Verbrannte Erde von Hrafna (Aus dem Leben eines Soldaten) ================================================================================ Kapitel 11: Akt.VI *** Im Angesicht des Todes: Sein Geständnis -------------------------------------------------------------- Glossar: "kafteinn" bedeutet "Hauptmann" "herstjóri" bedeutet "General" "leiðtogi" bedeutet "Anführer" "ofursti" bedeutet "Oberst" "refur" bedeutet "Fuchs" (negativ besetzt) Projekt X 2008: Verbrannte Erde Aus dem Leben eines Soldaten Akt.VI *** Im Angesicht des Todes: Sein Geständnis Ofursti Múspell fasste instinktiv nach seinem Schwert und zog, als er ein Geräusch auf der Veranda vernahm – er kannte alle Soldaten, ausnahmslos, die freien Zutritt zum zweiten Stock des Hauses erhalten hatten, und die leichten Schritte, die sich ihm nun näherten, gehörten definitiv zu keinem von ihnen. Ein Attentäter...? Wenn, ein miserabler. Er verbarg seine Präsenz bloß mäßig, und dies verkam ohnehin zur Nebensache, bedachte man, dass Múspell ihn hören konnte. Einen Hinterhalt sollte er nicht leichtfertig ausschließen. Es war eine unerträglich warme Sommernacht in der sich kein Lüftchen regen mochte, wodurch er keine auffällige Witterung bemerkt hatte, die Schiebetür zum Balkon stand offen. Leise erhob sich der Feuerdrache und durchquerte den Raum, spähte in die nächtliche Dunkelheit hinaus; nichts als grauschwarze Schemen und die Schatten der Bäume, die ideale Tarnung. Eine Fledermaus flatterte am nahezu vollen Mond vorüber. Múspell ging in Angriffshaltung. Dann stieß er in einer flüssigen Bewegung vorwärts, um die Kante der Tür herum und dem Eindringling direkt entgegen. „Yo, ofursti“, grüßte die ihm nicht so unbekannte Gestalt im Halbschatten nonchalant, und unbeeindruckt von dem feindlich gesinnten Empfang, „Guten Abend.“ Gelassen schob diese die Spitze der Schwertklinge aus ihrem Gesicht und schenkte dem perplexen Drachen ein schadenfrohes Grinsen. „Hab ich Euch erschreckt?“ „Herforingi Fölskvi?“ erfolgte die prompte und gleichsam verdutzte Nachfrage des ofursti, „Was um Himmels Willen macht Ihr hier?“ Der Angesprochene winkte ab: „Naja... ich schätze, jedenfalls keinen Nachtspaziergang um mich zu entspannen.“ Für einen kurzen Moment überlegte Múspell, welcher einfältige Idiot ihm eine solche Ausrede abkaufen würde, hütete sich jedoch, nachzuhaken. „Was wollt Ihr von mir?“ Er mochte ihn nicht sonderlich, seiner Einstellung, seiner Art zu kämpfen und der fragwürdigen Karriere wegen. Seufzend steckte er sein Schwert zurück, folgte dem dreisten Kompaniechef, der sich bereits an ihm vorbei gedrängt und selbst hineingebeten hatte, in sein Quartier. „Ihr werdet besser bewacht als die Höllenklinge im hiesigen Tempel, ofursti Múspell“, konstatierte der junge Offizier nüchtern, und angesichts seiner unangemessenen Garderobe, des wissenden Ausdrucks in den grünen Iriden ahnte er zumindest die Gründe für seine übertriebene Bewachung. „Ich hoffe, Logi konnte einige Details klären, was den Grenzüberfall in der Mongolei angeht“, meinte der herforingi beinahe nebensächlich, als er sich an dem niedrigen Arbeitstisch niederließ und ein Nicken in Richtung des Aktenstapels andeutete. Múspell fügte sich wortlos und gewährte ihm freien Zugriff – also hatte Fölskvi ihre kürzliche Begegnung zu verantworten. Wieso riskierte er seinen Kopf für eine vermeintliche Lappalie, die für ihn nicht von Belang war? Er weiß mehr, als es den Anschein erweckt. Und er wusste ebenfalls, dass ihm keine Wahl blieb, dass er ihm keine Wahl ließ; zum einen, da