Autre Monde von Vanillaspirit (Die Anderswelt) ================================================================================ Prolog: -------- Es heißt, man fühle sich dann lebendig, wenn man einen Moment absoluten Glücks erlebt. In Anbetracht der Tatsache, dass das Paradies in nahezu allen religiösen und sozialen Vorstellungen erst nach dem Tod wartet, war dies wohl ein Irrtum. Wahre Lebendigkeit erkannte man an Schmerz und Finn C. Cameron war gerade sehr lebendig. Er fühlte sich, als wäre er von einem Laster überfahren worden, was fast der Realität entsprach. Zitternd stützte er seine Hände auf den nassen Straßenasphalt und hievte ächzend seinen Körper in die Höhe. Würgend erbrach er seine letzte Mahlzeit, bevor er sich zurückfallen ließ und sitzend wieder in sich zusammensackte. Es war schwer sich ein Bild seiner Umgebung zu machen, wenn diese sich unaufhörlich drehte und ohnehin wirkte wie eine Vielzahl übereinandergelegter, identischer, aber leicht verschobener Cels. So sehr sein Verstand auch von Schnaps und Bier gefesselt war, wusste er dennoch, dass dies nicht allein die Ursache für Finns derzeitigen Zustand sein konnte. Der pochende Schmerz hinter seinen Schläfen wuchs an, als der junge Mann versuchte die Ereignisse der letzten Minuten gedanklich zu rekapitulieren. Er war auf dem Weg nach Hause gewesen - wesentlich nüchterner als sonst. Es war ruhig gewesen, schließlich war dies nur irgendein unbedeutendes Provinzstädtchen, und dann ging alles ganz schnell. So schnell, dass er sich kaum an die Einzelheiten erinnern konnte. Finn wagte einen Blick zur Seite. Fast wie gewollt fiel der Lichtkegel der Straßenlaterne genau auf eine große, dunkle Lache. Ach ja, es waren Schüsse gefallen und irgendwo im letzten Rest nüchternen Verstandes stand ein Band mit einem Frauenschrei auf Dauerschleife - eine Kugel, die neben ihm eingeschlagen war und der Laster, der ihn auf seiner Flucht gerammt hatte. Das erklärte zumindest, warum er mitten auf der Straße wieder zu sich gekommen war. Ein Glück, dass es nachts kaum Verkehr gab. Mit seiner schwarzen Kleidung im Schatten liegend, hätte man ihn schnell übersehen können. Von einem Seufzen begleitet, fuhren seine blassen Finger durch die strähnigen, dunkelbraunen Haare, die lang genug waren, seine zerstochenen und vernarbten Ohren vollständig zu verdecken. Sein Blick schweifte ziellos umher und versuchte lediglich eine vollständige Orientierung möglich zu machen, bevor Finn es wie mit allen anderen Unregelmäßigkeiten seines Lebens machen würde: abschütteln und vergessen. Schließlich schaute er in ein Paar große, hellwache Augen, die ihn neugierig musterten. Erschrocken zuckte der Engländer zurück. Die fremden Augen verengten sich, als das zugehörige Gesicht ein breites Lächeln bildete. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt – Finn war noch nie gut im Schätzen von Lebensjahren gewesen, erst recht nicht von Kindern, die er eigentlich nur als laut plärrende Produkte mangelhafter Verhütung anderer kannte. Sie hockte vor ihm in einem Pyjama, das Kinn auf beide Hände gestützt, betrachtete ihn und lächelte. „Hallo“, flüsterte sie leise und ihre Augen huschten kurz zur Seite. Finn antwortete mit verwirrtem Schweigen. Eigentlich sollte es nichts mehr geben, dass ihn noch überraschen konnte. Er hatte eines dieser Leben, das einige Leute als interessant bezeichneten. In London geboren, aufgewachsen und auch ab und an zur Schule gegangen, war er irgendwann nach Deutschland, das Land seiner Großmutter gekommen. Sein Schulfreund empfand es als richtigen Schritt für die Rock n’ Roll-Karriere. Die Londoner Szene war einfach schon zu überfüllt und in festen Bahnen gewesen, um als frisch gegründete Band da noch viel holen zu können. Was als Tournee begann, endete als Daueraufenthalt mit allem Rockstarkomfort, schließlich Streit, Bandauflösung und vor zwei Jahren in einem Souvenirshop irgendwo im Harz. Die Götter allein wissen, warum ausgerechnet er diesen von seiner Mieterin geerbt hatte. Eine Geste des Mädchens zog seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Sie versuchte ihn mit ihrem Zeigefinger zu sich zu locken. Misstrauisch, aber gehorsam folgte er ihrer Aufforderung und beugte seinen Kopf etwas in ihrer Richtung. Der Geruch von Erbrochenem und Alkohol schlug ihr entgegen und sie schnappte laut nach Luft. Wieder huschten ihre Augen suchend umher, als fürchtete sie beobachtet zu werden. „Weißt du, warum sie meine Eltern getötet haben?“, wisperte das Mädchen seltsam ruhig und gefasst. Finn starrte sie nur kurz an, bevor sein Blick erneut zu dem großen Blutfleck wanderte. „Shit!