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face in the crowd

Nur ein Gesicht in der Menge
von

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Prolog

FACE IN THE CROWD

- Nur ein Gesicht in der Menge
 

Für dich bin ich unsichtbar, nicht mehr, als ein Schatten.

Du nimmst mich nicht wahr, siehst durch mich hindurch, an mir vorbei.

Ich beobachte dich, heimlich, aus der Ferne

Mein Blick ruht stets nur auf dir, auf deiner braungebrannten Haut, deinem weichen braunen Haar.

Die Eleganz, mit der du dich bewegst, ist einzigartig.

Genauso wie dein Lächeln.

Dein Strahlen.

Dieses sanfte Licht, diese Wärme, die du abgibst.

Du bist bei allen beliebt, gleichermaßen bei Mädchen wie bei Jungs.

Alle jubeln dir zu, himmeln dich an.

So, wie ich.

Aber mich siehst du nicht.
 

Bei jedem deiner Spiele steh ich in der ersten Reihe, um dir so nah wie nur möglich zu sein.

Diese zwei Mal 45 Minuten, in denen ich dir so nah sein kann, wie sonst nie.

Obwohl wir in die selbe Klasse gehen sind das die Momente, in denen die geringste Distanz zwischen uns herrscht.

Auch, wenn du mich nicht wahr nimmst.

Auch, wenn ich für dich nur ein Gesicht in der Menge bin.

Ich sehne mich nach dir, aber ich weiß, dass du unerreichbar für mich bist.

Wir sind zu verschieden.

Du bist die Sonne, das Licht... und ich der Mond, der nur leuchtet, weil er das Licht der Sonne reflektiert.

Ich kann dich sehen, aber niemals berühren.

Der Klang deiner Stimme jagt mir wohlige Schauer den Rücken hinunter - aber du sprichst nie zu mir.

Dennoch würde ich deine Stimme unter Tausenden sofort wiedererkennen.

Diese sanfte, warme, dunkle Stimme.

Dein wunderschönes Lachen.
 

Und doch...

Trotz meiner auffälligen Erscheinung verschwendest du keinen Blick in meine Richtung.

Na ja, warum auch?

Du bist von Leuten umringt, die so viel interessanter sind, als ich.

Wir haben nichts gemeinsam.

Du bist der Menschenmagnet, der Sozialbolzen, die personifizierte Wärme.

Ich hingegen bin der Einzelgänger, kühl und distanziert, stehe außen vor aufgrund meiner Art und meines Aussehens.

Du bist integriert - Ich steh am Rand und seh dir zu.

Wenn du über den grünen Rasen fliegst, frei, wie ein Vogel, unhaltbar..

Wunderschön.

Wie die Sonne warme Reflexe in dein braunes Haar zaubert, deine Haut in einen zarten Bronzeton färbt.

So anders, als ich.

Blasse Haut, helles Haar.

Ein negativ-Bild - das komplette Gegenteil von dir.
 

Ich seh dir vom Rand aus zu.

Wenn du Fußball spielst, dem Ball nachjagst, deine Flügel ausbreitest und fliegst.

Deine Träume lebst.

Wenn du in der Schule gelangweilt auf deinem Fensterplatz schräg vor mir sitzt, den Bleistift im Mund wippen lässt und das Kinn auf die Handfläche gestützt hast, die braunen Augen nach draußen gerichtet, auf den grünen Rasen, auf dem du jetzt viel lieber wärst, als in diesem Klassenraum eingepfercht zu sein.

Auf dem Nachhauseweg sehe ich dir zu, wie du dich nach und nach von deinen Freunden verabschiedest und die letzten 10 Minuten alleine zurücklegst, ehe du die Wohnung in eurem Hochhaus betrittst, welches meinem genau gegenübersteht.

So nah und doch so fern.

So unerreichbar fern...
 

Für dich bin ich nur ein Gesicht von vielen in der Menge.

So sehr ich mich nach dir sehne, nach deiner Wärme, deinem Sanftmut.

Danach, dir nah zu sein..

Aber du wirst für mich immer unerreichbar sein..

Weil ich nur ein Niemand von vielen bin...
 

to be continued . . .

Chapter 01
 

Sieben Uhr in der Früh. Der Wecker summt und reißt mich aus wirren Träumen; wild durcheinandergewürfelte Bilder die, je mehr ich versuche mich an sie zu erinnern, nur noch schneller zu einer dunklen Masse gepanscht werden.

Auch egal. Ist sowieso viel zu früh zum Aufstehen.

Lieber nochmal umdrehen, die Decke über den Kopf ziehen und in der dunklen, warmen Höhle, die meine Bettdecke um mich herum bildet, die schmerzenden Augen noch einmal schließen.

Aber schlafen geht nicht mehr, jetzt bin ich wach.

Ganz toll.

Wenigstens dringt dumpf ein surrendes Geräusch an meine Ohren, welches seinen Ursprung eindeutig in der Küche hat.

Programmierbare Kaffeemaschinen sind schon ein Segen...! Ohne käme ich sowieso keinen Meter weit..

Erst Mal schön Kaffee trinken, dann duschen, anziehen, stylen und los.

Klingt wie ein guter Plan.

Wenn da nicht der Fakt wäre, dass es erst sieben Uhr morgens ist und dass ich, am Ende meines Weges, in diesem verhassten Betonklotz ankommen werde, in dem ich meine Zeit absitzen muss und doch nichts dabei lerne.

Nicht mal Geld krieg ich dafür - im Gegenteil.

Mein Vater überweist jeden Monat einen gar nicht so kleinen Betrag auf das Konto dieser wunderbaren Bildungseinrichtung.

...und trotzdem hat es nicht für vernünftige Lehrer oder gar Lehrmaterialien gereicht.

Von den mausgrau/grünen Schuluniformen sprechen wir lieber gar nicht erst.

Irgendwie sinkt meine Motivation aufzustehen grade bedrohlich gegen Null.
 

07:05 strahlt mich die rote LED Anzeige meines Funkweckers an, als ich mühsam die Augenlider aufklappe.

Seufzen.

Ich hab ja sowas von keine Lust.

Aber es hilft ja alles nichts...

Auch, wenn mein alter Herr sowieso nie zu Hause ist und deshalb nicht überprüfen könnte, ob ich schwänze - ich will nicht wissen, was er macht, wenn eines Tages ein blauer Brief ins Haus flattert. Was, wenn es mit meinen Leistungen weiter so bergab geht, auch so in nächster Zeit passieren könnte.

Gott bewahre, am Ende schleppt er mich noch zum Psychiater, weil er selber sowieso keine Ahnung hat, was er mit seinem Sohn anfangen soll. Das Kind einfach irgendwohin abschieben und die Verantwortung jemand anderem aufdrücken ist sowieso viel einfacher. Manchmal frag ich mich, wieso überhaupt einer von uns zu Papa ziehen musste und wir nicht einfach beide bei Mama geblieben sind, die inzwischen wieder eine glückliche Ehe führt.

Es ist nicht so, dass ich meinen Vater und die Freiheiten, die mir aufgrund seines Berufes gegeben sind, nicht lieben würde...

...aber manchmal wäre so eine erwachsene Bezugsperson doch nicht verkehrt.
 

Verdammt, jetzt ist es schon fast zehn Minuten nach Sieben.

Und so einen Brief brauch ich jetzt wirklich nicht auch noch. Ich hab auch so schon genug Ärger am Hals, da brauch ich nicht auch noch einen Psychiater, der mir armem, einsamen Emokind irgendwelche wahnsinnig klugen Lebensratschläge erteilt. Die haben doch selber keine Ahnung vom "echten Leben", pff.

Alles Quaksalber. Außerdem wird es davon, dass man mit irgendjemandem über seine Probleme redet, auch nicht besser. Am Ende hat man eher noch mehr.

Seufzend schlage ich schließlich die Decke zurück, dankbar um die dunklen Vorhänge vor meinem Fenster, ohne die ich jetzt vermutlich erblindet wäre, denn durch einen schmalen Spalt zwischen dem dunklen Stoff lässt sich erahnen, dass draußen bestes Wetter ist.

Sonnenschein vom Feinsten.

Da macht es doch richtig Spaß aufzustehen!! ...sollte man meinen.

Es fällt mir schwer die Beine über die Bettkante zu bewegen und der Weg zum Fenster, um eben jene schützenden Vorhände zu öffnen kommt mir unendlich lang vor.

Ich will nicht...

Schweren Herzens umklammere ich den Rand des Vorhangs und zieh die beiden Teile ruckartig auseinander, blinzle in das grelle Licht, welches direkt in mein Zimmer scheint.

Hab ich schon erwähnt, dass ich Montag Morgen hasse?

Ein prüfender Blick in den Spiegel an meinem Kleiderschrank.

Mehr schlafen wäre vielleicht von Vorteil, was? Dann hätte ich vielleicht nicht mehr ganz so viel Ähnlichkeit mit einer lebenden Leiche.

Kritisch starren die blauen Augen im Spiegel zurück, die platten, stumpfen blonden Haare fallen mir ins Gesicht.