er den höheren militärischen Posten bekleidete und ihm einfach den Befehl dazu erteilen konnte, zum anderen, da er sich in nächster Zeit wohl kaum einem anderen anvertrauen können würde. Denn wenn Hraunar oder die Heeresleitung wirklich planten ihn zu liquidieren, ging sein Wissen mit ihm ins Jenseits ein, verloren. „Er hat meine Befürchtungen bekräftigt“, erwiderte er langsam, „Der Vorfall an der mongolischen Grenze geht auf die Kappe unserer eigenen Soldaten, und ich weiß, dass wenigstens ein Teil von ihnen aus meinem Regiment stammt.“ „Ernsthaft?“ Sein Genosse zuckte ohne aufzublicken die Schultern, blätterte abwesend in den Personalakten, die er ordentlich vor sich ausgebreitet hatte. „Deserteure sind nichts Ungewöhnliches“, fügte er hinzu, in seine Lektüre vertieft: „Sind diese Daten offiziell?“ Kopfschüttelnd trat der ofursti näher und setzte sich an die gegenüberliegende Seite des Tisches, seine zuvor vergleichsweise neutrale Miene von bitterer Ernsthaftigkeit überschattet. „Deserteure, die vier abgelegene Außenposten in der Mongolei hintereinander überfallen, den Großteil der Anwesenden grausam abschlachten und zwei Heiler verschleppen...“ und er schöpfte einen tiefen Atemzug, ehe er fortfuhr: „Jemand, der desertiert, hegt normalerweise keinen solchen Groll gegen seine Kameraden. Selbst wenn, so etwas Auffälliges zu veranstalten, an vier Orten, womit die Wahrscheinlichkeit steigt, gesehen oder gar erwischt zu werden... Niemals.“ Obwohl Fölskvi den Kopf gesenkt hielt und las, bemerkte er das kurzzeitige Aufblitzen in seinen Augen, das unterschwellige Amüsement. Eiskalte Augen. Blank. Die Augen eines skrupellosen Mörders. Es schien ihm, als wollte sein Gegenüber ihn mit seinem berechnenden Lächeln verhöhnen. „Ergo: es war nicht ihre hirnrissige Idee“, kombinierte Fölskvi, den Grundsätzen der Logik gemäß, „und jemand anderes zieht die Fäden aus dem Hintergrund, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.“ Was das letztendlich bedeutet... Freilich war ihm Múspells warnender Blick nicht entgangen. „Nicht verwunderlich“, erläuterte dieser, „die drei waren keine Überflieger. Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, sie hätten Kontakt zu einer dubiosen religiösen Gruppierung gehabt, bevor sie ein paar Tage vor dem Grenzvorfall verschwanden.“ Fölskvi bekundete seine Aufmerksamkeit mit einer flüchtigen Geste, während er sich die individuellen Angaben zu den drei besagten Feuerdrachen einprägte. Allesamt Hinterwäldler, stellte er gedanklich fest. „Allerdings fiel mir etwas ein: über die Jahre gab es immer wieder ungeklärte Verluste, aber ich erinnere mich genau an einen Rekruten namens Ofsi, der mir damals abhanden kam. Schwach im Charakter, fürchterlich impulsiv und insgesamt zu emotional, dabei durchaus talentiert. Durch sein unmögliches Benehmen und die übermäßige Ambition hat er sich seinen Weg eigenhändig verbaut. Als ich Logi zum kafteinn berief, war Ofsi außer sich, und er versuchte auf jede erdenkliche Weise, meine Entscheidung für ungültig erklären zu lassen. Wenig später verschwand er spurlos.