“, fluchte er gedämpft, während er seine Hand über sein Gesicht zog. Kapitel 1: Mitgehangen ---------------------- Bei Licht und nach einigen Aspirin betrachtet, war die Situation nicht mehr ganz so schlimm. Sie war schlicht chaotisch und brachte nur neue Kopfschmerzen. Sich die Schläfe reibend saß Finn in seiner kleinen Küche, in der sich leere Packungen vom China-Imbiss in der Spüle stapelten und die Tapete sich bereits zu lösen begann. Aufmerksam betrachtete er seinen Gast. Das kleine Mädchen war ihm einfach gefolgt, saß nun ebenfalls an dem kleinen Tisch mit den vielen Brandlöchern und umklammerte eine Tasse Instantcappuccino. Kurz stoppte sie das nervöse Wackeln ihrer Beine und rümpfte die sommersprossige Nase, als sie an dem heißen Getränk nippte. Nicht gerade etwas für kleine Kinder, aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie in einer Märznacht nur in einem Schlafanzug barfuß durch die Straßen gelaufen war, war Cappuccino das einzige, was Finn anzubieten hatte, um sie aufzuwärmen. Er hatte ohnehin nie erwartet jemals so jemanden zu Gast zu haben. „Also“, erhob er schließlich seine Stimme, „du trinkst aus und dann gehst du nach Hause!“ Die Kleine stellte ihre Tasse auf den Tisch und legte ihren Blick auf das Gesicht des jungen Mannes. Seine helle Haut, die dunkle Kleidung, die vielen Ohrpiercings und die kleine, wulstige Narbe an seiner Unterlippe, die aussah, als hätte jemand ein Stück Fleisch herausgerissen, ließ die Kinder des Ortes für gewöhnlich einen weiten Bogen um ihn machen. Doch diesmal war er es, dem ein kalter Schauer über den Rücken fuhr. Die tiefgrünen Augen des Mädchens wirkten beunruhigend und mit ihren roten Haaren wirkte sie fast wie eine kleine Hexe. „Ich habe kein Zuhause mehr, wenn du dich vielleicht erinnerst“, erwiderte sie mit piepsiger Stimme in der etwas beklemmend Berechnendes mitschwang. „Oh, die Geschichte.“ Es fiel Finn schwer die Ereignisse der letzten Stunde als Wahrheit zu akzeptieren, zu verschwommen war alles in seiner Erinnerung. Er hatte definitiv blaue Flecke und auch die Blutlache stellte sich als echt heraus, aber darüber hinaus war ein Mordfall dann doch zu viel für dieses verschlafene Nest. Davon abgesehen hätte jemand die Schüsse hören müssen. „Es ist keine Geschichte“, erklärte der Rotschopf protestierend. „Nur weil niemand etwas gesehen haben will, ist es dennoch passiert.“ „Ist ein Baum auch dann gefallen, wenn niemand es gehört hat – hm?“ Finn gab sich alle Mühe gelangweilt und überheblich zu klingen, was ihm bei ihrem durchdringenden Blick schwer fiel. Das Spielchen begann ihm Migräne zu bereiten und er glaubte allmählich wirklich eine Hexe vor sich zu haben. „Geh einfach nach Hause, Kleine“, forderte er müde. Er wollte sich nur noch in sein Bett legen und den restlichen Rausch ausschlafen. „Wie ich schon sagte, habe ich kein Zuhause mehr, Herr Cameron.“ Die Überraschung war Finn deutlich ins Gesicht geschrieben. Er hatte es nicht für nötig gehalten sich vorzustellen. Kritisch beäugte er die Kleine erneut. „Wer oder was bist du?“ Sie lächelte nur unschuldig, wackelte wieder mit den Beinen und antwortete vergnügt: „Marie Hauser und ich bin ein Mädchen, wie man unschwer erkennen kann.“ Die Fassade des Unschuldsengels bröckelte rasant und Finn dämmerte es allmählich, dass er es mit einer klugscheißernden Hexe zu tun hatte. Bedächtig massierte er seine Schläfe. „Wie auch immer. Sag mir einfach, woher du mich kennst.“ Maries Brust schwoll an – was bei einem so unterentwickelten Körper eher seltsam als beeindruckend aussah – und erhob erfreut ihre Stimme, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet. „Das wüsstest du wohl gern, was?“ „Ich habe keine Lust auf Spielchen“, erklärte er zischend mit seiner Stimme, die nach jahrelangem Rauchen und Alkohol ein sehr raues Timbre bekommen hatte. „Geh einfach nach Hause!“ Die Augen des Mädchens schmälerten sich und der Mund wurde zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ihre Überheblichkeit wechselte zu Angst und Trotz. Verärgert über ihre eigene Furcht vor diesem Mann, versuchte sie die sich anbahnenden Tränen zurückzuhalten. „Nein“, erklärte sie mit festerer Stimme, als sie selber erwartet hatte. „Ich werde hier bleiben. Mutti wollte, dass ich zu dir komme.