Kaffee. Duschen.

Dringend.

Das kann man sich ja nicht mitansehen...

Schwungvoll öffne ich die Schranktür, breche damit den Blickkontakt zu meinem modrigen Ebenbild, ziehe meine ordentlich gebügelte, hässliche Schuluniform aus dem Schrank und bewege mich Richtung Bad, nicht ohne die Tür mit einem Tritt wieder zuzuknallen.
 

Am Ende hab ich das duschen doch vorgezogen. Bot sich gerade so an.

Wenigstens seh ich jetzt nicht mehr aus, wie der Tod auf Latschen.

Nein, inzwischen hab ich mich in meine Schuluniform gequält, brav die Zähne geputzt, meine dunklen Augenringe überschminkt und meinen Haaren Glanz und soetwas wie eine anständige Frisur verpasst.

So kann man sich wenigstens einigermaßen draußen sehen lassen...

Der Kaffeeverzehr ist auch in Arbeit, auch wenn dieser inzwischen schon nur noch lauwarm ist.

Was solls... wach macht er trotzdem.

Die braune Ledertasche angefüllt mit Heften und Büchern steht neben mir auf einem der Barhocker - ja, wir haben eine Durchreiche mit Tresenfunktion in der Wohnung.

Irgendwie anklagend, wenn ich so auf den herabhängenden Lederriehmen schaue.

...vielleicht sollte ich doch mal wieder Hausaufgaben machen.

Na ja.

Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass es allerhöchste Zeit ist, also den Rest meines Frühstück austrinken, die leere Tasse in die Spüle stellen und dann mit der Tasche das Haus verlassen. Abschließen. Und los.

Immerhin liegen noch gute 30 Minuten Fußweg vor mir.

Gesegnet sei der Erfinder des iPods, denn kaum habe ich das Wohnhaus verlassen angele ich ihn aus meiner Tasche, um die lauten Geräusche meiner Umwelt auszublenden.

Morgens, wenn es in der Wohnung schön ruhig ist, weil mein Vater schon zur Arbeit verschwunden ist, liebe ich die Stille und würde sie niemals mit Musik beschallen, aber hier draußen kann von Ruhe ja nicht die Rede sein.

Schreiende oder weinende Kinder, Autolärm, Bauarbeiten...

Die übliche Geräuschkullisse einer Großstadt eben.

Da ist es eigentlich ganz gut, wenn man sich ein wenig ausblenden kann.

Und da ich ohnehin alleine zur Schule laufe...

Aus unserem Wohngebiet gehen nicht allzu viele auf meine High School und mit den paar Jungs, die es doch tun, hab ich nichts zu tun.

. . .

Ist ja gut, ich habe generell mit sehr wenigen Leuten irgendeine Art von Umgang.

Eigentlich nur mit meinem Vater, der nie da ist und mit meiner Mutter, die am anderen Ende der Stadt wohnt und die ich etwa einmal im Monat sehe – zumindest theoretisch, wenn sie nicht grade zu viel zu tun hat mit der Arbeit, ihrem neuen Mann und dem sich anbahnenden neuen Familienmitglied.

Takeru nicht zu vergessen, den ich ab und zu zufällig auf der Straße treffe, oder wenn ich Mama besuche.

Aber kleinere Brüder in dem Alter haben recht wenig Interesse an ihren größeren Geschwistern, das ist bei ihm inzwischen auch nicht mehr anders, Scheidungskind und engere Geschwisterbindung hin oder her.

Jetzt sind Mädchen und go-kons* eben doch interessanter, als ein großer Bruder, der keine Freunde hat, in der Schule gemieden wird und nicht einmal ansatzweise cool ist. Man kann ja nicht mal mit mir angeben, weil ich, obwohl ich gebürtiger Japaner bin, einen extrem blassen Teint, blonde Haare und blaue Augen habe - Takeru ist ja mit den selben Genen gesegnet.

Leider widerlegt das auch meine Theorie, dass ich vielleicht deswegen ausgegrenzt werden könnte.

Immerhin hat er einen verdammt großen Freundeskreis und kommt auch bei Mädchen ganz gut an.

...vielleicht ist meine "Generation" einfach nur intoleranter.

Oder es liegt an meinem Gesicht.

Jedenfalls bin ich der typische Einzelgänger, mit dem nie jemand spricht, der im Sport stets zuletzt und auch nur widerwillig aufgerufen wird und die Sorte Kerl, der sein - wohlgemerkt selbstgemachtes - Bento alleine auf dem Schuldach verspeist.

Man sollte meinen, dass ich wenigstens bei Mädchen ankomme... aber leider hab ich so gar kein Interesse an diese hysterischen Gestalten.

Frauen versteh ich einfach nicht.

In der Mittelschule hatte ich ein paar Verehrerinnen und hab auch den ein oder anderen Liebesbrief abbekommen, aber es ist nie was drauß geworden. Sie sind zwar ganz hübsch anzusehen und sie riechen gut... aber Mädchen sind einfach viel zu laut, zu launisch und finden viel zu viele Dinge "soooo unglaublich niedlich!", obwohl sie es gar nicht sind. Kleine Kinder zum Beispiel.

Irgendwann hab ich dann wohl der falschen einen Korb gegeben und seitdem bin ich bei den Mädchen auch unten durch - das ist mir aber eigentlich ganz Recht, weil ich so wenigstens meine Ruhe hab.

Und das ist doch auch schon was wert, oder nicht?
 

Wenn es nur auch immer so wäre.

Leider komme ich mit den Jungs aus meinem Jahrgang auch nicht allzu gut klar.

Die meisten lassen mich ja in Ruhe, aber es gibt da so ein paar, die scheinbar einen Narren an mir gefressen haben.

Meine Hand verkrampft sich um den Riehmen meiner Schultasche, als ich durch das Schultor trete, knapp zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn. So früh sind sie meistens noch nicht da... dennoch tanzt mein Magen Lambada und mein Herz-Rhythmus ist nicht unbedingt das, was man gesund nennen könnte. Meine Schritte verschnellern sich, die Tür des Schulgebäudes ist schon in Sichtweite.

Es sind nur noch wenige Meter, die mich vom erlösenden Schulflur trennen, von der trügerischen Sicherheit innerhalb des Betonklotzes, in dem munter hunderte von Schülern durcheinanderwuseln.

Doch dann passiert es.

WUMMS.

Eine große, klobige Hand auf meiner rechten Schulter, die mich zu Eis erstarren lässt.

Innerlich seufze ich resigniert auf, fast ängstlich - doch äußerlich ist nur das gleichgültige Gesicht zu sehen, dass man von mir schon zur Genüge kennt.

Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt noch einen anderen Gesichtsausdruck zustande bringe, oder ob meine Muskeln irgendwann einfach in dieser Position mit dem umliegenden Gewebe verwachsen sind.
 

"Na, Ishida. Hast dich heute ja wieder fein rausgeputzt.", hör ich einen von ihnen sagen und ich kann das hämische Grinsen auf seinem Gesicht förmlich aus dem Gesagten heraushören. Mit einem Ruck dreht er mich zu sich um und schubst mich ein Stück zurück.

Verdammt, dabei hätte ich es fast geschafft. Wenigstens hab ich meinen iPod schon vor dem Schultor ausgeschaltet, weil alle elektronischen Geräte an unserer Schule nicht erlaubt sind.

Er redet weiter, aber ich höre ihm gar nicht richtig zu, es sind sowieso nur wieder die alten Beleidigungen, die mein Aussehen betreffen. Wahrscheinlich macht er sich wieder über meine langen "Mädchenhaare" lustig. Oder mein "hübsches Gesicht". Ihm fällt sowieso nichts anderes ein, auf dem er herumreiten könnte.

Wenigstens weiß er nichts von dieser einen Sache, die so gar nicht mit mir stimmt.. dann würde es vielleicht nicht so glimpflich für mich ablaufen.

"Hör gefälligst zu, wenn ich mit dir spreche!"

Meine Sicht kippt und ich taumele gegen einen seiner Kumpel, der sofort seinen Schraubstockgriff an mir ausprobiert. Ich spüre, wie meine Lippe pocht und ich kann warmes Blut in meinem Mundwinkel schmecken.

...Ich hasse Montag Morgen.

Er faselt irgendwas von Widergutmachung und reißt meine Tasche an sich, durchwühlt sie, ehe er den Inhalt auf den staubigen Boden entleert. Bücher, Hefte, Stifte... Geldbeutel, Schlüssel, mein Kamm, natürlich der iPod und mein Notizbuch, sowie einige andere Kleinigkeiten liegen verstreut im Dreck.

Die leere Schultasche schmeißt er achtlos daneben, lässt einen seiner Gehilfen das Portemonnaie und den Mp3-Player aufheben. Mit seinen flinken, schlanken Aasgeierfingern entnimmt er die rund 7000 Yen** Taschen- und Einkaufsgeld, die mein Vater mir heute Morgen noch auf den Tresen gelegt hat, streckt sie dem Anführer hin, der sie zusammenfaltet und sich in die Hosentasche steckt.

