Notebooks and Tea von Klayr_de_Gall (KuroxFye-FF-Production GmbH & Co.KG) ================================================================================ Kapitel 4: 04.Woche - Weihnachtsspecial - Schneeblume ----------------------------------------------------- Hoffnung auf ein Weihnachtswunder Prolog Aus dem feierlich geschmückten Wohnzimmer erklang fröhliches Gelächter, das verstummte, als ich eintrat. Die Kinder erkannten mich und fielen juchzend über mich her. Es dauerte, bis ich jedes einzeln begrüßt hatte. Sie waren gewachsen, alle miteinander. Sie waren zu großen Kindern geworden, doch immer noch Kinder. Sie konnten es kaum erwarten, dass ich mich in den gemütlichen Ohrensessel setzte und ihnen eine Weihnachtsgeschichte erzählte. Kaum hatte ich entspannt die Beine hochgelegt, machten sie es sich um mich herum auf dem weichen Teppich bequem und sahen gespannt zu mir auf. Ich musste schmunzeln und strich mir bedächtig übers Kinn. „Nun... eine Geschichte also. Lasst mich überlegen. Eine Geschichte... Ich kenne da eine. Wollt ihr sie hören?“ Einige nickten. Andere wollten neugierig wissen, worum es in meiner Geschichte ginge. „Sie handelt von einem Weihnachtsfest. Von einander fremden Menschen, die es zusammen verbringen. Von Trauer und Einsamkeit. Von Liebe und Freundschaft. Und... von Schnee.“, fasste ich wage zusammen und lächelte leise in mich hinein. „Und von Geschenken?“, verlangte eins der vorwitzigen Kinder zu wissen. Meine Augenbrauen wanderten nach oben. „Bei Weihnachten geht es um viel mehr als nur um Geschenke, Liebes.“, belehrte ich es sanft. „Das allerwichtigste ist der Geist der Weihnacht.“ Sie staunten, ich ließ die Worte auf sie wirken. „Was ist das?“, fragte das Jüngste verunsichert. Ich strich ihm beruhigend über den Schopf. „Nichts, wovor man sich fürchten müsste. Der Geist der Weihnacht... ist gleichzusetzen mit Wärme und Geborgenheit, mit bunten Lichtern, mit Musik, mit Tannenzweigen und Christbaumkugeln, mit Lebkuchen, Plätzchen und Adventskalendern. Er ist unsere Zuneigung, unsere Wünsche und unsere Hoffnung auf ein kleines Weihnachtswunder. Auch der Weihnachtsmann und Geschenke gehören dazu, sie sind aber eben nur ein kleiner Teil davon.“ „Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht.“ Ein paar der Kinder nickten zustimmen, den Jüngsten stiegen Tränen in die Augen. Ich schüttelte energisch den Kopf. „Na na! So ein Unsinn. Natürlich gibt es ihn. Solange es den Geist der Weihnacht gibt, existiert auch er – wenn auch nur in euren Herzen.“ Sie dachten darüber nach. Die Ältesten waren fast schon junge Erwachsene, doch ich sah mit Freuden, dass auch sie nicht zu alt dafür waren, um sie meine Worte ernsthaft durch den Kopf gehen zu lassen. Sie waren noch reinen Herzens und schließlich stimmten sie mir zu. Das, was ich sagte, schien ihnen logisch. Aber es war die Kleinste, die auf meinen Schoß kletterte und entschlossen verkündete, dass sie mir glaubte. Es überzeugte die übrigen. Ich lächelte zufrieden und sah in die großen, aufmerksamen Augen. „Nun kommen wir aber zu unserer Geschichte. Sie spielt in einem großen Ferienhaus in den Bergen, wo nur selten Schnee zu Weihnachten fällt, und beginnt am vierten Advent, drei Tage vor Heiligabend...“ Kapitel 1 „Verdammt, was hast du alles eingepackt?! Wackersteine?“ „Nicht doch, Kuro-sama!“ Kurogane, der auf der Ladefläche des Pick-ups stand, hatte gerade Fyes Reisetasche angehoben, um sie abzuladen, und schaute nun verärgert auf seinen Freund hinab. Der Blonde grinste, nahm sie ihm aus der Hand und wuchtete sie auf den moosigen Waldboden. Der Schwarzhaarige verdrehte die Augen, holte seine eigene Tasche und sprang leichtfüßig vom Auto. Sie bedankten sich bei dem Fahrer, der sich vom Bahnhof hierher gebracht hatte, und gingen dann auf das alte Holzhaus zu. Es wirkte kleiner als es tatsächlich war und strahlte eine einladende Gemütlichkeit aus. Um das Haus herum standen hohe Tannen und über diesen ragten mächtige Felsen und ferne Bergkuppen. Es führte keine Straße hierhin, nur ein selten benutzter Waldweg. Der perfekte Ort für einen entspannten Urlaub in einer abgelegenen Idylle. Fye strahlte und ignorierte die finsteren Seitenblicke seines Gefährten. Als die Blicke an ihm abprallten, moserte Kurogane in seinen nicht vorhandenen Bart. „Was wollen wir hier, weitab jeglicher Zivilisation? Wieso habe ich mich überreden lassen, mitzukommen?! Der Handyempfang ist kaum erwähnenswert und im Umkreis von zehn Kilometern wohnt keine Menschenseele.“ „Als ob du gerne unter Menschen bist.“, kommentierte Fye unbeeindruckt, der sich das Gemecker schon die ganze Fahrt über angehört hatte. „Bin ich nicht.“, gab Kurogane knurrend zu, „Genau deswegen sehe ich es nicht ein, mir ein Ferienhaus mit einem Haufen fremder Menschen zu teilen.“ „Es ist nun einmal billiger als wenn wir eins für uns beide gebucht hätten.“ „Wie hätten gar nicht erst fahren sollen.“ Uneinsichtig schnaubte der Schwarzhaarige und klopfte grimmig an die große Doppeltür, die sie gerade erreicht hatten. Fye seufzte. „Ich wollte meinen Urlaub aber gern woanders verbringen, und du, soweit ich weiß, auch. Jetzt sind wir hier, also sei kein Spielverderber und genieß unsere freien Tage.“ Kurogane wollte widersprechen, doch in diesem Moment wurde die Tür von einer großen, schlanken Frau geöffnet. Sie hatte lange, schwarze Haare, die sie zu einem lockeren Zopf gebunden hatte, und machte einen netten – und, wie Kurogane fand, verschlagenen – Eindruck. „Entschuldigen Sie, wir...“, begann Fye, wurde jedoch freundlich, aber bestimmt unterbrochen. „Ah, wie schön. Ich habe euch schon erwartet. Willkommen! Mein Name ist Yuuko und ich bin die Eigentümerin dieses Ferienhauses. Bitte kommt doch rein. Ach und lasst doch die Förmlichkeiten, hier duzen wir uns alle.“ Der Blonde blinzelte verblüfft, ergriff dann aber lachend die dargebotene Hand und trat ein. „Danke schön! Ich bin Fye und das ist Kuro-p–“ „Kurogane!“, verbesserte der Schwarzhaarige, ehe Fye die Verstümmlung seines Namens zu Ende aussprechen konnte, und warf ihm einen tödlichen Blick aus den rot glühenden Augen zu. Erstaunt sah Yuuko zwischen den beiden hin und her, stimmte dann amüsiert in Fyes Kichern mit ein. Kurogane schwieg verärgert und schulterte beide Taschen, was die schwarzhaarige Frau dazu brachte, sich wieder auf ihre Aufgabe zu sinnieren. „Folgt mir, ich zeige euch das Zimmer.“ „Ist doch nett hier, findest du nicht?“, lächelte Fye und räumte die letzten Sachen aus seiner Tasche in ihren gemeinsamen Schrank. Dann setzte er sich auf sein Bett und sah zu, wie sein Freund missmutig ein paar Dinge in seiner Nachttischschublade verstaute. „Hm.“, brummte Kurogane nur und richtete sich auf. Schweigend sahen sie einander an. Fye, der ewig lächelte und sich von nichts und niemanden die Fröhlichkeit nehmen ließ. Und Kurogane, der selten zeigte, was er gerade dachte, außer wenn er sauer auf den Blonden war. Und das war er ständig, denn dieser nagte regelmäßig an seinen Nerven. Nichtsdestotrotz waren sie seit knapp zwei Jahren gute Freunde. Sie durchschauten einander öfter als es ihnen lieb war und doch verließen sie sich blind aufeinander. Fye schmunzelte. „Na komm, sehen wir uns hier ein bisschen um.“ „Meinetwegen.“ Sie traten in das große Wohnzimmer, das einfach, aber gemütlich eingerichtet war. Eine halbrunde Treppe führte in den zweiten Stock, wo sich die Zimmer befanden, zwei Türen führten zum Eingangsbereich und in die Küche. „Hier fehlt ein bisschen Weihnachtsdekoration.“, stellte der Blondschopf fest. „Und es wäre bestimmt schön, wenn man ein Feuer im Kamin machen würde.