Sternensucherballade von kanashimi (Ich legte mein Leben in deine kleine Welt...) ================================================================================ Kapitel 1: Melodie in Eis-Dur ----------------------------- Graue, menschenüberladene, leere Stadt. Kalter Stahl, bedeckt vom Schnee, als wollte er sich damit selbst die Härte nehmen. Und mitten in dieser Erstarrung meine trüben, blauen Augen, die den Himmel nach ein paar Sternen absuchten. Sie fanden nichts. Hier, in diesem Lichtermeer aus Leuchtreklamen, Straßenlaternen und entseeltem Einerlei… „Hast du einen Traum?“ „Wozu?“ „Mein größter Traum ist es, immer mehr Träume zu haben, als die Realität mir nehmen kann.“ Danach folgte ein strahlendes Lächeln und zum ersten Mal seit langem schlich sich ein Gefühl von Wärme in dieses Organ, das bis zu diesem Zeitpunkt nur dazu diente meinen Körper regelmäßig mit Blut zu versorgen. Mein Herz. Es schlug plötzlich so ruhig, so friedlich… Nur weil diese klaren, grünen Augen funkelten, als wollten sie der Milchstraße einmal zeigen, wie es richtig ging. Er war einen ganzen Kopf kleiner als ich, und trotzdem verbarg dieser schlanke Körper mehr Größe, als ich je besessen hatte. Eine Freude, die für einen allein, nach meinem Empfinden, viel zu viel des Guten war. Der Kerl war das, was man allgemein hilfsbereit nannte und genau an dem Punkt, als mir das klar wurde, verschwand die Wärme wieder und der monotone Herzschlag verrichtete erneut ungehindert seine Arbeit. Er war schlicht und ergreifend hilfsbereit und zwar zu jedem, schließlich wurde er dafür bezahlt. Ein Streetworker mit Leib und Seele und er hatte es gerade auf mich abgesehen. „Fynn Schwartz? Das bist doch du, nicht wahr?“ Ein stummes Nicken, mehr bekam er damals nicht von mir, während ich meine Kippe fertig drehte. Ich hatte so viele von diesen Typen kommen und gehen sehen. Sie waren so motiviert und dachten sie konnten einen wie mich auf den rechten Weg zurückbringen. Mich in eine geregelte, gutbürgerliche Totenstarre versetzen und mir klar machen, dass ich als intaktes Mitglied der Gesellschaft doch viel wertvoller wäre. Keiner von diesen Kerlen hatte mich je gefragt, ob ich überhaupt wertvoll sein wollte. Wenn es das gewesen wäre, hätte ich einfach nur zu Hause bleiben müssen, bei meinen gutbürgerlichen Eltern. Ich kann nicht einmal behaupten ich hätte einen zwingenden Grund für mein Davonlaufen gehabt. Meine Kindheit war normal. Nicht weiter von Bedeutung, aber auch nicht schlecht. Ich hatte alles was ich brauchte, genau wie meine beiden kleineren Geschwister. Auch eine Sache, weswegen mir mein Verschwinden mit fünfzehn nicht allzu schwer fiel. Meine Eltern hatten ja immer noch zwei Kinder, um die sie sich kümmern konnten. So tragisch konnte mein Weggang also auch nicht sein. Ich weiß nicht, ob sie je nach mir gesucht haben und wenn, dann hatten sie erwiesenermaßen keinen Erfolg damit gehabt. Wenn sie erfahren hätten, dass ihr flüchtiger Sohn, nach und nach seine homosexuellen Neigungen entdeckte, hätten sie mich sowieso nicht mehr mit nach Hause genommen. Vielleicht hätten sie mich in eine Therapie gesteckt, einen Exorzisten gerufen oder versucht ein Medikament dagegen zu finden. Aber da ich stur genug bin, um auch unter den widrigsten Umständen schwul zu bleiben, hätten sie mich eh über kurz oder lang wieder auf die Straße verfrachtet. Ich hatte ihnen somit viel Arbeit erspart. Ich war gerade achtzehn geworden, lebte seit über zwei Jahren mal hier mal da und ich hatte etwas, dass mir meine Eltern nie geben konnten oder wollten: Meine Freiheit. Ich war frei wie ein Vogel, bis auf die Tatsache, dass selbst ein freier Vogel Essen und eine Schlafgelegenheit brauchte. Das wurde mir erst nach meinem Ausbruch aus der heilen Welt wirklich klar und trotzdem hatte ich meinen Entschluss nie bereut. Reue war sowieso eine Sache, die ich nur vom Hörensagen kannte und man konnte sich überall durchschlagen, wenn man sich nicht allzu dumm anstellte. Während ich nun meinen Lebenslauf gedanklich zusammenstellte und meine Zigarette Nikotin in meine Lungen pumpte, stand dieser Kerl einfach nur neben mir und glotzte mir ein Loch in den Kopf. Seine Frage nach meinem Traum hatte ich schon erfolgreich verdrängt, aber er schien ein gutes Gedächtnis zu haben, denn er fragte mich erneut. Meine hochgezogene Augenbraue schien ihn auch nicht weiter zu stören und ich hatte keine Lust mich den ganzen Tag mit so einem Blödsinn abzugeben. „Wüsste nicht was dich das angeht.