Die Herzschwert-Saga von Teak-Wan-Dodo (Die Hüterin des Herzschwertes) ================================================================================ Kapitel 7: 7. Akt: Eifersucht ----------------------------- Seit je her wacht der Magus über Konass und seine Völker. Er war stets ein weiser Mann, Dessen rat sich viele suchten, Wenn sie ihn fanden. Denn der Mächtigste aller Magier lebt sehr zurück gezogen und Nur wenige kamen in den Genuss seiner Gesellschaft. Diese wenigen wuchsen zu großen Helden heran, Die Konass Reiche mehr als einmal retteten. Knoll, Ehrenwerter Meister der Grauen Roben und Schreiber der Chroniken des Magus *** Mit einem erschrockenen Schrei schreckte Niemand aus dem Schlaf auf. Schweißnass saß der junge Mann in seinem Bett und versuchte zu Atem zu kommen. Seine nackte Brust hob und senkte sich hektisch, während er sich zu beruhigen versuchte. Wieder hatte er diesen Traum gehabt. Wieder war er von üblen Schatten angegriffen worden, die ihm das Leben stehlen wollten. Und wieder war er in die tiefe Schwärze gestürzt. Doch dieses Mal hatte er auch etwas anderes geträumt. Er verstand dies nicht, weshalb er sich an jemanden wenden musste, der seinen Traum zu deuten vermochte. Als sich seine Atmung normalisiert hatte, sah Niemand zum Fenster der kleinen Kammer, die ihm J´Kar zur Verfügung gestellt hatte. Die Sonne graute bereits und entsendete ihre ersten Strahlen über die Berge. Die halbe Burg war sicher noch am schlafen, während nur einige eifrige Magier aus ihren Betten stiegen oder die Dienstboten das Frühstück vorbereiteten. Niemand strich sich über die nasse Stirn und streifte dabei die Augenklappe, die sein rechtes Auge bedeckte. Seit vielen Tagen – Niemand wusste nicht, wie viel zeit er schon bei den Grauen Roben war – hatte er sie nicht mehr abgenommen, auf Geheiß von J´Kar, dem maskierten Erzmagier, der sich um ihn kümmerte. Gerne würde er das Ding abnehmen, denn unter ihr hatte es bereits angefangen zu jucken. Doch J´Kar hatte ihn davon abgeraten, sie abzunehmen. Der Magier hatte keine Erklärung abgegeben, nur gemeint, dass es für alle besser wäre und Niemand hatte ihm widerwillig gehorcht. Etwas mühselig stieg der junge Mann aus dem Bett und schlenderte hinüber zu dem kleinen Schränkchen, auf dem die Wasserschüssel stand. Er goss sich Wasser ein und fing an sich zu waschen, eine grobe Katzenwäsche. Als sein Blick auf den Spiegel fiel, erblickte er sein Gesicht. Das Haar war gewachsen und Strähnen fielen ihm ins hagere Gesicht mit den breiten Lippen. Sein Lippenbärtchen, wie auch sein Kinn, bedurften eine Rasur. „Wer bist du bloß?“, fragte er sein Spiegelbild seufzend, bevor er sein Gesicht mit kaltem Wasser aus der Schüssel benetzte. Wieder gab es ihm keine Antwort auf die Frage. Er hatte sein Gedächtnis verloren dun niemand schien in der Lage zu sein, es ihm wieder zu geben. Schnell trocknete er sich ab und schlüpfte in die einfache Robe, die man ihm überlassen hatte. Seine eigenen Kleider waren nicht mehr zu gebrauchen gewesen, denn sie waren in Fetzen gerissen gewesen, hatte man ihm erzählt. Allein seine Stiefel, in die er jetzt steig, waren übrig geblieben. Sie waren das einzige geblieben, das an sein früheres Leben erinnerte. Der junge Mann strich sich durchs Haar und fragte sich wieder, was der zusätzliche Traum zu bedeuten haben mochte. In diesem hatte er eine Mädchen, fast eine Frau, gesehen. Ihre Haut war von grüner Farbe gewesen, während ihre Augen gelb geleuchtet hatten. Ein Pfeil hatte aus ihrer Schulter geragt und sie gequält. Ein bronzener Mann hatte sie zu sich aufs Pferd geholt und war mit ihr davon geeilt, weg von der tobenden Schwärze, die Niemand immer wieder in seinen Träumen erschienen war. Irgendwoher glaubte er sie zu kennen, doch erinnerte er sich nicht. Nicht daran, wie sie hieß, wer sie überhaupt war. Sie musste etwas mit seiner Vergangenheit zutun haben. Das war das einzige, was er wusste. Er müsste sie finden, um endlich sein wahres Ich zu erfahren. Um zu erfahren, wer er wirklich war. Niemand verließ seine Kammer mit schnellen Schritten. Sie lag in den unteren Gängen der Turmburg, in der die Magier der Grauen Roben heimisch waren. Als er diesen durchquerte begegnete er keinem der Lehrlinge, die hier unten untergebracht waren. Etwa schliefen sie noch oder waren bereits mit ihrer Arbeit beschäftigt. Doch dies war ihm recht egal. Er suchte keinen von ihnen, sondern J´Kar, der in den oberen Stockwerken des Turms wohnte. Rasch erreichte er die Wendeltreppe, die in die oberen Etagen führte. Er überflog regelrecht die Stufen, nahm immer gleich zwei von ihnen, um schnell anzukommen. Die anderen Magier waren ihm bis zum heutigen Tag nicht gerade geheuer gewesen. Sie hatten ihn mit misstraurigen Blicken betrachtet, als würde er eine Gefahr für sie darstellen. Niemand wusste, das er hier ein Fremder war, das nicht einmal die Magier wussten, wer er war, doch sie behandelten ihn, als wüssten sie mehr über ihn, als sie zugeben wollten. Nur wenige begegneten ihm freundlich, wie Meister J´Kar. Doch er traf diese wenigen zu selten an. Bis auf eine. Eine junge Frau Namens Abigail, die sich bisher jeden Tag um ihn gekümmert hatte, wenn sie nur konnte. Die junge Magierin mit dem feuerroten Haar hatte ihm die gesamte Burg gezeigt, sogar einiges über sie erzählt. Dabei hatte Niemand sie etwas näher kennen lernen können. Sie war eine überaus feurige Frau, die immer ihren Kopf durchsetzen wollte, etwas, was die höher gestellten Magier oft zur Weisglut brachte. Doch Niemand fand diese Charaktereigenschaft wunderbar. Gerne sah er dabei zu, wenn sie ihren Studien nach ging, sich an der Magie übte oder sich einfach mal entspannte. Zudem fühlte er sich in ihrer Nähe sehr wohl. Der junge Mann glaubte, dass dasselbe auch für Abigail galt, denn einige male hatte er ihren Blick auf sich ruhen gespürt, wenn er über sich nachgedacht hatte oder über einem der Bücher gebrütet hatte, das J´Kar ihm geliehen hatte. Eher unbewusst fragte sich Niemand, wo Abigail wohl nun steckte. Ob sie noch schlief oder schon beim morgendlichen Training war. Sie bevorzugte es jeden Morgen ihren Körper zu stählen, um sich zumindest etwas Bewegung zu gönnen, denn sie kam nur selten aus der Bibliothek, wenn sie sich mit der Magie und ihren Zaubersprüchen beschäftigte. Niemand hatte ihr auch dabei zugesehen und ihren schlanken Körper in den engen Hosen und Hemden bewundert, wenn sie ihre Übungen gemacht hatte. Auch andere Männer hatten ihr dabei zugesehen und Niemand war immer wieder eifersüchtig geworden, ohne zu wissen, wieso überhaupt. Bald erreichte der junge Mann die obersten Stockwerke der Turmburg, wo die Meister ihre Unterkünfte hatten. Er lief den Gang entlang und einmal mehr fühlte er sich beobachtet. Seit er in der Grausteinburg war, kam es ihm vor, dass ihn die großen Rüstungen, die jeden gang der Turmburg zierten, ununterbrochen beobachteten. Oft genug hatte er die Rüstungen genau betrachtet, doch nur festgestellt, dass die Rüstungen recht dürre Arme und Beine hatten. Die Panzerhandschuhe und –stiefel wirkten hingegen übertreiben groß. Nur wenige der Rüstungen hatten eine Waffe bei sich, doch die welche hatten, trugen übergroße Morgensterne oder Streitkolben. Als er Abigail einmal gefragt hatte, welches Volk solch seltsame Rüstungen trug, meinte sie schlicht weg, keins. Diese Antwort hatte ihn verwirrt, ebenso mehr Fragen aufgeworfen, doch der junge Mann hatte sich nicht weiter mit den Zierrüstungen abgegeben, sondern weiter sein erinnerungsloses Leben geführt. Dennoch kam es ihm immer noch vor, als würden die Rüstungen ihn genau betrachten. Bald erreichte Niemand die Tür zu Meister J´Kars Kammer. Er klopfte an die Tür, doch erhielt keine Antwort. Geduldig blieb er vor ihr stehen und versuchte das Gefühl zu verdrängen, dass ihn die Rüstungen weiterhin anstarrten. Er versuchte sich mit den Gedanken an seinen neuen Traum abzulenken, doch so wirklich wollte es ihm nicht gelingen. Schließlich öffnete sich doch die Tür und J´Kar stand Niemand gegenüber. „Guten Morgen, Niemand“, begrüßte ihn der Maskierte mit seiner jungenhaften Stimme freundlich, während er aus seiner Kammer zu dem jungen Mann auf den Gang trat. „Was kann ich für dich tun?