“ Er zog zielstrebig einen der Aktenordner aus dem Stapel, wies darin auf eine handschriftlich verfasste Liste, die unzählige Namen und Zusatzinformationen von diversen Verschollenen umfasste. Das Pergament war mit Fußnoten und Randnotizen übersät. „Eine nicht unerhebliche Anzahl von ihnen brachte hohe Erwartungen mit. Sie strebten alle nach dem schnellen Ruhm, nach Geld und Ansehen, nach einem Aufstieg aus ihren bescheidenen Verhältnissen und vernachlässigten trotz dessen ihre Pflichten und ihre Ausbildung-“ „Charakterschweine“, fiel ihm Fölskvi geradeheraus ins Wort, sodass der ofursti sich nachdrücklich selbst ermahnen musste, den Ranghöheren aufgrund dessen nicht scharf zu kritisieren. Null Anstand. Für sein loses Mundwerk war er bekannt. „Ich will damit sagen, dass sich das wie ein roter Faden durch die Vermisstenliste zieht. Es sind zu viele, um von einem Zufall reden zu können“, schloss er beherrscht. Doch der Offizier wirkte nicht überrascht. „In der Tat ein leichtes Unterfangen, frustrierte Jugendliche ohne Perspektive mit fadenscheinigen Versprechen zu schwerwiegenden Dummheiten zu verleiten“, meinte er nachdenklich, die Hände auf der Tischplatte gefaltet. Seine Züge kippten ins Abwesende, und eine Weile herrschte Schweigen. Das Portrait einer verkorksten Jugend, das womöglich ihn selbst betrifft...? „Wie verdächtig ist dieser Pfaffenverein?“ erkundigte sich der herforingi noch immer in Gedanken versunken, und dennoch konnte sich Múspell eines gewissen Unbehagens nicht erwehren, dem Gefühl, dass der jüngere Feuerdrache die Antwort längst kannte. „Ich weiß es nicht“, entgegnete er ehrlich. Sicherlich beglückwünschte sich Fölskvi in diesem Augenblick innerlich selbst und aalte sich in seinem Triumph. „Möglicherweise nur ein Strohmann...“, sinnierte der Kompanieführer weiter, bis er unverfroren unterbrochen wurde: „Wozu solch ein Aufwand?“ Fölskvis Augen verengten sich unmerklich. „Spielt keine Rolle. Rachegelüste, Kreuzzug gegen die Sünder, Größenwahnsinn - alles schon da gewesen.“ Múspell unterdrückte den missmutigen Laut, der seiner Kehle zu entfleuchen drohte. Jene Kälte, die Gleichgültigkeit, mit denen er der Angelegenheit begegnete, verdross ihn. „Ihr habt keinen Respekt, herforingi.“ Enttäuschung klang in der rauen Aussage nach, aber Fölskvi reagierte nicht. „Und das muss ich aus Eurem Munde hören, ofursti?“ säuselte er anstelle der berechtigten Rüge, „Würdet Ihr nicht halsstarrig auf Eurer kontraproduktiven Meinung beharren, wärt Ihr seit langem ein einflussreicher Mann. So werdet Ihr nie etwas bewegen können.“ An seinen Fähigkeiten zweifelte er hingegen nicht. „Ein halbes Kind wie Ihr“, knirschte sein Gegenüber in sich hinein, verstimmt und jeglichen Augenkontakt meidend, „das durch Unzuverlässigkeit glänzt, durch ominöse Unpässlichkeiten die Vernachlässigung seiner Verpflichtungen rechtfertigt...“ Verwöhntes Gör. Dass die Heeresleitung ihm seinen Rang nicht aberkannte, traf bei ofursti Múspell auf Unverständnis. Seine kriegerischen Qualitäten waren unleugbar, als Entschuldigung taugten sie dennoch beileibe nicht. Tagelange Versäumnisse, wochenlange Auszeiten außerhalb der Regel... Fölskvi begriff, worauf das hinauslaufen würde. Momentan würde ihm die Aufregung nicht bekommen. Besonnen raffte er sich auf und wandte sich zum Gehen. „Glaubt ja nicht, ich sei ein Verweigerer, so wie Ihr es seid.“ Ihr werdet genauso elend enden wie- Mit einem eleganten Satz schwang sich Fölskvi über das Balkongeländer, verschmolz mit der Schwärze der Nacht. Auf seinem Weg zurück, durch das Zwielicht der Allee vor der hell erleuchteten Tempelanlage, versuchte er verbissen sich zu beruhigen, doch bereitete ihm das Atmen zunehmend Schwierigkeiten, der angenehmen Witterung zum Trotz. In diesem Zustand strengte ihn sogar das Fluchen an. „Spaziergang, he?“ ertönte eine Stimme aus dem dämmerigen Nichts und Fölskvi zuckte erschrocken zusammen. Ertappt. Er hatte ihn nicht wahrgenommen, dabei demonstrierte er die Präsenz seiner Feuerenergie ungeniert. „Wieso musst du mir immer hinterher rennen?