“ Unerwartet schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und grinste mich verlegen an. Seltsamer Vogel. „Du hast Recht!“ Bekloppter Vogel! „Warum solltest du mir das auch sagen? Ich hab mich ja noch nicht mal vorgestellt. Mattis Lowe. Siebenundzwanzig. Meine Hobbys sind Lesen, Kino, Postkartensammeln und Tischfußball. Meine Lieblingsfarbe ist Gelb und ich esse am liebsten Schweinefleisch süßsauer.“ Völlig überfahren starrte ich auf seine Hand, die er mir entgegenstreckte und überlegte, ob ich nicht besser einfach das Weite suchen sollte. Der Kerl war ja fast genauso abgedreht, wie die Fixer vom Hauptbahnhof. „Ich komm morgen noch mal vorbei.“, erklärte er plötzlich und zog seine Hand zurück. „Dann reden wir weiter, okay? Sei also bitte so gegen Mittag wieder hier.“ Er wartete nicht einmal meine Antwort ab, sondern lächelte mich nur an und machte dann auf dem Absatz kehrt, um in der grauen Masse an Fußgängern zu verschwinden, die wie jeden Tag an der belebten Einkaufspassage entlang flanierten. Ich sah noch seinen gelben Parka um eine Ecke verschwinden und fragte mich, was diesen Kerl zu der Überzeugung brachte, dass ich auf ihn hören würde. Wer war er denn, dass er mir sagen konnte, wo ich morgen gegen Mittag sein sollte? Ich schüttelte den Kopf. Es lohnte sich nicht, sich darüber Gedanken zu machen. Viel wichtiger war es einen geeigneten Unterschlupf für die Nacht zu finden. Es war schon früher Abend und ich musste mich langsam sputen. Also trat ich meine Zigarette aus und machte mich auf den Weg. Irgendeine Notunterkunft würde schon noch ein Plätzchen für mich frei haben. Am nächsten Tag stand ich um die Mittagszeit herum, wieder bei der Einkaufspassage. Ich war unruhig und ziemlich schlecht gelaunt. Meine Kippen waren alle, ich hatte kaum geschlafen, weil irgend so ein Penner, im ergatterten Etagenbett über mir, seinen Rausch mit lauten Schnarchlauten auskurieren musste und dann noch der Umstand, dass ich wie ein kleines Kind brav am verabredeten Treffpunkt herumlungerte. Was zur Hölle war nur mit mir los? Ich schob es auf den Schlafmangel und schnorrte mir erst einmal zwei Nikotinstängel von einem Typen, den wir alle nur Bubu Aua nannten. Der Kerl war um die Vierzig, klein, dick und wehleidig, wie kein Zweiter. Alle Streuner und Penner, die ich so kannte, wunderten sich immer wieder, wie es dieser Kerl schaffte, auf der Straße zu überleben. Ständig hatte er Magenschmerzen, Kopfweh, Augendruck und was weiß ich. Wir nahmen ihn schon lange nicht mehr ernst. Spätestens seit dem Tag, an dem er sich vor dem gesamten Kollektiv der anwesenden Obdachlosen, bis auf die Knochen blamiert hatte. Wir standen damals zu einem kleinen Rauchergrüppchen versammelt, an einer nahe gelegenen Bushaltestelle, als er die Bühne betrat. Keuchend und wimmernd schleppte er sich in unsere Mitte, zündete sich einen Glimmstängel an und dann passierte es. Er ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Bank fallen, griff sich theatralisch an die Brust, nahm noch ein, zwei Züge und verkündete röchelnd: „Ich krieg so schlecht Luft! Ich sag euch, das liegt an dem feuchten Wetter. Da hab ich immer solche Probleme mit meinem Asthma.“ An diesem Denkwürdigen Tag wurde Bubu Aua zur Lachnummer der Stadtstreicher und endgültig als vollkommen dämlich abgestempelt. So naturblöd musste man erst einmal sein. Darum ging ich ihm eigentlich auch aus dem Weg, aber an diesem Tag trieben mich der Schlaf- und Nikotinmangel zum Äußersten. Der Straßenhypochonder überreichte mir mit feuchten Augen die erbetenen Kippen und ich wollte schon mein Heil in der Flucht suchen, als er mir am Ärmel meiner abgeschlissenen Armyjacke zubbelte. „Die mobben mich.