“ „Ich…“, stieß Niemand, bevor er sich zusammen riss und sich misstraurig im Gang umsah. „Kann ich euch unter vier Augen sprechen?“ Die leuchtenden Augen, die unter der Kapuze den jungen Mann her betrachteten, verengten sich leicht. „Gut“, sagte der Magier und hab Niemand in seine Kammer. Einmal mehr konnte der junge Mann nur staunen, wie zugestellt die Kammer des Maskierten doch war. Ein großer Tisch beherrschte das gesamte Bild. Auf ihm standen Unmengen von Flaschen und anderen Behältern, wie auch aufgeschlagene Bücher, die schon mal bessere Tage gesehen hatten. An den Wänden rund herum standen Regale mit Büchern, Zutaten, Flaschen und anderen Dingen. Das Bett des Magiers stand klein und uneinladend in einer Ecke der Kammer. Gegenüber von der Tür, in durch die Niemand gekommen war, stand eine andere, die stets verschlossen gehalten wurde. J´Kar hatte ihm nicht erzählt, was sich dahinter befand, doch Niemand ging davon aus, das es ein Labor war, indem der Erzmagier besonders gefährliche Experimente durchführte. Doch wirklich interessierte ihn dies auch nicht. J´Kar ließ sich auf einen heraufbeschworenen Sessel nieder und erschuf gleich darauf noch einen für seinen Gast. „Wie kann ich dir helfen?“, wollte der Maskierte wissen, während er es sich gemütlich machte. Der junge Mann ließ sich ihm gegenüber in den Sessel sinken. Er zögerte, bevor er begann zu sprechen. „Ich habe wieder den Traum gehabt, doch ein anderer ist ihm gefolgt.“ Ein weiterer Traum?“, fragte J´Kar neugierig und beugte sich etwas vor, um Niemand besser lauschen zu können. „Was hast du geträumt?“ „Von einer Frau“, sagte Niemand besorgt. „Einer Frau mit grüner Haut und gelben Augen, die vor Schmerzen verschleiert waren. Ein Pfeil ragte aus ihrer Schulter und sie floh vor der Schwärze, die mich in meinem anderen Traum immer wieder in die schwarze Tiefe fallen ließ.“ Er stockte kurz. „Ich glaube, ich kenne sie von irgendwoher.“ Nachdenklich lehnte sich der Erzmagier zurück und ließ sich Niemands Worte durch den Kopf gehen. Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: „Das könnte wieder eine Erinnerung sein. Nur...“ Er zögerte. „Hast du noch etwas gesehen?“ Niemand nickte. „Ja. Einen Mann mit bronzener Haut, von dem ich auch glaube, ihn zu kennen.“ Er sah J´Kar an. „Könnten sie Freunde von mir sein?“ „Gut möglich“, meinte der Maskierte und nickte. Er dachte darüber nach und sagte schließlich: „Wenn sie deine Freunde sind, dann sollten wir versuchen sie zu finden, wenn es nicht schon die Schwärze getan hat.“ „Aber wie?“ „Mit Magie“, meinte der Magier freundlich und erhob sich aus seinem Sessel. „Schließlich bist du unter Magiern, von denen viele die Kunst der Weitsicht beherrschen.“ Er schlenderte zu seinem Bett und holte die Waschschüssel hervor, die er mit klarem Wasser füllte. Er kam zurück und stellte die Schüssel auf den Tisch. Er winkte Niemand heran und sagte: „Dann wollen wir mal sehen, ob wir sie nicht finden.“ Neugierig beugte sich Niemand zu dem Erzmagier, der angefangen hatte leise Worte zu murmeln. Der junge Mann wusste, dass es sich dabei um einen Zauber handeln musste, denn sein rechtes Auge, das unter der Augenklappe verborgen hatte, hatte angefangen zu jucken. Dies war bisher immer passiert, wenn er bei einem Zauber zu gegen gewesen war. Immer hatte das Auge angefangen zu jucken und Niemand hatte sich von den freigesetzten Energien fast magisch angezogen gefühlt. Allmählich entstand ein Bild auf der Oberfläche des Wassers. Bergspitzen wurden sichtbar. J´Kar erkannte sie. „Das Antigas-Schlangen-Gebirge“, meinte er. „Sie ist also noch irgendwo hier in den Bergen.“ Er sah sich weiter das Bild an und wand sich dann an Niemand. „Beschreib sie mir mal etwas genauer, damit ich sie ausfindig machen kann.“ Der junge Mann gehorchte und beschrieb das Mädchen so genau, wie es ihm nur möglich war. Dabei murmelte der Erzmagier weiter seinen Zauber und lauschte jedem einzelnen Wort genau. Das Bild im Wasser änderte sich und zeigte eine Siedlung, aus der Rauch quoll. „Hmm… Das ist Sandstein, ein Zwergenposten“, erklärte der Magier seinem jungen Freund, der die Siedlung besorgt betrachtete. „Es scheint so, das der Außenposten überfallen wurde. Na was haben wir denn da?“ Er sah genauer hin und entdeckte eine Meute aufgebrachter Schwarz-Orks, die sich um die Leichen eines Ogers, eines Orks und eines Zwerges gesammelt hatten, den man mit brutaler Gewalt in den Erdboden gestampft hatte. „Scheinbar haben sich die schwarzen Teufel da schon eingenistet.“ Er betrachtete das Bild eingehend. „Aber sie scheinen vor kurzem gekämpft zu haben.“ „Woher wisst ihr das?“, fragte Niemand neugierig, während sein Blick auf dem Außenposten haftete. J´Kar sah ihn an. „Sie betrauern ihren toten Anführer und verfluchen ihre Feinde“, erklärte er dem anderen. „Zudem sind diese drei, um die die Orks stehen, noch nicht länger als einen Tag tot. Dem Oger hat man den Schädel zertrümmert, dem Ork den Kopf abgeschlagen und ich glaube, der Oger hat vorher diesen Zwerg da getötet. Jetzt streiten sich die anderen um den Posten des Anführers.“ Er schwieg kurz und meinte dann: „Ah, da sind zwei aber besonders heftig.“ Niemand sah auf das Bild und erkannte zwei Orks, die mit Krallen und Zähnen aufeinander losgingen. Einer der Orks biss den anderen in die Schulter, worauf Niemand zusammen zuckte und zurück taumelte. Er packte sich an die Schulter und spürte einen stechenden Schmerz. Das Bild eines Schwarz-Orks, dessen Zähne sich tief in seine Schultern gruben, erschein vor seinem inneren Auge auf. Er schrie gequält auf und sank auf die Knie. „Niemand.“ J´Kar war sofort an seiner Seite dun legte dem jungen Mann die Hand auf die anderen Schulter. „Was hast du?“, fragte er den anderen. „Meine Schulter…“, schluckte der junge Mann, als der Schmerz langsam nachließ. „Ich spüre einen Schmerz, als hätte mich einer dieser Teufel dort gebissen.“ Er sah zu J´Kar auf. „Ich sehe sein Gesicht deutlich vor mir.“ „Eine unterdrückte Erinnerung“, murmelte der Magier und sah nachdenklich drein. „Vielleicht sollten wir die Suche nach deiner geheimnisvollen Freundin unterbrechen.“ „Nein“, knurrte Niemand, während er sich mühselig auf die Beine kam. „Ich will wissen, wer sie ist.“ Er ging zum Tisch und sah dabei fordernd zum Maskierten. „Bitte hilf mir sie zu finden, Meister J´Kar.“ Ein leiser Seufzer stieg aus der Kapuze und der Magier trat wieder an den Tisch. „Nun gut“, sagte er, diesmal ernster. „Aber wenn so etwas noch einmal passieren sollte, brechen wir das sofort wieder ab.