Der ganz normale Wahnsinn 1: Bittersweet Symphony von Konnichi (Teil 1/3) ================================================================================ Kapitel 1: Der Absturz ---------------------- Rico erwachte aus einem tiefen Schlaf. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt. Kein Geräusch war zu hören und als er die Augen öffnete war alles um ihn herum weiß. War er tot? Er hatte von einem Flugzeugabsturz geträumt. War das etwa wirklich passiert? Der weiße Raum war vielleicht so eine Art Zwischenwelt. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es im Jenseits so langweilig aussah. Er hörte Schritte, die näher kamen und sich dann wieder entfernten. Neugierig versuchte er sich umzusehen. Er konnte sich zwar nicht viel bewegen, erkannte aber schließlich auf der anderen Seite des Raums ein großes Fenster. Nun wurde ihm auch der medizinische Geruch bewusst und die Gespräche auf dem Flur. Er war nicht tot; er war im Krankenhaus! An dem Ort, wo er am wenigsten sein wollte. Der Mann schaffte es, seinen Kopf so weit zu drehen, dass er den Rest des Raums überblicken konnte. Im Bett neben ihm lag ein Junge mit zwei gebrochenen Beinen, der verzweifelt an die Decke starrte, daneben stand noch ein Bett, das auch von einer männlichen Person belegt war, soweit er sehen konnte. Der verzweifelte Junge war auf ihn aufmerksam geworden und sah ihn aus traurigen dunklen Augen an. „Hey, warst du auch in dem Flugzeug?“, fragte er leise auf Portugiesisch. „Ja, wieso?“, antwortete Rico mit heiserer Stimme. Der Junge seufzte und sah wieder an die Decke. „Ich war der Pilot“, sagte er dann und brach in Tränen aus, „Es tut mir so leid“ Rico war sprachlos. Dieser kleine Kerl war der Pilot gewesen? Kein Wunder, dass sie abgestürzt waren. Der Junge war doch höchstens achtzehn, es war fast unmöglich, dass er schon Pilot war. Rico musste es schließlich wissen, er war nämlich selbst einer. Die Zimmertür ging auf und eine Ärztin stand da. „Sie sind aufgewacht; das ist gut. Wie geht es Ihnen?“, fragte sie Rico. „Ging schonmal besser. Abgesehen davon, dass ich mich nicht bewegen kann ist alles okay“, antwortete er und sie lächelte aufmunternd. „Das liegt daran, dass Sie drei Rippen gebrochen haben und voll unter Schmerzmittel stehen. Allerdings können Sie froh sein, dass es nicht schlimmer ist“ Sie kam rüber und sah sich den Patienten genauer an. „Wann komme ich denn hier wieder raus?“, fragte der schon fast ungeduldig. „Sobald Sie sich wieder bewegen können und sich stark genug fühlen. Sie können dann nach Hause fliegen, müssen sich aber noch längere Zeit schonen“ Sie sagte das als ob sie wüsste, dass das so gut wie unmöglich für ihn war. „Kann ich wieder arbeiten, wenn ich gesund bin?“, fragte er gespannt und war erleichtert als sie nickte. Die Ärztin wollte noch etwas sagen, aber da piepste es in ihrer Tasche und sie musste gehen. „Was arbeitest du?“, fragte der Junge, der für die ganze Misere verantwortlich war. „Ich bin Pilot“, antwortete Rico mit einem bitteren Lächeln. „Ist nicht wahr...“, murmelte der Kleine fassungslos und wurde noch blasser. „Ich bin übrigens Ricardo, aber alle nennen mich Rico“, versuchte der Ältere ihn abzulenken. „Mein Name ist Lucifer. Glücklicherweise werde ich immer Lucas genannt“, sagte der Andere. „Hast du echt dieses Flugzeug geflogen?