“ „Das kommt alles noch.“ Irritiert schauten Fye und Kurogane auf, denn die Worte hatte eine unbekannte Stimme ausgesprochen. „Was zum...!“ Kurogane starrte auf das Treppengeländer, wo ein seltsamer, weißer Hase saß. „Na so was, was bist denn du? Hast du gerade geredet oder träume ich?“, staunte Fye und trat mutig näher. Das Wesen machte einen kleinen Hüpfer und lachte hell. „Nein, du bist wach.“, kicherte es. „Das ist Mokona.“ Yuuko schritt in ihrem dunklen, langen Kleid die Treppe herunter und nahm das Tier auf den Arm. Verständnislos sah Fye sie an. „Aber was ist das?“ „Mokona ist Mokona.“, antworteten Mokona und seine Besitzerin wie aus einem Munde. Kurogane schnaubte. „So ein Unsinn!“ Yuuko schoss schneller vor, als er gucken konnte, und stichelte gehässig: „Bist du dir da sicher, Schwarzer?“ Er wich ein Stück zurück und hob verächtlich eine Augenbraue. „Was ist denn hier los? Nanu, Yuuko-san, sind noch mehr Gäste eingetroffen?“, unterbrach eine fröhliche Mädchenstimme das Gezanke. Yuuko vergaß Kurogane, fuhr heiter herum und strahlte ein jugendliches Mädchen mit hübschem braunen Haar und leuchtenden, grünen Augen an, das in der Küchentür erschienen war. „Sakura-chan! Ja, komm her, damit du sie kennen lernst. Das ist Sakura, sie ist mit ihren Freunden hier.“, stellte sie sie vor. „Und die jungen Herren hier sind Fye und Kurogane.“ Sakura deutete eine Verbeugung an und lächelte. „Freut mich sehr.“ Dann wandte sie sich der Eigentümerin zu. „Wir sind fast fertig mit den Essensvorbereitungen und Shaolan-kun ist gerade draußen Holz hacken.“ „Wunderbar!“, rief Yuuko verzückt und wandte sich an ihre neuen Gäste, „Ihr beide werdet ihm helfen, nicht wahr?!“ Es war keineswegs eine Bitte, wie Fye und Kurogane feststellen mussten. „Das ist doch nicht dein ernst!“, empörte sich der Schwarzhaarige als sie zur Haustür geschoben wurden. Yuuko warf elegant ihre langen Haare über die Schultern. „Und ob! Das hier ist kein Hotel, mein Lieber, hier hilft jeder mit!“ „Reizend...“ Knurrend stampfte Kurogane nach draußen und Fye folgte ihm mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. Er würde Kurogane die schweißtreibende Arbeit überlassen, immerhin war dieser derjenige mit den Muskeln. Fye selbst gab da lieber hilfreiche Kommentare ab, die seinen Freund zur Weißglut trieben... Als es Zeit zum Abendessen war, hatten sie genug Holz für die nächsten Tage geschlagen. Fye und Shaolan, einer von Sakuras Freunden, unterhielten sich angeregt, während sie sich aus ihren Wintersachen schälten. Kurogane hingegen schwieg hartnäckig, als er versuchte, sich mit einer Hand die Schuhe auszuziehen. Er hatte den Blonden davon abhalten müssen, sich aus Versehen die Finger abzuhacken – von wegen „Ich will es auch mal probieren, Kuro-pii! Was soll schon passieren?“, ha! – und hatte sich dabei fast den Arm ausgerenkt. Dieser Kerl war doch das wandelnde Chaos! Wenn er nicht auf ihn aufpassen würde...! „Da seid ihr ja. Beeilt euch, das Essen steht auf dem Tisch. Tomoyo-chan und ich haben uns große Mühe gegeben.“, verkündete Sakura ihnen und lief ins Wohnzimmer vor. Kurogane erstarrte. „Hast du gerade Tomoyo gesagt?“ Doch außer ihm war niemand mehr im Eingangsbereich. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er den anderen nachging. Und tatsächlich... „Kurogane, welch Überraschung!“ Tomoyo lächelte ihm entgegen und umarmte ihn kurz – gegen seinen Willen. „Ihr kennt euch?“ Fye war mindestens genauso verwirrt wie Sakura, die ihre beste Freundin fragend ansah. „Leider. Aua!“, grummelte der Schwarzhaarige und war dafür von Tomoyo in die Seite geknufft worden. Das erstaunte Fye noch mehr, denn außer ihm traute sich das sonst keiner. Es stellte sich heraus, dass Tomoyo und Kurogane alte Bekannte und quasi zusammen aufgewachsen waren, da ihre Mütter dieselbe Oberschule besucht hatten. „Zufälle gibt’s...“, lachte Fye, während sie sich an den hübsch gedeckten Tisch setzten. „Von wegen Zufall. Was machst du hier, Tomoyo?“, verlangte Kurogane misstrauisch zu wissen. Das Mädchen sah ihn verwundert an. „Aber ich habe dir doch geschrieben, dass ich Weihnachten hier verbringe. Ich habe dir doch sogar einen Prospekt von Yuuko-sans Ferienhaus mit in den Umschlag gelegt. Ich dachte, du hättest es dir anders überlegt und hast ebenfalls hier gebucht?“ Kurogane runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Mein goldgelocktes Anhängsel wollte unbedingt hierher.“ „Aah, Kuro-tan! Das ist aber nicht nett.“, beschwerte Fye sich und erntete einen bohrenden Blick. Einen Moment konnte er diesem standhalten, dann gab er etwas kleinlaut zu: „Ich habe den Prospekt in deinem Flur auf dem Boden liegen sehen. Das Angebot gefiel mir, also habe für uns gebucht.“ Die anwesenden Damen mussten lachen und Fye grinste amüsiert, während Kurogane sein Gesicht in einer Hand vergrub. So ein Pech hatte auch nur er... „Aber sagt mal...“, wechselte der Blonde das Thema und deutete auf zwei unbenutzte Gedecke, „erwarten wir noch jemanden?“ Yuuko nickte und warf einen Blick auf die große Standuhr. „Sie müssten in einer Stunde ankommen. Lasst uns trotzdem schon mit dem Essen beginnen.“ Das ließen sich ihre Gäste nicht zweimal sagen. Sie machten sich hungrig über das gelungene Mahl her, sich dabei gut unterhaltend. Immer wieder amüsierten sie sich über den lustigen Zufall – wobei Kurogane diesen als einziger gar nicht lustig fand. Davon ließen sich die anderen allerdings nicht beeindrucken. Dabei ahnte Fye nicht, dass ihm ein ähnlicher Zufall das Lachen vergehen lassen sollte. Sie waren gerade fertig mit essen, als es an der Haustür klopfte. Fye nahm das nur am Rande wahr, denn er, Sakura, Tomoyo und Mokona standen in der Küche, um abzuwaschen. Sie hörten Yuukos verzückte Stimme, dann Shaolan und Kurogane, die sich zurückhaltender vorstellten. Fye hob irritiert den Kopf, weil er meinte, weitere vertraute Stimmen vernommen zu haben, schüttelte ihn dann jedoch und räumte einen Stapel sauberer Teller in einen Schrank. „Ui neue Gäste!“, trällerte Mokona erfreut und hoppelte aus der Küche. Tomoyo konnte gerade noch eine Tasse auffangen, die es fallen gelassen hatte, und reichte sie schmunzelnd an ihren blauäugigen Helfer weiter. „Kuro-sama und du, ihr kennt euch also sehr gut?“, erkundigte dieser sich neugierig und sah, wie auch Sakura ihre Freundin interessiert ansah. Tomoyo bejahte es sanftmütig. „Aber er scheint nicht sehr erfreut zu sein, dass du auch hier bist.“, hakte Sakura vorsichtig nach und nahm Fye damit förmlich die Worte aus dem Munde. Die Dunkelhaarige winkte unbekümmert ab. „Ach was. Er ist eben ein bisschen ruppig, wenn es um Gefühle geht. Außerdem muss er immer so einiges über sich ergehen lassen, wenn wir uns sehen.“ Sie lachte leise und warf Sakura einen vielsagenden Blick zu. Das braunhaarige Mädchen stellte sich Kurogane unwillkürlich in Tomoyos selbst genähter Kleidung vor und fand in ihm einen Leidensgenossen. Tomoyo kicherte, als hätte sie ihre Gedanken erraten, ehe sie an Fye gewandt fortfuhr. „Nichtsdestotrotz weiß ich, dass er immer an meiner Seite ist, wenn ich ihn brauche. Und wenn ihn meine Anwesenheit wirklich stören würde, dann hätte er das ernsthaft deutlich gemacht.“ Fye staunte über diese äußerst treffende Einschätzung und schmunzelte. „Stimmt. Ich hätte es nicht besser formulieren können.