“, krächzte er heißer und ich hob die Augenbraue. „Bitte was?“ „Na hier, deine Kumpels…die mobben mich. Die haben meine Milch geklaut. Du weißt doch, dass ich jeden Morgen meine Milch trinke, wegen dem Kalzium gegen meine Osteoporose. Der Arzt hat sowieso schon gesagt, dass ich, wenn das so weiter geht, bald im Rollstuhl lande und dann so was. Sag ihnen sie sollen das nie wieder machen, sonst haben sie mich bald auf dem Gewissen!“ „Beschwer dich doch bei der Dienstaufsicht.“, gab ich nur trocken zurück und suchte das Weite, bevor ich selbst noch anfing am Rad zu drehen. Der hatte sie echt nicht mehr alle. Und wir vermuteten sowieso, dass der Typ gar nicht obdachlos war. Woher hatte er sonst jeden Morgen seine Milch? Und wieso hatte ihn noch keiner von uns in einer der sozialen Schlafstätten gesehen? Karl Gustav – ein wirklich patenter Kerl, nur leider schwerer Alkoholiker – hatte ihn auch einmal in einem Hauseingang verschwinden sehen, zu welchem Bubu Aua augenscheinlich auch einen Schlüssel hatte. Was auch immer ihn dazu trieb, sich jeden Tag mit all seinen Wehwechen auf die Straße zuhocken, konnte mir aber letztendlich egal sein. Ich hatte ganz andere Probleme. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich immer noch den Drang verspürte, hier vor der Einkaufspassage warten zu müssen. Auf einen Kerl, den ich nicht kannte. Gut, er hieß Mattis und mochte Tischfußball und Schweinefleisch süßsauer…Aber warum zum Teufel hatte ich mir das überhaupt gemerkt? Und wieso zum Henker wartete ich schon seit fast einer Stunde darauf, dass dieser bekloppte Vogel hier wieder auftauchte, so wie er es angekündigt hatte? Der Typ ließ mich einfach eiskalt hier treten. Ich hatte es doch gewusst. Von diesen motivierten Sozialhelfern konnte man nichts erwarten außer ein paar warmen Worten und ein paar halbherzigen Versuchen, mit einem ins Gespräch zu kommen. Nachdem ich meinen süchtigen Körper wieder mit Tabak versorgt hatte, beschloss ich meine Zelte woanders aufzuschlagen. Dieser Mattis würde eh nicht mehr auftauchen und ich hatte auch etwas Besseres zu tun, als hier wie ein herrenloses Hündchen zu warten. Soweit ich wusste, wollten sich die anderen heimatlosen Lebenskünstler heute im Stadtpark treffen, um Karl Gustav´s Geburtstag zu feiern. Der alte Knochen wurde 57 und das war schon ein paar Schnäpschen wert. Ich trank ja keinen Alkohol, aber gratulieren konnte ich trotzdem und sicherlich hatte Karl Gustav auch daran gedacht für mich einen Energydrink zu beschaffen. Er fand es gut, dass ich nichts für Alkohol übrig hatte. Dieses Zeug konnte einen auf der Straße noch mehr runter ziehen – er war das beste Beispiel dafür und er wurde auch nie müde mir die Gefahren von Hochprozentigem immer wieder unter die Nase zu reiben. Schon wenn irgendein Anderer auch nur auf die Idee kam, mir Alkohol anzubieten, während er dabei war, gab es Stress. Ich war seiner Aussage nach, der Sohn, den er nie hatte und seine Kinder galt es schließlich zu beschützen. Gerade als ich mich aber anschickte mein Warteplätzchen zu verlassen, rauschte ein gelber Parka um die Ecke und der darin befindliche, bekloppte Vogel keuchte mich, nach Luft ringend an. „Tschuldigung…!“, schnaufte er und stützte die Hände auf den Knien ab, um noch eindrucksvoller nach Luft zu schnappen. „Ich hab mich verquasselt.“ Ja. Danke. So zuverlässig diese Streetworker. Wenn man sich auf so einen verlässt, ist man glatt verlassen und mir war soeben danach ihn mal gepflegt stehen zu lassen. Wortlos drehte ich mich um und schon das zweite Mal an diesem Tag, zubbelte es aufmerksamkeitsheischend an meiner Armyjacke. „Schinkenbrötchen gefällig?