"Na, wenigstens hat unser lieber Freund heute wieder Geld von Papa bekommen, dass er gerne mit uns teilt, nicht wahr?"

Oh, wie gerne würde ich jetzt irgendetwas schlagfertiges kontern oder ihm wenigstens ins Gesicht spucken - aber der Kerl hinter mir hält mich immer noch fest und noch ein paar aufs Maul brauch ich heute Morgen wirklich nicht auch noch.

Den iPod inspiziert er nur kurz, sein Blick zweifelnd. Vermutlich hat er noch von keiner dieser Bands gehört. Würde mich wundern, wenn er überhaupt irgendetwas wie Musikgeschmack hätte...

Schulterzuckend steckt er ihn schließlich doch ein und mir rutscht das Herz in die Hose.

Das Geld ist mir egal, meine Eltern verdienen beide gut... die paar Yen kümmern mich nicht im Geringsten.

Aber mir meine Musik, meine Zuflucht, die Möglichkeit mich aus dieser Welt in meine eigene zu retten und alles auszublenden...

Mir das wegzunehmen ist mit das Schlimmste, was er mir antun könnte.

Dennoch weiß ich, dass auf meinem Gesicht keine, für andere Menschen sichtbare, Regung ersichtlich sein wird.

An dieser perfekten Maske habe ich jahrelang gearbeitet.

Nur nichts anmerken lassen.
 

Er kommt mir ganz nah und ich hebe den Kopf, um ihm, fast ein wenig trotzig, direkt in die Augen zu sehen.

...Als würde ich mich von soetwas unterkriegen lassen.

Ich spüre seine schwitzigen Hände an meinem Kragen und er klappt den Mund auf, um irgendetwas zu sagen, als die Stundenglocke läutet.

Vorne wird ratternd das Schultor geschlossen - jeder, der jetzt nocht kommt, wird aufgeschrieben und gemeldet. Eine zeitlang bin ich absichtlich zu spät gekommen, um dem hier zu entgehen. Aber ewig konnte das auch nicht gut gehen... als sie damit gedroht haben, meinen Vater zu benachrichtigen und zu einem Gespräch einzuladen, wenn die ständige zu spät kommerei nicht aufhört, musste ich mir etwas anderes überlegen.

Leider ist mir bisher noch nichts ansatzweise so effektives eingefallen.

Wenigstens lässt er jetzt von mir ab, schenkt mir nur einen verächtlichen Blick und streicht sich eine seiner schwarzen Strähnen aus dem Gesicht.

Ein grober Stoß in meinen Rücken lässt mich auf die Knie in den Staub fallen, meine Finger krallen sich leicht in den Untergrund. Den Kopf lass ich wohlwissentlich gesenkt.

"Kato, lass uns gehen!", ruft einer von ihnen ihrem Anführer zu und mit einem letzten plumpen Spruch folgt er ihnen endlich nach drinnen.

Soetwas musste ja heute passieren..

Frustriert wische ich mir das Blut mit dem Handrücken ab, robbe zu meiner Tasche hin, um all die Sachen wieder einzuräumen.

Die erste Stunde ist damit also auch gelaufen - wieder eine Fehlstunde mehr.

Vielleicht hätte ich doch lieber im Bett bleiben sollen..
 

Beim Zusammenräumen meiner Wertgegenstände und Schulsachen fällt mein Blick auf das Notizbuch mit dem simplen, schwarzen Einband, welches locker als Terminplaner durchgehen könnte - zu meinem Glück.

Es mag leichtfertig sein, soetwas mit in die Schule zu bringen, aber dieses kleine Büchlein gehört zu den Dingen, ohne die ich nicht aus dem Haus gehe. Darin schreibe ich alles auf, was mich beschäftigt. Ich zeichne oder notiere Textfetzen, Sätze, Wörter, die mir einfallen, die man in Songtexten verarbeiten könnte.

Gedanken...

Manchmal auch Schulnotizen oder andere Sachen.

Wenigstens diesen Freiraum, meine Gedanken – die kann mir niemand nehmen.

Seufzend stopfe ich es zu den verschmierten und verknickten Heften und Büchern in die Tasche, rapple mich auf und zupfe mein Hemd ein wenig zurecht. Hilft auch nicht mehr viel, weil es, wie mein Jacket und meine Hose, dreckig ist und halb aus der Hose hängt...

Egal.

Ist ja auch nicht das erste Mal.

Darf ich mir nacher gleich wieder eine Standpauke vom Sensei*** anhören.

Wenigstens bleibe ich von der Predigt meines Vaters verschont, weil er sowieso erst wieder mitten in der Nacht nach Hause kommen wird und dann nicht mehr die Nerven hat, sich damit zu befassen, wieso sein Sohn schon wieder das ganze Geld durchgebracht hat. Oder auch nur wofür.

Kopfschüttelnd gehe ich die wenigen Stufen hoch, betrete das Gebäude und gehe zu dem Fach in dem ich tatsächlich einmal meine Schlappen vorfinde, wechsle die Schuhe und suche erst einmal eine der Toiletten auf, um Schadensbegrenzung zu betreiben.
 

Notdürftig hab ich erst einmal mit Klopapier und fließend Wasser das Blut aus meinem Gesicht entfernt. Der Mistkerl hat mich verdammt blöd erwischt und allein in den wenigen Minuten ist es, dank fehlender Kühlmöglichkeit, bereits angeschwollen.

Herzlichen Dank.

Kritisch und äußerst vorsichtig betaste ich die eingerissene Haut mit der Zunge und die Schwellung mit dem Finger. Hoffentlich entzündet sich das nicht... Dreck, der in die Wunde gelangen könnte, war ja weiß Gott genug vorhanden.

Ein resigniertes Schnauben.

Vielleicht ist es ein Fehler, dass ich mich nicht mehr zur Wehr setze, dass ich sie einfach machen lasse und die Klappe halte.

Aber es ist doch allgemein bekannt, dass solchen Schlägern irgendwann die Lust an ihrer „Beute“ vergeht, wenn sie immer brav ruhig hält und alles mit sich machen lässt. Also ist ausharren doch die beste Lösung?

Wenn man Kontra gibt kassiert man sich sowieso nur noch mehr Prügel.

Das hatten wir ja alles schon mal.

Ganz am Anfang war ich ja noch so blöd zu widersprechen, bis Kato mich mal richtig hat aufmischen lassen. „Die Treppe aus Versehen runtergefallen“.

Natürlich, was auch sonst?

Mobbing gibt es an dieser Schule schließlich nicht.

Ich schüttle leicht den Kopf, hebe ihn dann an, um in den Spiegel zu schauen.

Kalte, emotionslose blaue Augen starren mich an, gleichgültig, so, als ginge sie das alles nichts an.

War das schon immer so?

War diese Gleichgültigkeit in solchen Augenblicken, diese Kälte in mir immer schon so präsent?

War ich schon immer so zynisch und frustriert...?

Ich weiß es nicht mehr...

Und eigentlich ist es auch egal, denn es kümmert ja keinen.

Genauso wenig, wie es niemanden kümmert, wenn ich die „Treppe herunterfalle“, mit sonstigen Blessuren nach Hause komme oder wieder einmal Geld oder andere Wertgegenstände verloren habe.

Es interessiert sie nicht..

Meinen Vater nicht, der mit seiner Arbeit verheiratet ist und meine Mutter schon gar nicht.

Meine Mutter, die jetzt mit ihrem neuen Mann ein Kind erwartet.

Natürlich freue ich mich für sie, keine Frage!

Ich liebe meine Mutter und ich bin froh, dass sie wieder glücklich sein kann, dass sie sich mit Hiroshi und Takeru eine neue Familie aufgebaut hat. Irgendwo kann ich sogar den Wunsch nachvollziehen noch ein eigenes Kind mit ihrem jetzigen Ehemann in die Welt setzen zu wollen, obwohl sie ja eigentlich schon zwei Söhne hat. Sie ist überglücklich, dass es ein kleines Mädchen wird – das Mädchen, dass sie sich immer so sehr gewünscht hat.

Aber wenn sie doch so unbedingt ein zweites Kind in der Familie haben will warum nimmt sie dann nicht mich...?

Warum darf ich kein Teil dieser glücklichen Familie sein?!

Wieso werde ich zu Papa abgeschoben, der keine Zeit für mich hat, anstatt wie Takeru bei ihnen zu leben, umsorgt zu werden und vielleicht ein wenig glücklicher zu sein?

Weil Masaru dann einsam wäre?

Aber kümmert es denn niemanden, wenn ich einsam bin?

Wohl nicht.

Und wenn Mamas „kleine Prinzessin“ erst einmal auf der Welt ist, dann ist in dieser schillernden, glücklichen Familie erst Recht kein Platz mehr für mich.

Meine Augen brennen, ich muss wohl Dreck reinbekommen haben.

Hastig wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen, drehe dann das kalte Wasser auf, um mir ein wenig davon ins Gesicht zu schöpfen.