“ murrte er atemlos, beobachtete die Silhouette seines Verfolgers aus den Augenwinkeln. „Solltest mir demnächst vielleicht eine bessere Lüge auftischen“, riet ihm die schattenhafte Figur trocken, mit verschränkten Armen am Stamm einer Birke lehnend. „Was ist los mit dir, Fölskvi? Verhältst dich zurzeit erstaunlich unvernünftig für-“ „Lass mich einfach in Ruhe.“ schoss es ihm jählings entgegen, gereizt, kompromisslos. „Schon gut, schon gut. Kannst mich ruhig anschreien, wenn es dir danach besser geht“, versicherte der Brigadier bedächtig und hob beschwichtigend die Hände. Der herforingi richtete einen gehörigen Anteil seiner Verbitterung gegen sich selbst, das wusste Kopar aus Erfahrung, und das, was er ihm an den Kopf warf, stellte lediglich einen Bruchteil dessen dar. Es ist nicht seine Schuld. „Ehrlich. Wenn du deinen Brass abreagieren willst, steh ich dir gern zur Verfügung“, bot er ihm entgegenkommend an, „unter der Bedingung, dass du aufhörst, dich wie ein bockiges Balg aufzuführen.“ Fölskvi verweigerte sich nichtsdestotrotz vehement und setzte sich, ungerührt, wieder in Bewegung – Kopars wohlmeinendes Angebot schlug er schnaubend aus. „Behalt deine Almosen für dich“, zischte er abschätzig, bevor er abrupt inne hielt, sich plötzlich der unmittelbaren Nähe des Brigadier bewusst. Sein Atem streifte die sensible Haut in seinem Nacken. „Fass mich nicht an“, fuhr ihn der Offizier mit ernstem Nachdruck an, und Kopar trat einen Schritt zurück. Das harsche Keuchen des jüngeren Soldaten empfand er als alarmierend genug. „Ich bemitleide dich nicht, Fölskvi. Macht mir viel mehr Sorgen, dass du Leib und Leben für was riskierst, das es schlicht nicht wert ist.“ „Ich versuche mit dem kläglichen Rest dieses verfehlten Lebens etwas Sinnvolles anzufangen.“ Nichts als eine Lüge? Oder handelt es sich das dabei um eine egoistische Entschuldigung, Ausflüchte, um ihm nicht glauben zu müssen? *** Das Rauschen eines leichten Sommerschauers erfüllte die warme Morgenluft, übertönte das Lamentieren des durchnässten Wachpostens auf dem Hof ebenso effizient wie die gleichmäßigen Atemzüge des herforingi im angrenzenden Schlafraum. Brigadier Kopar saß auf der Veranda und stapelte gelangweilt einen Turm aus Mikadostäbchen und Dominosteinen aufeinander. Fölskvi hatte ihn vor einigen Stunden lautstark seines Quartiers verwiesen, mittels diverser kreativer Beleidigungen und einer leeren Suppenschüssel, sodass er erst einmal aus der potentiellen Gefahrenzone geflohen war. Launisch, der Gute. Als es dann an der Tür klopfte, sah er unwillkürlich auf. Wer ist um die Zeit freiwillig wach...? „Herein“, erteilte er die knappe Erlaubnis zum Eintreten, und lugte träge in den Eingangsbereich. Den jungen Soldaten, der daraufhin die Schiebetür aufschob und hinter sich wieder schloss, vermochte Kopar nicht recht einzuordnen. Daher vermutete er, dass es sich um einen von Fölskvis zeitweiligen Schützlingen handeln musste. Dessen flüchtiger Blick an ihm vorbei bestärkte diese Annahme. Fölskvi hatte die beiden nebenbei erwähnt; wie ein Heiler sah der Knabe allerdings nicht aus. „Herforingi Fölskvi...?“ fragte er geneigten Hauptes nach, nicht unbedingt unhöflich, aber mit mehr Bestimmtheit, als es sich für einen Niederrangigen gehörte. Wahrscheinlich kannte er weder Rang noch Namen seines derzeitigen Gegenübers, mindestens ebenso irritiert von seiner Anwesenheit wie dieser von seinem frühmorgendlichen Besuch. „Pennt“, gab Kopar unverblümt zurück, gestikulierte in Richtung des schlummernden Leviathan im Nebenraum. Mehr oder weniger, berichtigte er sich gedanklich. Halbwegs. Mit seinem Schwert im Arm. „Würde dir nicht empfehlen, da jetzt reinzugehen. Hat dir die Kehle aufgeschlitzt, bevor du's merkst.