“ Zur Antwort nickte Niemand und sah wieder auf das ruhige Wasser in der Schüssel. Der Maskierte nickte leicht und fing wieder mit seiner Beschwörung an. Wieder wanderte das Bild, bis es die Wüste erreichte. Doch ab dort wurde es undeutlicher. Verwirrt runzelte der Erzmagier die versteckte Stirn. Je weiter sein Zauber vordrang, so verschwommener wurde das Bild, bis es sich schließlich komplett auflöste und das Wasser Wellen schlug. „Was ist passiert?“, fragte Niemand, der das ganze nicht verstand. Eben noch hatte der Zauber wunderbar funktioniert, doch jetzt brach er einfach ab. „Ein anderer Zauber blockiert meinen“, stellte J´Kar verwundert fest. Der Magier wurde neugierig und versuchte es noch einmal, doch wieder versagte der Zauber. Er sah auf und klimperte ein-zweimal mit den Augen, bevor er sich Niemand zu wand. „Ein Zauber verhindert, dass man sie findet. Ich weis nur, dass sie irgendwo in der Wüste von Jeris ist.“ „Jeris“, murmelte Niemand nachdenklich und wand seinen Blick von dem Wasser ab. Warum kam ihm der Name so bekannt vor? Er wusste von dem Wüstenreich, hatte er sich doch lange genug mit Abigail über Helios und seinem Nachbarn unterhalten. Dabei war ihm der Name nie so bekannt vorgekommen. Doch jetzt… „ich glaube, dort wollte ich hin.“ J´Kar sah ihn an. „Erinnerst du dich etwa an weitere Dinge?“ „Ich glaube schon.“ „Das ist gut“, sagte der Erzmagier zufrieden dun klopfte Niemand auf die Schulter. „Dann sind wir einen erheblichen Schritt weiter gekommen, als wir zu hoffen gewagt haben.“ Niemand sah ihn nicht überzeugt an. „Schau mich doch nicht so an. Wir haben wirklich einen großen Fortschritt gemacht, mein junger Freund. Jetzt wissen wir schon mal, was dein Ziel war und wer dich begleitet hat.“ Langsam nickte der junge Mann. J´Kar hatte recht. Sie waren wirklich weiter gekommen, als sie es erhofft hatten. Die ganzen Tage, seit Niemand in der Grausteinburg war, hatte er sich kaum an was erinnern können, außer an kleine Einzelheiten, wie, was er gerne aß oder das er für gewöhnlich das Haar kurz trug. Mehr war da nicht gewesen. Doch nun hatte er sich daran erinnert, das er nicht alleine gewesen war, das er Freunde hatte und wohin er gewesen war, bevor die schwarze Meute der Orks ihn von den Klippen gestoßen hatte. „Ich schlage vor, das wir uns ein kleines Frühstück gönnen“, meinte J´Kar, der zu Niemand getreten war und ihm freundlich auf die Schultern klopfte. „Danach werden wir uns erheblich besser fühlen.“ *** Langsam streckte Abigail ihr Bein aus, ließ den Fuß über den Boden streichen, während ihre Arme einen weiten Bogen um ihren Körper vollführten. Ihre Augen waren dabei geschlossen, während sie ihre Übungen machte, die sie fit halten sollten. Ihr anderer Fuß folgte und strich, wie der erste, genau so leicht über den Boden, als würde er ihn nicht berühren. Sie streckte die Arme von sich aus, als wolle sie jeden Moment damit anfangen zu fliegen und in die Lüfte entschwinden. Dies waren einfache Übungen, die sie und andere der Grauen Roben von einem der Meister gelernt hatten, der vor langer Zeit auf den Kontinent Aijin gereist war und lange in einem der Länder heimisch gewesen war, bevor er zurückkehrte. Dort hatte er die Übungen des Hu-Jin gelernt, einem großen Meister, der in seinem Land ein gefeierter Held gewesen war. Die Übungen sollten Geist und Körper fürs Leben feilen, hatte der Meister erklärt. Doch so wirklich hatten Abigail und die anderen dies nicht verstanden. Dennoch hatten sie die Übung absolviert und gefallen daran gefunden. Abigail machte eine Drehung und ließ sich fallen. Doch bevor sie auf dem Boden landete, streckte sie ihre Hände aus und verhinderte, dass sie sich die Nase blutig schlug. Rasch sprang sie auf. Sie streckte ein Bein aus, als wolle sie jemanden treten und drehte sich einmal um sich selbst, bevor sie beide Füße auf dem Boden absetzte. Die junge Frau stellte sich aufrecht hin und atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor sie die Augen öffnete. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper, tränkte das leichte Hemd, das sie heute trug, wie auch die enge Hose. Sie ließ ihre Schultern einmal kreisen und stellte zufrieden fest, dass sie auch heute ihr Training gut überstanden hatte. Abigail schritt zu dem Bündel Kleider, die auf einer Stufe der Treppe lagen. Sie befand sich im großen Hof der Grausteinburg, wo sie jeden Morgen ihre Übung vollführte, um Fit für den Tag zu bleiben. Sie hatte sich in einer von der frühen Sonne erhellten Stelle aufgehalten, wo sie niemandem im Weg stand. Sie nahm sich ihre Kleider und ging die Treppe hinauf, die sie in einen der kleinen Türme bringen würde, der sich in der Wehrmauer befand, der die Turmburg umgab. Die drückte die Tür auf, die sich am Ende der Treppe befand und betrat die sich dahinter befindende Wachstube, in der zwei der Wachen saßen und in aller Ruhe Karten spielten. Die beiden Männer sahen kurz auf und grüßten sie, während Abigail an ihnen vorbei ging. Sie grüßte rasch zurück, bevor sie durch die gegenüberliegende Tür verschwand, die in die Turmburg führte. Sie kam auf einen der Dienstbotengänger heraus, auf denen sich derzeit eine große Zahl der Bediensteten aufhielt, um den Speisesaal für das Frühstück vorzubreiten. Die Männer und Frauen grüßten sie freundlich, während sie an ihr vorbei huschten. Abigail grüßte zurück. Sie durchschritt den Gang mit schnellen Schritten, bis sie den Speisesaal erreichte. Dieser war eine riesige Halle, einst als Thronsaal erbaut worden war. Doch die Grauen Roben hatten ihn rasch umgestaltet und dort die Bänke und Tische für die Schüler und Meister aufgestellt, damit diese in ruhe dort speisen konnten. Einige der Schüler und Meister waren schon aus ihren Kammern gekommen und frühstückten in aller Ruhe, während sich andere dabei unterhielten, oder wieder andere grade den Saal betraten. Die junge Magierin sah sich um. Er war also noch nicht da, stellte sie fest, als sie Niemand nicht entdeckte, den Fremden, der eines Tages einfach aufgetaucht war und den Magiern der Grauen Roben unzählige Fragen auferlegt hatte. Der Mann, der Abigail ein guter Freund geworden war und mit dem sie sich unterhalten konnte, wie mit keinem der anderen von ihrem Alter. Dem einzigen, dem sie sich verbunden fühlte. Ein leiser Seufzer entrang ihrer Kehle, als sie ihn nicht entdeckte. Schade, dachte sie. Gerne hätte sie mit ihm zusammen das Morgenmahl zu sich genommen und sich bei ihm erkundigt, ob er gut geschlafen hatte. Sie wusste, dass er seit seiner ersten Nacht in der Turmburg von Alpträumen geplagt wurde, denn er hatte es ihr im Vertrauen erzählt. Sie hatte ihm versprochen, mit niemanden darüber zu reden, als mit ihm selbst. Und daran hielt sie sich eisern. Jemand berührte sie an der Schulter und sie wand sich neugierig um. „Niemand“, begrüßte sie den jungen Mann, der zusammen mit Meister J´Kar hinter ihr gestanden hatte und sie an der Schulter berührt hatte. Sie mochte den Namen Niemand nicht. Denn ihr Freund war jemand, nur ihm fehlten die Erinnerungen. Dennoch verwendete sie den Namen, den J´Kar ihm verliehen hatte. Sie umarmte ihn, was er erwiderte. „Guten Morgen“, sagte der junge Mann, als sie die Umarmung lösten. Er hatte ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt, wie er es immer tat, wenn er ihr über den Weg lief. „Hast du deine Übungen schon gemacht?