“ Finn stutzte und starrte Marie einfach nur verblüfft an. Sie war mit Sicherheit nichts anderes, als die kleine Schwester der Absinthfee. Er hatte nichts, das Kinder interessieren konnte, außer der dümmlichen Souvenirspielzeuge „Made in Taiwan“, die er in seinem Laden an Touristen mit schlechtem Geschmack verkaufte. Niemand würde das Zeug geschenkt haben wollen, aber regelmäßig zur Urlaubszeit verwandelten sich selbst Modeberater in Bermudashorts tragende Sandalenliebhaber mit weißen Socken. Seine Hand strich fahrig durch die strähnigen, ungepflegten Haare. Das Kind begann empfindlich an seiner kaum vorhandenen Geduld zu nagen. Marie zuckte erschrocken zusammen, als Finns Faust auf die Tischplatte krachte. Sein entschlossener, finsterer Blick, ließ sie zurückweichen, bis ihr gesamter Rücken sich an die Stuhllehne presste. Das Schlimmste erwartend, kniff sie die Augen zusammen, als er seine Hand nach ihr ausstreckte. Markus Polzin hatte für gewöhnlich einen sehr langweiligen Job als Zeitungsjunge, umso erstaunter glotzte er das seltsame Paar an, welches gerade an ihm vorbei zur Haustür marschierte. Ein recht schlanker, junger Mann, dessen blasse Haut und schwarzer Mantel ihn wie ein Nachtgeschöpf wirken ließen, der ein kleines Mädchen unter dem Arm trug. „Morning“, nuschelte der Pseudovampir und verlagerte den Kinderkörper etwas. Von der Situation überfordert starrte Markus in die dunklen Augen seines Gegenübers. Das Mädchen gab einen verärgerten Laut von sich. Eingeklemmt in einen überraschend starken Griff, war Marie kaum in der Lage sich zu bewegen und der lästige Knebel machte es unmöglich laut zu schreien. „Meine Nichte“, erklärte Finn mit einem wölfischen Grinsen, das seine Zähne entblößte. Markus nickte schwach. Er konnte die Szene ohnehin nicht einordnen und wenn er falschen Alarm schlagen würde, wäre er am Ende nur eine Lachnummer. „Die Kinder heutzutage, zu wild um sie allein herumlaufen zu lassen.“ Finns Grinsen wurde noch eine Spur breiter und er wagte es kurz Maries Kopf zu tätscheln. Schließlich drückte er dann doch noch die Klingel und wieder und wieder. Es dauerte eine Weile, bis die Stille verschwand und hinter der Haustür aus Sicherheitsglas und Kunststoff Schritte und Flüche zu hören waren. „Es ist nicht mal fünf Uhr“, schimpfte eine Stimme, die man ohne Probleme einer alten Frau zu ordnen konnte. „Wenn das kein Notfall ist, dann …“ Mit reichlich Wut wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür aufgezogen. „Cathy?“, wurde nach einem kurzen Moment mehr als überrascht gefragt. Sämtliche Wut war verraucht und im Hauseingang stand keine Furie, wie Marie kurz befürchtet hatte, sondern eine alte Frau mit zerzausten, grauen Haaren, die fast schamhaft versuchte einen abgetragenen Morgenmantel zusammenzuhalten. Überraschend geräumig war die treffende Beschreibung für das Innere des Hauses. Von dem, was Marie trotz Dunkelheit mitbekommen hatte, war es von außen betrachtet ein ganz normales Dorfhaus im Fachwerkstil, passend mit Fensterläden und hohem Holzzaun der den Hof abtrennte. Im Inneren wirkte alles riesig und hell. Nur wenige Möbel standen in den Räumen zu denen die Türen offen standen und im Flur hingen Bilder in verschiedenen Varianten: Öl, Acryl, Tusche. Alle zeigten jedoch Personen, deren Augen beängstigend lebendig wirkten. Sogar die schwarzen Augen einer Kohlezeichnung schienen Marie anzusehen, als diese vorsichtig vorüberging. Hastigen Schrittes versuchte sie der alten Frau und Finn zu folgen und wirkte erleichtert, als das Ziel endlich erreicht worden war. Erschreckenderweise schrie das Wohnzimmer nach all den aufgeräumten, sterilen Räumen wieder nach einer alten Frau. Die Tapete zeigte ein verschlungenes Muster aus stilisierten Blüten mit viel Goldschimmer, Rot- und Gelbtönen. In der Mitte des Raumes befand sich die zusammengeschrumpfte Version eines übermäßig behangenen Kitschkronleuchters, der den niedrigen Raum noch kleiner erschienen ließ und tief über einem Couchtisch mit einem Monstrum von Häkeldeckchen hing. Komplettiert wurde der Alptraum eines jeden Inneneinrichters mit einem großen Sofa und Ohrensesseln beladen mit runden Samtkissen und weiteren Häkeldeckchen. „Setz dich, Liebchen.“ Die alte Frau lächelte Marie freundlich an, was die Runzeln um ihren Mund noch tiefer wirken ließ. Wie ein artiges Kind tat das Mädchen ihr den Gefallen und setzte sich auf einen Fleck Sofa, der nicht von einem Kissen annektiert worden war. „Möchtest du etwas Süßes?“ Ein Zeigefinger, der wohl schon einige Jahre von Arthritis gequält wurde, deutete auf eine Porzellanschüssel mit regenbogenfarbenem Perlmuttschimmer auf dem Tisch, in der sich Schokoladenkonfekt mit weißer Patina befand. Sofort schüttelte Marie den Kopf. Wenn sie überhaupt Lust auf Süßigkeiten gehabt hatte, war alles davon beim Anblick dieser Überreste aus der Kolonialzeit vergangen. „Ich glaub kaum, dass dies ein Süßkrammoment ist“, wandte Finn ein, der sich sichtbar unwohl fühlte und eine hohe Apothekerschrankkommode mit Platzdeckchen und porzellanenen Barockpärchen anstarrte, als würde das Möbelstück ihn beißen. „Du sei ruhig.“ Die alte Dame richtete sich auf und blickte den jungen Mann, der wie ein Alien in dieser harmonischen Kitschwelt wirkte, ungnädig an. „Du stinkst nach Fusel und siehst aus, als wärst du allergisch gegen Wasser und Seife“, donnerte sie herrisch. Finn rollte nur mit den Augen. Für ihren Hintergrund war Hilda Zimmermann recht konservativ. Immer fand sie etwas, das sie an ihm bemängeln konnte. Der Engländer schob es auf die Enttäuschung, die sie durch ihn erlitten hatte. Immer, wenn sie sich sahen, bekamen ihre Augen den Ausdruck von Resignation und sie musste sich sichtbar beherrschen ihn nicht anzuschreien. Es war fast ein Wunder, dass sie sich diesmal mit ihren Nörgeleien zurück hielt, vielleicht sollte er öfter mit einem Kind kommen. „Und?