“ Sein Genosse nickte. Erstaunt erschien er ihm nicht. Der Brigadier schmunzelte: „Auf dem Tisch liegt ein Kuvert, für dich und deinen Heilerfreund. Ein Botengang, soweit ich mitgekriegt hab.“ Damit widmete er sich wieder seinem improvisierten Turmbau. „Kannst gehen.“ *** Die Pensionswirtin verbarg ihr Lächeln hinter dem leeren Tablett, das sie bei sich trug, als sie am oberen Ende des Korridors den jungen kafteinn entdeckte. In letzter Zeit war er oftmals hier. Anscheinend hatte er sich doch noch mit dem liebenswerten Feldheiler angefreundet, den sie seitdem er hier wohnte ins Herz geschlossen hatte. Verglichen mit dem pfiffigen Heiler erwies sich der Soldat mehr und mehr als stilles Wasser – er grüßte verhalten, bedankte sich förmlich für das Frühstück, zeigte sich insgesamt jedoch wortkarg und nahezu scheu. Mit Schüchternheit hatte das nichts zu tun. Logi schenkte sich das Anklopfen. Und er hatte gut daran getan, denn der Fuchs fläzte sich träge auf seinem Bett, halbnackt und alle Viere von sich gestreckt, warf ihm einen zerstreuten Seitenblick zu. „Du hast sie nicht alle“, murmelte der Heiler kaum vernehmlich und schloss die Augen wieder. „Steh auf“, diktierte der kafteinn kühl, woraufhin Eldur unwillig aufstöhnte und sich wunderte, wie Logi es schaffte, bei der schwülen Mittagshitze in voller Montur hier zu erscheinen ohne zu schwitzen oder zu hecheln wie ein Hund. „Es ist viel zu heiß, um überhaupt irgendwas zu machen“, quengelte der Feldheiler und pflückte ein weiteres Mal demonstrativ die verschwitzten Laken von seiner Haut. Der Soldat zuckte die Schultern, gleichgültig, zog das Kuvert aus seiner Robe hervor. „Befehl von herforingi Fölskvi.“ Schwerfällig richtete sich Eldur auf und schnappte sich den Umschlag, murrte etwas Unverständliches, ehe er das Stück Papier ungeduldig entfaltete und las. „Ah... das ist... be-“, er verstummte abrupt. Nicht gut. Unglücklicherweise wusste Logi sein Zögern, das Kippen seiner Miene augenblicklich zu deuten, und hakte prompt nach: „Was ist?“ Eldur biss sich auf die Unterlippe, überdachte seine Worte mehrfach. „Hast du das schon gelesen?“ Als er den Kopf schüttelte, verbat er sich das Aufatmen. Zu früh, um sich in Sicherheit zu wähnen. „Also... ich, wir...“ begann er stockend, und die Skepsis seines Genossen wuchs mit jedem Moment, den er haderte, das spiegelte sich unverkennbar im Ausdruck des kafteinn wider. Sollte er es ihm sagen? Einfach so? War das eine gute Idee? Fahrig rieb er sich über den Nacken. Welche andere Möglichkeit blieb ihm als Alternative? Keine. „Dieser Botengang... wir müssen in den Osten. In die Mongolei.“ Um einen Brief zu übergeben. Was hatte sich Fölskvi dabei gedacht? *** Sie hatten sich zweifellos verlaufen. Den Wald hatten sie lange hinter sich gelassen, und der schmale, unwegsame Pfad, dem sie seit Stunden folgten, führte sie stetig tiefer in das Gebirgsmassiv, die Gipfel in der Ferne bereits weiß, mit Schnee bekrönt; das Gelände wurde schroffer, ausgenommen einiger Krüppelsträucher gedieh hier nichts, und der raue Wind frischte mit der zunehmenden Höhe weiterhin auf. Von den Felswänden der Schlucht zu ihrer Rechten hallte das Echo ihrer Schritte wider. Aska fror. Zwar spendete der Leib ihres Pferdes wenigstens ein bisschen Wärme, vor den Böen schützte sie dies jedoch nicht. Das zierliche Mädchen zitterte wie Espenlaub. „Aska, ist...