“ Sie nickte. „Grade eben erst fertig geworden“, sagte sie mit einem ebenso freundlichen Lächeln, wie Niemand. „Und? Hast du diese Nacht gut geschlafen?“ Er wusste worauf sie sich bezog und meinte schlicht: „Es ging.“ Er sah sich um. „Lass uns schnell etwas zu essen holen, bevor nichts mehr da ist.“ Sie nickte. Als sie etwas sagen wollte, erklang die Stimme J´Kars. „Ich werde euch dann mal nicht weiter stören“, sagte der Maskierte und ließ die beiden alleine stehen. Etwas verlegen sah sie dem Meister nach. Sie hatte ganz vergessen ihn zu grüßen. Niemand hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit gehabt, wobei sie J´Kar praktisch übersehen hatte. Hoffentlich war er ihr nicht böse. Sie würde es sich nie verzeihen können, wenn sie den ehrwürdigen Mann beleidigt hätte. „Komm schon“, höret sie Niemand sagen und wand sich ihm zu. Der junge Mann sah sie mit seinem grünen Auge freundlich an. Sie nickte und zusammen holten sie sich etwas zu Essen. Einen Platz fanden sie nicht so rasch. Zumindest Niemand nicht. Abigail wurden Plätze an der Seite ihrer Kollegen angeboten, doch dem Fremden zeigten diese nur die kalte Schulter. Sie misstrauten ihm, seit sie wussten, was im Turmzimmer geschehen war. Am Tag danach hatte sie sich nur mit ängstlichen, sogar zögerlichen Schritten genähert, als J´Kar nach ihr hatte schicken lassen. Doch dank der Augenklappe war nichts mehr passiert. Das Gefühl der unbändigen Macht, das sie erregt, aber auch gequält hatte, war nicht mehr da gewesen. Wie auch das Gefühl, als würde man ihr die Kraft entziehen. Alles war einfach weg gewesen und Abigail hatte sich an den Fremden gewöhnen können und hatte ihn schließlich auch zu einem Freund erkoren. Schließlich hatten sie doch einen Platz gefunden, eine Bank in der Ecke des Speisesaals, an dem noch niemand saß. Abigail schämte sich für ihre Kollegen, die Niemand so unfreundlich gegenüber aufgetreten waren. Sie hätte es nie für möglich gehalten, das ihre Kollegen und Freunde so abschätzend über andere denken konnten. Sie wüsste nur zu gerne den Grund dafür. Doch Niemand schien das nicht zu stören. Er aß in aller Ruhe sein Frühstück und unterhielt sich mit ihr, als wäre nichts passiert. Die beiden unterhielten sich über ganz alltägliche Themen, wie das Wetter oder Abigails Übungen, bei denen Niemand ihr schon einige male zugesehen hatte. Sie hatte die Blicke des Mannes deutlich auf sich ruhen gefühlt, wie er sie aufs Genaueste betrachtet hatte. Ihr war das peinlich gewesen und sie hatte mit ihrer Konzentration kämpfen müssen. Viele Männer, jung und alt, hatten ihr bei den Übungen zugesehen, doch war sie nie so aus der Fassung geraten, wie bei dem mysteriösen Niemand. Sie hatte vermutet, dass es an seiner Macht lag, die tief in seinem Inneren ruhte und nur darauf wartete, wieder heraus zu kommen. Doch dem war nicht so gewesen. Sie hatte ein ausführliches Gespräch mit Tailia geführt und die ältere Frau hatte ihr gesagt, dass dies ganz normal wäre für eine Frau, die sich verliebt hätte. Natürlich hatte Abigail ihrer Meisterin widersprochen, doch innerlich wusste sie, dass die Frau mit der Silbersträhne Recht hatte. Sie hatte ihr Herz an Niemand verloren, nicht an die Macht, die in ihm schlummerte. Sie sehnte sich regelrecht nach der Nähe des jungen Mannes, der sie immer mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begrüßte und sie mit seinem grünen Auge betrachtete. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, nach seinen Berührungen. Wenn er sie nur leicht berührte, machte ihr Herz schon Freudensprünge. Das Frühstück endete überaus rasch, wie die junge Frau fand. Gerne hätte sie sich weiter mit Niemand unterhalten und seinen Worten gelauscht. Doch sie musste zurück in ihre Kammer und einen Zauber studieren, den Tailia ihr zum Erledigen aufgegeben hatte. Dafür hätte sie die Meisterin gerne geohrfeigt. Durch diese Aufgabe war sie von Niemand getrennt, der sich mit J´Kar und Tailia in irgendeine Kammer zurück zog und dort weiter nach seiner Vergangenheit forschte. Gerne wäre sie dabei, an seiner Seite, um ihm zu helfen. Doch dies war ihr verwehrt. Als beide durch einen der Gänge der Turmburg schritten, erzählte Niemand ihr von seinem neuen Traum, wie auch der grünhäutigen Frau und seinem Ziel. „Jeris?“, fragte sie. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Er war auf dem Weg nach jeris gewesen, auf einer der gefährlichsten Ruhten des Gebirges. „Wieso das?“ Er zuckte ungewiss mit den Schultern. „Ich weis nicht“, murmelte er nachdenklich. „Vermutlich habe ich sie dorthin begleitet.“ „Wer ist sie?“, wollte Abigail wissen. „Eine Freundin, glaub ich“, meinte er unsicher. Er sah sie an. „Ich spüre nur, dass ich mit ihr irgendwie verbunden bin.“ Die junge Magierin schluckte. Verbunden? War sie etwa seine Geliebte oder gar seine Frau? Abigail wollte nicht weiter darüber nachdenken. Wenn ihr Verdacht der Wahrheit entsprach, würde Niemand gewiss nie ihre Liebe erwidern können. Nun hoffte sie, dass er nie wieder sein Gedächtnis zurück erlangen würde. Dann wäre er auf Ewig Niemand, ihr Niemand, den sie lieben durfte, wie sie es wünschte. Sofort rügte sie sich für diesen arroganten Wunsch. Was dachte sie sich bloß dabei? Sie durfte doch sein altes Leben nicht zerstören. Was war, wenn er die große Hoffnung des Landes war oder ein Held auf einer wichtigen Mission? Sie würde aus egoistischen Gründen andere in Gefahr bringen. Niemand sah sie an und legte ihr eine Hand auf die Schulter, die er sanft drückte. „Ich muss sie finden“, sagte er ernst zu der jungen Frau. „Aber wie?“, fragte Abigail, die glaubte sich verhört zu haben. Doch dem war nicht so. „Wie willst du sie in den Weiten der Wüste finden?“ „Ich weis es nicht“, murmelte er und lehnte sich an die Wand. Deutlich sah sie ihm seine Müdigkeit an. „Ich weis es wirklich nicht. Das ist eine Aufgabe für einen Mann, der eins mit sich ist, nicht so wie ich. Meine Vergangenheit liegt im Verborgenen meiner Seele. Das einzige, was ich weis, ist, das ich sie finden muss, um wieder der zu werden, der ich mal war.“ Die Magierin trat zu ihm und legte eine Ahnd auf seine Schultern. „Du bist eins mit dir, Niemand“, versuchte sie ihn zu trösten. Er schnaubte verächtlich. „Niemand“, brummte er und kniff die Augen zu. „Nicht einmal meinen Namen kenne ich. Ich trage einen Namen, der für mich kaum eine Bedeutung hat, außer, das ich ein Niemand bin, der von irgendwoher stammt.“ Abigail schreckte etwas zurück, doch nahm sie ihren Mut zusammen und sagte: „Du bist kein Niemand.“ Er sah sie nicht überzeugt an. „Für mich bist du jemand.“ Jedes ihrer Worte nahm sie ernst und er spürte dies auch. „Ich kenne nicht deinen wahren Namen, dennoch schätze ich dich.“ Sie kam auf ihn zu und sah ihm mit ihren grünen Augen in das seine. „Du bist jemand.“ Niemand sah sie mit geweitetem Auge an, als könnte er nicht glauben, was sie zu ihm gesagt hatte. Der junge Mann senkte den Blick, als würde er sich schämen. Schließlich hob er ihn wieder und begegnete dem ihren. „Ich danke dir“, sagte er leise zu der jungen Magierin. Zu ihrer Überraschung küsste er sie auf die Wange und lächelte sie darauf an. „Danke“, sagte er noch einmal, bevor er sie alleine stehen ließ und zu seinem Treffen mit Tailia und J´Kar ging. Mit großen Augen sah Abigail dem jungen Mann nach, auch, als dieser im Gang verschwand. Sie strich sich zögerlich über die Wange, wo er sie geküsst hatte. Die junge Frau spürte jetzt noch die Lippen, die ihre Haut berührt hatten, wie auch die Stoppeln seines nahenden Bartes. Immer noch konnte sie nicht fassen, was grade passiert war. Er hatte sie geküsst, schoss es ihr immer und immer wieder durch den Kopf. Zwar war es kein richtiger Kuss gewesen, dennoch hatten seine Lippen sie berührt. Sie schloss die Augen und erinnerte sich rasch dem vergangenen Augenblick. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie sich sein Gesicht dem ihren näherte und seine Lippen sich auf ihre Wange legten. Doch schnell änderte sie die Erinnerung ab und Niemands Lippen trafen nicht ihre Wange, sondern ihre Lippen, um sie dort sanft zu küssen und ihr seine Liebe kund zu tun. Wie gerne hätte sie den falschen Augenblick erlebt. Dennoch freute sie sich über das kleine Zeichen der Zuneigung, das der junge Mann mit ihr geteilt hatte. Mit dem Wunsch, eines Tages seine Lippen auf den ihren zu spüren, wand sie sich um und schlenderte, fast schon hüpfend, zu ihrer Kammer, in der noch viel Arbeit vor ihr lag. Wenn sie sich besonders intensiv mit dieser befassen würde, dann wäre der Tag sicher schon bald um und sie würde Niemand wieder treffen. Ja, das wünschte sie sich. Mit Niemand, der jemand war, zusammen zu Abend essen. *** Grimmig sah Malcolm auf die Kristallkugel, die vor ihm auf seinem Arbeitstisch stand und die ihm das Bild des Fremden zeigte, denn alle Niemand riefen. Reine Eifersucht spiegelte sich in seinen alten Augen wieder. Dieser Bursch, wer er auch immer war, verfügte über eine Macht, die der des magus ebenwürdig war, wenn nicht sogar seine übertraf. Jetzt noch spürte er das Kribbeln in seinem Körper, das von der ungezügelten Macht im grauen Auge des jungen Mannes her rührte. Seit diesem Tag sehnte sich der Erzmagier und Meister der Grauen Roben nach der Macht Niemands. Wieder wollte er von ihr berührt werden, sich in ihr suhlen, um von ihr durchdrungen zu werden. Wie viel besser würde sich Malcolm fühlen, wenn seine alten Knochen von der neuen Macht getränkt wären. Sicher wäre er wieder so agil wie in seiner Jugend, als er noch an zahlreichen Abenteuern teilgenommen und sogar so manches Frauenherz erobert hatte. Wie sehr er sich nach den guten, alten Zeiten sehnte. Doch sie waren vorbei und dem Alten blieben nur noch die Erinnerungen an diese. Seit er bei den Grauen Roben war, hatte er sich damit abgefunden alt zu werden und eines Tages zu sterben. Doch seit dem Erwachen Niemands war er unzufrieden. Er wollte die Macht, die ihn zu Boden gerungen hatte, für sich selbst haben. Er wollte sie in sich spüren und sie verwenden können. Er wollte mit ihr Dinge verrichten, die noch nie einer vor ihm vermocht hatte. Er wollte der neue Magus werden. Der Titel des Mächtigsten aller Magier zu erringen war sein Ziel. Wenn er einmal der Magus wäre, würde sich jedes Geheimnis sich von ihm lüften lassen. Nichts würde ihm entgehen, niemand würde etwas sagen können, ohne, das er es hörte. Seine Macht wäre grenzenlos. Doch um sein Ziel zu erreichen, musste er erstmal an die magischen Kräfte des Burschen kommen, der vor ihm, in der Kristallkugel, mit eiligen Schritten die Treppen erklomm. Doch wie sollte er dies bewerkstelligen können? Ihm war kein Zauber bekannt, mit dem er die Macht eines anderen in sich aufnehmen konnte. Keiner der Zauberer der Grauen Roben kannte einen. Unbewusst erzitterte er. Malcolm erinnerte sich an die Magier, die einst aus Helios verband worden waren. Sie hatten sich mit den schwarzen Künsten beschäftigt, als er selber noch nicht einmal geboren worden war. Die Schwarzmagier hatten viele mächtige Zauber besessen, mit denen ihnen fast nichts unmöglich gewesen war. Doch sie waren von den Grauen Roben und den Magiern Helios aus dem Königreich vertrieben worden, als sie versucht hatten, die Macht an sich zu reißen. Ihre Festung war nur noch eine Ruine, die tief in den Roten Bergen, dem an den nord-westlichen Grenzen liegenden Gebirge von Helios, lag. Vielleicht… Er zögerte den Gedanken weiter zu führen. Er durfte sich nicht von den schwarzen Künsten verführen lassen, nur, weil es ihn nach mehr Macht gelüstete und den Titel des Magus. Das durfte er nicht zu lassen. Zu lange war er Mitglied der Grauen Roben gewesen, als das er eine solche Dummheit hätte begehen können. Aber dennoch. Die Macht des Jungen ließ ihn innerlich wimmern. Er brauchte sie, um sein altes Leben wieder zu erlangen, um wieder glücklich zu sein. Innerlich sträubte er sich, war sich uneins, was er nun wollte. Schnell verwarf er all seine Pläne wieder. Das Bild in der Kristallkugel ließ er verschwinden, um vom Anblick des Fremden nicht weiter in Versuchung gebracht zu werden. Wie hatte er nur auf solche frevelhafte Gedanken kommen können? Er war doch ein alter Narr, dass er sich von so etwas wie Macht verführen ließ. Nein, er würde wieder stehen dun sein ruhiges Leben in der Turmburg weiter führen, wie die letzten fünfzig Jahre auch. Nichts würde ihn davon abbringen können. Dennoch… Die Versuchung war groß. *** Tailia lauschte den Worten J´Kars, der mit ihr und Niemand zusammen in ihrer Kammer saßen. Der maskierte Magier erzählte ihr vom neuen Traum des jungen Mannes und dem darauf folgenden Versuch, die junge Frau ausfindig zu machen. „Sie scheint eine Magierin zu sein“, vermutete die Meisterin mit der Silbersträhne schließlich, als J´Kar mit seinem Bericht geendet hatte. Der Maskierte schien nicht davon überzeugt. „Das glaube ich weniger“, sagte er entschieden. „Mein Zauber hätte dann nicht so reibungslos wirken können, wenn sie einen Schutzzauber gewoben hätte. Ich geh eher davon aus, dass sie irgendwas bei sich trägt, was ein Aufspüren, zu einem gewissen Maß, verhindert. Schließlich haben wir ihre Spur in der Wüste verloren.“ Nachdenklich senkte sie den Blick und strich sich über das Kinn. „Das wäre auch eine Möglichkeit“, meinte sie einsichtig. „Aber vor wem sollte sie sich schützen wollen? Was ist der Zweck ihrer Reise?“ Sie sah bei diesen Worten Niemand an, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Er zuckte bloß mit den Schultern. Seine Erinnerungen waren nicht so weit zurückgekehrt, dass er ihr diese Frage hätte beantworten können. „Das kann uns nur einer sagen“, sagte J´Kar, während auch er zu dem jungen Mann sah. „Doch dieser Jemand weis nicht einmal, wer er ist.“ Niemand sah den Magier niedergeschlagen an und senkte den Blick, als würde er sich für sein Los schämen. „Wie auch immer“, meinte Tailia schließlich. „Er weis zumindest, das er nicht alleine war und wohin er wollte. Das muss reichen.“ „Etwas mehr zu wissen, wäre aber wesentlich besser, meine Liebe“, seufzte der Maskierte und lehnte sich in seinem Sessel etwas vor. „Wir wissen ja nicht einmal, was er oder sie in Jeris wollen.“ „Es muss etwas wichtiges sein“, murmelte Niemand schließlich, worauf ihn beide Erzmagier ansahen. Unter ihren Blicken senkte er seinen Kopf, um ihnen nicht in die Gesichter sehen zu müssen. „Schließlich sind wir dafür durch die Berge gereist, auf einer Route, die, nach J´Kars Worten, überaus gefährlich ist.“ „Der Junge hat recht“, stimmte J´Kar ihm zu. „Es muss etwas überaus Wichtiges dahinter stecken. Kaum einer durchquert diesen Teil der Berge, ohne eine bis an die Zähne bewaffnete Leibwache bei sich zu haben. Allein die Zwerge wagen sich in geringen Zahl dort hin.