Der ganz normale Wahnsinn 1: Bittersweet Symphony von Konnichi (Teil 1/3) ================================================================================ Kapitel 3: Ein Stück Hintergrund -------------------------------- Neugierig lief Rico durch die Gänge des Krankenhauses und sah sich um. Es gab nicht viel Interessantes; hier sah es aus wie in jedem anderen Krankenhaus auch. Frustriert über die Langeweile seiner Umgebung kehrte er in sein Zimmer zurück und fand zu allem Überfluss auch noch Lucas schlafend vor. Hier musste es doch irgendwas zu tun geben. Fieberhaft überlegend ging er wieder auf den Balkon und machte sich eine Kippe an. War ihm egal, ob man das hier durfte oder nicht. Verdammt, das tat weh. Er hatte ganz vergessen, dass er nicht tief atmen konnte aber seine schmerzenden Rippen riefen ihm diese Tatsache wieder ins Gedächtnis. So ein Mist. Nichtmal seine tägliche Dosis Nikotin war ihm vergönnt. Immerhin war es ein Grund, zumindest kurzfristig, mit dem Rauchen aufzuhören. Er hatte vor drei Jahren wieder damit angefangen, als es bei der Geburt seiner Tochter Cristina Komplikationen gegeben hatte. Immerhin hatte es ihm geholfen, die Nerven zu behalten. Und der Gedanke an seine Familie half ihm auch jetzt und plötzlich hatte er etwas zu tun. Er würde sie anrufen; es wurde so langsam Zeit. Gut gelaunt ging er zum Empfang und kaufte sich eine Telefonkarte. Es dauerte eine Zeit, bis er herausgefunden hatte wie das mit dem Telefon funktionierte und schließlich klingelte es auf der anderen Seite. Und es klingelte. Zehnmal piepste es, dann wurde die Leitung unterbrochen. Das war frustrierend. Aber er fand sogleich eine andere Möglichkeit. Matteo wohnte direkt neben ihm und seine Frau Carla war um diese Uhrzeit bestimmt zu Hause. Gespannt wartete er und tatsächlich antwortete sie nach dem dritten Klingeln. In aufgeregtem Italienisch fragte sie ihn, wie es ihm ginge und wartete kaum seine Antworten ab. Sie war das krasse Gegenteil von Matteo: Überaus aufgedreht, unordentlich und unvernünftig; eine sture Kämpferin, die mit allem fertig wurde und fast immer bekam was sie wollte. Das einzige, was die Beiden gemeinsam hatten, war das Temperament und wenn sie sich mal stritten konnte Rico danach in seinem Garten die Scherben der Fenster aufsammeln. Sie waren echt ein seltsames Paar. „Rico?! Hörst du mir überhaupt zu?“, sagte Carla immer noch aufgeregt. „Entschuldige, was hast du gesagt?“, fragte er und wachte aus seinen Gedanken auf. „Ich hab gesagt, Myriam ist so gut wie unterwegs zu dir. Es gab ein paar Probleme wegen dem Visum und so. Sie hat die Kinder bei mir gelassen. Wäre ja auch unmöglich gewesen, die Beiden mitzunehmen... Sie schlafen schon. Laura versteht sich total gut mit Noemi aber ich mach mir Sorgen um Cristina“, antwortete sie so schnell, dass er Mühe hatte zu folgen. „Was ist denn mit ihr?“, fragte Rico alarmiert und wurde endgültig aufmerksam. „Ich weiß nicht, es ist generell... Nimm´s mir nicht übel, aber kann es sein, dass sie ein bisschen... seltsam ist?“ Fast hätte er gelacht. Das fiel ihr erst jetzt auf? Seine Kleine war seltsam, das konnte man nicht leugnen. Sie war ungewöhnlich intelligent für ihr Alter und hatte lieber mit Erwachsenen zu tun als mit Kindern. Sie war drei Jahre alt und hatte vor Kurzem versucht sich selbst das Lesen beizubringen. Außerdem war sie von Natur aus eher verschlossen, was ihr Leben schwerer machte. Sie hatte keine Freunde aber das schien sie nicht zu stören; sie lebte in ihrer eigenen Welt und dachte sich gern irgendwelche Geschichten aus. Und sie tat immer, was sie wollte. Wenn sie um zwei Uhr morgens spazieren gehen wollte, dann tat sie es. Sie war ihr eigener Herr und ließ sich nicht gerne etwas vorschreiben. Trotzdem war sie sehr vernünftig. Er hatte Angst, dass sie irgendwann bald erwachsen wurde. Er wollte nicht, dass Cristina keine Kindheit hatte, so wie das bei ihm der Fall gewesen war. Das war auch der Grund, warum er nie versucht hatte, an ihrer Seltsamkeit etwas zu ändern. Er war geduldig mit ihr und akzeptierte sie so wie sie war. In seiner Familie gab es nur zwei weitere Menschen, die das schafften, nämlich seine Mutter und seine 16-jährige Halbschwester Marina, die ihre Nichte immer als „voll cool“ bezeichnete. Carla sprach wieder mit ihm. „Also ich weiß nicht, vielleicht solltest du die Sache mal im Auge behalten. Manchmal tritt sie so weg und