“, ergriff Eldsvoði nach einer Weile das Wort, unsicher, ob er sich die Bemerkung leisten konnte, wollte er nicht sofort wieder eine verbale Abfuhr kassieren. Höchstwahrscheinlich ohrfeigte sie sich innerlich selbst für ihren schlechten Orientierungssinn und die unnötige Rechthaberei, die sie in diese missliche Lage manövriert hatte. Ermüdend, solche überflüssigen Dominanzspielchen um nichts und wieder nichts. Gegen Mittag erbebte plötzlich das Gestein unter ihren Füßen, unvermittelt, und ein infernalischer Schrei zerfetzte die Stille des Panoramas. Eldsvoði strauchelte unter der brachialen Gewalt des Erdstoßes, und auch Askas Reittier verlor das Gleichgewicht, doch während sich der junge Drache wieder fing, geriet das Pferd in Panik. Es bäumte sich auf und warf sich unachtsam beiseite, trat mit einem Vorderhuf über die Kante des Wegesrands ins Leere und fiel. In diesem Augenblick reagierte Eldsvoði rascher als er dachte, erwischte seine Schwester mit einem gewagten Hechtsprung gerade noch am Zipfel ihres Ärmels. Das Pferd stürzte in den Abgrund. „Was war das?“ keuchte das Mädchen irritiert, nachdem er sie wieder hochgezogen hatte, die Arme einen Deut zu fest um den Torso ihres Begleiters geschlungen. Dessen Aufmerksamkeit galt etwas Anderem. Auf dem Felsvorsprung knapp über ihnen stand eine dunkel gekleidete Gestalt, groß und grobschlächtig, kastanienbraunes Haar umspielte ein von Härte und Entbehrungen geprägtes Gesicht, und ihre entschlossene Haltung, die mannshohe Sense, die sie sicher fasste, signalisierten unverfälschte Kampfbereitschaft. Jemand, der keine Gnade kennt. Purpurne Streifen verliefen über seine Arme, den Nasenrücken und die Augen. Kriegsbemalung. „Ein Krieger der Erddrachen.“ Der jugendliche Feuerdrache zog sein Kurzschwert, stellte sich schützend vor Aska. Diese schluckte, umfasste unbewusst den Griff ihres eigenen Schwertes. „Was hast du hier zu suchen?“ fuhr Eldsvoði den Erddrachen energischen Tones an, „Dieses Gebiet gehört dem Clan der Feuerdrachen! Wenn ihr uns durch Grenzverletzungen provoziert, werden wir mit einer Gegenmaßnahme nicht zögern!“ Unbeeindruckt von der Drohung eines Halbwüchsigen schwang der Eindringling seine Waffe und stürmte vorwärts, gewiss dem Faktum, dass die beiden Feuerkinder keinerlei Chance auf einen Sieg gegen ihn verzeichneten. Mit einem gewaltigen Satz brachte er sich unmittelbar vor den Feuerdrachen in Angriffshaltung, schlug mit seiner Sense zu, gegen seinen Hals zielend, und verfehlte ihn um Haaresbreite. Eldsvoði rollte sich geschickt ab und stieß auf Kniehöhe seines Gegners zu, doch der Erddrache wich dem Hieb mit einer geringfügigen Drehung aus, traf den unvorbereiteten Jungen mit dem Stabende an der Schläfe. Benommen taumelte der Jungdrache zurück, um seine Besinnung, mit dem Rauschen in seinen Ohren und den bunten Punkten in seinem Sichtfeld ringend. Kaum einen Augenblick später rammte ihm der Krieger die Rückseite der Sensenklinge in sein ungeschütztes Abdomen, trieb ihm mit einem gleich darauf folgenden Schlag gegen den Solarplexus die Luft aus den Lungen – ein kräftiger Stoß unter sein Kinn beförderte ihn schließlich rücklings zu Boden, ins Aus. „Eldsvoði!