“, wollte Rico wissen. Lucas nickte. „Es hatte ein technisches Problem und ist immer weiter gesunken, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich sind wir an einigen Bäumen hängen geblieben und auf einem Feld ziemlich unsanft gelandet. Zum Glück haben die meisten Menschen überlebt. Es tut mir alles so leid“, erklärte der Jüngere. „Es sind echt Leute dabei gestorben? Also normalerweise darf das bei einer Notlandung nicht passieren“, sagte Rico lauter als vorher. „Ich weiß es auch nicht. Es tut mir leid; es ist einfach so passiert“, rief Lucas aufgebracht. „Also, Jungs, ich weiß ja nicht worüber ihr streitet, aber geht das nicht ein bisschen leiser? Ich hab Kopfweh“, meldete sich eine Stimme in akzentuiertem Englisch aus dem dritten Bett. Die beiden anderen waren auf einen Schlag ruhig. Wer war der denn jetzt schon wieder? „Bist du auch ein Opfer von dem Flugzeugabsturz? Dann bedank dich bei dem da“, sagte Rico und fragte sich im selben Moment, warum er seine schlechte Laune eigentlich an Lucifer ausließ. „Ja, ich war in dem Flugzeug, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was los war. Solange ich das nicht weiß, werde ich keinen verurteilen, der vielleicht gar keine Schuld hat“, antwortete der Mann. „Du bist komisch“, stellte Rico fest. „Nein, ich bin Alex“, sagte der Andere. „Alex... kommst du aus Deutschland?“, fragte der bewegungslose Rico, der nicht einmal wusste, wie sein Gesprächspartner aussah. „Nicht ganz. Ich komme aus Österreich. Aber du bist aus good old Germany; das hört man nämlich“, antwortete der Angesprochene auf Deutsch mit diesem lustigen Akzent, den Rico sehr mochte. Plötzlich flog die Tür schwungvoll auf und ein kleines, schwarzhaariges Mädchen betrat den Raum. Mit einem Freudenschrei sprang sie auf Lucifers Bett, umarmte ihn und fing an in unvorstellbarer Geschwindigkeit auf Portugiesisch zu reden. Alles, was Rico mitbekam war, dass sie sehr besorgt gewesen war und die Ärzte sie nicht früher zu ihnen lassen wollten. Mit einer Engelsgeduld hörte Lucas sich alles an und als sie endlich wieder aufhörte zu reden wandte er sich an die Anderen: „Leute, das ist meine kleine Schwester Gabriela. Sie redet immer und überall“ Das Mädchen strich den schwarzen Haarvorhang aus ihrem Gesicht und lächelte freundlich in die Runde. Rico traf fast der Schlag, als er in ihr Gesicht blickte. Sie war nicht nur unglaublich hübsch, sondern sah seiner verstorbenen Zwillingsschwester Lucia täuschend ähnlich. Mit Mühe konnte er seine Gedanken sammeln und wenigstens ein schwaches „Hallo“ hervorbringen nachdem Lucas ihn vorgestellt hatte. Sie sah ihn aber auch ziemlich fasziniert an, was er sich nicht wirklich erklären konnte, denn so gut sah er nun auch wieder nicht aus (seiner Meinung nach). „Ich kenn´ dich“, sagte sie nach einer Weile. „Ach, wirklich?... Woher denn?“, fragte er verwundert. „Weiß ich nicht. Aber ich kenn´ dich“, antwortete das Mädchen und musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu. Rico war zutiefst verwirrt. Warum sah sie ihr so ähnlich? Vielleicht war das auch nur Einbildung; eine Sinnestäuschung ausgelöst durch den Schlag auf den Kopf, oder so. Aber auch ihre Bewegungen und ihre Art zu sprechen waren genau wie die von Lucia. Rico glaube nicht an Wiedergeburt aber das hier war schon gruselig. Und selbst wenn das grundsätzlich möglich wäre, hätte es doch in diesem Fall nicht ganz hingehauen. Seine Schwester war vor elf Jahren gestorben. Und Gabriela war definitiv älter als elf. Er versuchte seine Gedanken wieder von dem schmerzhaften Verlust abzulenken. Wie lange war er eigentlich schon in diesem Krankenhaus? Und warum war er in diesem Flugzeug gewesen? Ach ja, richtig. Er wollte seine Freunde besuchen, zwei Journalisten, die in Brasília an einem größeren Projekt beschäftigt waren und die er schon länger nicht mehr gesehen hatte. Deshalb hatte er direkt nach seiner