Was für ein beschissener Wochenanfang.
 

Zerzaust und staubig hängen mir einige blonde Strähnen ins Gesicht.

So kann ich unmöglich in die Klasse gehen, die dreckige Uniform ist schon schlimm genug.

Also erst einmal den Kamm auswaschen, um dann die inzwischen struppige Mähne wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen. Frustriert wühle ich in meiner Tasche nach einem kleinen Beutelchen, in dem ich immer meine kleine Notfallversorgung bunkere. So auch eine winzige Flasche Haarspray, um wenigstens ein paar der Haare zu fixieren.

Die langen Zotteln, die ich seit einer Weile endlich einmal abschneiden will, hängen jetzt kraftlos herunter, also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als sie zu einem Zopf zusammenzubinden.

Wenigstens steht mir dieses Konstrukt einigermaßen...

Dann noch ein bisschen Make-up über die geröteten Stellen, die Augenringe verschwinden lassen und schon ist alles gar nicht mehr so schlimm. Das Hemd ordentlich in die Hose zurückgesteckt, das grüne Jackett ausgeklopft und übergezogen; den losen Knopf werd ich zu Hause wieder annähen müssen.

Alles wieder zurück in die Tasche, nur eins noch.

Ich zupfe mit leicht zittrigen Fingern ein dunkles Etui hervor, welches zuvor zum Glück nicht herausgefallen ist, weil es recht fest in eine der Innentaschen steckt, und öffne es, erleichtert die Luft ausatmend, die ich unbewusst angehalten hatte. Für einen Moment hatte ich befürchtet, das dünne Glas hätte womöglich etwas abbekommen.

Aber weder der schwarze Kunststoffrahmen, noch das Glas meiner Brille hat etwas abbekommen.

Es ist ja nicht so, dass ich sie brauchen würde, um irgendetwas zu sehen – ganz im Gegenteil. Mein Augenarzt sagt mir immer, dass ich ein perfektes Sehvermögen habe und vermutlich niemals eine Brille brauchen werde. Dennoch sieht man mich in der Schule praktisch nie ohne, nicht einmal beim Sportunterricht.

Ich weiß nicht warum, aber wenn ich sie trage, fühle ich mich ein klein wenig sicherer.

Der Welt nicht ganz so nackt und schutzlos ausgeliefert.

Irgendwie albern, oder?

Dennoch setze ich sie auf, packe das Etui zurück an seinen Platz und nehme die Tasche vom Waschbeckenrand. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr, die zweite Stunde beginnt in gut 5 Minuten.

Mathe – wie ich es hasse. Das Fach, das mir so gar nicht liegt...

Am Liebsten würde ich mich hier drin verkriechen, aber dann hätte ich auch genauso gut vorhin in meinem warmen Bett bleiben können.

Es hilft ja alles nichts...

Langsam und wahnsinnig lustlos mache ich mich auf den Weg den Flur hinunter, die Treppe nach oben in den dritten Stock erklimmend, um zu meinem Klassenzimmer zu gelangen.

Vielleicht reichen ja fünf Minuten, um mir eine gute Ausrede zu überlegen, wieso ich nicht als „verspätet“ eingetragen bin und trotzdem erst jetzt komme...
 

Schweigend durchquere ich den Raum, setze mich auf meinen Platz ganz hinten in der Ecke.

Um mich herum sitzen alle auf ihren Tischen oder stehen bei Mitschülern herum, um ein Pläuschchen zu halten, bevor es mit dem Unterricht weitergeht.

Ein paar sehen kurz auf, die Mädchen tuscheln und kichern und zeigen mit dem Finger in meine Richtung; heimlich, verstohlen und glauben, ich würde es nicht merken.

Tz, blöde Hühner, ich bin weder blind noch blöd.

Genervt stelle ich meine Tasche auf dem Tisch ab, ziehe den Stuhl geräuschvoll ein Stück zurück, ehe ich mich darauf fallen lasse.

Sie schauen kurz verschreckt, wenden sich dann aber wieder spannenderen Themen zu.

Wenigstens lästern sie nur und mobben mich nicht auch noch.

Gemächlich angele ich mein Mathebuch aus der Schultasche, das passende Heft dazu, Stifte und mein Notizbuch, staple alles sorgfältig am Rand des Tisches, rücke dann auch meine Brille zurecht.

Der kleine Riss in meiner Lippe brennt wie Feuer und das umliegende, geschwollene Gewebe pocht unangenehm, zieht und spannt.

Vielleicht sollte ich doch zur Schulschwester gehen und es desinfizieren lassen?

In diesem Moment jedoch wird geräuschvoll die Schiebetür geöffnet und jeglicher Gedanke an das Verlassen des Raumes mit ihr beiseite geschoben, als der Sensei den Raum betritt und damit das lästige Geplapper der anderen stoppt, die sich nun mürrisch zurück auf ihre Plätze trollen.

Mein Blick schweift über die Schülerschar vor mir, während ich mit halbem Ohr zuhöre, wie Tanaka-sensei die Anwesenheit kontrolliert, als ich endlich, nachdem sich ein zuvor aufgerufener Schüler wieder setzt, freie Sicht auf das Objekt meiner Begierde habe.

Da sitzt er und grinst frech, während er seinem Sitznachbarn amüsierte Blicke und Gesten zuwirft – offensichtlich machen sie sich über Tanaka lustig.

Sofort beschleunigt mein Puls, ich kann mein Herz heftig gegen meine Rippen puckern spüren.

Die Lippen werden trocken, die Hände feucht.

Mein Sonnenschein... meine Rettung.

Nur sein Gesicht zu sehen, sein Lächeln, erhellt mir diesen trüben Tag schon.

Manchmal ist er der einzige Grund aus dem ich mich überhaupt aus dem Bett quäle... nur, um ihn zu sehen.

Was er wohl denken würde, wenn er das wüsste?

Begeistert wäre er bestimmt nicht.

Wahrscheinlich würde auch er sich dann über mich lustig machen...

Er mag nicht wie all die anderen sein, nein.

Er ist sanftmütig, lieb, fürsorglich..

Aber auch kein Heiliger.

Und ich bin niemand, dem man solche Gefühle, Gesten entgegenbringen wollen würde.

...ob er wohl immer noch so wunderschön und warm lächeln würde, wenn er mir dabei gegenüber stünde?

Ein leises Seufzen kommt über meine Lippen.

Bestimmt nicht.

Dennoch habe ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als würde sein Blick von seinem Kameraden abschweifen, mich aus den Augenwinkeln mustern.. und dann lächelt er plötzlich, ganz sanft und warm, nur für mich. Mein Herz schlägt noch schneller, überschlägt sich beinahe vor Aufregung.

Er lächelt mich an... mich!

Das kann doch nicht sein...

Regungslos starre ich ihn an, kann es nicht fassen – ehe mir klar wird, dass dieser sanfte, warme Blick dem rothaarigen Mädchen vor mir gilt. Natürlich.

Enttäuscht verlangsamt sich mein Puls wieder, ich wende den Blick ab und meine Aufmerksamkeit dem hämischen, blauen Himmel zu.

Immer diese Tagträumerei.

Vielleicht sollte ich mir das lieber abgewöhnen, es führt ja doch zu nichts.
 

„Ishida Yamato-kun.“, dringt die im Klang schärfer gewordene Stimme an mein Ohr und der Blick nach vorne macht deutlich, dass er wohl schon mehrfach versucht hat, meine abgedriftete Aufmerksamkeit zu erregen.

Eilig springe ich auf, schiebe dabei den Stuhl so schwungvoll zurück, dass er beinahe umkippt und senke betreten den Kopf, die Hände halte ich dabei flach auf der Tischplatte abgelegt.

Es entsteht eine unangenehme Pause und ich kann spüren, wie sich mehr und mehr Köpfe zu mir herumdrehen, wie sie mich anstarren, abschätzig mustern. Ihre kalten, hämischen Blicke bohren sich in mich hinein, spießen mich auf. Ein Gefühl, als würden sie tausend feine, spitze Nadeln in meine Haut rammen.

Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinab und ich spüre, wie meine Hände zu zittern beginnen.

Würde sie nicht ohnehin so unsagbar wehtun, müsste meine Unterlippe jetzt dran glauben.

Ich neige dazu in Stresssituationen oder wenn ich mich extrem unwohl fühle darauf herumzukauen, ja, sie regelrecht zu malträtieren.

Die Stille wird gebrochen, als dumpfe Schritte durch den Raum hallen und Tanaka-sensei, mit der Namensliste in der Hand durch die Reihen geht, bis ganz nach hinten zu meinem Tisch, vor dem er schließlich stehen bleibt – alles, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Musternd sieht er mich an, von oben bis unten und hebt dann eine Augenbraue.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragt er ruhig und zu meiner Überraschung, in keinster Weise anklagend.

Ich schlucke schwer, hebe nur kurz den Blick, um ihn anzusehen, für den Bruchteil einer Sekunde vielleicht, ehe ich wieder auf meine zitternden Hände auf dem Tisch starre.