“, erhob sich Hildas Stimme erneut mit einem bissigen Unterton. „Entführst du neuerdings Kinder oder hast du dein Beuteschema geändert?“ Finn zwang sich zu einem grimmigen Lächeln. Von wegen freundliche, alte Dame, diese vergreiste Schachtel war ein Drachen, dessen sprachliches Niveau im Gossendreck spielte. Er musste ihr wohl ein Blutopfer bringen, damit sie ihm auch nur annähernd verzieh – vorzugsweise mit seinem eigenen Blut. „Wir wollten eigentlich zu Vi. Dass wir dich treffen müssen, war kalkuliertes Risiko“, erklärte er gepresst. Maries Augen zuckten hin und her, um auch ja keine Lippenbewegung der Kontrahenten zu verpassen. Die Atmosphäre war derartig geladen, dass man den halben Harz mit Energie hätte versorgen können. Es war aufregend und der fiese, frühreife Teil des naseweißen Mädchens quietschte schon nach einer Wette auf den Sieger, wurde aber von einer Bewegung in den Augenwinkeln abgelenkt, als Finn begann mit einem verwässerten britischen Akzent zu fluchen. Eines der flauschigen Kissen entrollte sich, richtete sich auf und ein paar dunkle Knopfaugen schauten schläfrig zu Marie hoch. Erste, schleimige Tropfen fielen von einer rosa Zunge auf das Polster. Es war der perfekte Schoßhund samt Schleife im sorgsam gebürsteten, weißen Fell. Laut gähnte er, schmatzte sogar leise und blickte weiterhin recht dümmlich zu dem Wesen hoch, das in sein weiches, flauschiges Reich eingedrungen war. Es wurde laut: Hilda nörgelte, Finn schimpfte und der kleine Fellball bellte lauter, als man bei seiner Miniaturgestalt vermuten konnte. Marie steckte sich die Finger in die Ohren, kniff die Augen zusammen und hoffte inständig, dass endlich Ruhe einkehrte. Irgendwer schien ihren Wunsch erhört zu haben. Als sie die Augen wieder öffnete, saß sie allein auf dem Sofa. Der feige Malteserhund hatte sich wimmernd in einen Kissenberg vergraben und die beiden Streithähne wirkten, als hätten sie einen heftigen Schlag abbekommen. Beide Gesichter waren gezeichnet von Schmerz. Das Mädchen blinzelte verwirrt und bemerkte erst jetzt, dass eine weitere Person im Raum stand. Wie ein schläfriger Dämon in einem grasgrünen Baumwollnachthemd, stand die junge Frau in der Tür und fuhr sich genervt durch die kastanienbraunen Haare. Ihre angsteinflößende Erscheinung schmolz dahin, als sie heftig an ihren Fingern zu zerren begann, die sich in dem verfilzten Gewirr auf ihrem Kopf verfangen hatten. Die Atmosphäre war angespannt, auch wenn Hilda lächelte als sie ein Tablett mit Tassen und einer Kanne in dreckigem Weiß auf den Tisch stellte. „Hier Kindchen, damit du warm wirst.“ Die alte Frau reichte Marie eine große Tasse mit dampfendem Kakao. „Ist ja unverantwortlich, ein kleines Mädchen so herumlaufen zu lassen.“ Die Angesprochene überging die ungeliebte Betitelung „kleines Mädchen“ und schaute verlegen auf ihre nackten Zehen. „Ich hatte keine Zeit zum Anziehen“, murmelte sie leise. Die junge Frau mit dem kastanienbraunen Haar warf Finn einen skeptischen Blick zu. Dieser richtete sich sofort in dem Ohrensessel auf und presste ein empörtes „Denk nicht mal so 'nen Scheiß!“ heraus. Marie richtete ihre Aufmerksamkeit sofort auf beide. Die Brünette wurde von Finn Vi, von der alten Frau Vivienne genannt; soviel konnte das Mädchen schon in Erfahrung bringen und sie redete nicht viel, genau genommen gar nichts. Die gesamte Kommunikation zwischen ihr und den beiden anderen bestand aus Blicken und kleinen Gesten, welche diese sofort zuordnen konnten. „Also Cathy, warum seid ihr hier?“, fragte Hilda und lehnte sich in einen Kissenberg auf dem Sofa zurück. Sofort sprang ihr sabbernder Liebling auf ihren Schoß, rollte sich zusammen und verlangte stumm nach Streicheleinheiten. Finn zog kurz eine Grimasse, unterdrückte aber den Impuls die alte Frau anzubrüllen. Ihr Spitzname für ihn kratzte empfindlich an seiner Männlichkeit. Vi kam ihm zuvor und warf ihrer Großmutter einen strengen Blick zu. Diese schien nicht zu reagieren und legte dafür eine Decke um Maries Schultern. „Reg dich nicht auf. Seine Mutter nannte ihn auch immer so.“ Diesmal verstand sogar Marie die Botschaft von Viviennes Blick: Das ist kein Grund. Hilda seufzte leise, setzte den Malteser neben sich, begann damit Kaffee einzuschenken und die Tassen zu verteilen. „Darf ich trotzdem wissen, warum wir heute Gäste haben?