Ankunft in São Paulo diesen Flug gebucht und tatsächlich den letzten freien Platz in der Maschine bekommen. Wenn er fünf Minuten zu spät gewesen wäre, würde er bestimmt jetzt nicht bewegungsunfähig hier liegen. Die Tür öffnete sich wieder und besagte Journalisten standen im Zimmer. Matteo Vincenci, der wahrscheinlich ordentlichste und pünktlichste Italiener der Welt und sein Kollege und bester Freund Joona Tarkinnen, ein überaus gesprächiger und aufgedrehter Finne. Beide sahen blass und besorgt aus, wobei das bei Matteo noch mehr auffiel. „Rico, zum Glück bist du am Leben! Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wie geht´s dir? Na ja, okay, gut wohl nicht... Ich würde dich ja gern umarmen, aber ich glaub, dann stirbst du vor Schmerzen...“, sagte Joona in gewohnter Geschwindigkeit. Der leicht überrumpelte Rico konnte nur lächelnd nicken, was wohl alle seine Fragen beantwortete. „Und das ist dir alles nur passiert, weil du uns besuchen wolltest. Nicht zu fassen. Dann ist es ja theoretisch unsere Schuld“, fuhr der Finne fort und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Matteo, schlag ihn mal kurz, damit er aufhört so´n Zeug zu denken“, sagte Rico scherzhaft und der Angesprochene lachte kurz auf, wobei sein Gesicht schon wieder etwas mehr Farbe bekam. Rico und Joona hatten es sich zur Aufgabe gemacht den chronisch-depressiven Matteo immer wieder aufzuheitern und in egal welcher Situation zum Lachen zu bringen. Das war ziemlich einfach, es sei denn er war mal wieder an einem Tiefpunkt angelangt. „Ach, übrigens, wir haben Myriam angerufen. Sie macht sich tierische Sorgen und kommt hierher sobald sie kann“, sagte Joona gut gelaunt. Sie hatten seine Frau angerufen? „Was habt ihr ihr erzählt? Ihr wisst doch, dass sie schnell die Nerven verliert“, sagte er besorgt. In letzter Zeit war sie wirklich wieder ein totales Nervenbündel geworden. „Nur die Wahrheit. Wir dachten, sie sollte es wissen“, meinte Matteo beruhigend. „Matteo? Bist du das wirklich?“, meldete sich eine Stimme hinter ihnen. Gabriela sah ihn mit ihrem prüfenden Blick an. „Luna? Krass, dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen“, antwortete der Angesprochene. „Luna?!“, fragten Rico und Joona gleichzeitig. „Das ist mein Spitzname. Sie nennen mich so, weil ich unbedingt eines Tages auf den Mond fliegen will“, erklärte das Mädchen. „Sie war mal mit meinem Cousin zusammen. Daher kennen wir uns“, sagte Matteo. „Und jetzt weiß ich auch wieder, woher ich dich kenne“, fügte sie an Rico gewandt hinzu, „Matteo hat da so ein Foto, das mir mal in die Hände gefallen ist... Was für ein Zufall...“ Sie grinste gut gelaunt und unterhielt sich dann wieder mit ihrem Bruder. Jetzt, da er Besuch von seinen Freunden hatte, fühlte Rico sich gleich viel besser und Lucifer ging es wohl auch so. Nur Alex, der Mann im letzten Bett, war ganz allein und starrte anscheinend an die Decke. Rico fühlte eine seltsame Verbundenheit zu ihm, als wäre es Schicksal, dass sie sich hier begegneten. Er spürte auch, dass es ihm wohl nicht so gut ging. Unauffällig gab er seinen Freunden ein Zeichen, die aber anscheinend nicht merkten, was er von ihnen wollte. Na dann musste er es anders anstellen. Er hoffte, dass Alex kein Russisch und auch kein Spanisch sprach, denn in einer Mischung aus diesen beiden Sprachen bedeutete er Joona, mit seiner guten Laune mal in die andere Ecke des Raums zu gehen. Mehr oder weniger (un-)offensichtlich schlenderte der Finne zum Fenster und fing gut gelaunt ein Gespräch mit Alex an. „Das war eine gute Idee“, sagte Matteo grinsend zu seinem Freund und ließ sich dann