Was wirklich passiert ist kann ich ihm ja wohl kaum erzählen..

„Ausgerutscht. Hingefallen. Heute Morgen.“, murmele ich ganz leise und sein Blick wird noch skeptischer.

„Warst du deswegen schon bei der Schulschwester?“, hakt er nach.

Er meint wohl die aufgeplatzte Lippe. Oder die verpasste, erste Stunde.

Ich nicke hastig und bete inständig, dass er es damit gut sein lässt.

Die Schüler hinter seinem Rücken tuscheln und kichern schon wieder, machen sich lustig über mich.

Über den dummen Ishida, der mit 17 Jahren immer noch ausrutscht und in den Dreck fällt.

„Dann ist ja alles in Ordnung. Setzen.“, sagt er schließlich, hakt meinen Namen auf der Liste ab und tritt langsam den Rückweg an, dabei weitere Namen aufrufend.

Erleichtert lasse ich mich auf meinen Stuhl sinken, denn inzwischen zittern auch meine Knie und mein Herz schlägt ungesund schnell.

Es rutscht mir allerdings gänzlich in die Hose, als mein Blick wieder zurück zu meinem Rettungsanker fällt, der sich in diesem Moment zu seinem Freund rüberneigt, ihm etwas zuraunt und beide in leises Gelächter ausbrechen.

Wie von selbst graben sich Schneidezähne in meine Unterlippe.

Ein sachtes Stechen macht sich in meiner Brust breit, welches den Schmerz in meiner Lippe überlagert, verdrängt.

Unwichtig macht.

Ich wende den Blick ab, schlage Buch und Heft auf, da Tanaka-sensei mit seinem Unterricht beginnt, doch folgen kann ich ihm nicht. Will ich gerade auch gar nicht.

Er schreibt belanglose Formeln an die Tafel und erklärt Lösungswege, Variablen – Dinge, die sich mir nicht erschließen, die ich nicht verstehe, selbst wenn ich mich darauf konzentriere.

Die ich vielleicht auch gar nicht verstehen will, weil sie nicht wichtig sind.

Weil sie mir in meinem Leben auch nicht weiterhelfen.

Mathematische Probleme mag ich damit lösen können, aber bei meinen eigenen helfen mir diese Formeln auch nicht. Um meine Probleme zu lösen braucht es mehr, als ein paar alberne Buchstaben- und Zahlenkombinationen. Nur, weil man eine Variable hinzufügt oder wegnimmt ist diese, meine Gleichung nicht zu lösen...

Was bringt es mir also, wenn ich weiß, wie ich X auflöse?

Ich bekomme höchstens Kopfschmerzen, wenn ich versuche diese fiktiven Problem aus der Welt zu schaffen. Und leider schlägt sich das nur viel zu deutlich in meinen Noten nieder.

Verdammter Scheißtag...

Krampfhaft versuche ich mich die nächsten fünf Minuten doch noch irgendwie auf den Unterricht zu konzentrieren, in die Materie einzufinden – sagen wir, ich hoffte auf ein Wunder, welches mich allerdings im Regen stehen lässt und so ziehe ich schließlich mein Notizbuch zu mir heran, um ein wenig darin herumzukritzeln.

Mathe war für mich heute definitiv gelaufen... und mich beschleicht das dumpfe Gefühl, dass das heute nicht mehr besser werden wird.
 

to be continued . . .
 

------
 

Anmerkungen:

* go-kon = Treffen mehrerer männlicher und weiblicher Teilnehmer zu einer Art „Gruppendate“

** 7000 Yen entsprechen rund 40€

*** Sensei = Lehrer

Der Vormittag hatte sich unglaublich in die Länge gezogen, aber jetzt schellt endlich die erlösende Pausenklingel – 12.30, Mittagspause.

Eilig packe ich meine Tasche zusammen, will nur raus hier, weg von diesen Menschen, Kreaturen.

Alleine sein.

Ruhe finden...

Verarbeiten und Kraft für den Nachmittagsunterricht schöpfen, durch den ich mich noch zu quälen habe...
 

Als einer der ersten verlasse ich den Raum, schiebe mich durch die nach draußen strömende Menschenmasse Richtung Treppe. Im Gegensatz zu all den anderen schlage ich den Weg nach oben ein, zum Dach.

Die meisten Schüler essen ihr mitgebrachtes Bento mit ihren Freunden im Klassenzimmer oder unten im Hof, einige kaufen sich ihr Mittagessen in der Cafetaria.

Aber für mich ist das nichts, ich ziehe es lieber vor, alleine zu essen.

Irgendwo, wo ich meine Ruhe habe...

Und welcher Ort bietet sich da mehr an, als das Dach der Schule, auf das sich ohnehin kaum ein Schüler verirrt?

Die frische Luft weht mir entgegen, nachdem ich die Stufen erklommen und die Tür geöffnet habe.

Ich atme tief durch, streiche mir eine Strähne hinters Ohr.

Prüfend schweift mein Blick über die großzügige Fläche, doch außer mir ist niemand hier.

Zumindest kann ich auf den ersten Blick niemanden entdecken. Gut so.

Leise schließe ich die Tür hinter mir, gehe ein Stück und setze mich dann mit dem Rücken an den Zaun, den Blick in den blauen Himmel gerichtet, der angefüllt ist mit vielen, weißen Schäfchenwolken.

Langsam ziehe ich die Brille von der Nase, klappe die Bügel ein und lege sie sacht in meinem Schoß ab. Ich schließe die Augen, seufze leise und lasse mir den kühlen Wind ins Gesicht wehen.

Nur dumpf dringen die Stimmen der anderen von unten herauf; zu undeutlich, um Worte oder gar Sätze zu verstehen, aber doch deutlich genug, um komplett ausgeblendet werden zu müssen.

Normalerweise würde ich ja jetzt meinen iPod zu Hilfe nehmen, aber den wird Kato wohl gerade zu verticken versuchen.

Der heutige Tag hat durchaus Potenzial ein neues Rekord-Tief festzusetzen.

Großartig.

Vielleicht wäre im Bett bleiben und womöglich einen blauen Brief riskieren doch die bessere Alternative gewesen... aber dafür ist es jetzt auch zu spät.

Lustlos krame ich mein selbstgekochtes Bento aus der Tasche, öffne den Knoten des dunkelblauen Tuches und hebe den Deckel der Box an, nur, um das Essen darin in einem desaströsen Zustand aufzufinden.

Die Bruchlandung heute Morgen hat alles durcheinandergebracht, sah schon mal irgendwie leckerer aus...

Trotzdem nehme ich die Stäbchen und picke mir ein Häufchen Reis aus dem Chaos, um es zu verspeisen, aber der Appetit vergeht mir schnell wieder, als sich das Pochen der Wunde an meinem Mundwinkel zu einem schmerzhaften Ziehen und Brennen ausweitet.

Seufzend klappe ich die Box wieder zu, stopfe sie zusammen mit dem Tuch zurück in die Schultasche.

Nach der Schule werd ich mir wohl erst Mal irgendwas aus der Apotheke mitnehmen und schauen, wie weit ich damit komme.
 

Ich klappe die Augen wieder zu, sinke noch ein Stück tiefer und versuche mich wenigstens ein bisschen zu entspannen.

Schlaf ist in letzter Zeit schließlich auch eher rar geworden.

Nachts krieg ich kein Auge zu, wälze mich stundenlang herum und obwohl ich furchtbar müde bin kann ich doch nicht schlafen. Und dann, wenn man gerade in Erwägung zieht, doch aufzustehen, weil sich das schlafen auch nicht mehr lohnt, schläft man plötzlich ein, nur um rund eine Stunde später vom Wecker brutal wachgebimmelt zu werden.

Nicht gerade erholsam das Ganze.

...Vielleicht sollte ich mir in der Apotheke gleich noch irgendwelche Schlafmittel mitgeben lassen, wenn ich schon mal da bin.

Andererseits ist dieser halbwache Zustand an sich ganz angenehm.

Es fühlt sich ein bisschen an, als wäre man in Watte eingepackt; die Eindrücke sind dumpfer, Licht und Farben nicht so grell, wie sie sein könnten, wenn man aufnahmefähiger wäre.

Wenn es sich nur nicht so auf die schulischen Leistungen niederschlagen würde...

Wären meine Noten so gut, wie früher, würde es auch niemanden interessieren, in welchem Bewusstseinszustand ich durch die Gegend wanke.

Hauptsache, das Kind funktioniert, richtig?

Erfüllt seine Pflicht der Gesellschaft und den Eltern gegenüber.

Und wenn man das irgendwann nicht mehr tut, wird krampfhaft versucht, die Sache noch hinzubiegen, die Maschine zu reparieren und, wenn das nicht fruchtet, wird sie eben verschrottet und durch eine neue ersetzt.

Ein Hoch auf die moderne Technik...

Was nicht funktioniert muss eben ausgwechselt werden – für das Wohl der anderen, der funktionierenden „Individien“.

Warum man nicht mehr funktioniert ist dabei völlig uninteressant.