“ Tailia nickte zustimmend. Sie kannte das Antigas-Schlange-Gebirge genau so gut wie J´Kar. Die Berge waren ein gefährliches Gebiet, besonders in den tieferen Regionen, wo die Unholde lebten. Die alten Wege waren längst nicht mehr begehbar, denn nicht nur die Unholde durchstreiften sie, sondern noch ganz andere Kreaturen, die das Licht der Sonne scheuten und in den Schatten und Schluchten des Gebirges ihr Unwesen trieben. Tailia war in ihrer Jugend oft genug mit einigen Abenteurern durch das Gebirge gewandert und hatte die Monster bekämpft und immer wieder hatte sie sich gewünscht nie wieder auf eine der Kreaturen zu treffen. Denn sie waren in großen Zahlen gekommen und sie hatte hart ums Überleben kämpfen müssen. „Wir sollten nach ihr suchen“, schlug J´Kar plötzlich vor. „Sie suchen?“, fragte die Erzmagierin überrascht. „Wie stellst du dir das vor? Niemands Freundin könnte überall in der Wüste sein. Jeris Sandmeer ist riesig und zudem sehr gefährlich. Zudem wird der Rat sich dazu sicher nicht überreden lassen. Du weist um unseren Kodex, J´Kar.“ Der Maskierte schnaubte abfällig. „Ja, ja“, brummte er. „Die Grauen Roben mischen sich nicht ins Geschick der Reiche ein. Dennoch finde ich, dass wir der Sache nachgehen sollten. Du weist ganz genau wieso.“ Tailia sah den anderen direkt an und nickte verstehend. J´Kar war immer noch darauf versessen das Geheimnis von Niemand zu ergründen. Sie selber war ebenfalls erpicht darauf, mehr über den jungen Mann zu erfahren. Sie hatte nie in ihrem Leben eine solche Macht verspürt, wie sie von dem jungen Mann ausging. Anfangs hatte sie vermutet, das es sich um den Magus handeln könnte, der in einer Verkleidung seinen Schabernack mit ihnen trieb, doch rasch hatte sie den Gedanken verworfen und erkannt, wie töricht sie mit ihrer voreiligen Meinung gewesen war. Der Mächtigste aller Magiewirker war nicht von solch kindischer Natur, dass er sich mit solchen Kinkerlitzchen vergnügte. Zudem musste er sich um die Geschicke auf ganz Konass kümmern. „Dennoch“, sagte sie schließlich entschieden. „Wir dürfen uns nicht zu irgendwelchen übereilten Handlungen hinreißen lassen.“ Sie sah Niemand entschuldigend an. „Er muss alleine dahinter kommen, wie leid es mir auch tut.“ Niemand sah sie enttäuscht an und nickte schließlich. Er wusste um die neutrale Haltung der Magier, denn Tailia selbst hatte ihm über die Lebensweise der Grauen Roben berichtet. „Wenn dem so ist“, sagte er und sah dabei die beiden Magier an. „Dann werde ich die Turmburg verlassen und in die Wüste ziehen, um nach meinen verlorenen Erinnerungen zu suchen.“ J´Kar sah ihn betrübt an. „Mein junger Freund“, sagte er mitfühlend. „Ich wäre gerne an deiner Seite, um dir auf deinem Weg zu helfen. Doch leider bindet mich der Kodex unseres Ordens dazu, untätig herum zu sitzen.“ Niemand nickte. „Schon gut, Meister J´Kar“, meinte der junge Mann und lächelte ihn leicht an. „Ich werde auch ohne eure Hilfe vorankommen. Schließlich wäre ich nicht mehr am leben, wenn ich das zuvor nicht vermocht hätte.“ Gutgelaunt lachte der Maskierte und Tailia ließ sich davon anstecken. „So spricht ein wahrer Abenteurer“, meinte der Erzmagier. „Dennoch. Ich werde dich nicht unvorbereitet in die Wüste schicken.“ Er erhob sich aus seinem Sessel. „Ich hab da noch ein paar Dinge, die dir unterwegs sicher sehr behilflich sein werden.“ „J´Kar“, empörte sich Tailia. „Du sollst ihm doch nicht helfen.“ „Helfen? Das tu ich doch gar nicht, meine Liebe. Ich rüste ihn nur etwas aus, mehr nicht. Ich will doch nicht die anderen Meister verärgern. Malcolm würde sonst an die Decke gehen. Und das wollen wir ja nicht, stimmst?“ Tailia glaubte ein schelmisches Glitzern in den leuchtenden Augen des maskierten zu sehen, doch war sie sich da nicht sicher. „Wann kann ich aufbrechen?“, fragte Niemand übereifrig. Ohne dass die anderen es gemerkt hatten, war er aus seinem Sessel gesprungen und erweckte den Eindruck, dass er sofort aufbrechen wollte. Wieder lachte J´Kar gutgelaunt. „Nicht so eilig, mein junger Freund“, schmunzelte er und klopfte dem jungen Mann auf die Schultern. „Erst einmal muss ich alles zusammen suchen, die anderen muss ich noch davon informieren und dazu muss noch vieles mehr erledigt werden, bevor du ziehen kannst.“ „Wie lange?“, fragte Niemand ungeduldig. „Das kann ich dir leider nicht sagen.“ „Mist“, schnaubte Niemand sogleich. „So wird ihr Vorsprung viel zu groß. Ich würde Monate brauchen, um sie zu finden.“ „Es tut mir leid“, seufzte J´Kar. „Aber solche Dinge brauchen nun mal ihre Zeit. Doch sei vertröstet. Die Dinge, die ich für dich heraus suchen werde, können deine Suche erheblich erleichtern.“ „J´Kar“, sagte Tailia streng. „Hast du nicht gesagt, du wirst ihm nicht helfen?“ „Das werde ich auch nicht“, brummte der Maskierte sie an. „Ich werde mich da heraus halten, wie immer.“ „Das will ich auch hoffen“, meinte sie, wobei sie ihm zuzwinkerte. Die alte Magierin wusste nur zu genau, dass der Maskierte sich nicht zu genau an sein Versprechen halten würde. Irgendwie würde ihm das gelingen, ohne den Kodex zu verletzen. Warum sie das wusste, konnte sie nicht genau sagen, denn der maskierte Erzmagier war allen ein Rätsel. Vielleicht war es einfach ein Gefühl, das ihr dies sagte. Wie auch immer. Sie müsste sicher darauf Acht geben, dass er sich zurück hielt. Sie sah den jungen Mann an und sagte: „Du kannst ruhig gehen, junger Mann. Wir werden dich informieren, sobald wir alles geregelt haben.“ Niedergeschlagen nickte Niemand und verließ das Zimmer der silbersträhnigen Meisterin. Sie sah ihm so lange nach, bis sich die Tür hinter ihm schloss und sie mit J´Kar allein in der Kammer war. *** J´Kar wand sich der Meisterin zu, als er ihren Blick auf sich ruhen spürte. Ihre Augen funkelten ihn misstraurig an und er wusste sofort, dass sie seinen Worten keinen Glauben schenkte. Unter der Kapuze seiner Robe hob er eine der versteckten Augenbrauen an. „Was ist?“, fragte er seelenruhig. „Du hast was vor“, sagte sie, ohne einen Heller um ihren Verdacht zu machen. „Ich spüre es.“ „Wie kommst du denn da drauf?“, fragte der Maskierte mit ruhiger Stimme, die keinen seiner Gedanken oder seine Gefühle verriet. „Halt mich nicht zur Närrin, J´Kar“, warnte sie ihn sogleich und beugte sich in ihrem Sessel vor. „Du bist bis zum heutigen Tage ein jedem im Orden ein Rätsel, doch deine Absichten erkenne ich ohne große Mühe, ohne meine Magie zu verwenden. Deine Augen haben dich verraten.“ Einen Moment sah der Erzmagier seine Kollegin überrascht an, bevor er gutgelaunt anfing zu lachen. Als er sich langsam beruhigte, meinte er: „Du hast gute Augen, meine Liebe und eine gute Nase.“ Tailia ließ sich von ihm keinen Honig um den Mund schmieren. „Spar dir dein Lob“, erwiderte sie, wobei ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. Sie schien es verbergen zu versuchen, doch die Augen J´Kars sahen es so deutlich, wie einen Vogel am wolkenlosen Himmel. „Das bewirkt bei mir nichts.“ „Da bin ich mir aber nicht so sicher“, wagte er sich zu widersprechen und fing sich sogleich einen warnenden Blick ein. Doch es kümmerte ihn nicht. J´Kar war die Ruhe selbst. Kaum einer strahlte so viel Gelassenheit wie der Maskierte aus. „Ich warne dich, J´Kar“, zischte sie ihn an. „Ich will nicht gezwungen sein, dich für deinen Ungehorsam zu bestrafen. Der Kodex verbietet jedes Eingreifen in Dinge, die uns nichts angehen, egal wie wichtig sie einem auch erscheinen mögen.