Meine Wochenaufgabe-Beiträge von Rahir (24h Schreibwettbewerb) ================================================================================ Kapitel 4: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 07.06.08 --------------------------------------------------- Bis an die Grenze Das Thermometer zeigte 32° im Schatten an, doch Gaspard Aldric war nicht heiß. Eher das Gegenteil. Die laute Menschenmenge, die euphorisch mit kleinen Fähnchen und den aufblasbaren Werbeartikel der Sponsoren wedelte, bemerkte er nicht. Auch nicht den Sprecher, der schon die ganze Zeit voller Enthusiasmus die Zuschauer über den Ergebnisstand auf dem Laufenden hielt und dessen Stimme in den letzten zwei Stunden an Penetranz nichts verloren hatte. Schweiß vom sorgfältigen Aufwärmen auf dem Rollentrainer lief ihm über den Körper. Mit dem unförmigen Zeitfahrhelm auf dem Kopf, der ihm ein insektenhaftes Aussehen verlieh und den rutschig glatten Radschuhen an den Füßen, schritt er unbeholfen die Stufen zum Starthäuschen empor. Sein Gesäß senkte sich auf den harten Sattel, und seine Schuhe rasteten klackend in die Pedale ein, während der dafür zuständige Monsieur das Rad an der Sattelstütze hielt. Vor sich sah er die abfallende Startrampe. Und den Beginn eines fünfzig Kilometer langen Leidensweges. Es war dies der vorletzte Tag der Frankreichrundfahrt, des wichtigsten Etappenrennens in der Welt des Radsports. Das bedeutete über 3000 Kilometer Asphalt, Hitze und Entbehrungen. 3000 Kilometer surrende Laufräder, rasselnde Ketten, quietschende Bremsen. 3000 Kilometer, an deren Ende die Ehrenrunden am Champs-Élysées stehen würden, und danach… entweder der Gang aufs Podium und damit der Status der Unsterblichkeit in den Annalen des Radsports. Oder der undankbare und schon bald vergessene zweite Platz. Zumindest für ihn, Gaspard Aldric, den Führenden der Gesamtwertung. Alle verbliebenen 157 Starter waren schon auf der Strecke. Nach knappen 3000 Kilometer führte er 1 Minute und 36 Sekunden vor dem Zweitplazierten Jamison Quincey vom amerikanischen Team AMR-Severn Trent. Mickrige Eineinhalb Minuten. Schnell noch zog er den Verschluss seiner Schuhe noch eine Spur fester zu, dann begann der Commissaire zu seiner Rechten auch schon mit dem Herunterzählen. Sein Horizont verengte sich ganz auf die schwindenden Finger vor seinen Augen. „…Quatre … Trois … Deux … Une … Départ.“ Der Lenkervorbau seiner Vollkarbonzeitfahrmaschine knarzte, als er mit aller Wucht am Lenker zerrte und antrat. Als das Vorderrad über die Rampe hinab kippte, ließ der Widerstand in der Kurbel leicht nach. Meter für Meter nahm er Fahrt auf, und der Widerstand sank weiter. Wie ein mit Sponsorenschriftzügen überklebter Superheld schoss er an den auf dem Boden liegenden Fotografen vorbei. Nach zwanzig Metern griff er das erste Mal zu den Lenkerhörnern, um weiter hochzuschalten. 53-15. 53-14. 53-13. Der Wind rauschte durch die Schlitze seines Zeitfahrhelmes, und die Luft verlor ihre Hitze auf seinen muskulösen Beinen. Bald verließ er Buttes-Chaumont, den Außenbezirk von Paris, in dem der Start des Abschlusszeitfahrens der diesjährigen Tour de France stattfand. Die Menschenmengen am Straßenrand wurden lichter, aber immer noch standen verstreut die Gruppen von Fans aller Altersschichten und skandierten lautstark: „Allez! Allez-allez-allez!!