“ Sie tauschten ein wissendes Lächeln und wandten sich dann anderen Gesprächsthemen zu. Sie trafen erst einige Zeit später auf die Neuankömmlinge, die sich nach dem Essen zum Auspacken auf ihr Zimmer verzogen hatten. Die übrigen Anwesen hatten es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Während die Mädchen an einem alten Klavier saßen und leise Weihnachtslieder sangen, spielten Shaolan und Fye am Esstisch Schach und Kurogane versuchte, Mokona und Yuuko zu ignorieren, die ihm irgendwelche unsinnigen Geschichten erzählten. Yuuko hielt inne und sah zum Treppenansatz – und noch ehe oben jemand zu sehen war, sagte sie: „Ah, da seid ihr ja. Kommt nur und leistet uns Gesellschaft.“ Zwei junge Männer, offensichtlich Zwillinge, mit schwarzen Haaren und in Fyes Alter bedankten sich lächelnd und kamen die Treppe hinab. Kurogane schenkte ihnen nicht viel Aufmerksamkeit, sondern war froh, der der Eigentümerin entkommen zu sein. Shaolans besorgtes „Fye-san, ist alles in Ordnung?“ ließ ihn jedoch auf und zu seinem Freund sehen. Fyes ewig währendes Lächeln war auf seinen Lippen festgefroren und blankes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, seine klaren blauen Augen waren ungläubig aufgerissen. Kurogane hatte den Blonden noch nie so gesehen, noch nie hatte Fye in diesem Maße die Kontrolle über sich verloren. „Subaru... Kamui...“, entkam es den plötzlich zitternden Lippen leise – nichtsdestotrotz verstummten alle anderen und die Zwillinge schauten überrascht zu ihm. „Fye...? ...Fye!“ Subaru konnte es kaum fassen und als ihm klar wurde, dass der Blonde wirklich der war, für den er ihn hielt, hielt ihn nichts mehr. Er lief um den Tisch und wollte ihm um den Hals fallen. Doch da kam Leben in Fye, der aufsprang, einige seiner schwarzen Spielfiguren und seinen Stuhl umstieß und mit schnellen Schritten in die andere Richtung davon stob. Ehe ihn jemand aufhalten konnte, war er aus dem Wohnzimmer geflüchtet und hatte Sekunden später die Eingangstür hinter sich zugezogen. „Was... war denn das?“, japste Mokona entgeistert und begegnete erschrockenen und verwirrten Blicken. Einzig Yuukos Augen verrieten nichts dergleichen. Kurogane konnte sein Erstaunen auch recht gut verbergen, als er aufstand. Er folgte Fye, hielt dabei aber die Zwillinge mit einem warnenden Blick davon ab, es ihm gleich zutun. Fye war nicht weit gegangen. Fröstelnd hatte er die Arme um sich geschlungen und lehnte am kräftigen Stamm einer hohen Tanne in der Nähe des Hauses. Atemwölkchen bildeten sich vor seinem Mund und stiegen in die sternenklare Nacht hinauf. Schritte hinter ihm ließen ihn leicht zusammenzucken und die Augen schließen. Er zwang sich seine Maske mit aller Macht aufs Gesicht zurück. Er wusste, wer ihm gefolgt war. Dafür musste er nicht einmal das gemurmelte „Idiot.“ hören. Fye spürte, wie ihm seine Jacke um die Schultern gelegt wurde. Es half ihm, das entgleiste Lächeln an seinen angestammten Platz zu setzen. „Kuro-wanwan...“ Fröhlich wie eh und je drehte Fye sich zu ihm um. „Danke dir, es ist etwas frisch hier draußen.“ Kurogane verengte die Augen zu Schlitzen und erwiderte verächtlich: „Als ob das so verwunderlich ist – mitten im Winter.“ Er verachtete diese fadenscheinige Maske. Klar, Fye war eine Frohnatur, doch viel zu sehr nutzte er das aus, um seine Ängste und Probleme dahinter zu verstecken. Und diese Verlogenheit konnte Kurogane nicht ausstehen, weil es offensichtlich war, dass der Blonde mit ihnen nicht fertig wurde. Er selbst brachte seine Gedanken auch nicht nach außen, doch er kam mit ihnen auch gut klar. „Ach je, du hast Recht.“, wich Fye spielerisch aus und tat, als wäre ihm das glatt entfallen. Doch der Schwarzhaarige ließ sich nicht für dumm verkaufen. Direkt sah er ihm in die blauen Augen, die dem nicht standhalten konnten. „Was ist los, Fye?“ Der Angesprochene senkte den Blick, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Nichts. ...Das geht dich nichts an.“, antwortete er kaum hörbar und sah flüchtig zu seinem Gegenüber auf, ängstlich, als würde ihn Kurogane wegen seiner Worte verlassen. Dieser wollte sich tatsächlich zunächst abfällig schnaubend abwenden und ins Haus zurückgehen. Doch etwas hielt ihn davon ab. So absurd es ihm auch schien, er wollte, dass Fye ihm endlich vertraute. Er wollte, dass dem blonden Dummkopf endlich klar wurde, dass er sich auf ihn verlassen konnte, egal was er anstellte. „Wenn dem so ist“, begann er langsam, „dann kann ich da wohl nichts machen. Dennoch... dieser Selbstschutz ist unnötig... bei mir. Merk dir das endlich.“ Es war keine Rüge, eher eine ernst gemeinte Erinnerung. Verwirrt sah Fye ihn an, bemühte, sein wackliges Lächeln aufrecht zu erhalten, und traute dem Frieden nicht ganz. Doch er war froh, dass Kurogane nicht weiter bohrte – er würde ihm auf Gedeih und Verderb nichts erzählen. Zumindest dachte er das zu diesem Zeitpunkt noch. „Muss ich ewig hier rumstehen oder kommst du mit rein?“, brummte Kurogane in vertrauter Manier, was Fye etwas Sicherheit zurück brachte. „Ich habe Erbarmen mit dir, lass uns wieder reingehen, Kuro-sama.“ Ein vorsichtiges, ehrliches Lächeln. Ein kleiner Schritt. Aber für den Moment war Kurogane zufrieden. Er bewegte einen Arm unauffällig ein Stück in Fyes Richtung und dieser hakte sich augenblicklich bei ihm unter. Zusammen gingen sie ins Haus. Die anderen hatten sich bereits in ihre Zimmer verzogen. Sie wollten bei diesem ungeplanten Wiedersehen nicht stören. Nur die Zwillinge saßen noch im Wohnzimmer vor dem Kamin und warteten. Als Kurogane und Fye eintraten, erhoben sie sich und sahen ihnen schweigend entgegen. Die Hand des Blonden verkrampfte sich kaum merklich in Kuroganes Ärmel. „Fye, ich... es tut uns Leid, dass...“ Doch Subaru brach ab, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Er war immer noch erschrocken über die plötzliche Flucht. Kamui strich ihm beruhigend über den Kopf, bevor er Fye offen ansah, mit dem Vorhaben, das Geschehene einfach zu übergehen. „Hallo Fye, schön dich wieder zu sehen.“, sprach er ohne eine Spur der Unsicherheit und machte einen Schritt auf ihn zu. Fye schien zu demselben Entschluss gekommen zu sein; und er hatte sich wieder unter Kontrolle. Lächelnd tat er es Kamui nach und umarmte erst ihn, dann Subaru. „Ja, es ist lange her. Ich freue mich, dass ihr hier seid.“ Erleichtert drückte sich Subaru an seinen alten Freund und an seinen Bruder, sodass sie sich plötzlich in einer Gruppenumarmung wieder fanden – Kurogane, an dem Fye noch hing, mit eingeschlossen, was er gar nicht witzig fand. Er befreite sich und der Blondschopf nahm das als Gelegenheit, sie zu entschuldigen. „Lasst uns die Wiedersehensfeier auf morgen verschieben. Kuro-pu muss ins Bett, sonst wird er unausstehlich.“ Kurogane hob aufgrund dieser laschen Ausrede, die Fye auch nur bedingt mit einschloss, eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu. Die Zwillinge erklärten sich einverstanden. Subaru war viel zu erleichtert, um zu widersprechen, und Kamui schien, ähnlich wie Kurogane, vorerst abwartendes Schweigen vorzuziehen. So wünschten sie einander eine gute Nacht und machten sich auf den Weg in ihre Zimmer. Nachdenklich starrte Kurogane an die Decke. Er lag bereits im Bett, hatte die Arme unter seinem Kopf verschränkt, während er darauf wartete, dass Fye endlich mit seinem Umherwuseln fertig wurde. Es war eine seltsame Konstellation an Leuten, die hier zusammengekommen waren. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Erst diese merkwürdige Frau mit diesem komischen Hasen, dann ausgerechnet Tomoyo mit ihren Freunden und nun auch noch Fyes augenscheinliche Freunde, die Unerwartetes ausgelöst hatten. Sein Blick glitt zu Fye, der sich mit seiner Zahnbürste im Mund über seine Tasche beugte und irgendetwas suchte. Was mochte ihn so verstört haben? Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass sie beide kaum etwas über die Vergangenheit des anderen wussten. Komisch, dass sie sich dennoch so gut verstanden... Gedankenverloren strich er sich durchs schwarze Haar und bemerkte erst als das Licht ausging, dass der Blonde auch endlich in die Federn gekrochen war. „Gute Nacht, Kuro-sama.“ „Hmm... Nacht.“ „... Erzählst du mir eine Geschichte zum Einschlafen?“ „... Es war einmal ein Spinner, der sehr müde war, deswegen Augen und Mund schloss und einschlief, sodass sein Zimmergenosse seinen Frieden hatte. Also Ruhe jetzt!“ Fye kicherte in sein Kissen und tat ausnahmsweise wie ihm geheißen. Kapitel 2 Es gab ein unschönes Knirschen und eine weitere der zerbrechlichen Christbaumkugeln segnete das Zeitliche. „Au weh, Sakura-chan, das war schon die fünfte.“, jammerte Fye und legte mit den Mädchen eine Trauerminute ein. „Ihr seid aber auch ungeschickt!“, beschwerte sich Mokona und wirbelte seine Ohren umher. Fye und Sakura schienen sich mit dem Fallen lassen abzuwechseln. Wenigstens Tomoyo und Subaru, die ebenfalls beim Schmücken des Wohnzimmers halfen, hatten ein sicheres Händchen für die empfindlichen Schmuckstücke. „Zum Glück hat Yuuko-san Unmengen davon.“, murmelte Sakura schuldbewusst und sammelte die Scherben ein. Tomoyo schmunzelte in sich hinein, während sie eine weiße Girlande zu einigen roten hängte. Beinahe wäre sie von ihrer Leiter gefallen, als Fye den frisch gerodeten Tannenbaum samt Ständer mit einem „Ups, nichts für Ungut, Tomoyo-chan.“ an ihr vorbei in den Raum zog. Die Männer, also Kurogane, die Zwillinge und Shaolan, waren am Montagvormittag in den Wald gezogen und hatten eine Tanne mit beachtlicher Höhe und Breite gefällt. Die war inzwischen das einzig noch Ungeschmückte im Zimmer – allerdings nicht mehr lange. Fye, Subaru, Mokona und die beiden Mädchen waren seit knappen zwei Stunden mit weihnachtlicher Dekoration beschäftigt, während der Rest nach der Baumfällmission unter Yuukos Anweisungen zum Einkaufen gescheucht worden war. „Sieht schon gut aus, jetzt fehlt nur noch unser Bäumchen.“, kommentierte Fye zufrieden, als er und die anderen prüfend ihr Werk betrachteten. „Bäumchen ist gut. Wie sollen wir die Spitze schmücken, da kommt doch keiner von uns ran.“, bemerkte Subaru und Sakura pflichtete ihm bei. „Bei der Breite untenrum bringt uns die kleine Leiter auch nichts.“ Doch der Blonde blieb zuversichtlich. „Irgendwie kriegen wir das schon hin. Kommt jemand mit mir in die Küche, Tee kochen? Yuuko-san und die Jungs werden sich freuen, wenn sie sich aufwärmen können, sobald sie vom Einkaufen zurück sind. Und wir haben uns auch eine Stärkung verdient.“ Sakura erklärte sich gern bereit und so überließen sie den anderen das Bäumchen. Fye mochte das Mädchen und ihre Gesellschaft. Sie war ein kleiner Wildfang, der ab und an mal über das Ziel hinausschoss, hatte aber ein liebreizendes und unschuldiges Wesen. Auch Tomoyo hatte Fye schnell ins Herz geschlossen. Sie war ebenso liebenswürdig wie ihre Freundin, etwas ruhiger und auf eine niedliche Art und Weise listiger als ein Fuchs. Eine halbe Stunde später war der Esstisch mit dampfendem Tee, Lebkuchen und Apfelsinen gedeckt und die Tanne festlich geschmückt. Wie aufs Stichwort drangen von draußen Motorgeräusche herein und Yuuko dirigierte ihr bepacktes Gefolge ins Haus. Shaolan, Kurogane und Kamui, die alle drei ziemlich geschafft aussahen, ließen sich wenig später nur zu gern am Tisch nieder und waren dankbar für die kleine Stärkung. Das Tischgespräch war heiter und laut, auch wenn kaum alle zu Wort kamen. Kamui, eher ein stiller Typ, der das Geschehen um sich herum genaustens beobachtete – auf seinem Bruder lag ein besonders wachsamer, beschützender Blick – warf hin und wieder trockene Bemerkungen ein, mit denen er die Lacher immer auf seiner Seite hatte. Subaru hingegen beteiligte sich emsig am Gespräch, nachdem er seine anfängliche Schüchternheit abgelegt hatte. Er wich seinem älteren Zwilling kaum von der Seite und war sichtlich glücklich damit. Für beide ergab sich kaum eine Gelegenheit, sich ungestört mit Fye zu unterhalten und allem Anschein nach lag das auch in dessen Absicht. Kurogane verhielt sich ähnlich wie Kamui, mit dem Unterschied, dass er sich des Öfteren gegen die albernen Einfälle des Blondschopfs neben sich wehren musste. Oder gegen Yuuko, die in alle trinkbare Flüssigkeiten – ungeachtet anwesender Minderjähriger – Rum zur Verfeinerung des Geschmacks kippte und ihren Gefallen daran gefunden hatte, ihn zu piesacken. Nach dieser gemütlichen Teerunde, zauberte besagte Hauseigentümerin, woher auch immer, einen Plastiksack voller Mistelzweige hervor und es entwickelte sich unter den Anwesenden ein regelrechter Wettstreit, wer sie an den unmöglichsten Orten aufhängen konnte. (Sogar über Toilette und Dusche baumelten Zweige. Nachdem die über dem Gasherd in der Küche Feuer gefangen hatten, verzichteten sie dort auf das Grünzeug.) Unterdessen stand Fye etwas ratlos vor dem Weihnachtsbaum, auf dessen Spitze noch der goldene Stern fehlte. Kurogane trat neben ihm und folgte seinem Blick. Fye drehte sich zu ihm und hielt den Stern hoch. „Der muss da noch rauf, kommst du da ran, Kuro-chan?“ „Nicht, wenn du mich so nennst.“, murrte der Schwarzhaarige, der gleich erkannt hatte, dass selbst er zu klein dafür war. Aber Not machte ja bekanntlich erfinderisch. „Halt dich fest.“ Ehe Fye verstanden hatte, was Kurogane damit meinte, hatte dieser ihn behände an der Hüfte gepackt und mir nichts, dir nichts auf eine Schulter gehoben. Der Blauäugige quiekte erschrocken auf und stützte sich mit einer Hand auf der freien Schulter ab. „Beeil dich, du bist schwer!“ „Du bist doch verrückt, Kuro-tan. Und ich bin gar nicht schwer!“, beschwerte sich Fye errötend und steckte vorsichtig den Stern auf die Spitze. Er spürte die kräftigen Arme, die ihn sicher hielten, und wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. „Okay, ich hab's geschafft.“ Vorsichtig ließ der Schwarzhaarige ihn wieder runter, hielt ihn dabei einen Moment länger fest als nötig, woraufhin es Fye gleich noch ein paar Grad wärmer wurde. Hastig wandte er sich ab und hängte in einer Verzweiflungstat etwas Lametta um. Kuroganes Mundwinkel zuckten verdächtig, als er einen Schritt zurück trat, um augenscheinlich den Baum zu betrachten. Den Nachmittag und auch den Abend verbrachte die muntere Truppe damit, sich möglichst unbemerkt unter hunderten von Mistelzweigen hinwegzuducken. Doch sie hatten die Rechnung ohne Mokona gemacht, an das sie sich inzwischen gewöhnt und welches alle lieb gewonnen hatten – außer Kurogane, der weigerte sich, dem zuzustimmen. Der Zauberhase schaffte es irgendwie, immer dann in einer Ecke zu lauern, wenn zwei arme Opfer aus Versehen unter Mistelzweigen zusammentrafen. Dann sprang es mit einem fröhlichen Ruf hervor und jene, die es diesmal erwischt hatte, entkamen erst, nachdem sie einander ein Küsschen aufgedrückt hatten. Kurogane schaffte es anfangs, sich dem zu entwinden, doch dann erlag er einer Pechsträne. Erst erwischte es ihn mit Sakura, dann mit Subaru – Kamui warf ihm daraufhin den ganzen Abend tödliche Blicke zu – und schließlich, um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, auch noch mit Yuuko. Ihm stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als sie kurz vor Mitternacht beschlossen, die illustre Runde aufzulösen und ins Bett zu gehen. Leider hatte er nicht damit gerechnet, dass über ihm an einer Girlande ein paar Zweige hingen – und zu seinem Leidwesen stand Fye gerade neben ihm. Noch hatte es keiner gemerkt, vielleicht hatte er Glück und... „Hohoho, der Schwarze ist erneut dran.