“, fragte sie in dem gereizten Tonfall einer Person, die sich im Recht sah, auch wenn sie bereits niedergerungen am Boden lag. „Wollte nur die Kleine hier abladen“, erklärte Finn kurz angebunden und angelte nach seiner Kaffeetasse. Er hielt inne, als eine kühle Hand sich auf seine legte. Verdutzt blickte er auf, in Vis Gesicht, in welchem sich ein undeutbarer Ausdruck breit gemacht hatte. „Hey. Ich hab sie nicht entführt, klar? Sie ist mir einfach gefolgt.“ Seine Stimme wirkte noch tiefer und kratziger als sonst. „Frag sie doch, was sie überhaupt will. Es ist nun eure Sache.“ Sofort richteten sich die braunen Augen der jungen Frau auf den Rotschopf, der sich in der Wolldecke zusammen zu kauern schien. „Meine Eltern“, stammelte sie, während ihre kleinen Finger sich fester um die heiße Tasse schlangen. „Ich will, dass ihr herausfindet, wer sie getötet hat.“ „Wie kommst du darauf, dass sie tot sind?“, wandte Finn ein. Er hatte es sich im Sessel bequem gemacht und musterte Marie überheblich. „Soweit ich mich erinnere, war es erst mal nur eine Entführung.“ Grüne Augen verengten sich und nahmen den jungen Mann ins Visier. „Ich hab dich nicht um deine Meinung gebeten“, zischte sie und ließ die Fassade des lieben, kleinen Mädchens gänzlich fallen. „Ich war dabei, als sie meinen Vater abgemurkst haben und ich weiß, dass sie das auch mit Mutti tun werden.“ „Liebchen, reg dich nicht auf.“ Hilda legte beruhigend einen Arm um Maries Schulter und zog die Kleine an ihren hageren, warmen Körper. „Erzähl uns erst einmal, was passiert ist.“ „Och, das ist einfach. Warum auch immer werden wir seit Monaten gejagt und diese Nacht haben sie uns dann gefunden. Mutti haben sie mitgenommen, aber mich haben sie stehen lassen und dann kam Cameron.“ „Wie heißt deine Mutter, Schätzchen?“ Ein kleines Lächeln huschte über Maries Gesicht. Endlich interessierte sich jemand für ihre Geschichte und das Schicksal ihrer Eltern. „Brigitte Hauser“, erklärte sie erfreut. Hilda hielt den Atem an und warf Vi einen eindringlichen Blick zu. Diese hob fragend eine Braue, legte den Kopf beiseite und man konnte sehen, wie Verständnis in ihren Geist sickerte. Hastig sprang sie auf, schnappte nach Finns Arm und versuchte diesen hochzuziehen. Er zeigte sich unkooperativ und blickte sie lediglich verärgert an. „Was? Stimmt was nicht?“ „Und ob“, erklärte Hilda. „Schwing deinen Hintern hoch und komm mit!“ Er rührte sich nicht vom Fleck. Gelassen nippte er an seinem Kaffee und ignorierte die wartenden Blicke der beiden Frauen. „Ist nicht meine Sache. Hab sie her gebracht, damit ihr euch darum kümmert.“ Vis Lippen formten ein Wort, das Marie nicht deuten konnte, aber es war für Finn bestimmt. Der drängende Blick der Brünetten verriet es. Was folgte war ein stummes Duell der beiden, bis Finn schließlich seine Augen abwandte und sich widerwillig erhob. „Aber glaub nicht, dass ich für euch ins Feld ziehe.“ Kapitel 2: Prolog des Narren ---------------------------- Brigitte Hauser erwachte im Dunkeln. Sie blickte in völliges Schwarz, das sich erst nach und nach in Dunkelgrau verwandelte. Keuchend drehte sie sich auf die Seite und starrte auf einen Lichtstrahl, der durch einen Spalt unter der Tür kroch. Stechender Schmerz durchzuckte ihren Körper. Ein oder zwei Rippen waren wohl hinüber und der linke Unterschenkel mit Sicherheit gebrochen. „Einen wunderschönen guten Morgen“, flötete eine knabenhafte Stimme irgendwo hinter dem Lichtstrahl viel zu fröhlich. „Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen.“ Sadistisch gut gelaunt, aber sehr höflich. Brigitte hievte ihren Oberkörper auf und setzt sich hin. Ihre Augen hatten sich nun weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie sich umschauen konnte – nur gab es nicht viel zu sehen. Der Raum schien leer, nirgends Schemen von Möbelstücken oder anderen Gegenständen. Das einzig Interessante war der Lichtstrahl, der zweimal direkt im Türspalt unterbrochen wurde. Ihr Gastgeber stand also direkt vor dem Raum. Feigling, dachte Brigitte. Dreist genug sie verhöhnen zu wollen, aber zu ängstlich sich ihr direkt zu stellen. Stattdessen hatte man sie im Schlaf überfallen, ihre Tochter bedroht und sie in einen leeren Raum gesperrt, damit sie auch sicher nichts als Waffe einsetzen konnte. „Darf ich nun endlich wissen, warum ich hier bin?“, fragte sie. Es begann bereits vor einigen Monaten. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht und hatten begonnen sie zu jagen, quer über den Kontinent, bis sie ihren Mann verloren hatte. Brigitte stand der ganzen Situation hilflos gegenüber. Sie wusste nicht mit welcher Sünde sie soviel Zorn auf sich geladen hatte und auch nicht, wie sie es wieder gut machen konnte. „Oh, nichts von Belang“, erklärte der Knabe munter, „wir wollen nur euer Erbe.“ Schritte entfernten sich und das Licht verschwand. Brigitte blieb allein in der Dunkelheit zurück. „Was für ein Erbe?