mit ernsterem Gesichtsausdruck zaghaft auf dessen Bett nieder. Mit einem melancholischen Lächeln strich er eine widerspenstige Strähne aus Ricos Gesicht. Der Liegende ergriff seine Hand. „Ich bin so froh, dass ihr da seid... Danke“, sagte er leise und küsste zärtlich Matteos lange schlanke Finger, woraufhin der Mann leicht errötete. Wenn jemand sie beobachtete und es nicht besser wusste, der hätte sie für ein Liebespaar gehalten aber das waren sie keineswegs. Sie waren einfach nur sehr gute Freunde, die sich ihre Freundschaft nunmal so zeigten. Außerdem halfen diese Zärtlichkeiten Matteo aus seinen Depressionen raus und momentan steckte er offensichtlich wieder in einer sehr Ernsthaften fest. Rico wusste nur zu gut, wie tief er fallen konnte, wenn man ihn nicht rechtzeitig auffing. Immerhin kannten sie sich schon seit sechs Jahren und in dieser Zeit waren sie beide öfters ganz unten gewesen und hatten sich gegenseitig wieder hochgeholfen. Jetzt war Matteo wieder am abstürzen. „Was ist los mit dir?“, fragte Rico. „Es ist nichts. Bitte mach dir keine Sorgen“ Der Italiener konnte ihm nicht in die Augen sehen. Das war ein klares Anzeichen dafür, dass er log. „Ich mache mir mehr Sorgen, wenn ich nicht weiß, was du hast“, entgegnete der Liegende. „Weißt du, einerseits bin ich überglücklich, dass du am Leben bist... aber meine Schwester... Sie ist auch im Krankenhaus und dreimal darfst du raten wieso... Sie hat gesagt, sie wäre die Treppe runtergefallen“ Rico hatte schon geahnt, dass sowas kam. Matteos Schwester Barbara lebte zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bei ihrem Vater, der sie schlicht und ergreifend als Haushälterin brauchte. Außerdem ließen die Männer des Hauses grundsätzlich ihre ungezügelten Aggressionen an ihr aus. Sie behauptete immer, es wäre nicht wahr und dachte sich irgendwelche Ausreden aus, wenn sie wieder mit Knochenbrüchen in die Klinik kam. Wahrscheinlich drohten sie ihr mit etwas viel Schlimmerem, wenn sie es verriet. Matteo hatte diese Hölle als Kind selbst erlebt und wollte seiner Schwester helfen, aber sie ließ ihn ja nicht. Aber Rico wusste auch nicht weiter. Sie hatten dieses Thema schon so oft besprochen und sie hatten beide schon versucht mit Barbara zu reden aber es brachte nichts. Wenn sie nur endlich den Mut fassen könnte, zur Polizei zu gehen... „Da ist noch etwas“, begann Matteo, „Wir haben versucht, Paddy bescheid zu sagen was passiert ist, aber er ist irgendwie nicht zu erreichen. Letztens habe ich ihn zufällig gesehen. Meine Güte, der sieht ganz schön schlimm aus in letzter Zeit“ Da hatte er wohl Recht. Paddy, Patrick O´Brian, war einer von Ricos besten Freunden. Sie kannten sich seit fast zwanzig Jahren und waren miteinander aufgewachsen. Dabei war Rico immer so etwas wie Paddys großer Bruder gewesen und hatte auf ihn aufgepasst. Aber seit einiger Zeit ging es dem Jungen nicht so gut. Rico hatte versucht rauszufinden was los war aber der irische Sturkopf seines Freundes schien in dieser Angelegenheit praktisch unüberwindbar. Plötzlich klingelte ein Handy, Joona lief rot an und beantwortete den Anruf. „Wir müssen weg. Der Chef verlangt nach uns“, sagte er und kam wieder rüber, um sich Matteo zu schnappen. „Hey, mach dir keine Sorgen, Alter. Die kriegen dich hier schon wieder hin. Und wir kommen auch bald wieder vorbei“, sagte er dann zu Rico und sie verschwanden genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Als er wieder allein war wurde Rico mit einem Mal klar, dass sein Leben und das seiner Mitmenschen aus Problemen bestand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)