“ Doch er hörte dies kaum noch. Ebenso wenig wie das Begleitmotorrad mit dem Kameramann und das Materialfahrzeug, das dicht hinter ihm fuhr. Er hatte die ersten Kilometer hinter sich, und das dumpfe Brennen in seinen Oberschenkel, die wie die Pleuelstangen einer Dampfmaschine die Kurbel bewegten, begann. Und es würde nun eine Stunde lang anhalten. Den Oberkörper tief über den Zeitfahrlenker gebeugt, kämpfte er gegen den Luftwiederstand und den monströsen Gang, den er gekettet hatte. Quincey, der Amerikaner, war ein begnadeter Zeitfahrer, das wussten die Medien, sein Teamchef bei SARL Cycling- und er. Eineinhalb Minuten waren nicht viel auf fünfzig Kilometer, auf denen jeder für sich gegen den Wind und die Schmerzen kämpfte. Und deshalb würde er heute bis an die Grenze gehen müssen. Vielleicht sogar darüber hinaus. In den steilen Kehren staubtrockener Pyrenäenpässe hatte er dem starken Amerikaner Sekunde um Sekunde abgetrotzt. Der bullige Fahrer, dessen Hauptstärke im Kampf gegen die Uhr lag, hatte nicht folgen können, als er damals unter dem Geschrei des dichten Spaliers an Menschen leichtfüßig angetreten war. Im Wiegetritt war er dem Ziel entgegengefahren, hatte getanzt auf den Pedalen. Angetrieben von zigtausenden Trainingskilometern, dem Geschrei der Fans, die endlich wieder einmal einen Franzosen auf dem Treppchen der Tour sehen wollten und all den Ampullen EPO, die er sich in der Vorbereitung gespritzt hatte, war er den Berg hochgerast. Völlig von Sinnen und bis an den Rand seiner Kräfte. Die Betreuer seines Teams hatten ihn vom Rad heben müssen, und seine Beine hatten für alle sichtbar gezittert, als er sich das gelbe Trikot des Gesamtführenden übergestreift hatte im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Niemand hatte ihn aber fotografiert, als er sich vor dem Mannschaftsbus übergeben hatte. Er war an seine Grenze gegangen, aber er lag vor seinem großen Konkurrenten. Nur das zählte. In gebrochenem Französisch gab ihm sein belgischer Teamchef die erste Zwischenzeit durch. Sein Vorsprung schmolz, und es wunderte ihn nicht. Die gewaltigen Oberschenkel des Amerikaners, die angeblich den größten Umfang im gesamten Peloton haben sollten, frästen einen unglaublichen 51er Schnitt in den Asphalt. Gaspard Aldric wurde übel. Ob von der Zwischenzeit seines Verfolgers oder von der Anstrengung konnte er nicht sagen. Seine Lunge begann ebenfalls zu brennen und trat in dieser Hinsicht in Wettbewerb mit seinen Beinen. Den Mund weit geöffnet wie ein Rochen sog er verzweifelt Luft ein. Die lähmende Milchsäure in seinen Muskelfasern nahm langsam, aber sicher Überhand. Der rettende Sauerstoff, der sie abbauen konnte, schwand immer mehr. Die alten Häuser, die eilig aufgestellten Reklametafel, die immer das gleiche brüllenden Zuschauer am Straßenrand; dies alles gerann zu einem Kaleidoskop der Schmerzen und der Verzweiflung. Der vorbeirauschende Asphalt, das Wummern der Karbonlaufräder, die leisen, aber eindringlichen Anweisungen seines sportlichen Leiters über Funk; dies alles begann seinen Kopf quälend auszufüllen. Immer wieder richtete sich sein Kopf schmerzhaft auf, um die nächste Kurve erkennen zu können. Die aerodynamische Haltung auf einem Zeitfahrrad zwang den Körper in eine widernatürliche Position, die Wirbelsäule und Nacken extrem überstreckte. Ein Zeitfahren wird im Kopf entschieden, hieß es oft. Gaspard Aldric war es im Begriff zu verlieren. Die dritte Zwischenzeit. Er liegt fast gleich auf, sagte sein sportlicher Leiter. Er liegt fast gleich auf, wiederholte er mehrmals in einem besorgten Tonfall. Die Gespräche mit dem Hauptsponsor lagen noch bevor, und der Erhalt des Teams für die nächste Saison war alles andere wie gewiss. Das Unternehmen hatte viel Geld in die Mannschaft investiert, und nun wollten sie einen Toursieger. Gaspard Aldric kümmerte dies alles nicht mehr. Er rang verzweifelt mit der Kurbel, mit dem zu großen Gang, mit dem rauen Asphalt, mit dem Wind- und dann sah er das Ziel. Verschwommen tauchten die Absperrungen auf dem letzten Kilometer vor seinen glasigen Augen auf und schwirrten Käfiggittern gleich an ihm vorbei. Sekunden, nur noch Sekunden lagen zwischen ihm und seinem Konkurrenten. Zwischen dem Gesamtsieg bei der