“, fragte sie ins Nichts hinein. „Wovon in Dreiteufelsnamen redest du?“ Die Ferienwohnung der Hausers hatte kaum Schaden genommen, auch wenn die Spuren eines Kampfes deutlich sichtbar waren. Das Doppelbett im Schlafzimmer, in dem Mutter und Tochter anscheinend gemeinsam geschlafen hatten, war stark zerwühlt. Sie mussten hochgeschreckt sein, als die Eindringlinge die Wohnungstür eingetreten hatten. Vi ging in die Hocke und betrachtete das beschädigte Holz kritisch. Jemand mit viel Kraft war hier am Werk gewesen. Kurz schnupperte sie an der Tür. Zwischen dem beißenden Geruch von Lack und Holzleim erkannte sie das würzige Aroma massiver deutscher Eiche – und dennoch war im unteren Drittel ein großes Loch mit stark zersplittertem Rand. Ihre Suche nach Spuren führte sie weiter durch die Wohnung, doch es gab nichts, was sie nicht schon gesehen hatte. Das Laminat im Wohnzimmer zeigte an einer Stelle eine kaum sichtbare, unnatürliche Färbung in all dem hellen Beige. Vi hatte es vorhin schon untersucht. Ein schmieriger Fleck, den sie auf Körperausdünstungen zurückführte. Die stark behandelte, versiegelte Oberfläche hatte verhindert, dass der Körpertalg eingezogen worden war. Wenigstens dieses Mal arbeitete der Drang der Menschen alles Natürliche mit viel Chemie zu „verbessern“ für Vivienne. Mithilfe ihrer Erfahrung konnte sie sich ein Bild der Situation machen. Brigitte Hauser war aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer geschleift worden – verschmierte Fingerabdrücke und zurückgebliebene Haare am Türrahmen sprachen dafür – dort angekommen schien sie auf dem Boden gekniet zu haben und war später auf die Straße gebracht worden. Was mit Marie passiert war, konnte sie nicht registrieren. Nirgendwo waren auffällige Spuren zu finden, die das Mädchen betrafen. Ihr Geruch hing zwar in den Räumen, aber eher wie alte, verbrauchte Luft. Brigittes Körpergeruch war stärker, massiver und stechend durch den ausgeschiedenen Angstschweiß, dazwischen immer wieder rauchige, würzige Wolken, vermutlich von den Angreifern. Unter Vis abwertendem Blick, zündete Finn sich eine Zigarette an. Er stand vor einer Sofalandschaft und betrachtete nachdenklich die sorgfältig geputzte Wand. Fast respektlos pustete er einen Schwall blauen Dunstes gegen große, rötlich-braune Lettern. „Sie haben immerhin Humor“, erklärte er ruhig. Vi stellte sich neben ihn und musterte ebenfalls die Zeichen an der Wand. Waagerechte und angeschrägte Striche waren an einer mehr oder weniger geraden Linie von unten nach oben gezeichnet wurden. Die Ränder waren ausgefranst und dünne Farbspuren waren herabgelaufen. Hastig mit einem Pinsel an die Wand geschmiert, bemerkte Vi gedanklich. Sie kniete sich auf das Sofa und brachte ihr Gesicht nah genug an die Wand, um an den Buchstaben riechen zu können. Finn beobachtete sie eher skeptisch. Er fand ihre Art zu ermitteln merkwürdig und befremdlich. Ohnehin fand er vieles in ihrem Leben eher abstoßend und vermied es zu oft damit in Berührung zu kommen. Er hatte damit schon vor langer Zeit abgeschlossen und ertrug lieber Hildas ständigen Groll als sich an solchen Orten herum zu treiben. Er gab seinem Blut die Schuld dafür. Gewisse erbärmlich nervende Teilchen darin waren wie Eisen und Probleme mit der Anderen Welt waren der dazugehörige Magnet. Dabei wollte er nur diese kleine Hexe loswerden und ihm war nur Vi eingefallen, die sich einigermaßen mit Kindern auskannte. Die junge Frau grinste ihn breit an, was sie in dem olivgrünen Parka und mit den zerzausten Haaren wie einen kleinen Kobold aussehen ließ. Ein Geräusch, das Hundeknurren verblüffend ähnlich war, drang tief aus ihrer Kehle und ließ die Braue ihres Begleiters hochspringen. „Fuck“, kommentierte er. „Bist du dir sicher? Kein verfickter Joke?“ Das Mädchen legte den Kopf etwas schief und schenkte ihm einen ungnädigen Blick. Ihre Nase irrte sich nie und wenn diese sagte, dass es Hundeblut war, dann war es das verdammte Blut eines Hundes. Etwas blasser geworden betrachtete der Brite erneut die Zeichen. Es gab nicht mehr viele, die den hingeschmierten Satz entziffern konnten, was daran lag, dass Ogam-Schrift mit den Druiden untergegangen war. Natürlich gibt es auch in der heutigen Zeit schrullige Menschen in Nachthemden und mit goldenen Sicheln, die irgendwelche Rituale fabrizieren, aber mit den echten Druiden hat das nichts gemein. Wesentlich interessanter als die Zeichen an sich, war jedoch ihre Bedeutung. Eine Art Forderung irgend etwas herauszugeben (die wichtigen Zeichen waren so stark verlaufen, dass sie nicht mehr zu lesen waren), gefolgt von einer blumigen Aufzählung, was bei Nichteinhaltung geschehen würde. „Erklär mir mal, warum die einen glam dicim anwenden!“, forderte Finn ruhig. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, warum jemand einen der schwersten keltischen Flüche an einer Familie Hauser anwendete. Flüchtig blickte er sich in der kleinen Ferienwohnung um. Er fand nichts Außergewöhnliches, das Brigitte und Marie besonders gemacht hätte, schon gar nicht wichtig genug, um das Tabu zu brechen Flüche und Zaubersprüche aufzuschreiben. Das Wort war für Druiden eine mächtige Waffe und es sichtbar zu bannen machte es unlösbar. Hier war es jemanden sehr wichtig gewesen, dass Brigitte dieses Was auch immer herausgab, so wichtig um einen glam dicim mit Tierblut aufzuschreiben. Vi vollführte einige Gesten, die Finn nur langsam nicken ließen. Eine lange Geschichte also? Und anscheinend brisant genug die sonst so ruhige Frau doch etwas aufzuregen. „Ich habe Zeit“, machte er sofort klar und blickte abwartend zu ihr hinab. Seufzend ließ das Mädchen ihre Schultern sinken und wuschelte sich einhändig durch die ungekämmten Haare. Hilda hatte ihr gerade genug Zeit gelassen sich anzuziehen, bevor sie beide aus dem Haus gejagt hatte, für Haarpflege war da kein Platz geblieben. Ihre Lippen formten tonlos und sehr langsam einige Wörter. Finns Augen bemühten sich jedes noch so kleine Zucken der Mundwinkel zu registrieren. Langsam nahm er den Zigarettenstummel zwischen seinen Lippen hervor und warf ihn achtlos auf den Boden. „Schön, dass ich das auch mal erfahre“, meinte er ätzend, als sie endlich fertig war. Beleidigt schnaubte Vi. Es war nicht ihre Schuld, dass er nichts von all dem mitbekam, was vor sich ging. Es war seine Entscheidung gewesen sie bei Hilda zurückzulassen und so wenig wie möglich mit der anderen Welt zu tun haben zu wollen. „Wie viele bisher?“, fragte er schließlich. Vivienne hielt fünf Finger hoch, ballte kurz eine Faust, zeigte wieder fünf und wiederholte diese Prozedur einige Male. Ihr Begleiter wurde mit jedem Mal noch etwas blasser und wischte einige schlecht gefärbte, schwarze Strähnen zur Seite, die an der Stirn klebten. „Genozid – hm?“ Verstohlen schlich Marie sich aus dem Wohnzimmer. Vivienne und Finn waren weg und Hilda hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Angeblich wollte sie heiße Schokolade machen, aber es waren weder klapperndes Geschirr, noch Schranktüren zu hören. Das Mädchen blieb vor den Bildern im Flur stehen und nahm sich die Zeit, diese genauer zu betrachten. Die gemalten Gesichter starrten zurück. Es war eine bunte Mischung aus jung, alt, männlich, weiblich und seltsam. Einige Portraits schienen bei näherer Betrachtung kaum merklich zu flackern, als wäre es ihnen peinlich angestarrt zu werden. Es war, als würde sich das Bild auflösen und darunter ein anderes zum Vorschein kommen. Marie stützte sich an der Wand ab und nahm eines dieser Portraits genauer in Augenschein. Beim ersten Blick zeigt es einen Mann im mittleren Alter. Er war nicht besonders herausragend, etwas pummelig und mit schütterem, braunem Haar. Schaute man genauer hin, verschwamm alles und die rosige Haut wurde grünstichig, das Haar zu dichten langen Zotteln um zwei Hörner, die sich bis zu den Ohren hinab bogen. Marie rieb sich die Augen. Ihre Müdigkeit schien ihr Streiche zu spielen. In den Monaten auf der Flucht hatte sie das schon öfter erlebt. Sich an ihr ursprüngliches Ziel erinnernd, machte sie sich wieder auf den Weg zur Küche. Ein unverhältnismäßig langer Weg. Von außen hatte dieses Haus nicht so groß gewirkt und sie musste erst scheinbar unendlich viele weitere Türen passieren, bevor sie endlich angekommen war. Hilda stand mit dem Rücken zu dem Mädchen, das im Eingang stehen blieb und den Raum musterte. Die Küche wirkte genauso eigenartig wie der Rest des Hauses. Sie hatte schon gesehen, dass in der Mitte eine Extraarbeitsplatte mit Herd stand oder eine Theke, aber hier war es ein kubischer Block, dessen obere Platte ein Loch aufwies, welches nahezu die gesamte Fläche einnahm. Neugierig trat Marie näher und bemerkte, dass ein Kupferkessel eingelassen worden war. Über diesem Gebilde ragte eine Dunstabzugshaube aus der Decke, eine seltsame Mischung aus Mittelalter und Neuzeit. Hilda lehnte sich an eine weitere Arbeitsplatte, über der Küchenschränke angebracht worden, und beobachtete ihren jungen Gast. Ein amüsiertes Zucken umspielte ihre Mundwinkel. Es war immer wieder ein Schauspiel Menschen zu beobachten, wenn sie zum ersten Mal mit den Kompromissen zwischen den Welten konfrontiert wurden. Jeder unwichtige Schnickschnack, wie Herdplatten und Elektrogeräte waren entfernt worden. Lediglich ein großer Kühlschrank stand im Zimmer. Wenn man den Anschein waren wollte, musste man regelmäßig einkaufen gehen und sich den Leuten als normale, alte Frau präsentieren, leider war es zu anstrengend die verderblichen Lebensmittel auf die herkömmliche Art kühl zu halten, also hatte Hilda dieses Prachtstück an Energiefresser behalten. „Ihr seid etwas verschroben“, stellte Marie schließlich nüchtern fest. Langsam zog sie ihre Finger über den Rand des Kupferkessels. Er war warm und etwas schmierig. Sie roch an ihren Fingerspitzen, die grünlich schimmerten und einen stechenden Geruch angenommen hatten. Hilda lachte nur. „Ich würde es eher anders nennen“, erklärte die alte Frau und hielt dem Mädchen eine Tasse Schokolade hin. Skeptisch betrachtete diese das Gebräu. Es war kalt und die Schokolade begann bereits auszuflocken. „Oh.