Wenn es sich nicht durch Medikamente oder Psychoonkels beheben lässt wird man so oder so weggesperrt, von der Gesellschaft isoliert.

Könnte ja ansteckend sein...

Ich puste mir eine Strähne aus der Stirn, die mir der Wind allerdings gleich wieder ins Gesicht bläst.

Genervtes Schnauben.
 

Und trotzdem finden sich in dieser Gesellschaft immer wieder Menschen zu kleineren Gruppen zusammen, Gemeinschaften....

Familien.

Die sich zusammen schließen, sich gegenseitig helfen und unterstützen in dieser bizarren Welt zu überleben, nicht ausgesondert zu werden. Ein starker Verbund aus Eltern und Kindern und ab und zu noch Großeltern, die sich Halt geben, wenn der Druck zu stark ist und man abzurutschen droht.

Aber wer hält diejenigen, die keine Familie mehr haben?

Oder eine Familie, die sich nicht für sie interessiert, keine Zeit für sie hat?

So jemanden wie mich, dessen Familie sich abgewendet hat, um eine neue Familie zu gründen?

Was wird aus solchen Menschen?

Kann man ganz alleine in dieser Gesellschaft überleben?

Als tatsächliches „Individuum“?

Und wie kalt, abgebrüht und vor allen Dingen abgestumpft muss man dafür sein...?

Aber die meisten retten sich dann wohl in mehr oder weniger oberflächliche Freundschaften.

Wie heißt es noch?

'Freunde sind die Familie, die man sich selbst aussuchen kann'?

...aber nicht einmal mit so einer Familie kann ich dienen.

Andererseits...

Was habe ich von oberflächlichen Freundschaften; von Menschen, die mich einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken hintergehen und stehen lassen würden, für jemanden, von dem sie sich größere Vorteile erhoffen?

Im Prinzip schließen sie doch nur Freundschaften, um bessere Connections zu knüpfen.

Das sieht man doch immer grade bei reichen Kindern, die mit anderen, reichen Kindern Freundschaften eingehen, auch wenn sie diese überhaupt nicht ausstehen können.

Der Prestige wegen. Um das Ansehen und die Chancen zu erhöhen.

Das alles ist doch sowieso eine einzige Farce...

Solche Freunde brauche ich nicht.

Freunde, die einen ohnehin nur benutzen.

Da ist man alleine doch besser dran.
 

Ein schwerer Seufzer stiehlt sich über meine Lippen.

Wie ich es auch drehe und wende, irgendwie komm ich doch immer zum selben Schluss.

Langsam öffne ich die Augen wieder, werfe beiläufig einen Blick auf meine Armbanduhr und bekomme einen leichten Schreck, als diese mir 13.25 anzeigt. Schon so spät? In fünf Minuten hab ich Englisch, unten... verdammt! Kann sich die Zeit nicht wie Kaugummi ziehen, wenn man alleine auf dem Dach sitzt und seine Ruhe genießt?

Eilig setze ich die Brille wieder auf, packe meine Tasche zusammen und schultere sie.

Jetzt, da ich mich wieder auf meine Umwelt konzentriere höre ich auch keine Stimmen mehr vom Hof her, meine Mitschüler sind vermutlich alle schon im Klassenzimmer. Ausgerechnet bei Yamada-sensei kann ich es mir nun wirklich nicht leisten, zu spät zu kommen.

In letzter Zeit hat der sowieso was gegen mich...

Dabei war ich früher in Englisch immer Klassenbester. Aber selbst das hat in letzter Zeit mehr und mehr nachgelassen. Ich kann mich einfach nicht mehr darauf konzentrieren, bin zu müde... und um ehrlich zu sein war es mir auch meistens egal. Es intressiert ja sonst auch keinen.

Mit der rechten Hand umklammere ich den Riemen meiner Schultasche und haste die Treppen nach unten, den Blick immer wieder flüchtig auf das Zifferblatt meiner Uhr gerichtet.

Bloß nicht zu spät kommen.

Womöglich kriegen wir heute auch noch die Klassenarbeit raus, die wir letzte Woche geschrieben haben. Dann hat er wieder besonders schlechte Laune, weil unsere Klasse die schlechteste der Stufe ist – und den Ärger will ich nun wirklich nicht mit voller Wucht abbekommen.

Je nach dem, wie die Klausur dieses Mal ausgefallen ist, ist er sowieso schon schlecht auf mich zu sprechen....
 

Gerade noch rechtzeitig schlittere ich den Gang entlang, reiße die Schiebetür schwungvoll auf und stolpere ins Klassenzimmer, in dem die anderen sich noch munter unterhalten. Glück gehabt.

Schnell verdrücke ich mich auf meinen Platz, zum Glück intressiert sich kaum einer für mich.

Glücklicherweise vergeht ihnen relativ schnell die Lust an einem Lästerthema und sie finden ein anderes, nicht so langweiliges. An unserer Schule brodelt die Gerüchteküche ja auch gerne mal besonders hoch.

Weiber eben...

Den Kopf in die Handfläche gestützt male ich kleine Bildchen in mein Notizbuch, bis Yamada-sensei, pünktlich mit dem Gongschlag das Zimmer betritt und alle Schüler auf ihre Plätze verscheucht.

Müde hebe ich den Blick und sofort fällt mir der dicke Stapel Blätter auf, den er jetzt auf seinem Pult ablegt.

Wie befürchtet – er hat die Klassenarbeiten dabei.

Und grade glücklich sieht er nicht damit aus, ganz im Gegenteil.

Der Stimmungspegel droht gerade unter 0 zu fallen und eine drückende Stille breitet sich im Raum aus.

Unangenehm, äußerst unangenehm.

Seine Mine verfinstert sich mehr und mehr und bitterböse, kalte, schwarze Augen schweifen über die eingeschüchterte Schülerschar. Auch mich trifft dieser Blick, aber mir ist es egal.

Ich weiß ohnehin schon, dass diese Arbeit nicht grade einer meiner Glanzleistungen gewesen ist.

Dennoch wende ich den Blick ab, schaue stattdessen scheinbar demütig nach unten auf das vollgekritzelte Blatt Papier.

„Ich verstehe es einfach nicht.“, sagt er leise und betont ruhig; und trotzdem zucken einige Schüler beim scharfen Unterton in seiner Stimme zusammen. Grade die Mädchen haben offenkundig Angst vor ihm.

„Jedes Mal ist es das selbe Theater mit euch. Egal, wie oft man es euch einbläut, ihr lernt einfach nicht dazu! Wie wollt ihr so euren Abschluss schaffen?!“

Den Abschluss, huh?

Mal ganz davon abgesehen, dass wir grade erst im 1. Trimester des 2. Jahres sind und der Abschluss für die meisten von uns noch in ganz weiter Ferne liegt.

Es gibt genug, die sich momentan den Kopf darüber zerbrechen, wie sie überhaupt das zweite Schuljahr schaffen sollen – und genau zu denen gehöre ich.

Oder sollte ich besser sagen, ich sollte zu ihnen gehören?

Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlecht zu wiederholen, in eine andere Stufe zu kommen, in eine andere Klasse. Unter andere Leute, die vielleicht nicht so sind.

...oder eben noch schlimmer.

Man kann es ja nie wissen, richtig?

„So kann es mit euch wirklich nicht weitergehen. Eure Mitschüler sind doch auch nicht so furchtbar schlecht.“

Könnte am Lehrer liegen, würde ich jetzt gerne sagen – und ich wette, einigen anderen liegt es ebenso auf der Zunge – aber zumindest aus meinem Mund wäre es irgendwie ungerechtfertigt.

Früher hat sein Unterricht mir eigentlich ziemlich viel gebracht...

Letztes Jahr war ich immerhin noch Klassenbester und eigentlich richtig gut in Englisch. Bevor alles irgendwie den Bach runtergegangen ist..

„Wirklich, ihr bereitet mir nichts als Kopfschmerzen.“, schließt er seine Schimpftirade und nimmt einige Blätter vom Stoß. Der Ausdruck in seinem Gesicht wird ein wenig versöhnlicher, als er ein paar der Arbeiten verteilt und den zugehörigen Schülern anerkennend zunickt.

Die Einserschüler. Die Gruppe, zu der ich auch einmal gehört habe.

Aber es kommt mir vor, als wäre das schon Ewigkeiten her...

„Wenigstens wissen ein paar von euch meinen Unterricht zu schätzen.“, murmelt er, ehe er zurück zu seinem Pult geht und mich mit einem Blick bedenkt, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen könnte. „Ishida, vorkommen.“

Quietschend schiebe ich meinen Stuhl zurück, gehe langsam von hinten durch die Reihen der Mitschüler.

Jetzt kommt der Teil, an dem er immer besonders viel Spaß hat; und ich wette, dass er nur deshalb Lehrer geworden ist. Ich könnte es mir auf jeden Fall verdammt gut vorstellen...

Nachdem er den guten Schülern ihre Arbeiten ausgehändigt hat holt er die schlechtesten der Klasse nach vorne, um ihnen ihre zu geben. Und es ist meistens ein ganz schlechtes Zeichen, als erster aufgerufen zu werden.