“, fragte er und seine großen, grünen Augen blickten mich entschuldigend, über meine Schulter hinweg, an. Die braune Papiertüte in seiner linken Hand verbreitete einen köstlich, frischen Bäckerduft, während die rechte Hand weiterhin an meinem Ärmel zupfte. Einen Penner mit frischen Brötchen ködern…wie hinterhältig! Hätte ich dem Vogel gar nicht zugetraut. Ich beschloss ihn noch ein bisschen zappeln zu lassen, doch mein Magen nahm mir eine Antwort vorweg. Das verräterische Biest begann, animiert von dem appetitlichen Aroma, lautstark zu knurren und ich schnappte, unter den amüsierten Blicken von Vogelmattis, beleidigt nach der Bäckertüte. So ungierig es mir möglich war, verschlang ich die wurstige Semmel, spülte mit dargereichtem Coffee to go alles herunter, und sah mich plötzlich einer Verschleppung ausgesetzt – wie ein kleines Kind, das mit einem Bonbon - in meinem Fall Geschmacksrichtung Schinken - geködert wurde. Mattis zog mich einmal quer durch die Einkaufsstraße, bis zum Parkplatz, stopfte mich in einen gelben Fait Punto und ehe ich es mich versah, war ich außerhalb der Stadt, mit dem seltsamsten Vogel, der mir je unter gekommen war. Langsam fragte ich mich, ob der Kerl wirklich ein bekloppter Streetworker war, oder nur ein Bekloppter, der mich am Ende - erwürgt mit seinem gelben Schal – irgendwo in den Straßengraben schmeißen wollte. Ich hatte Glück, verhältnismäßig betrachtet, und wurde weder erwürgt noch geschmissen, sondern in ein kleines Planetarium bugsiert. „Hier ist es wenigstens warm und vor allem interessant.“, konstatierte mein Entführer, während er zwei Tickets löste und mich in den Vorführraum schob. Ich wusste gar nicht, dass es derartiges in dieser Gegend gab. Ich wusste auch nicht, was ich hier eigentlich sollte. Aber irgendwie war ich von der Art und Weise, wie mich dieser Kerl unerbittlich nötigte, doch ganz fasziniert. Trotzdem kam ich nicht umhin, mich unbeeindruckt zu zeigen und schweigend mit verschränkten Armen in einem der Sitze Platz zu nehmen. Wir schwiegen beide. Meines Wissens nach, liefen Sozialpropagandagespräche eigentlich anders ab, aber darüber musste ich mir wohl später Gedanken machen, denn gerade verdunkelte sich der Raum und über mir tat sich der Himmel auf. Unzählige Sterne zogen vor meinen Augen ihre Bahnen, von irgendwoher erklang Musik und eine geschulte Stimme, begann das Ganze in Worte zu fassen. Ich hörte nicht zu. Es war mir schlicht egal, was es Wissenswertes zu diesem Lichtermeer zu sagen gab. Ich wollte einfach nur dem Tanz der Sterne folgen. Den kleinen Punkten am künstlichen Firmament, die in der Wirklichkeit vom Blitzlichtgewitter der großen Stadt verschluckt und ausgeblendet wurden. Ich fühlte mich frei. Noch viel freier, als je zuvor und ich war dem komischen Vogel neben mir dankbar, obwohl er vermutlich nicht einmal ahnte, was gerade in mir vorging. Sehnsucht nach da oben. Sehnsucht nach etwas, das ich gedanklich weder greifen, noch verbal ausdrücken konnte. Auf jeden Fall hatte er sich damit die Chance eingeräumt, mir sein Ansinnen – ich vermutete ja immer noch, dass er eines hatte – genauer darzulegen. Aber erst einmal genoss ich die Weite des Raumes und die Unendlichkeit in der Kleinausgabe. Irgendwann endete das Schauspiel, wie alles ja einmal endet. Vor allem das, was man ewig erleben möchte hört immer auf, wenn man noch gar nicht dazu bereit ist und ich bockte wie ein Esel, als das Saallicht wieder anging. Zutiefst beleidigt hing ich in meinem Sitz. Ich wollte mehr. Noch eine Runde fliegen – in Gedanken. Erst nachdem mir Mattis hoch und heilig versichert hatte, diesen Ausflug zu wiederholen, erhob ich mich und streckte der Kassiererin die Zunge heraus, die schon seit einer halben Stunde versuchte mich zum Aufstehen zu bewegen. Ja, ich war immer noch schon achtzehn, aber das verdrängte ich in diesem Augenblick. Mattis hielt sein Versprechen und ich verbrachte von da ab, viele Stunden in dem kleinen Planetarium außerhalb der Stadt. Ich verbrachte generell viel Zeit mit dem gelben Vogel. Er kam fast jeden Tag vorbei, lud mich hin und wieder zum Essen ein und schenkte mir neue Klamotten, wenn er der Meinung war, ich hätte sie nötig. Er brachte mir Bücher und weckte auf die Art mein Interesse für Maschinenbau und Architektur. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie spannend es sein konnte, sich für etwas richtig zu begeistern. Kurz um: Er kümmerte sich um mich. Fast ein Jahr ging das so, und eines Tages - drei Wochen vor meinem neunzehnten Geburtstag - hielt er mir einen Zettel unter die Nase und einen Stift. „Unterschreib das.“, forderte er streng und ich schnappte mir skeptisch den Zettel. „Deine Schulanmeldung.“, erklärte er mir knapp, während ich den Wisch überflog und versucht war, ihm einen ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen. Doch etwas ließ mich kurzzeitig meinen Anarchismus vergessen. „Da steht, ich hab ne Wohnanschrift.“, entfuhr es mir ungläubig. Mehr brachte ich nicht heraus, denn er begann süffisant zu grinsen. „Du wohnst ab jetzt bei mir!“, verkündete er dann stolz und mir fiel die Kinnlade auf den Asphalt. „Ich tu was?!“ „Bei mir wohnen, einen Schulabschluss machen und dann wirst du dir eine Ausbildung oder ein Studium suchen!“ So herrisch hatte ich ihn noch nie erlebt, aber er ließ keinen Zweifel an seinen Forderungen. „Wieso machst du das?“, wollte ich wissen. „Du bist ein kluges Köpfchen und ich hab ein furchtbar aufsässiges Helfersyndrom, das ich wunderbar an dir ausleben kann. Somit ist uns beiden geholfen.“ Seine Antwort machte mich noch sprachloser, als ich es eh schon war. Ich konnte kaum glauben, dass er das alles ohne mein Zutun geplant hatte. Konnte kaum glauben, dass sich jemand so für mich ins Zeug legte. Und vor allem konnte ich kaum glauben, dass ich mich irgendwie darüber freute. Der Gedanke daran bei ihm zu leben, wieder die Schulbank zu drücken und ein bisschen gutbürgerlicher zu werden, widerte mich gar nicht so sehr an, wie ich es eigentlich von mir erwartet hätte. „Geh mit und mach was aus dir.“, erklang plötzlich eine wohlbekannte Stimme hinter mir und Karl Gustav legte seine raue, väterliche Hand auf meine Schulter. „Du hast es verdient.“ Er lächelte. „Und Sie passen gut auf meinen Jungen auf.“, forderte er in Mattis Richtung und dieser schenkte ihm ein zuversichtliches Nicken. „Wenn er Ärger macht…“, fügte Karl Gustav noch an, „…dann sagen Sie bescheid und ich versohl ihm den Hintern.“ Die beiden lachten. Ich konnte leider nicht mitlachen, da ich immer noch völlig überrumpelt vor meinem potentiellen, neuen Leben hockte und kaum noch die Welt verstand. An diesem Tag ließ ich die Straße hinter mir. Nachdem ich mich von Karl Gustav verabschiedet hatte – nicht ohne das Versprechen ihn, so oft es ging zu Besuchen – raffte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und folgte Mattis in seine - nun unsere - Bleibe. Er hatte eine gemütliche Dreiraumwohnung im Erdgeschoss, mit einer kleinen Veranda. Im Wohnzimmer, dominierte die Farbe gelb, ebenso wie in Küche, Bad und auch Schlafzimmer und ich versuchte mich mit dem Gedanken anzufreunden, ab jetzt in einem Dreiraumbriefkasten mit der Gelbsucht in Persona zu leben. Mattis überließ mir die Couch, ein paar Fächer in seinem Kleiderschrank und ein Regalplätzchen im Bad für meinen neuen, gelben Zahnputzbecher. Sein Einzugsgeschenk an mich. –Ich war schwer begeistert. – Der Weg zurück in ein regelbehaftetes Leben fiel mir gar nicht so schwer, wie ich anfangs befürchtet hatte. In der Schule kam ich recht schnell zu Rande und dank Mattis` Hilfe hämmerte ich mir den erforderlichen Lernstoff brav in die Hirnwindungen. Wir entwickelten kleine, zwischenmenschliche Rituale, die trotz ihrer nervigen Züge, beiderseits doch sehr geschätzt wurden. Mattis zum Beispiel, hatten einen Heidespaß daran, jeden Tag aufs Neue meinen Wecker zu verstecken, um mich dann amüsiert dabei zu beobachten, wie ich – eingewickelt in meine Decke - schlafblind und wimmernd über die Dielen rutschte, auf der immer währenden Mission das bimmelnde Biest zum Schweigen zu bringen. So wachgeschunden hatte ich dann auch kein Problem mehr damit im rekordverdächtigen Kurzsprint hinter ihm her zu hechten, wenn er das Haus eigentlich schon verlassen hatte, um ihm seine Autoschlüssel, die gelbe Brotdose und den Arsch nachzutragen. Ebenfalls erbaulich waren die Momente in denen er hektisch durchs