der Sonne erloschen war, flammten viele kleine Lichter auf und traten an ihrer statt. Die Dutzenden schwarzen Vierecke der Fenster, die wie Schultafeln in der nahenden Dunkelheit gehangen hatten, flammten auf und auf einmal war alles um Maren herum erneut erleuchtet. Ein klammes Gefühl schritt neben ihr, als das Mädchen seinen Weg fortsetzte, doch die Nacht in den Gassen der Stadt war nicht annähernd so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nun war es zwar unklar, welche Gasse die richtige war, doch letztlich hatte auch der Lichtpfad sie den Tag über nicht ans Ziel gebracht. Es gab glühende Augen in der Finsternis zwischen den Häusern, doch jedes Paar stellte sich als friedfertige streunende Katze heraus. Doch irgendwann, während die Nacht voranschritt, verschwanden auch die Lichtquadrate von den Wänden und nur noch silbriges Licht ließ Maren die Hand vor Augen sehen, dessen Quelle sie nicht ausmachen konnte, während sie langsam ebenso müde wie hungrig wurde. Sie hatte auch die kleine Picknickdecke in den Rucksack gepackt, doch so faszinierend und friedvoll die Nacht in den Gassen war, wollte das kleine Mädchen auf keinen Fall draußen schlafen. Schlecht gelaunt vor Müdigkeit schleppte sie sich schweren Schrittes voran und konnte immer noch keinen klaren Gedanken darüber fassen, wo sie die Nacht verbringen sollte, als ein unverhoffter Lichtspeer die Dunkelheit durchstieß und unmittelbar vor Marens Füßen endete, als müsse der letzte Balanceakt des ereignisreichen Tages nur noch sein, dem schmalen Pfad zu folgen. Ihre Augen folgten dem Schein zur Quelle und erblickten eine spaltbreit geöffnete Tür, durch die das Licht in die Gasse hinausrann. Ohne ernstlich ihre Entscheidung abzuwägen, folgte Maren dem Zeichen zu seinem Ursprung. Sie durchschritt ein von Rost angeknabbertes Eisentor aus elegant aneinander gewobenen Stäben, welches sie um gut zwei Köpfe überragte und einladend offenstand und nahm die drei Stufen der Eingangstreppe eiligen Schrittes. Da war ein Heulen des Windes, der durch die Gasse zog, und ebenso die eiserne Tür hinter ihr ins Schloss warf, wie er die schwere Holztür vor ihr einige Zentimeter weiter aufdrückte, kurz bevor die Lichtquelle im Inneren vom Windstoß erlosch. Maren zögerte einen Moment, doch sie war zu müde, um noch einen Schritt weitergehen zu können und selbst im Schlaf noch zu neugierig, um nicht die Türschwelle zu überqueren. Leichtfüßig trat sie ein und dankte wem auch immer sie diesen Zufall zu verdanken hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)