“, trällerte die angeheiterte Yuuko und sofort lagen alle Blicke auf ihnen. Kurogane hätte seinen Kopf am liebsten gegen die nächste Wand geschlagen. Doch noch viel schockierender war Fyes Reaktion: Entgegen seiner sonstigen Art lief er rot an, stammelte zusammenhangloses Worte und machte einen ungeschickten Schritt auf Kurogane zu. Dabei stolperte er über eine nicht vorhandene Teppichkante, taumelte gegen seinen Freund und drückte ihm hektisch einen feuchtfröhlichen Schmatzer auf die Lippen. Peinlich berührt flüchtete er die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und ward nicht mehr gesehen. Etwas verwundert sahen die anderem ihm nach, folgte ihm aber alsbald. Fyes Ungeschicklichkeit war auf eine charmante Art niedlich gewesen und brachte im Nachhinein nicht nur Kurogane zum Schmunzeln. Dieser fand das Ganze, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, äußerst amüsant, auch wenn er das natürlich nicht offen zeigte. Als er ihr Zimmer betrat, hatte sich der Blonde wieder gefangen und sie sprachen nicht weiter über die Angelegenheit. Kapitel 3 Der 23. Dezember brachte mehre Überraschungen mit sich, und kaum eine war scheinbar von angenehmer Natur. Im Gegensatz zum Vortag konnten sie ausschlafen, Yuuko zeigte sich gnädig. Nur im Morgenmantel hatte sie es sich in der Stube am warmen Kamin bequem gemacht und genehmigte sich mit Mokona einen heißen Tee mit Rum. Nach und nach trudelten auch ihre Gäste ein – diese waren von der leichten Bekleidung eher weniger angetan – und man fand sich zu einem gemütlichen, doch ruhigen Frühstück zusammen. Anschließend ging jeder so seine Wege. Einige führten nach draußen an die frische Winterluft, einige im Haus umher. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an die vielen Mistelzweige und die damit verbundene Verpflichtung und es herrschte eine entspannte Atmosphäre in den Räumen. Bald mischten sich Gelächter und Heiterkeit dazu, denn Fye, Sakura und Tomoyo hatten begonnen, Weihnachtsplätzchen zu packen. Es dauerte nicht lang bis sich einer nach dem anderen ihnen anschloss – jeder auf seine Weise – ; und da in der Küche nicht für alle Platz war, zogen sie ins Wohnzimmer an den Esstisch um. Stunden verstrichen und langsam aber sicher stapelten sich große, kleine, dunkle, helle, verbrannte und garnierte Plätzchen, wo man auch hinsah. Die Küche glich einem Schlachtfeld und Mehl und Teig landeten immer mehr auf oder in den Backenden als auf Arbeitsflächen oder Backblechen. Erst als Shaolan nicht mehr aufhören konnte, wegen des Mehlstaubs zu niesen, beschlossen sie, das Backabendteuer zu beenden und aufzuräumen. Letzteres wurde beinahe noch chaotischer als ihr Tun zuvor, doch am Ende blitzten und glänzten die Räume wieder. Die weiblichen Anwesenden und Mokona verschwanden im Bad, während sich die noch weißen Herren ein Schlückchen Grog gönnten. „Ich weiß echt nicht, wieso ich mich ständig von dir überreden lasse.“, brummte Kurogane gerade und wischte Fye etwas Mehl von den Wangen. Niemals hätte er zugegeben, dass er selbst auch seinen Spaß gehabt hatte. Der Blonde, der zufrieden an ein paar Teigresten rumlutschte, lächelte mit Unschuldsmine zu ihm auf und lehnte sich an seine Schulter. Kurogane ließ ihn und widmete sich seinem heißen Becher. „Wir sind nicht die einzigen, die weiß sind.“, unterbrach Kamui die entstandene Stille, denn er hatte am Fenster gestanden und hinaus gesehen. Subaru war der erste, der zu ihm ans Fenster eilte, und verkündete lauthals: „Es hat geschneit, juchhu!!“ Erstaunt erhoben sich die anderen und sahen ebenfalls nach draußen. „Tatsächlich.“, kommentierte Shaolan ungläubig. „Hier schneit es doch fast nie.“ „Ist doch egal, Hauptsache, es liegt Schnee!“ Subaru war kaum zu bremsen und stürmte an ihnen vorbei zur Haustür hinaus. Kamui folgte ihm etwas langsamer, während Sakuras Freund es vorzog, drinnen auf dieselbige zu warten und ihr die erfreuliche Nachricht zu überbringen. Kurogane blickte neben sich und stellte fest, dass Fye nicht mehr neben ihm stand. Es überraschte ihn nicht. Sicher tanzte der Blonde längst fröhlich durchs Schneegestöber, das passte zu ihm. Also schloss der Schwarzhaarige sich Kamui an. Tatsächlich war Fye draußen, doch er tanzte nicht. Und fröhlich war er auch nicht. Er starrte das weiße Weihnachtswunder mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination an und rührte sich nicht. Es war, als könnte er nicht begreifen, einem alten, geliebten Feind gegenüber zu stehen, den er für besiegt gehalten hatte. Stirnrunzelnd trat Kurogane neben ihn, sah beunruhigt, dass sein Freund schrecklich zitterte und so bleich im Gesicht war wie der Schnee. Fye schien das Geschehen um sich herum ausgeblendet haben, denn völlig apathisch musterte er die noch dünne weiße Schicht, als würde er etwas sehen, was niemand sonst sehen konnte. Doch bevor Kurogane ihn ansprechen konnte, tauchte Subaru plötzlich direkt vor Fye auf, wedelte mit einer Hand vor dessen Gesicht herum und erkundigte sich besorgt: „Fye, bist du in Ordnung, freust du dich nicht? Früher mochtest du Schnee doch s- AAAH!“ Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Fye hatte, als sein alter Freund ihn so unerwartet angesprochen hatte, erschrocken die Augen aufgerissen und Subaru heftig von sich gestoßen, sodass dieser nach hinten auf seinen Allerwertesten gefallen war. „Spinnst du?!“, fauchte Kamui und war in Sekunden bei seinem Bruder, der den Blonden perplex anstarrte, und half ihm hoch. Doch Fye ignorierte die Zwillinge, wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier und wich entsetzt zurück. Kurogane erwischte ihn am Ärmel und wollte ihn festhalten, doch er riss sich los, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete in den Wald. Kurogane fluchte, zischte dem entrüsteten Kamui eine Einhalt gebietende Warnung zu und lief dem Blondschopf nach. Inzwischen waren auch die anderen nach draußen gekommen, fanden aber nur die Zwillinge vor, die nicht verstanden, was in ihrem alten Freund vorging. „Geht es ihm besser, Kurogane-san?“ Sakura schlich auf leisen Sohlen ins Zimmer und beugte sich besorgt über Fye, der in seinem Bett lag. Kurogane hatte sich einen Stuhl daneben gestellt und wachte seit Stunden über den Blonden. „Aah, er schläft langsam etwas ruhiger.“, gab der Schwarzhaarige kurz angebunden Auskunft. Beruhigt nahm das Mädchen auf der Bettkante Platz und strich dem Schlafenden ein paar Strähnen zur Seite. „Er war ja völlig aufgelöst, als du ihn zurückgebracht hast. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie trösten.“ Sie seufzte betrübt, und es entging ihr, dass Kurogane sie aufmerksam musterte. „Warum?“, fragte er schließlich nach einer Weile. Sie sah auf und schien sich nicht sonderlich über diese Frage zu wundern. „Du meinst, weil wir uns kaum kennen.“, bemerkte sie ruhig, „Sicher, aber auch wenn ich kaum etwas über ihn weiß, mag ich ihn sehr gerne. Er ist ein lieber Mensch, der sich viele Gedanken um andere macht und sie auf seine heitere Art aufzuheitern versucht. Doch in seinen Augen ist ein tiefblauer Schein, der verbirgt, dass eigentlich er Aufmunterung braucht. Irgendwas macht ihm sehr zu schaffen, seit langer Zeit, und immer wenn er denkt, er sei unbeobachtet, legt sich ein trauriger, einsamer Ausdruck über seine hübschen Augen. Ich glaube, das, was ihn traurig macht, muss gerade erst wieder wach gerüttelt worden sein… und deswegen ist er vorhin zusammengebrochen. Ich würde ihn so gerne mal aus vollem Herzen lachen sehen.“ Kurogane maß das momentan ernste Mädchen mit einem beinahe anerkennenden Blick. „Dafür, dass du ihn nicht lange kennst, weißt du ziemlich viel. Du hast ein gutes Gefühl für die Empfindungen anderer.