“ Hildas raues Lachen hallte im Raum. „Ich werde alt.“ Grinsend hielt sie ihre Hand über das Getränk. Erst ganz zaghaft, dann immer stärker wanden sich dünne Dampffäden um ihre Finger und stiegen zur Decke auf. „Hier bitte, Liebes.“ Marie starrte nur verblüfft auf die Tasse. Die Schokolade darin war nun wirklich heiß und sie traute sich nicht dieses Hexenwerk zu berühren. Die alte Frau grinste nur. „Anscheinend gehört deine Mutter nicht zu dieser Sorte – hm?“ Die Kleine war von sich selber überrascht. Natürlich hatte sie nie an eine derartige Situation gedacht, aber etwas sagte ihr, dass es normal gewesen wäre zu schreien oder wenigstens schockiert zu sein, stattdessen hatte die die Tasse genommen und brav die Schokolade getrunken. Betrachtete man es neutral, war es nicht schlimmer als das Ding in Budapest, dessen Opfer ihr Vater geworden war. Es war seltsam und unmenschlich, nicht normal, aber es bedrohte sie auch nicht. Die alte Frau machte nicht den Eindruck einer kannibalischen Irren und dies war auch kein Lebkuchenhaus. Marie gab ein ächzendes Geräusch von sich. Sie war immer stolz auf ihren brillanten Verstand gewesen, der mühelos an den Erwachsener heranreichte, aber das überforderte sie nun doch ein wenig. „Darf ich was fragen?“ Sanft führte die alte Frau das Mädchen zu einem Stuhl, der in der Ecke neben einem Vorratsschrank stand. Es war keine Kunst zu erraten, was die Kleine wissen wollte. „Es war einmal“, begann sie mit einem Grinsen, dass ihre gelben Zähne entblößte. Neill holte tief Luft, bevor er den Raum betrat, obwohl Raum bereits eine zu nette Umschreibung für dieses Loch war. Wer auch immer auf die Idee gekommen war sich in diesem heruntergekommenen Hotel zu verstecken, gehörte geschlagen. Es war ein typischer DDR-Bau, etwas aufgemotzt durch eine Runde Vorhalle und garantiert mit Asbest veredelt. Überall in dem grünlich-grauen Beton waren tiefe Risse, Schimmel und Schwamm hatte sich tief in die Wände gefressen und der modrige Geruch war kaum zu ertragen. Das alles war aber immer noch besser als der Anblick seiner Gefährten. Neill umgab sich gern mit schönen Dingen, es lenkte von dem eigenen Spiegelbild ab und konnte ihm die Illusion geben anders zu sein. Für war es unerträglich in die realen Gesichter seiner sogenannten Freunde zu sehen. Verbissen schluckte er den Ekel herunter und trat in den Raum, der ihnen als Zentrale diente. „Lebt sie noch?“, fragte eine Gestalt aus dem Schatten, als Neill eingetreten war. Dieser nickte nur knapp. Angestrengt starrte er auf einen Fleck über die Silhouette, dennoch sah er ihre gleitenden, fast schlangenartigen Bewegungen in den Augenwinkeln. „Gut. Nach einiger Zeit mit Schmerzen, ohne Wasser und Fressen wird ihr keine Wahl bleiben.“ Die Schattengestalt hatte eine sehr raue Bassstimme, dessen Timbre unangenehm in Neills Ohren vibrierte. Angewidert verzog er das Gesicht, als er sicher sein konnte, dass Conan nicht hinsah. Der grobschlächtige Kerl hatte keine Skrupel einen Verbündeten zu verletzten, wenn dieser sich Frechheiten erlaubte. Ihr Anführer hatte ein Ziel und sie hatten ihm dorthin lediglich zu folgen. Immer wieder schaute Finn auf, blickte sich um und stellte sicher, dass niemand sie beobachtete. Es würde einfach zu schwer sein zu erklären, warum seine Begleiterin auf der Straße hockte und an einer Blutlache schnüffelte. Vivienne verzog das Gesicht zu einer skeptischen Grimasse. Nachdenklich tippte ihr Zeigefinger gegen ihre Schläfe. Es war wieder nur Hundeblut. Der Geruch von Mensch war kaum wahrzunehmen und die Lache war entweder aus Unachtsamkeit oder als falsche Spur hinterlassen worden. Brigitte Hauser war lebend fortgeschafft worden, was schon einen Unterschied zu den sonstigen Fällen war. Bisher hat man die Leichen oder das was davon noch identifizierbar war immer in der Nähe der Flüche gefunden. Eilig erhob sie sich und zog den verdutzten Finn mit sich. Wenn Frau Hauser tatsächlich noch lebte, dann musste sie schnell gerettet oder schnell getötet werden. So oder so schienen sie diesmal in ihrem Opfer etwas gefunden zu haben, was ihnen wichtig war und wenn man sämtliche Spuren, Morde und Möglichkeiten in Betracht zog, musste es der Schlüssel zu etwas sehr großem und überaus gefährlichem sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)