starrt vor sich hin. Dann muss man sie erst wieder in die Realität zurückholen“, meinte sie besorgt. „Mach dir keine Sorgen, das ist normal. Wenn sie das macht, denkt sie sich grade wieder eine von ihren Geschichten aus, die sie dann ihrer Schwester erzählt. Wenn ihre Schwester grade nicht da ist, dann kommt es auch schonmal vor, dass sie mit der Katze redet oder mit den Möbeln, weil die antworten ihr genausowenig“, erklärte er. Es war wahr. Die kleine Laura, erst ein Jahr alt, sah ihre Schwester immer nur mit großen Augen an, wenn die ihr von Feen und Einhörnern erzählte. Also machte es für Cristina keinen Unterschied ob sie mit Menschen sprach, die ihr nicht antworteten und sie nicht verstanden, oder mit Tieren und Gegenständen. Vor Kurzem hatte Rico sie im Badezimmer angetroffen, wo sie der Dusche ihre neuste Story erzählte. „Hm. Na ja, wenn du meinst. Aber sie wird es nicht einfach haben, in der Schule und so, das kann ich dir jetzt schon sagen“, sagte Carla und klang dabei irgendwie wie ihre eigene Mutter. „Sie wird ihren Weg finden. Und wenn nicht, dann werde ich ihr helfen“, entgegnete Rico bloß. Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang und legten schließlich auf. Im selben Moment wachte Lucas auf und beklagte sich zum wiederholten Mal, dass ihm langweilig war und er das Bett ungemütlich fand. Rico hatte eine Idee, was sie tun konnten. Er fand ein Kartenspiel in seiner Tasche und sie hatten zumindest kurzfristig Beschäftigung. „Zu zweit macht das irgendwie keinen Spaß...“, murmelte der Jüngere irgendwann. Fünf Minuten später kam seine kleine Schwester zu Besuch und sie konnten sie überreden mitzuspielen. Irgendwann gesellte sich auch Alex wieder zu ihnen und gewann von da an ein Spiel nach dem anderen. Nach einigen Stunden voller Kartenspiele ging Luna wieder und auch Rico machte sich auf den Weg noch einmal spazieren zu gehen. Aber er kam nicht weit, denn ihm wurde schwindelig und er musste in sein Zimmer zurückkehren. Er fragte sich, ob das von dem Absturz kam oder einen anderen Grund hatte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ihm das passierte. Kaum hatte er sein Bett erreicht durchfuhr ihn ein altbekannter Schmerz. Ach so, das war es. Das Schmerzmittel ließ so langsam nach und sein Körper beschwerte sich über den unfreiwilligen Drogenentzug. Hastig kramte er in seiner Tasche nach seinen Tabletten. Seit zwei Monaten überstand er keinen Tag mehr ohne diese Medikamente. Er hatte versucht sich selbst von seiner Heroinsucht zu heilen aber die Entzugserscheinungen waren ihm über den Kopf gewachsen. Die Schmerzen hatten ihn umgehauen und er hatte zu diversen Schmerzmitteln gegriffen, damit es keiner merkte. Nur Paddy wusste nämlich von seinen Drogenproblemen und er wollte um jeden Preis verhindern, dass es jemand anders mitbekam. Also hatte er andauernd diese Tabletten geschluckt und irgendwann war es zur Gewohnheit geworden. Er hatte die eine Sucht für eine andere aufgegeben. Aber von Heroin abhängig zu sein war weit schlimmer gewesen. Es war teurer, gefährlicher und die Entzugserscheinungen waren viel krasser. Außerdem musste er bei der Arbeit immer aufpassen. Rico hatte genug Verstand, um nicht zugedröhnt ein Flugzeug zu steuern, auch wenn er nur Frachtmaschinen flog. Deswegen hatte er immer versucht seinen Heroinkonsum minimal zu halten. Aber er konnte es sich auch nicht erlauben, während dem Start plötzlich furchtbar zu zittern. Nach diversen Selbstversuchen und einigen abgesagten Flügen, weil er zu nichts mehr imstande war, hatte er endlich eine Lösung gefunden. Er musste bloß darauf achten, dass sein Trip beim Start noch nicht ganz vorbei war und er so schon wieder einen klaren Kopf hatte. Wenn sie erstmal in der Luft waren gab es immer noch den Autopiloten oder den Copiloten, meistens sein Freund Paddy. Wenn alles okay war ging Rico aufs Klo und setzte sich einen Schuss, und zwar genau die richtige Menge, um bei der Landung wieder voll da zu sein. Vor den routinemäßigen Untersuchungen, die für Piloten vorgeschrieben waren, ging er immer seinen Kumpel im Krankenhaus besuchen, der ihn einer Blutwäsche unterzog, damit die Ärzte keine Spuren der Drogen in seinem Blut finden konnten. Bis jetzt hatte es immer gut geklappt. Aber vor Kurzem waren sein Beruf und seine Sucht in Konflikt geraten. Er hatte sich aus Versehen eine kleine Überdosis verpasst und den Großteil der Reise