“ Sakura errötete geschmeichelt ob des wertvollen Lobes des Älteren. Ihr wurde klar, dass sie sich mit ihren Worten das Recht zu bleiben verdient hatte. Denn auch wenn das nur einem aufmerksamen Auge auffiel, so achtete Kurogane doch sehr genau auf seinen blonden Schützling. „Erstaunlich treffend…“, kam es in dem Moment vom Kopfende des Bettes her gemurmelt. Die Anwesenden horchten auf. Kurogane beugte sich nun ebenfalls halb über Fye, welcher müde blinzelte und dann an ihm vorbei an die Decke starrte. „Fühlst du dich besser?“, erkundigte sich Sakura mit einem lieben Lächeln, bekam aber nur einen leeren, blauen Blick als Antwort. Mit diesem streifte er anschließend flüchtig Kurogane und richtete ihn erneut an die Decke. Kurogane brummte ungnädig. „Gib ihr wenigstens eine Antwort.“ Als ob er es nicht selbst wissen wollte… „Schon besser, ja.“, gab Fye nach einer Pause widerwillig zurück. Er versuchte, unbeschwert zu wirken, doch es war ihm anzusehen, dass er sich am liebsten verkrochen und heimlich ausgeweint hätte. Sein Freund ballte die Hände zu Fäusten. Diese nichts sagenden Worte regten ihn auf. Genauso wie der Hilfe suchende Ausdruck in den schimmernden Augen, dessen Fye sich nicht mal bewusst war. Er wollte ihm ja helfen, aber wie denn, wenn er sich ihm nicht anvertraute. Nur dieses eine Mal… „Lügner.“, knurrte der Schwarzhaarige leise und musste zusehen, wie sich die blassen Lippen zu einem freudlosen Lächeln verzogen. Fye wusste, dass Kurogane es hasste, nichts Genaues über sein Innerstes zu wissen. Doch der Blondschopf verstand nicht, wie viel größer der Hass darauf war, nichts tun zu können. In einer schnellen Bewegung war Kurogane auf den Beinen. Er warf dem Liegenden einen wütenden Blick zu und wandte sich zum Gehen. Sakuras Hand erwischte seinen Arm gerade noch rechtzeitig und die kurze Berührung reichte aus, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Nicht, dass seine Wut auf den dummen, dummen Blondschopf schwand, dennoch ließ er sich, nach einigen Sekunden des Verharrens, zurück auf den Stuhl sinken. „Fye-san?“, begann Sakura, noch immer auf dem Bett sitzend, und wartete, bis Fye sie ansah. „Ich weiß, wie schwer es ist, über etwas zu reden, was im Herzen wehtut. Ich wollte es auch nicht, als es mir sehr schlecht ging. Ich hielt es für Geschwätz, dass es hilft, sich auszusprechen. Zum Glück habe ich es doch getan, denn es hat mir wirklich geholfen.“ Fye wollte etwas sagen, doch sie ließ sich nicht unterbrechen. „Dadurch ist der Gesteinsbrocken auf meinem Herzen nicht kleiner oder leichter geworden. Doch ich habe jemanden gefunden, der mir hilft, ihn zu tragen.“ Für einen Moment sah sie selbst unglaublich traurig drein und der Blick des Blonden wurde auf der Stelle weicher. „Was ist passiert?“, rutschte es ihm leise heraus, obwohl er eigentlich nicht hatte fragen wollen. Doch Sakura nahm es ihm nicht übel, sondern lächelte schwach. „Ich… war bis vor wenigen Monaten mit einem Mann zusammen, den ich sehr geliebt habe. Er war mehrere Jahre älter als ich, weswegen wir mit unserer Beziehung selten auf Akzeptanz gestoßen sind. Für uns selbst war es auch nicht einfach und doch war ich sehr glücklich mit ihm. Und er war es auch. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als er sich ein eine junge Frau verliebte, die genauso alt war wie er. Fast zwei Jahre waren wir ein Paar, dann eröffnete er mir plötzlich, dass er nicht mehr bei mir bleiben könnte, weil der Altersunterschied doch zu groß sei. Eine Woche später war er mit ihr liiert. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich habe geglaubt, nie wieder lachen, niemals wieder jemandem vertrauen zu können. Ich hab mich völlig in mich zurückgezogen und wollte von niemandem mehr etwas wissen. Doch ich hatte nicht bedacht, was für aufrichtige Freunde ich habe. Tomoyo und Shaolan haben mich sehr schnell wieder aus meinem Schneckenhaus geholt. Sie waren hartnäckig und schließlich habe ich ihnen alles erzählt. Sicher mussten sie schlucken, denn ich hatte meine Beziehung aus Angst vor ihnen geheim gehalten, doch sie haben mir seit dem jede Minute beigestanden, waren immer da, wenn ich Trost brauchte. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür und werde das niemals vergessen. Ich habe es gewagt, mich ihnen anzuvertrauen und bin nicht enttäuscht worden, habe außerdem mein Lachen und mein Vertrauen in liebe Menschen wieder gefunden.“ „Aber weh tut es trotzdem noch.“, stellte Fye flüsternd fest und nahm ihre schlanke Hand in seine. Das Mädchen nickte ernst und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Es wird immer wehtun, aber solange meine Freunde bei mir sind, bin ich nicht einsam. Und auch bei dir wird das Gefühl der Einsamkeit schwächer werden, wenn du lernst, die, die dich lieben, nicht immer von dir zu stoßen, wenn sie dir helfen wollen. Vertraue darauf, dass sie dir helfen und an deiner Seite stehen, was auch passiert. Ich bin mir sicher, es gibt mindestens einen Menschen, der mir da sofort zustimmen würde.“ Obwohl sie niemand Bestimmtes benannt hatte, schaute Fye unwillkürlich zu Kurogane und dieser erwiderte den Blick mit einer Sicherheit versprechenden Ruhe. Die blassen Wangen verfärbten sich zartrosa und Fye beeilte sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Sakura zu richten. „Ein Mann, der dich für eine andere sitzen lässt, ist ein Idiot. Es tut mir Leid, Kleines. So etwas hast du nicht verdient!“, sprach er ehrlich, während er sie behutsam zu sich zog und umarmte. Sie erwiderte die tröstende Geste und blieb dann, der Gemütlichkeit wegen, halb auf ihm liegen. „Siehst du? Jetzt habe ich es dir erzählt und bin wieder nicht enttäuscht worden.“ Sie stupste ihre Nase aufmunternd gegen seine. Fye biss sich auf die Lippe. Er wollte nicht darüber reden. Viel zu groß war die Angst, zusammenzubrechen. Noch nie hatte er darüber gesprochen. Hatte es hingenommen und seinen Schmerz hinuntergeschluckt. Hatte nur dann geweint und geschrieen, wenn er allein war. Aber, auf der anderen Seite… Sakuras Worte klangen verlockend… Die Last nicht allein tragen zu müssen… Durfte er denn darauf hoffen? Hilflos suchte er den intensiven roten Blick. Kuroganes Lippen formten lautlos, dass er gern zuhören wollte. Fye schluckte. Seine Hand bewegte sich zaghaft über die Bettdecke und fand tatsächlich die des Schwarzhaarigen. Wortlos verhakten sie ihre Finger ineinander und er begann zu erzählen… „Ich… hatte bis vor einigen Jahren einen Bruder. Yui… Er hieß Yui und wir waren Zwillinge. Seit unserer Kindheit hatten wir immer nur uns selbst. Andere Kinder und später Jugendliche wollten nichts mit uns zutun haben, machten sich lustig über uns, weil wir ihnen unheimlich waren. Wir standen uns sehr nahe und waren uns wirklich sehr ähnlich, doch gab es auch Dinge, in denen wir uns voneinander unterschieden. Niemand machte sich die Mühe, diese Unterschiede zu suchen. Wir waren ziemlich einsam, und doch zufrieden, wenn wir einander hatten. Schließlich gab es dann doch zwei Jungen, mit denen wir uns anfreundeten. Sie waren ebenfalls Zwillinge und hatten ähnliche Ablehnung erfahren wie wir. Kamui und Subaru wurden zu unseren einzigen, aber besten Freunden und jahrelang waren wir vier unzertrennlich. Wir kannten einander in und auswendig und gingen nie im Streit auseinander. Yui und ich waren wirklich glücklich. Die anderen, die wir immer neidisch beobachtet hatten, interessierten uns nicht mehr. Und dann… dann… dann kam es zu diesem Unfall. Wir waren gerade fünfzehn geworden. Es war ein ziemlich kalter Winter. Yui und ich haben einen Spaziergang durch den Schnee gemacht. Ich… liebte