Haus marodierte, weil er wieder mal irgendetwas Wichtiges verschlampt hatte und nun ganz dringend brauchte. Ich rekapitulierte dann in aller Ruhe, während er immer noch panisch umherramschte und mir gehetzt meine Nachfragen zu seinem Bewegungsverlauf beantwortete. Ich erlangte bald eine über achtzigprozentige Trefferquote im Wiederfinden von Mattis Hausstand. Ich hätte wahrlich Sherlock Holmes Konkurrenz machen können. Mattis behauptete dann immer, er wolle nur mein Gedächtnis trainieren. Ich hingegen vermutete bald, er wollte seines nur nicht mehr abnutzen. Die Zeit verging und aus dem anfänglich geplanten Hauptschulabschluss, wurde eine Empfehlung für die Realschule. Freudestrahlend überbrachte ich meinem Mentor die Neuigkeiten und dann passierte es. Ich dachte nicht nach und in meinem jugendlichen Überschwang, gepaart mit kompletter Unzurechnungsfähigkeit, drückte ich ihm vor Freude einen Kuss auf die Lippen. Geoutet und von mir selbst völlig erschrocken, flüchtete ich panisch hinter die nächstgelegene Tür, drehte den Schlüssel und fand mich heulend im Bad wieder. Ich hatte es vergeigt. Wütend über mich selbst, schnappte ich mir meinen gelben Zahnputzbecher und legte mich in die unbefüllte Wanne. Ob ich mein Einzugsgeschenk mitnehmen dufte, wenn er mich nachher an die Luft setzte? Ich hoffte es. Wenigsten eine kleine Erinnerung an meinen fast geglückten Wiedereinstieg und eigentlich brauchte er ja auch keinen benutzen Zahnputzbecher. Jammernd lag ich in der Badewanne, starrte auf die Fliesen an der Decke und ignorierte Mattis` Klopfen an der Tür, während ich mich selbst hasste. Er rief irgendwas. Ich verstand es nicht. Und dann schlief ich ein. Ein letztes Mal schlafen in der Wohnung, die mir ein wirkliches zu Hause geworden war. Bei dem Mann, den ich scheinbar mehr als mochte und der wahrscheinlich schon dabei war meine Sachen auf die Straße zu schmeißen. Von einem lauten Knall wurde ich geweckt und Mattis stand schnaubend in der eingetretenen Badezimmertür. „Die bezahlst du!“ Vermutlich würde es eine Weile dauern, das Geld zusammen zu betteln, aber zur Not gab es ja noch die Prostitution, falls er nicht solange auf die Kohle warten wollen würde. Zum Stricher mutiert, wegen einer Badezimmertür – ein wohl sehr unkonventioneller Weg, um komplett abzurutschen, aber ich hatte auf der Straße schon dümmere Gründe gehört. „Ich geh meine Sachen packen.“, versprach ich seufzend und rappelte mich aus der Wanne. „Geh dich lieber umziehen!“, befahl er unbeeindruckt und schubste mich aus dem Waschraum. „Ich hab ´nen Tisch reserviert, um deinen Erfolg zu feiern, und jetzt ab! Ich muss für kleine Königstiger.“ Schwupps war ich draußen und hörte verstört dabei zu, wie er den Wäschekorb zum Türstopper umfunktionierte, damit er ungesehen königstigern konnte. Zwei Stunden später saß ich hübsch zurechtgeheult an einem kleinen Restauranttisch, stocherte lustlos in einem Berg Bratreis und fragte mich die ganze Zeit, ob ich diesen Kuss nur geträumt hatte. Mattis machte immerhin keinen verstörten Eindruck – jedenfalls nicht mehr, als sonst. „Wolle Rose kaufen?“, brabbelte es plötzlich direkt neben mir und ich starrte auf einen grinsenden Blumeninder mit Zahnpastalächeln und einem Strauß roter Rosen. „Er nimmt sie alle.“, beschloss mein Tischnachbar, ohne von seinem Teller Schweinefleisch süßsauer aufzublicken. „Wieso?“, fragte ich in einem Anflug kompletter Ahnungslosigkeit und erntete, wie sollte es auch anders sein, ein süffisantes Grinsen. „Du bist so romantisch, wie ein Schichtkäse in der Sonne.“, bekam ich zur Antwort und zog eine Schnute. Vielleicht war ich nicht romantisch, aber ich war besser als Schichtkäse. Und warum sollte ich auch romantisch sein, wenn ich gerade völlig überfordert von meinen Hormonen, über einem Teller Reis hockte? „Beim Date mit dem, oder der Auserwählten, betreibt man erstens eine unterhaltsame Konversation.“, erläuterte Mattis in mein fassungsloses Gesicht. „Schaut zweitens nicht drein, als wäre gerade die Oma gestorben und zückt drittens, ohne Rücksicht auf Verluste das Portmonee, wenn der Blumeninder vorbeikommt.