Ich schlucke lautlos, als ich vor dem Pult stehen bleibe und zu ihm hinaufschaue, in diese dunklen, grimmigen, ja schon fast ein wenig vorwurfsvollen Augen. Er nimmt die obersten zwei Blätter vom Stoß und hält sie mir hin.

„Von dir bin ich wirklich enttäuscht, Ishida-kun. Vom Klassenbesten zum schlechtesten Schüler der Klasse abzustürzen...“

Mein Blick fällt auf die rotleuchtenden 05%, die mir anklagend entgegenstrahlen und mein Magen zieht sich aufgrund des schlechten Ergebnisses nun doch ein wenig zusammen. Mit so einer absolut miserablen Note hatte ich dann doch nicht gerechnet.. und der schlechteste war ich bisher auch noch nicht. Klar, es war schon mal besser, aber bisher hab ich wenigstens noch zweistellige Ergebnisse gehabt, knapp über 30% - gerade so bestanden...

Wortlos überfliege ich das mit rotem Fineliner regelrecht übersähte Blatt.

Nur ganz wenige Zeilen, die nicht fast gänzlich durchgestrichen worden wären.

Die rote Farbe auf dem Papier überwiegt die graue meines Bleistifts um Längen.

Yamada-sensei redet und redet; ich höre seine Stimme aber die Worte ergeben in meinem Kopf einfach keinen Sinn. Es ist ein riesiger Wust aus Lauten und Tönen, die sich einfach nicht zu sinnvollen Satzgebilden formen wollen. Mir wird ein kleines bisschen schwindelig, als ich versuche, mich darauf zu konzentrieren – doch es geht nicht. Lediglich dem Klang der Stimme kann ich entnehmen, dass er verdammt sauer sein muss. Aber was genau er sagt, kann ich beim besten Willen nicht sagen.

Ohne einen Ton herauszubringen starre ich auf die rote Tinte, die mich so missbilligend verspottet.

Erst, als er zu sprechen aufhört und es ganz still im Klassenzimmer wird, drehe ich mich um und gehe zurück, zwischen den Tischen entlang nach hinten.

Sie tuscheln wieder, aber alles um mich herum ist so verschwommen, durcheinandergewirbelt, dass ich es gar nicht richtig greifen kann. Ich sehe keine Gesichter, nur Fratzen.

Und ich kann sie Flüstern hören, über den gefallenen Klassenprimus Ishida, der jetzt nur noch ein kleines, erbärmliches Häufchen ist.

Fassungslos sinke ich auf meinen Stuhl, das Blatt Papier gleitet auf den Tisch und bleibt nah am Rand liegen.

Fünf Prozent.

Früher strahlte mir immer eine stolze, rote 100 entgegen.

Früher. Das ist noch gar nicht so lange her.

Nicht einmal ein Jahr ist seitdem vergangen.

Und jetzt das...

Wieder eine Arbeit mehr, die mein Vater besser nicht zu Gesicht bekommt.

Aber es ist ja auch nicht so, als würde er überhaupt danach fragen. Die Klassenarbeiten haben ihn noch nie interessiert; wenn überhaupt hat er höchstens einen Blick auf die Zeugnisse geworfen und einen knappen Kommentar abgegeben, ein müdes Lächeln vielleicht.

Ob er diesmal mehr zu sagen hat, wenn er die katastrophalen Noten sieht?

Oder sagt er dann gar nichts mehr?

Alles hat sich so sehr verändert...
 

Einen nach dem anderen ruft er jetzt die Schüler auf, deren Leistungen ebenfalls, sagen wir, nicht seinen Ansprüchen gerecht geworden sind.

Ein Gutes hat es ja wenigstens... er hackt kurz auf einem herum, dafür hat man dann den Rest der Stunde seine Ruhe, weil er damit beschäftigt ist, die anderen zu schelten oder in den Himmel zu loben.

Fünf Prozent also, huh...?

Frustriert stopfe ich die Arbeit in meinen Ordner.

Im ersten Jahr wäre mir sowas auch nicht passiert.. damals, als die Welt wenigstens noch einigermaßen in Ordnung war. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich noch meine Einsen zurückbekommen.

Wie die Zeit vergeht und die Zeiten sich ändern...

So schnell, so vehement.

So unwiderruflich.

„Da das erste Trisemester bald zu Ende geht - immerhin ist schon Mitte Juni - und die meisten von euch eine katastrophale Note auf dem Zeugnis zu erwarten haben, wird jeder von euch eine Projektarbeit abgeben. Ich dachte da so an ein Referat... oder eine schriftliche Hausarbeit.“

Erleichtert atme ich die angehaltene Luft wieder aus.

Hausarbeit, zum Glück. Die Musterschüler werden es sich bestimmt aussuchen können, ob sie überhaupt etwas machen wollen, um ihre Note womögich zu verbessern – aber der Rest des Kurses wird doch ohnehin nicht drum herum kommen. Und zu diesem Rest gehöre ich seit diesem Schuljahr nun mal auch...

Wenn ich mir vorstelle, ein Referat halten zu müssen..

Nein, das geht gar nicht.

Zwar ist eine Hausarbeit im Endeffekt mit mehr Arbeit verbunden, aber das nehm ich wirklich gerne in Kauf, wenn ich mich dafür nicht vor der versammelten Mannschaft zum Affen machen muss.

„Allerdings werdet ihr diese Aufgabe nicht alleine bewältigen sondern immer in Zweiergruppen. Sonst wird das ja nie was. Außerdem habe ich mir die Freiheit genommen, euch bereits einzuteilen; wenn jeder nur mit seinem besten Freund arbeiten würde, hätten wir am Ende nur wieder so ein miserables Ergebnis zu befürchten.“

...zu früh gefreut.

Mein Herz schlägt ungesund schnell gegen meinen Brustkorb.

Gruppenarbeit.

Das Wort, dass ich gleich nach „Referat“ am meisten hasse.

In einer Gruppe bin ich völlig Fehl am Platz. Vor allem in einer Zweiergruppe.

Ich kann doch nicht mit irgendeinem von denen zusammen arbeiten.

Nicht mit diesen Menschen, von denen mich jeder einzelne meidet, schneidet, um nicht zu sagen hasst.

Wenn schon eine ganz normale Unterhaltung unmöglich ist, wie soll dann erst eine Gruppenarbeit funktionieren? Das ist doch völlig unmöglich.

Ich bin mit diesen Menschen nicht kompatibel.. und unter Druck arbeiten kann ich schon zweimal nicht. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es dafür eine nicht gerade unrelevante Note gibt, die womöglich am Ende des Jahres bei dem ein oder anderen die Versetzung mitbestimmt.

Verdammt, ich will das nicht..!

Aber da fängt er schon an, die Namen vorzulesen, die Leute zu sich vorzubitten, um ihnen ihr Thema zu überreichen.

Langsam aber sicher bewegt sich mein Puls in einen sehr ungesunden Bereich.

Wie gering ist die Chance, dass ich um eine Gruppenarbeit herumkomme...?

„Ishida.“

....zu gering, offensichtlich.

Ich seufze schwer, erhebe mich wieder einmal und trete den verhängnisvollen Gang nach vorne an. Meine Nerven flattern, ich fühle mich zittrig und unruhig. Tunlichst vermeide ich den Blick auf meine Mitschüler, während ich ganz langsam nach vorne gehe. Jeder Schritt kostet Überwindung. Doch auch er lässt sich Zeit mit dem zweiten Namen, schaut prüfend in die Runde. Dann grinst er kühl.

„Yagami.“

„Was?!“, kommt es sofort aufgebracht von selbigem, der empört aufgesprungen ist und dabei den Stuhl laut quietschend zurückgeschoben hat. Er schlägt mit den Handflächen auf die Tischplatte und starrt geschockt und wütend zugleich zu uns nach vorne. Genervt seuft er auf, tritt frustriert gegen den Tisch und stapft mit den Händen in den Taschen nach vorne. Er ist sichtlich angepisst von dem Gedanken ausgerechnet mit mir zusammenarbeiten zu müssen.

Ich wette, die gesamte Klasse hat die Finger unter dem Tisch gekreuzt gehalten, dass es nicht ausgerechnet sie trifft. Aber irgendeinen musste es ja letztendlich treffen.

Taichi.

Mein Herz schlägt regelrecht Saltos, puckert heftig gegen meine Rippen und mir wird heiß und kalt.

Ich werde wirklich mit ihm zusammenarbeiten dürfen..?

Was ist das für ein grausames, zuckersüßes Spiel?

„Na, na Yagami. Zweifelst du etwa an meinen Entscheidungen?“, sagt er streng und drückt jedem von uns einige Unterlagen in die Hand, ehe er uns anweist, uns, wie die anderen Gruppen zusammenzusetzen.

Mürrisch und äußerst widerwillig folgt er den Anweisungen.