den Schnee. Yui mochte ihn, aber ich liebte ihn. Ich wusste, wann es zu schneien begann, ich konnte ihn schon Stunden vorher riechen. Ich habe sein Glitzern geliebt und die kühlen Flocken. Für mich gab es nichts Schöneres auf dieser Welt, als mit meinem… Bruder durch den frisch gefallenen Schnee zu laufen. Doch an jenem Tag… Wir gingen nur ein kurzes Stück an einer Straße den Gehweg entlang. Und dann… dann war da plötzlich der Laster. Ist ins Rutschen gekommen, weil er keine Schneeketten an den Reifen hatte. Er kam von der Fahrbahn ab und raste genau auf Yui zu, der ein paar Meter vor gelaufen war. Er… er… er erwischte ihn frontal und… und…“ Fye versagte die Stimme. Geistesgegenwärtig presste er sich Kuroganes Handrücken auf den Mund und die Tränen, die er bis dato zurückzuhalten versucht hatte, flossen ihm heiß über die Wangen. Es dauerte, bis er weiter sprechen konnte. Sakura rutschte von ihm runter, damit Kurogane ihn stumm zu sich und in eine feste Umarmung ziehen konnte. Dort verkroch Fye sich, bis er wieder Luft bekam und brüchig fortfahren konnte. „Er war sofort... Ich hab es gespürt in dem Moment… Es hat sich angefühlt, als hätte mir jemand das Herz aus der Brust gerissen. Ich bin hingerannt und da lag er reglos im Schnee. Im weißen Schnee, der mich, im Blut getränkt, verhöhnte. Was dann passierte, wer den Krankenwagen rief und wie wir in die Notaufnahme gebracht wurden, weiß ich nicht mehr. Das einzige, woran ich mich noch erinnere, war, dass es in dieser Nacht sehr stark schneite… Ich habe es gehasst. Ich konnte den Schnee, der mir meinen Bruder genommen hatte, nicht mehr ertragen. Immer wenn ich versuchte, nur das glitzernde Weiß zu sehen, tauchten sofort die Bilder von ihm und dem dunklen Rot vor meinen Augen auf. Seit dem habe ich im Winter Gegenden mit starkem Schneefall vermieden. Ich bin umgezogen, in eine andere Stadt, um alles, was mit Yui zutun hatte, hinter mir zulassen. Vor allem Subaru und Kamui, deren Anblick ich ebenfalls nicht länger ertragen konnte. Wir waren eine Einheit gewesen, wir vier. Und es brachte mich fast um, sie komplett zu sehen, während mir das Herz blutete, weil die eine Hälfte fehlte. Und… obwohl es nun schon Jahre her ist, schmerzen sie sehr, diese Leere und dieses Gefühl, dass etwas fehlt, als wäre es erst gestern gewesen…“ Fye verstummte und schloss erschöpft die verweinten Augen. Es war anstrengend gewesen und doch hatte er, nachdem er einmal angefangen hatte, nicht mehr aufhören können. Kurogane hielt ihn fest, hatte ihn keine Sekunde losgelassen. Er sah den Blonden noch vor sich, wie er ihn vor Stunden gefunden hatte: Kniend und mit einem fassungslosen Blick auf den Schnee in den kalten Händen. Eine einzige Träne war von seinen Wimpern zu den gefrorenen Seinesgleichen getropft. Und endlich verstand er. Endlich verstand er den blonden, immer aufgedrehten Idioten, der solche Angst davor hatte, sich auf jemanden einzulassen, weil die Gefahr bestand, denjenigen genauso zu verlieren wie Yui. Doch er war nicht der einzige, der verstand. Rechts und linkts neben ihnen senkte sich die Matratze und Subaru schluchzte: „Oh Fye, es tut mir so Leid!“ Er und sein Bruder hatten die ganze Zeit schweigend auf Kuroganes Bett gesessen und alles mit angehört. Der Blonde erschrak, war aber viel zu durcheinander, um sich großartig aufzuregen. Außerdem beruhigte ihn Kuroganes beschützende Anwesenheit. „Wenn wir das gewusst hätten!“, fuhr der aufgelöste, kleinere Zwilling fort. „Wir hatten von Yui erfahren und wollten bei dir sein, doch du bist damals von heut auf morgen, ohne ein Wort, verschwunden. Wir waren gekränkt und traurig gewesen, weil wir euch beide auf einmal verloren hatten.“ Selbst die goldenen Augen des immer gefassten Kamuis schimmerten verdächtig, als er Fye eine Hand auf die bebende Schulter legte. „Verzeih mir, ich… hab nicht erkannt, was in dir vorgeht. Dabei hätte ich es mir denken können.“ Verwirrt schaute Fye seine alten Freunde abwechselnd an, wischte sich dabei schniefend mit einem Ärmel übers Gesicht. „Ich muss mich entschuldigen.“, nuschelte er. „Ich hätte nicht abhauen sollen, aber ich konnte einfach nicht mehr… Und als ihr am Sonntag plötzlich vor mir standet, kam alles wieder hoch und…“ „Ist doch okay, ist doch okay…!“, wisperte Subaru und fiel ihm um den Hals, sein Bruder tat es ihm nach. Lange saßen sie so da, selbst Kurogane, der Fye Halt gab, blieb wo er war. Sakura war irgendwann einfach neben ihnen eingeschlafen und niemand störte sich daran. Kapitel 4 Am Morgen des Heiligabends war das ganze Haus schon frühzeitig auf den Beinen. Es gab immerhin viel zutun und Yuuko wurde nicht müde, sie regelmäßig daran zu erinnern. Kurogane und Shaolan wurden erneut zum Holzhacken verdonnert, denn inzwischen lag so viel Schnee, dass er ihnen bis fast zu den Knien reichte, und so musste das Haus ordentlich beheizt werden. Kamui und Subaru mussten mit Mokona – das eher weniger eine nützliche Hilfe war – den Weg vor dem Haus frei schippen, während Fye und die Mädchen das Weihnachtsessen vorbereiteten. Die Stimmung war trotz allem losgelöst und entspannt. Fye konnte nicht sagen, woran es lag, aber er kam nun viel besser mit den Zwillingen klar. Sein Verlust schmerzte ihn noch immer, doch wie Sakura es gesagt hatte, war er nun nicht mehr allein mit seinem Kummer und so war der traute Anblick um einiges erträglicher. Zudem konnte er sich endlich wieder auf schöne Erinnerungen mit ihnen besinnen. Außerdem war da ja noch Kurogane, der, ob es ihm bewusst war oder nicht, eine ganz besondere Rolle in Fyes Leben spielte. Irgendwie schaffte er es, die Leere, die Yui in seinem Herzen hinterlassen hatte, langsam, nach und nach und Schritt für Schritt zu füllen… Gegen Mittag hatte Yuuko dann Erbarmen und entließ ihre Sklaven, nein Gäste, die in ihren Zimmern verschwanden und sich für einen gemütlichen Weihnachtsnachmittag umzogen. Wenig später fanden sie sich alle im Wohnzimmer zusammen und während sich Kamui und Tomoyo mit Klavierspielen abwechselten, unterhielten sie sich gut zu Kaffee und Kuchen, Plätzchen, Glühwein und Stollen. Geschenke gab es nicht und keiner vermisste sie. Stattdessen sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder, jeder, so gut er eben konnte. Dass hier und da falsche Töne erklangen, war egal. Jeder genoss das friedliche, mal alberne Beisammensitzen. Irgendwann, als es draußen schon fast dunkel war, schlug Mokona vor, einen Winterspaziergang zu machen. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen. Zumindest von den meisten. Fye wollte lieber im Haus bleiben, doch kaum hatten die anderen es verlassen, nötigte Kurogane ihn, doch mitzukommen. Schmollend stapfte der Blonde den anderen in einer Entfernung hinterher und versuchte seinen Freund mit Ignoranz zu strafen. Nur leider juckte das Kurogane überhaupt nicht, welcher ihm gemächlich nachschlenderte. Anfangs konnte Fye das glitzernde Weiß ganz gut ignorieren. Doch immer öfter ließ er sich davon ablenken. Da… eine unberührte Stelle… Der Ausdruck in Fyes Augen änderte sich, wurde kindlich neugierig, mit einem hübschen, aufgeregten Glänzen. Fye machte ein paar Schritte auf einer noch unberührten Schneefläche und blickte sich neugierig um. Da waren sie, die Abdrücke. Noch ein Schritt, noch ein Abdruck. Noch einer und noch einer. Tief sog er die klare, lang vermisste Schneeluft ein. Herrlich! Weitere Schritte und Spuren. Er bückte sich, um den kalten Puder an den Fingern zu spüren, warf ihn dann juchzend in den Wolken verhangenden Himmel. Als die Flocken zurückrieselten, versuchte er sie mit der Zunge zu fangen, doch der Großteil landete in seinen Haaren. Fye ließ sich fallen, bewegte Arme und Beine, und malte einen Engel in den Schnee, blieb dann liegen. Was tat er hier eigentlich…? Die Erinnerungen kamen jäh wieder auf. Rot…! Kurogane hatte seinen Freund beobachtet, sich ein kleines Lächeln erlaubt, und war ihm mit etwas Abstand gefolgt. Es gefiel ihm nicht, dass Fyes Stimmung plötzlich wieder umschwang, er einen Handrücken auf die Augen drückte und die Lippen so fest aufeinander presste, dass sie ganz weiß waren. „Hör auf damit.