“ Auf diesen Grundkurs im Flirten war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich sah mich verunsichert um. Bei genauerer Betrachtung, waren in diesem Lokal nur Männer, das Personal recht knackig gekleidet und bei noch genauerer Betrachtung trug der Blumeninder sehr knappe Glitzerpants. Mir blieb nicht viel Zeit, um meiner Begriffsstutzigkeit Herr zu werden, denn der Rosenverkäufer hielt mir schon ungeduldig das stachelige Grünzeug entgegen und Mattis schaute mich erwartungsvoll an, ehe er sich an den Mann mit dem Glitzerfaible wandte. „Haben sie eigentlich auch gelbe Rosen?“ Mein Kopf schlug auf die Tischplatte. An diesem Abend verließ ich, als frischgebackener Ex-Single mein erstes Schwulenlokal. Begleitet von einem achtundzwanzig jährigen Kind, das fröhlich einen Strauß gelbe Rosen schleppte und munter vor sich hin pfiff. Irgendwie schienen mir da ein paar Details, Mattis Neigungen betreffend, durch die Lappen gegangen zu sein und ich konnte es nicht einmal auf Drogen-, oder Alkoholsucht schieben - trotz jahrelanger Praxis als Straßenpenner. Ich musste mir eingestehen, dass ich einfach nur vollkommen ignorant und narzisstisch veranlagt war. Aber wenigstens hatte ich immer noch ein zu Hause und jetzt sogar einen Freund, plus baldigem Schulabschluss. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Aber der Zustand hielt an. Ich machte meinen Abschluss, fand einen Studienplatz für Architektur, wohnte mit meinem schusseligen, neun Jahre älteren und hoch sozial engagierten Partner im Dreiraumbriefkasten und bekam allen Ernstes mein Leben so richtig auf die Reihe. Trotzdem blieb ich misstrauisch. Warum sollte ausgerechnet ich so viel Glück haben? Mattis war da anders und ärgerte mich immer mit meiner Verbissenheit. (Ich nannte ihn daraufhin alten Sack.) Am Ende waren wir uns aber beide einig, die ganze Sache fest und offiziell zu machen und verewigten uns standesamtlich in eheähnlicher Gemeinschaft. Nur wir Beide, die Standesbeamtin und ein Haufen gelber Rosen, waren Zeugen dieses Spektakels, das wir in der kleinen Sternwarte außerhalb der Stadt abhielten. Mattis Eltern waren bereits tot, meine waren mir egal und Karl Gustav war ein halbes Jahr zuvor verstorben. Der einzige Wermutstropfen in meiner neuen Bilderbuchkarriere. Aber ich ahnte es schon, als ich ihn das letzte Mal sah. Er war blass und hustete unentwegt. Zwei Tage später starb er an einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation – man hatte ihn noch ins Krankenhaus gebracht. Trotzdem fiel es mir immer schwerer meinen Optimismus zu verdrängen. Ich begann Pläne zu schmieden, sah mir zusammen mit meinem Ehemann neue Wohnungen an, lernte fleißig, hielt nach potentiellen Arbeitgebern Ausschau und zog sogar in Erwägung unsere Familie zu vergrößern und einen Hund zu kaufen. Und endlich konnte ich es mir eingestehen: Ich war glücklich. Ich war so glücklich und zufrieden, wie noch nie in meinem Leben! Hätte ich doch nur weiter gezweifelt. Hätte ich niemals zugegeben, dass ich glücklich war. Vielleicht wäre dann das Schicksal nicht auf mich aufmerksam geworden. ... Es passierte an einem kühlen, regnerischen Apriltag. Wie immer kam ich abends aus der Uni, schloss die Tür auf und maulte erst einmal über den vielen Lernstoff und die dämlichen Kommilitonen. Normalerweise hörte ich dann Mattis` amüsiertes Lachen, während er schon dabei war uns ein leckeres Essen auf den Tisch zu zaubern. Bereit, sich mein unerbittliches Gemecker zwischen jedem Bissen zu Gemüte zu führen. Doch es blieb still. Es roch auch nicht nach Essen. Vielleicht Überstunden? Da draußen schlichen sicherlich noch mehr uneinsichtige Jugendliche herum – solche wie ich früher einer war – Ich ging in die Küche, knipste das Licht an und starrte auf den reglosen Körper am Boden, der genauso aussah wie mein Mattis, nur ohne das Lachen und die Lebensfreude. Mein Kopf war leer und gleichzeitig voll. Alles raste durcheinander. Er atmete kaum. Ich schnappte panisch nach