“ Der Maskierte verstand sie sofort. Doch es fiel ihm wahrlich schwer, seine Hände von dem Thema Niemand zu lassen. Der junge Mann, der einst zerschlagen und tödlich verwundet in einer Schlucht gefunden worden war, faszinierte ihn schon vom ersten Tag an. Der Bursche besaß eine Macht, die ihn schwindlig machte, wenn er sich nur an ihre magische Ausstrahlung zu erinnern wagte. Zwar war er dem Blick Niemands nicht unterlegen gewesen, als der Bursche erwacht war, dennoch spürte er, wie die anderen auch, ein Kribbeln in seinen Gliedern, das ihn nicht mehr los ließ. Er konnte es mit keinem anderen Gefühl vergleichen, das er je verspürt hatte. Daher hatte Niemand ihn auch so neugierig gemacht. „Bitte befolg meine Worte“, bat ihn Tailia schließlich. Knapp nickte er. „Ich werde es versuchen“, versprach er der Erzmagierin, die nicht all zu überzeugt wirkte. Er neigte vor ihr das Haupt, bevor er ihre Kammer verließ. Schließlich musste er noch die Ausrüstung für Niemand zu Recht legen. Und das bedurfte langer Suche und Arbeit. *** Leise fluchend hockte Niemand auf den Zinnen des östlichen Wachturms. Hier hatte er sich des Öfteren schon zurückgezogen, wenn er etwas Zeit für sich und seine wirren Gedanken brauchte. Er war wütend auf Meister J´Kar, nein, auf alle Meister der Grauen Roben. Wieso ließen sie ihn nicht einfach ziehen, damit er die junge Frau finden konnte, die eine gemeinsame Vergangenheit mit ihm teilte. Er wollte endlich wissen, wer er war, wohin er gehörte. Er wollte wissen, wer sie war, dieses geheimnisvolle Mädchen mit der grünen Haut und den gelben Augen. Allmählich vergingen die Stunden, bis die Sonne anfing hinter den bergen zu versinken und der Mond, zusammen mit unzähligen Sternen, seinen Platz einnahm. Der Wind war kühler geworden, doch Niemand störte sich nicht daran, sondern starrte in den dunklen Himmel gen Osten, wo seine Vergangenheit irgendwohin verschwand. „Wer bin ich?“, fragte er sich leise und senkte den Blick. „Wo komme ich her? Wieso bin ich hier? Wieso war ich bei ihr?“ Er fragte sich dies mehr als einmal und zerbrach sich beinah daran den Kopf. Wie gerne würde er seine Vergangenheit zurück erlangen, nur, um seinen Namen zu wissen, nur, um die Wahrheit um sich selbst zu wissen. „Da bist du ja“, erklang eine vertraute Stimme hinter ihm. Als der junge Mann sich umwand, erkannte er Abigail, die, wie üblich, ihre graue Robe trug und eine kleine Laterne in Händen hielt. Sie kam zu ihm herüber und warf einen Blick in den Osten. „Was versuchst du dort zu entdecken?“ Er wand seinen Blick wieder dem Osten zu und murmelte: „Mich selbst.“ Er spürte, dass die junge Frau sich zu ihm auf die Zinnen setzte und ihn mitfühlend ansah. Doch reagierte er nicht darauf. Am liebsten wäre er jetzt alleine mit seinen Gedanken, doch wagte er nicht Abigail einfach fort zu schicken. Sie war seine einzige Freundin hier, die gelernt hatte ihn zu verstehen, wie kein anderer in der gesamte Grausteinburg – mit Ausnahme von Meister J´Kar. Vielleicht würde ihre Anwesenheit ihm doch etwas Trost spenden, überlegte er, bevor er seinen ursprünglichen Gedanken nachhing. Eine kleine Ewigkeit verging, in der keiner von beiden ein Wort sagte. Niemand glaubte, das Abigail verstand, warum er hier oben war. Wie sollte es auch anders sein? Sie war mit ihm schon einige Male hier oben gewesen und hatte mit ihm die Sterne betrachtet, sich dabei mit ihm über verschiedene Dinge unterhalten oder nur stillschweigend die Gegenwart des anderen zu genießen. „Niemand“, hörte er ihre Stimme vorsichtig sagen. Er wand sich ihr zu, sah ihr ins Gesicht. „An was denkst du gerade?“ Er überlegte kurz und sagte: „An vieles.“ Sein Blick viel wieder auf den sternenübersäten Himmel. „An so viele Sachen, dass mir schon der Kopf schmerzt.“ Müde schüttelte er den Kopf. „In jeden Gedanken spiele ich oder diese fremde Frau eine Rolle. Aber was uns verbindet, bleibt mir immer noch verborgen. Am liebsten würde ich einfach weg laufen und mich wieder in die Schlucht stürzen, wo ich hätte sterben sollen.“ „Sag so was nicht“, kreischte Abigail und sah ihn bittend an. „Wie kommst du überhaupt auf so einen Unsinn? Deine Worte klingen fremd in meinen Ohren und ich frage mich, wer da neben mir sitzt. Mein Freund oder ein Fremder?“ „Ein Freund, der sich selbst fremd ist“, schnaubte Niemand verächtlich, versank wieder in sich selbst. „Ein Niemand.“ Abigail schluckte hart. „Du bist kein Niemand“, sagte sie zu ihm. Er sah sie an und fragte barsch: „Wer bin ich dann? Kennst du meinen Namen?“ Obwohl seine Worte sie schmerzten, wand sie nicht den Blick ab, sondern sah ihm ins gut aussehende Gesicht. „Du bist mein Freund“, sagte sie mit aller Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte. Nun nahm sie auch ihren gesamten Mut zusammen und tat etwas, wovon sie nie gedacht hätte, dass sie dazu in der Lage gewesen wäre. Sie küsste ihn. Niemand konnte nicht glauben, was da grade passierte. Abigails Lippen lagen auf den seinen, beide zu einem Kuss vereint. Er spürte sie deutlich, spürte, wie weich sie waren, wie voll und lockend. Er schmeckte zudem einen Hauch Apfel. Hatte sie wieder vom Apfelsaft getrunken, den sie so mochte? Zu schnell endete der Kuss, als Abigail sich zurück zog und stotterte: „E-es tut mir leid. Ich weis nicht…“ Doch sie brachte den Satz nie zu ende. Niemand legte ihr beide Hände auf die weichen Wangen und küsste nun sie. Sofort spürte er, wie ihre Starre sich auflöste, sie den Kuss erwiderte und ihre Arme sich um seinen Hals legten. Niemand schloss seine Augen, verlor sich in dem unbeschreiblichen Gefühl, das der Kuss auslöste. Nie zuvor – zumindest glaubte er es – hatte er solch ein intensives Gefühl verspürt. Es war eine Leidenschaft, die schon lange unter ihnen geherrscht hatte, doch nie zu Tage gebracht worden war. Niemand hatte nicht mal zu glauben gewagt, das Abigail und er so weit hätten gehen können. Er hatte sie nur als Freundin gesehen, doch der Kuss bewies, dass da mehr war, als bloße Freundschaft. Er hatte nie zu glauben gewagt, dass er sie lieben könnte. Er hatte vor solch einen Schritt stets Angst gehabt. Er wusste ja nicht, wer er war, wo er her kam, wer ihm nahe stand. Doch all diese Gedanken verflogen im Rausch des Kusses. Das einzige, an das er noch dachte, war Abigails weichen Lippen, die seine liebkosten, wie auch die seinen ihre. Die junge Frau beherrschte jeden seiner Gedanken. Er wollte nur noch bei ihr sein, sie spüren, sie berühren. Ohne sein Zutun waren seine Hände nun damit beschäftigt über den Leib der jungen Frau mit dem feuerroten haar zu wandern, ihn zu erkunden, während ihre Hände sich in seinen Haaren verfingen, ihn daran hinderten, das er den Kuss löste. Keiner von beiden entsann sich in dieser Nacht daran, wie sie in Abigails Kammer gelangt waren. Sie hatten nur Augen für einander gehabt und sich die ganze Nacht über geliebt. Sehr spät kamen sie zur Ruhe, doch keiner der beiden Liebenden war in der Lage, den anderen los zu lassen. Sich in den Armen liegend waren sie eingeschlafen und das erste Mal, seit langer Zeit, wurde Niemand nicht von Alpträumen heimgesucht. Es wurde seine erste traumlose Nacht in der Grausteinburg. *** „Nein“, knurrte Malcolm aufgebracht und stampfte wie ein kleines Kind mit dem Fuß auf. „Wir können ihn nicht gehen lassen. Der Ursprung seiner Magie ist uns noch immer unbekannt und er stellt eine Gefahr für die Reiche dar.