unzurechnungsfähig auf dem Klo verbracht, wo der Flugingenieur ihn schließlich fand. Zum Glück war sein Gehirn zu dem Zeitpunkt schon wieder so weit eingeschaltet gewesen, dass er ihm erzählen konnte ihm wäre schlecht geworden. Er hatte das Flugzeug zwar noch sicher auf den Boden gebracht aber beschlossen, dass es einfach zu gefährlich war, so weiterzumachen. Und von da an hatte er versucht dagegen anzukämpfen und es schließlich auch mehr oder weniger geschafft. Diese Schmerztabletten waren auf jeden Fall eine gute Alternative, denn sie betäubten nicht nur Schmerzen sondern auch die Nerven und die Gefühle aber man wurde nicht high davon, was ein großer Vorteil war. Aber er fragte sich, wie lange er das machen konnte. Die Dinger hatten doch bestimmt irgendwelche langfristigen Nebenwirkungen. Es gab keine Droge, egal ob medizinisch oder nicht, die ohne Nebenwirkungen funktionierte. Rico gab diese sinnlosen Überlegungen auf und trat auf den Balkon. Die untergehende Sonne tauchte die überfüllte Stadt in einen goldenen Glanz und ein erfrischender Wind wehte. Abwesend betrachtete er die Szene und ließ sich von den Geräuschen der Autos und Menschen auf der Straße beruhigen. Fast wären seine Gedanken wieder abgedriftet, da kam jemand durch die Balkontür und sprach ihn an. „Nette Aussicht, oder?“, meinte Alex, stellte sich neben ihn und ließ seinen Blick über die Stadtlandschaft schweifen. „Sag mal, wie hat es dich eigentlich hierher verschlagen?“, fragte Rico. Das wollte er schon die ganze Zeit wissen. „Mein Chef hat mich geschickt. Ich arbeite als Buchhändler und als letzten Auftrag, bevor ich meinen eigenen Laden bekomme, sollte ich hierher fliegen und einen Amerikaner besuchen, der einige alte Bücher zu verkaufen hat. Na ja, ich hab´s noch nicht bis zu ihm geschafft... Und du? Warum bist du hier?“, sagte Alex und sah ihn neugierig an. „Ich wollte meine Freunde besuchen; die Beiden, die hier waren. Sie arbeiten als Journalisten. Ich hab in letzter Sekunde noch einen Platz in dem Flugzeug gekriegt“, erzählte der Gefragte. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile und es stellte sich heraus, dass sie bald praktisch Nachbarn werden würden. Rico zählte zu den wenigen Normalsterblichen, die ein mittelgroßes Haus im Steuerparadies Monaco ihr Eigen nennen konnten. Er hatte es von seiner Oma geerbt, die es aus unerklärlichen Gründen schon immer besessen aber nie bewohnt hatte. Das Haus lag ganz am Rand des Stadtstaats, neben ihm wohnte nur noch Matteo mit seiner Familie. Man musste von seiner Haustür aus nur die Straße überqueren und schon stand man am Strand. Es war ein Haus, wie jeder eins wollte. Alex besaß ein Ähnliches, nur ohne die Verbindung zum Meer. Es war nicht so direkt sein Haus; es gehörte seiner Frau und teilweise ihrer Familie. Und der Buchladen, den er im Zentrum eröffnen würde gehörte auch nicht ganz ihm, sondern zur Hälfte seinem jetzigen Chef, dem er jeden Monat Abgaben zahlen würde, um ihm die andere Hälfte abzukaufen. „Was denkst du, ist es irgendwie Schicksal, dass wir uns hier treffen?“, fragte Rico leicht belustigt. „Schon möglich. Normalerweise glaube ich nicht an sowas aber so einen großen Zufall kann es eigentlich gar nicht geben“, antwortete Alex. Diese Antwort versetzte Rico einen leichten Stich. Der Mann glaubte also nicht an das Schicksal; hatte der es gut. Er selbst war überzeugt davon, dass alles was ihm passierte Schicksal war. Die ganzen schlechten Erfahrungen seines Lebens waren eine Strafe des Schicksals für irgendetwas und er fragte sich schon die ganze Zeit für was. Er war sich sicher, dass er das alles schuld war; die Sache mit seiner Schwester, das jahrelange Mobbing in der Schule, die Probleme seiner Eltern miteinander, dieser Flugzeugabsturz... Die Liste würde ewig lang werden, wenn er weiterdachte. Aber Alex riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich geh jetzt schlafen. Bin todmüde. Das solltest du vielleicht auch tun; du schläfst ja fast im Stehen“, meinte er und verließ den Balkon wieder. Er hatte Recht. Rico merkte erst jetzt, wie müde er eigentlich war und auch er begab sich in sein Bett. -------------------------------------- Okay, ich gebe zu, dass dieses Kapitel möglicherweise nicht wirklich plausibel ist. Aber das ist alles Absicht... XP Außerdem ist der Titel doof. Hat jemand einen besseren? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)