Luft. Notarzt. Banges Warten. Krankenwagen. Blaulicht. Ich fand mich in der Notaufnahme wieder. Alles war so unwirklich und der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln drehte mir den Magen um. Eine Krankenschwester gab mir etwas zu Trinken und ich griff zitternd und dankbar nach dem kleinen Plastikbecher. Irgendwann nachdem ich schon stundenlang, ungeduldig und verwirrt, den Krankenhausflur entlang gepilgert war und es kaum noch aushielt, kam endlich einer der Weißkittel zu mir und führte mich in den Raum, in dem mein ganzer Lebensinhalt an ein paar Schläuchen hing. Ich hatte noch nie an etwas geglaubt. Nicht einmal wirklich an mich selbst, aber dieses eine Mal, nur dieses eine verdammte Mal, betete ich um eine Chance. Lautlos, mit ineinander verkrampften Fingern, kniete ich an Mattis` Bett und hoffte und glaubte und weinte. Für uns. Um uns. Mein Herz zog sich zusammen. Die Lungen pressten panisch die Luft ins Freie und dann öffnete er endlich die Augen. Es war ein Gefühl, als würde eine schwere Kette von meiner Seele springen und ich war dankbar für diesen Moment, der soviel Hoffnung aufflammen ließ. „Wer sind Sie?“, fragte Mattis gebrochen und langsam. Wirkte verwirrt, als ob er durch mich hindurch schaute. Als ob es mich nicht gab. Aber gab es mich überhaupt, wenn er mich nicht sah? „Du machst Witze, oder Mattis?“, bettelte ich mit feuchten Augen. Doch ab diesem Moment gab es uns nicht mehr. Nie wieder. Mattis hatte einen leichten Schlaganfall. Sein Gehirn war eine Zeit lang ohne Sauerstoff geblieben, was natürlich Konsequenzen nach sich zog. Aber noch etwas stellten die Ärzte fest. Das, was ich in der ganzen Zeit, als seine liebenswerte Schusseligkeit abgetan hatte, war in Wirklichkeit das Ende meines neuen Lebens. Es gab Menschen, die schon in frühen Jahren an Alzheimer erkranken konnten. Etwas von dem man glaubte, nur Greise würden darunter leiden. Aber bei Mattis war es zur bitteren Realität geworden. In einer langen Rehabilitation lernte er die körperlichen Defizite langsam auszugleichen. Sprachtherapie und Physiotherapie ermöglichten ihm ein relativ selbstständiges Handeln, aber mich hatte er vergessen. Ich wurde zu seinem Besuch, über den er sich wohl freute und den er dennoch nicht kannte. Trotzdem ging ich so oft ich konnte zu ihm und später, als er entlassen wurde, nahm ich ihn wieder mit zu mir. Zu uns. In unser gemeinsames zu Hause. Lebte neben ihm, als Unterstützung und Hilfe. Doch so sehr ich mich auch um ihn bemühte, ihm beistand und für ihn da war, nie wieder sahen mich seine Augen mit dieser Wärme an, die ihnen früher inne gewohnt hatte. Ich war eine nette Bekanntschaft, nicht mehr und nicht weniger und irgendwann war ich nur noch irgendwie da. Mattis ging im Laufe der Zeit immer weiter von mir. Vergaß was eben noch war und noch so vieles mehr. Die meiste Freude bereitete es ihm, wenn ich ihn bei schönem Wetter auf die Veranda setzte, ihm eine Decke um die Beine legte und er die Sonne in den Blättern tanzen sah. Und wie der Wind im Herbst das Laub aufwirbelte und mit sich trug, so wehte auch Mattis` Seele mit jedem Tag ein Stückchen weiter weg. Ich habe nicht gewusst, wie weh es tut, wenn der Mensch, der einem alles bedeutet, vergisst dein Herz zu halten. Niemand hatte mir beigebracht, wie ich damit umgehen soll. Mattis zeigte mir nur, wie man lacht und vertraut und liebt. Er zeigte mir den Himmel und ließ mich, ohne es zu wollen mit einem Schmerz zurück, der von Tag zu Tag mehr Löcher in diese wundervolle Zeit fraß, die uns gemeinsam vergönnt war. Graue, menschenüberladene, leere Stadt. Kalter Stahl, bedeckt vom Schnee, als wolle er sich damit selbst die Härte nehmen. Und mitten in dieser Erstarrung wieder meine trüben, blauen Augen, die den Himmel nach ein paar Sternen absuchen. Erneut finden sie nichts. Hier, in diesem Lichtermeer aus Leuchtreklamen, Straßenlaternen und entseeltem Einerlei… Mein Herz tut weh. Auch, wenn ich sicher bin, keines mehr zu haben. Phantomschmerzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)