Tour de France und den Schmähartikeln der Zeitungen, die ihn in den Wochen zuvor als großen Favoriten tituliert hatten. Die Schmerzen in seinen Beinen drohten jegliche Konzentration aus seinem Kopf hinweg zu spülen, als er aus dem Sattel ging und zum Endspurt ansetzte. Unendlich langsam nur kam die Ziellinie näher, als der 19 Millimeter schmale Hinterreifen immer wieder seitlich wegrutschte. Mit einer Kraft, von der er nicht mehr wusste, woher sie kam, beschleunigte er auf den letzten Metern noch einmal- und rollte über die Ziellinie. Sofort umringte ihn eine Traube aus Betreuern, Fotografen und Reportern. Den Funkknopf in seinem Ohr hörte er in dem Geschrei längst nicht mehr. Von allen Seiten wurden ihm Mikrofone und Trinkflaschen ins Gesicht gehalten. Hände griffen nach seinem Rad und zogen es unter ihm weg. Die Betreuer seiner Mannschaft hatten alle Mühe, die Reporter zumindest ein Stück von ihm wegzudrängen. Verzweifelt versuchte der kleinwüchsige Franzose über die Menschenmenge hinweg einen Blick auf die Anzeigentafel zu erhaschen, die seinen Triumph- oder seine Niederlage- präsentieren würde. „Merde… geht doch zur Seite!!“ brüllte er sie an, doch sie überschütteten ihn nur mit Fragen, die er in dem Durcheinander sowieso nicht verstand. Dann, endlich lichtete sich das Gedränge um ihn geringfügig, und er sah die Anzeigentafel. Er war bereit, alles hinzunehmen, was immer ihm diese Anzeigentafel nach über 3000 entbehrungsreichen Kilometern zeigen würde. Sein Atem zitterte, als er die Augen schloss. Seine Hand tastete nach dem goldenen Kreuz, das unter seinem Zeitfahranzug baumelte. Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau und seinen beiden Kindern, die er wegen seines Berufes oft monatelang allein lassen musste. Bitte… Bitte…, waren seine Gedanken, als er ganz langsam die Augen wieder öffnete. Seine Ohren waren schon halb taub von dem Geschrei um ihn herum, als er es sah. Schemen gleich schwebten die Leuchtziffern an seinem Geist vorbei. „Leader Classement Général Provisoire… Gaspard Aldric, FRA, Team SARL…“ Stoßweise verließ die Luft seine Lungen, und er fiel auf die Knie. Die Hände der Betreuer griffen nach ihm und stützten ihn auf dem Weg zur Siegerehrung. Der Bürgermeister von Paris überreichte ihm das gelbe Trikot. Diesmal würde er es bis ans Ziel tragen und nicht scheitern wie die Jahre zuvor. Die letzte Etappe hatte nur noch zeremoniellen Charakter; es war ihm hiermit sicher. Mit zitternden Händen streifte er es über und präsentierte es den Fotografen, deren Bilder in Kürze um die ganze Welt gehen würden. Er schloss die Augen und ließ seinen Tränen der Erschöpfung, der Erleichterung und der Freude freien Lauf. Dass Fernsehstationen das Bild eines wie ein Kind weinenden Mannes in dutzende Länder übertragen würden, kümmerte ihn nicht im Mindesten. Er hatte alles gegeben. Er war bis an seine Grenzen gegangen, und ein kleines Stück darüber hinaus. Die Sieger der Olympiaden, der Weltmeisterschaften… an keinen von ihnen würde sich in ein paar Jahrzehnten noch jemand erinnern können. Doch der Sieg bei der ‚Grande Boucle‘, bei der Tour de France meißelte den Namen seines Triumphanten in Marmor und würde ihn kommende Radsportgenerationen andächtig wiederholen lassen. Dies zählte in Wahrheit mehr als die 400.000 Euro Preisgeld, den sicheren Platz in einem Team für die nächsten Jahre oder die Sponsorenangebote. Man war unauslöschlicher Teil der Geschichte, und selbst noch nach seinem Ableben würde man Vorbild und Idol für junge Sportler in aller Welt sein und bleiben. Dies hatte aber einen Preis. Man musste bis an seine absolute Grenze gehen. Und darüber hinaus. ENDE © by C.S., auch bekannt als Rahir Wöchentliche Schreibaufgabe vom 07.06.08 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)