„Dass dus nur weißt, Ishida, ich hab keinen Bock das unnötig in die Länge zu ziehen und mehr Zeit als unbedingt nötig mit dir zu verbringen, klar?“

Mein Herz verkrampft sich ein bisschen bei den harschen Worten.

Aber er ist ja nicht der einzige, der so denkt, wenn auch der einzige, der es mir gegenüber direkt ausspricht.

Trotzdem scheint irgendwie jeder in meiner unmittelbaren Umgebung mit diesem Satz sympathisieren zu können und nach diesem Grundsatz zu handeln. Ich frag mich nur, warum..?

Bin ich denn wirklich so unausstehlich?

„Oh, übrigens werdet ihr dieses Projekt in Heimarbeit erledigen. Euer Klassenlehrer war ganz angetan von der Idee. So könnt ihr euch gleich noch ein bisschen besser kennenlernen und und zu einer besseren Gemeinschaft heranwachsen.“, verkündet er ruhig und doch entgeht zumindest mir der hämische Blick nicht, den er dabei zur Schau stellt.

Taichi verdreht nur die Augen.

„Das wird ja immer besser...“, grummelt er mit dunkler, noch missmutigerer Stimme, ehe er mich direkt ansieht und mir damit einen Schauer den Rücken herunterjagd. „Dass dus nur weißt, wir treffen uns bei dir. Am Ende denkt meine Mutter noch, wir wären befreundet oder sowas, das brauch ich echt nicht auch noch.“

Einige drehen sich um und lachen, denn er hat es gerade laut genug gesagt, dass es der halbe Saal noch mitbekommen hat.

Demütig senke ich den Kopf und nicke schweigend, verkrampfe unter dem Tisch die Hände in den Stoff meiner Jeans.

Er ist eben doch kein Heiliger.
 

to be continued. . .
 

---
 

Anmerkungen:

Das 1. Schuljahr der Oberstufe entspricht unserer 11. (bzw. 10. Klasse im 8-Jährigen Gymnasium), dementsprechend das 2. Schuljahr der 12. (bzw. 11) und das 3. Schuljahr unserer Abschlussklasse 13 (bzw. 12).
 

Mit dem Kapitel bin ich irgendwie nicht zufrieden, das Ende ist nicht ganz das, was ich eigentlich haben wollte... aber alles andere, was ich ausprobiert hab, hat auch nicht so recht gepasst. Hmpf. -___-;

Wie fandet ihrs?

Liest das hier überhaupt jemand? |D



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Kommentare zu dieser Fanfic (14)
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Von: abgemeldet
2009-03-19T20:01:24+00:00 19.03.2009 21:01
echt klasse ^^
dein schreibstil is auch echt gut :)
das macht es sehr angenehm deine ff zu lesen ^^
SCHREIB BITTE WEITER ;D
Von:  dexdexgirl
2009-03-07T12:58:19+00:00 07.03.2009 13:58
find die ff ziemlich genial
yamalein tut einem echt leid =/
tai is echt fies aber das wird sich ja hoffentlich
bald ändern ;D
und was ich ganz besonderst hoffe ist das du bald weiter schreibst ^^
also bitte weiter ;D
Von: abgemeldet
2009-01-12T22:14:33+00:00 12.01.2009 23:14
uhuhuhuhuhuhu
ich liebe ff's wo eine person voll der loser oder außenseiter is ~
:3
und ich mag es wie du schreibst ~
auch wenn taichi ein wenig fies is XD
ich frag mich ja gerade ob ich wohl auch einer von denen wäre der
mattie ignorieren bis hassen würde
obwohl du hast ja nicht erwähnt das er scheiße aussieht also
würde ich ihn wohl mögen
ich bin ja so oberflächlich XD

kay ~
schreib bitte ganz schnell weiter ich würde mich freuen und es auf alle fälle lesen and of cause einen kommi machen :P

so dala ~
cu liebe grüße Morgan
Von:  Tweetl
2008-09-27T20:31:18+00:00 27.09.2008 22:31
Ach... *nur noch seufzt*
Ich verstehe Yama so gut. Mir geht's genauso, weshalb ich jetzt ein bisschen depri bin...

Und dann auch noch von dem "Schwarm" so eine reingedrückt bekommen... toll.
Wirklich ein zuckersüßes Spiel, das wehtut.

Und dann hat er niemanden, zu dem er gehen kann, wenn's ihm scheiße geht. Weder zu seinem immer-arbeitenden Vater, seiner schwangeren Mutter (Ich bin entsetzt! Natsuko gehört Masharu!), den kleinen Bruder, gar einen Freund.

Aber ein wenig Hoffnung ist noch da, wegen "Taito"-Pairing.
Aber wenn Tai ihn gerade so... abrundtief hasst..., lass sie nicht sofort ein Paar werden. Wäre sonst wahrscheinlich, zumindest für mich, unrealistisch.

Liebe Grüße
Etwas
Von: abgemeldet
2008-09-03T14:05:51+00:00 03.09.2008 16:05
Jetzt bin ich richtig geschockt.... Tai ist ja so gemein!! TT___TT Ich hab glaub ich bis jetzt verdrängt, dass er Yama genau wie der Rest der Klasse ignoriert. Der arme Kerl. Boah, normal krieg ich bei solchen Typen zu viel, aber hey, es ist doch Tai! >_< Zum Glück für meinen Seelenfrieden handelt es sich hierbei ja um eine Taito... Man darf also noch zu hoffen wagen, dass er auf die ein oder andere Art noch sein Weltbild korrigiert. ;)
Wirklich wieder sehr schön geschrieben, und vor allem tiefsinnig. Ich mag es zwar auch, wenn mehr Handlung dabei ist, aber vor allem Matts Schuldachreflexionen haben mir sehr gut gefallen. Man versteht ihn soviel besser und findet immer ein Stückchen sich selbst darin wieder.
Man möchte Yama einfach nur in den Arm nehmen und knuddeln! >_<
Hoffe es geht bald weiter, werde auf jeden Fall weiterlesen!
^o^ Ist seit langem die erste Taito, die ich wieder les, und es hat mich sofort wieder gefesselt!
Ein großes Lob an dich und frohes Weiterschreiben!
LG, Ceramis
Von: abgemeldet
2008-09-03T13:17:43+00:00 03.09.2008 15:17
Das war jetzt erst mal nur der Prolog den ich gelesen hab, aber ich fand ihn einfach wunderschön. Frag mich nicht was genau, es ist eher das Gefühl, was es mir vermittelt. Ich behaupte mal, jeder kennt doch irgendwo dieses Gefühl (okay, ich täusch mich wohl ganz gewaltig, aber ich zumindest kenne es ^^) wenn man jemandem nahe sein will, aber nicht kann. Aus welchen Gründen auch immer. Es ist sowohl was Schönes als auch was Schmerzhaftes, und das hast du toll rübergebraucht, finde ich. Ich werd auf jeden Fall weiterlesen.
^_^
Von:  _bebe_
2008-08-25T12:03:34+00:00 25.08.2008 14:03
Ich lese das auf jeden Fall!!!!
du hast einen tollen Schreibstil!
Ich kann mich da so super in Yama reinversetzen und seine Gefühle richtig gut verstehen.

Am ende hätte ich echt fast geheult.

Ich freu mich schon rießig auf die Fortsetzung.
Von:  MuckSpuck
2008-08-05T12:30:05+00:00 05.08.2008 14:30
hey, wenn du mir ne ens schickst, wäre ich gern weiter bei der story dabei ;)

weiter so, lg
Von:  Ciura
2008-07-20T22:34:47+00:00 21.07.2008 00:34
Ich lese auch, auf jeden Fall!!!! *nodnodnod*
Diese FF ist nämlich meiner Ansicht nach sehr genial!! *knuff*
also nicht verzagen, hier gibts ein paar Seelen die das wirklich interessiert was du fabrizierst XD~
mnjum...
oh man.. ><"
Yama, du tust mir Leid... ich glaub ich hasse seine Klasse XD"(insbesondere da ich das in etwa von meiner eigenen kenne.. = =")
*grummel*
und ein Wort an Tai. Krieg deinen Arsch hoch du Mistkerl und sieh endlich ein das du nicht immer den großen Macker makieren musst! Pfö! Ich hoffe mal das er schön einen reingewürgt bekommt wenn er bei Yamato ist XD" so.. vonwegen was Yama familientechnisch alles erzählen kann und so.. *sfzt* *gesicht verzieh*
*yama plüsch*
hoffentlich wird das besser!!! Q__Q)88
yama tut mir leid, aber du schreibst das tolL!!! weiter so!!
*hibbel*
LG Ciura
Von: abgemeldet
2008-07-20T13:17:14+00:00 20.07.2008 15:17
ja, das ließt jmd!! wie man an meinem kommi sieht, höhö... '^^
also ich bin jedenfalls voll und ganz zufrieden mit dem chap! und solag es den lesern gefällt, isses gut, ne? xD
ich freu mich auf jeden schon auf die fortsetzung! kann ja was werden, mit den beiden...tai is jz aba zu assig zu yamaaa T^T


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