“ „Eine Gefahr?“, fragte J´Kar den anderen Meister. Er und die gesamten Meister der Grauen Roben hatten sich wieder zusammen gefunden und besprachen Niemands Wunsch, sofort nach Jeris aufzubrechen, um dort nach seiner fremden Freundin zu suchen. Malcolm, wie auch viele andere der Meister waren dafür, dass der junge Mann in der Grausteinburg blieb, wo sie weiter über ihn forschen konnten. Andere der Meister, wie J´Kar und Tailia, hingegen waren dafür, das man dem Fremden den Wunsch gewährte, nach Jeris zu ziehen. Es hatte sich daraus eine hitzige Diskussion entwickelt, die J´Kar und Malcolm praktisch alleine führten, während die anderen gelegentlich zu den Worten der beiden nickten oder etwas einwarfen. „So ist es“, brummte der alte Mann. „Vergiss nicht sein Erwachen. Selbst du hast seine Macht gespürt, die uns gepeinigt hat.“ Damit bezog er sich auf Tailia, Abigail und auch sich selbst, die von dem grauen Auge Niemands, das er unter einer Augenklappe verborgen hielt, regelrecht gepeinigt wurden, wie auch nach der Magie darin gelechzt hatten. Malcolm selbst verlangte es noch immer nach der Macht des jungen Mannes, doch wagte er es nicht laut auszusprechen. „Niemand ist für keinen eine Gefahr“, widersprach der Maskierte entschieden und sah den alten Mann mit seinen leuchtenden Augen direkt an. „Er weis nicht, wie er die Magie verwenden soll, geschweige, wie mächtig er wirklich ist.“ Er wand sich an die anderen Meister und fuhr fort. „Wir sollten ihm die Chance geben seine Erinnerungen wieder zu finden. Er könnte ein machtvoller Verbündeter für uns werden.“ Einige der Meister nickten zustimmend, während wiederum andere nicht überzeugt von den Worten des maskierten Meisters waren. Sie waren auf Malcolms Seite. Ein Elfenmagier trat vor und sagte mit seiner melodischen Stimme: „Wir sollten den Fremden weg sperren. Auch mit der Augenklappe, die ihr ihm gabt, habe ich seine Macht gespürt. Malcolm hat Recht. Der Fremde ist viel zu gefährlich.“ Malcolm nickte dem Elfen dankbar zu. „Da hörst du es, J´Kar“, sagte er zu dem anderen Erzmagier, wobei er ein Grinsen nicht verbergen konnte. „Selbst unsere weisesten Meister sind mit mir einer Meinung. Niemand ist eine Gefahr.“ J´Kar schnaubte. „Nur einmal ist seine Magie hervor getreten“, erwiderte der Maskierte entschlossen. „Nur einmal und das, als er erwacht war. Seit diesem Tag hat es keinen Zwischenfall mehr gegeben. Die Magie ist nicht gefährlich, sonst hätte meine Augenklappe nichts genützt. Wenn er gefährlich wäre, dann wären wir alle sicher nicht mehr hier, um darüber zu streiten.“ „Du läst dich von deiner Freundschaft zu dem Jungen blenden, J´Kar“, wagte Malcolm zu behaupten. Er grinste erneut, als er das leichte Zucken eines Auges des Meisters erhaschte. Er lag also nicht ganz falsch mit seiner Behauptung. „Mach die Augen und Ohren auf. Höre die Wahrheit in meinen Worten. Der Junge ist eine Gefahr für die friedlichen Völker.“ J´Kar wischte diese Behauptung mit einer Handbewegung ab. „Der Junge ist genau so friedlich, wie ein schlafendes Kind. Ich habe gesehen, wie er mit den anderen umgeht, wie freundlich er ist.“ „Du sprichst seine Beziehung zu der jungen Abigail an“, höhnte Malcolm. „Sie ist die einzige in der gesamten Burg, die sich an ihn heran wagt. Wir alle kennen sie. Feurig und ungestüm. Wie sollte eine solche Frau auch Angst vor so einer Bedrohung haben, wie Niemand? Nein, J´Kar. Niemand muss hier bleiben.“ „Du bist doch blind, alter Mann“, fuhr der Maskierte Malcolm an, was die anderen meister allesamt erschreckte. Sie kannten den Magier als beherrschten, ausgeglichenen Mann, der sich von nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte. Doch nun zeigte sich hier ein anderer J´Kar, einer, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte. „Abigail ist ein schlaues Mädchen. Sie sieht nicht allein die Macht des Jungen, sondern die Person selbst. Sie weis um die Gutmütigkeit Niemand bescheid, besser, als wir alle zusammen, wage ich zu behaupten.“ „Zügel deine Zunge!“, herrschte Malcolm ihn sofort an. Er konnte diese Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen und die anderen meister erst recht nicht. „Du hast wohl vergessen, mit wem du hier sprichst!“ „Das habe ich ganz gewiss nicht“, sagte J´Kar ruhig, wieder ganz der Alte. „Ich sage nur die Wahrheit. Hat auch nur einer von euch sich die zeit genommen und sich mit Niemand auseinander gesetzt? Ich habe sie mir genommen, wie auch Abigail und Tailia.“ Er bemerkte jeden einzelnen, der beschämt den Kopf schüttelte. Anderes hatte er nicht erwartet. Nur Malcolm blieb unerbitterlich. „Versuch uns keine falschen Schuldgefühle einzureden“, warnte er den anderen, wobei er sogar anklagend seinen Stab auf J´Kar richtete. „Ich habe Niemand genau beobachtet und die Magie in ihm nur zu deutlich gespürt. Sie ist wild und unbändig. Wenn er nur einmal versuchen sollte, sie zu nutzen, wird er unzählige Leben damit vernichten.“ Tailia trat vor und nun sprach sie, bevor J´Kar oder Malcolm nur die Chance dazu bekamen. „Malcolm, du machst dir zu viele Sorgen“, sagte sie sanft zu ihrem alten Freund, der sie durch zusammen gekniffene Augen her anstarrte. „Niemand ist keine Gefahr für die friedlichen Völker, genau so wenig wie für uns. Bitte respektiere seinen Wunsch, seine Erinnerungen wieder zu finden. Erinnere dich nur an Atiras.“ Malcolm runzelte die Stirn. Wieso sollte er sich an einen Mann erinnern, der keine Zunge mehr hatte und den Orden vor so lange Zeit verlassen hatte, das sich alle fragten, ob er überhaupt noch lebte. „Wieso?“, fragte er daher die Frau mit der Silbersträhne. „Weil du es warst, der ihn unterstützt hat, als er darum bat dauerhaft seinen Dienst fortzusetzen“, sagte sie schlicht. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie du ihm beigestanden hast. Genau das gleiche macht J´Kar jetzt auch. Er steht Niemand bei.“ „Das ist was anderes.“ „Wirklich?“ Sie wirkte nicht überzeugt. „Etwa, weil er ein Magier unseres Ordens ist und Niemand nicht? Wenn dem so ist, sollten wir ihn in unsere Reihen aufnehmen.“ „Das ist unmöglich!“, rief ein anderer Meister. „Er ist zu alt!“ Zustimmendes Gemurmel erklang. „Ich weis“, bestätigte sie. „Er ist zu alt, um bei uns die Lehre zu machen. Dennoch nicht zu alt, um allein auf eigenen Beinen zu stehen und frei zu sein.“ Sie sah Malcolm ernst an. „Genau dieselben Worte hast du bei Atiras verwendet.“ Malcolm starrte sie ungläubig an. Wie konnte sie sich nur an die Worte erinnern? Es war viele Jahre her, seit er sich um den Wunsch des jungen Atiras gekümmert hatte, kurz nachdem sein Meister gestorben war. Er selber konnte sich nicht einmal richtig an die Worte erinnern. Mal wieder hatte Tailia ihr unglaubliches Gedächtnis unter Beweis gestellt. „Macht doch was ihr wollt!“, herrschte er die Frau an, doch sie zuckte mit keinem Muskel. „Aber ich warne euch. Wenn ich mitbekommen sollte, das der Junge nur einen üblen Zauber wirken sollte oder diese verdammte Augenklappe abnimmt, werde ich ihn höchstpersönlich töten.“ Mit diesen Worten wand sich der alte Meister ab und ließ die anderen meister zurück. <<<:>>> Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)