“, durchbrach der Schwarzhaarige die winterliche Stille. Er blieb zu den Füßen des Liegenden stehen und sah zu ihm hinab. Fye ließ den Arm sinken und erwiderte den durchdringenden Blick traurig. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Gefühle zu verbergen, Kurogane kannte sie doch eh in- und auswendig. „Du liebst das weiße Zeug immer noch, obwohl das mit deinem Bruder passiert ist. Lass es doch einfach zu.“, brummte Kurogane. Er war in solchen Dingen nicht gut, doch er gab sich Mühe, die richtigen Worte zu finden. Fyes Reaktion bestand aus einem beharrlichen Kopfschütteln. „Ich kann nicht… der Schnee war mein Freund… und dann hat er mich verhöhnt.“, gab er in kindlicher Manier, beinahe trotzig, aber mit unverkennbarer Trauer in der Stimme zurück. Schweigend betrachtete Kurogane den traurigen Blondschopf. Ihm war danach, ihn zu umarmen, doch erst musste das geklärt werden. Nur wie… mit der Stimmung, in der sich Fye gerade befand, dürfte das nicht einfach werden. Es war, als würde dort ein Kind liegen und kein Einundzwanzigjähriger. Und ganz intuitiv ging Kurogane genau darauf ein. Langsam ging er vor ihm in die Hocke. „Sieh es doch mal andersrum. Er war immer dein Freund, die ganze Zeit, und wird es immer sein. Du sagtest, in jener Nacht hat es besonders stark geschneit. Doch nicht, um dich zu verhöhnen, sondern um dich zu trösten und die blutroten Flecken zu verbergen. Du hast es selbst so bezeichnet, es war ein Unfall. Niemand konnte etwas dafür. Wenn es dir dann besser geht, gib dem LKW-Fahrer die Schuld, aber nicht etwas, das du liebst.“ Er machte eine Pause, um das Gesagte auf Fye wirken zu lassen, der sich aufgesetzt hatte. „Und unser Urlaub… Du wolltest hierher, weil es hier selten schneit. Und nun sieh dir diese Schneemassen an. Vielleicht ist das… dein kleines Weihnachtswunder.“ Kurogane musste sich zwingen, solche Worte in den Mund zu nehmen. Aber egal… ausnahmsweise. Weil es Fye war, zu dem er sie sagte. Auch wenn er es wahrscheinlich bereuen würde. Mit großen blauen Augen schaute Fye ihn an und dachte darüber nach. Sein kleines Weihnachtswunder? Der Schnee? Sein geliebter Schnee, durch den er so gern mit Yui gewandert war? Etwas, das er nun nicht mehr konnte… Nein, aber jetzt hatte er Kurogane, der inmitten der Flocken bei ihm war. Und schon das allein war Grund genug, es zu mögen. Fye blinzelte, ein unsicheres Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. „Meinst du wirklich?“, hakte er nach. Als Antwort nickte der Schwarzhaarige und reichte ihm seine Hand. Er half dem Blondschopf auf die Beine, doch diese versagten Fye plötzlich den Dienst und er taumelte gegen Kurogane. Errötend sah er zu ihm auf, in die warmen, feuerroten Augen, in die er so gerne schaute – besonders wenn sie ihn so sanft anblickten wie in diesem Moment. Kuroganes Hand verselbstständigte sich und glitt streichelnd über Fyes Wange. Beinahe zärtlich strichen die Fingerspitzen die Konturen des fein geschnittenen Gesichtes nach und ein paar helle Strähnen beiseite. Ein warmes, kitzelndes Gefühl breitete sich in Fyes Bauch aus, als er sich auf die Zehenspitzen stellte und… Gerade wollte er die Augen schließen, als er seinen Blick plötzlich in den Himmel richtete. Kurogane blinzelte und tat es ihm nach. Eine schwere Wolkendecke machte es unmöglich, Sterne sehen zu können. Doch das machte nichts. „Es wird gleich wieder anfangen, zu schneien.“, flüsterte der Kleinere und tatsächlich, keine Minute später segelten viele, dicke Schneeflocken herab. Als hätten sie die Worte gehört. Fye lächelte, während er seinem Bruder gedachte, und lehnte sich an Kurogane. Dieser öffnete seinen Mantel und wickelte seinen Blondschopf mit darin ein. Gemeinsam sahen sie dem weißen Treiben zu, und obwohl es längst dunkel war, erhellte der glänzende Schnee die Umgebung. „Kuro-sama?“ „Hm?“ „Seit wann schwingst du eigentlich solche blumigen Reden?“ „…Guck in den Himmel und den Flocken beim Fliegen zu.“ „Da seid ihr ja endlich!“, lachend begrüßte Sakura sie, als sie durchgefroren, aber mit rosigen Wangen ins Wohnzimmer kamen. Es war Fye anzusehen, dass es ihm gut ging. Der traurige Schleier war aus seinen Augen verschwunden. Es war, als hätte ihm jemand einen riesengroßen Stein vom Herzen genommen. Während Fye sich von Sakura umarmen ließ, zwinkerte Tomoyo Kurogane vertrauensvoll zu. Er schenkte ihr dafür ein kleines Lächeln. „Hey, ihr steht unter einem Mistelzweig!“, verkündete Mokona plötzlich und Fye und Kurogane sahen nach oben. Tatsächlich… Ob es das Grünzeug gerade dahin gehangen hatte? Kurogane zuckte mit den Schultern und grinste auf einmal. „Na, dann werde ich dir mal zeigen, wie man das richtig macht.“ Ehe Fye sich darüber entrüsten konnte, hatte Kurogane sanft sein Gesicht umfasst und ihre Lippen liebevoll aufeinander gelegt. Die Jubelrufe der anderen bekamen sie kaum noch mit, während sie in ihrem Kuss versanken. Und Fye wusste nun sicher: Solange Kurogane bei ihm war, hatte er nichts mehr zu befürchten. Epilog „...Und so nahm alles doch noch ein glückliches Ende.“ Ich hatte zwischenzeitlich die Augen geschlossen und sah nun die Kinder an. Sie wirkten nachdenklich und gleichzeitig tief bewegt. Die Kleine auf meinem Schoß nuschelte: „Mir hat sie gefallen, deine Geschichte.“, und gähnte, rieb sich die kleinen, müden Augen. „Ich glaube“, sprach das Kind, das vorhin nach den Geschenken gefragt hatte, „...ich habe verstanden, was du mit dem Geist der Weihnacht gemeint hast. Es geht nicht um materielle Dinge, sondern um unsere Gefühle. Um das, was uns wichtig ist. Darum, dass wir zu Weihnachten mit den Menschen zusammen sind, die wir lieben, dass wir für sie da sind und einander helfen. Es geht darum, dass wir in der Weihnachtszeit das tun, was uns viel bedeutet. Und das kann für jeden etwas anderes sein. Was zählt, ist das Gefühl, der Geist der Weihnacht.“ Beeindruckt und ein bisschen stolz nickte ich. Ich hatte befürchtet, dass die Geschichte für sie noch zu schwer war, hatte ein paar Dinge abgeschwächt beziehungsweise ausgelassen, weil sie noch zu jung dafür waren. Doch auf ihre eigene Art und Weise hatten sie verstanden, was ich ihnen hatte sagen wollen. „Also schön, Kinder. Einige von euch sehen schon ziemlich müde aus. Macht euch fertig und geht ins Bett.“ Einige gähnten verstohlen, versuchten die Müdigkeit zu verbergen. Doch die Geschichte geisterte ihnen noch durch die Köpfe, sodass sie sich brav erhoben, mich nacheinander umarmten und dann die Kleinsten in ihre Mitte nahmen. Ich sah ihnen nach, als sie mit einem Gutenachtgruß das Zimmer verließen. Zufrieden streckte ich mich und erlaubte mir ein herzhaftes Gähnen. Ich vernahm das gedämpfte Geräusch nahender Schritte und ehe ich mich umdrehen konnte, legte mir jemand warm seine Hand auf die Schulter. „Na? Haben sie dich geschafft?“, fragtest du und lächeltest zu mir hinab. „Hm-m, aber sie waren ganz lieb.“ Du drücktest meine Schulter kurz. „Welche Geschichte hast du ihnen erzählt?“ Ich lachte leise und zog dich zu mir. Bevor ich dich küsste, antwortete ich flüsternd: „Unsere.“ Owari Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)