“ Röchelnd und hustend ließ Eldsvoði von seinem Schwert ab. „Lasst euch nie wieder hier blicken“, grollte der Erddrache kalt und schulterte seine Sense. Dann wandte er sich um und setzte ohne Schwierigkeiten die Steilklippen hinauf. Das nächste Mal wird er sich zweimal überlegen, ob er einen Unbekannten so blauäugig und arrogant herausfordert... *** Am Horizont verblasste langsam der letzte rosige Streifen Tageslicht in der Dämmerung der anbrechenden Nacht, und Eldur blickte bang zum samtenen Firmament empor, an dem sich neben den ersten bleichen Sternen das runde Antlitz des Vollmondes abzuzeichnen begann. Beunruhigt musterte Eldur den kafteinn von der Seite; seine verkrampfte Haltung und die steifen Züge verrieten seinen innerlichen Kampf mit sich selbst, um seine Fassung, seine Glaubwürdigkeit als Krieger. Es war nicht einfach für ihn. Dennoch traute sich der Heiler nicht, seinen Genossen nach seinem Befinden zu befragen, geschweige denn sich zu erkundigen, ob dieser glaubte, den Auftrag – rein nervlich betrachtet - erfüllen zu können. Seine Anspannung übertrug sich sogar auf die Pferde. Im Laufe des Tages hatte sein Wallach mehrmals gescheut, wahrscheinlich aus eben jenem Grund, und da er sich ohnehin nicht für einen guten Reiter hielt, hoffte er, dass ihm die Blamage eines Sturzes erspart bleiben würde. Gedankenversunken starrte Eldur in die leuchtenden Flammen des kleinen Feuers, bedachte Logis Rücken ab und an mit einem prüfenden Blick aus den Augenwinkeln. Viel mehr als das konnte er von dem kafteinn in der Finsternis nicht ausmachen. Bizarre Schatten tanzten über den schwarzen Stoff seines Mantels, wie Gespenster, Geister aus jener Nacht der Vergangenheit, die ihre Klauen nach ihm ausstreckten und die Fänge bleckten, nach seinem Verstand trachteten, ihn zu zermürben gierten. Die Last seiner vermeintlichen Schuld war erdrückend. Sollte der Soldat hier und jetzt einen Zusammenbruch oder eine Panikattacke erleiden, irgendetwas dergleichen, dann- Gnade mir Gott. Was konnte er tun...? Er fühlte sich hilflos, schwach, nutzlos. Eldur seufzte leise, schlang die Arme um seine Knie. Machtlosigkeit fügte sich in die Reihe von Empfindungen ein, die er gleichermaßen hasste und fürchtete, die an seiner Selbstbeherrschung nagten und ihn an das Limit seines Denkvermögens drängten. Wie er sich in einem solchen Zustand auch noch Logis Depression annehmen sollte, war ihm ein Rätsel. Wahrscheinlich behielt herforingi Fölskvi im Endeffekt Recht. Mehr Zeit zum Eigenstudium, Literatur und allgemeine Studien... Vertrackt. „Willst du drüber reden?“ fragte der Heiler zaghaft nach, zweifelnd, was aus einem Gespräch, falls es zustande kommen würde, resultieren konnte. Logi und Worte. Da passte eines nicht zum Anderen. „... nein.“ Ich kann nicht. Unwillkürlich krampfte der Soldat die Finger in seine Oberbekleidung, unterdrückte ein Aufkeuchen. Seine Narben schmerzten. Schlimmer als zuvor, keiner seiner Alpträume war vergleichbar mit der Intensität der Wirklichkeit, mit dem Vollmond und dem sternenklaren Himmel der Mongolei, seine Verantwortungslosigkeit und den anklagenden Gesichter seiner einstmaligen Kameraden... „Man fragt sich, wieso sowas geschieht“, wisperte Eldur dumpf, zu sich selbst, „aber meistens ist der Grund zu trivial, zu unbedeutend, als dass man ihm Glauben schenken würde. Oder wollte.“ Vielleicht musste er schlichthin einen anderen Ausgangspunkt wählen, auch, wenn ihm dies ziemlich widerstrebte; die Preisgabe einer persönlichen Erfahrung erachtete er als den höchsten Einsatz, mit dem er pokern konnte. Zugegeben, mit der relativen Sicherheit, dass Logi es niemandem weitererzählen würde. Wem...? Außerdem ertrug er es nicht, das Leid, den Schmerz, der ein fühlendes Wesen nach und nach zerbrechen ließ. „Es tut weh, ähnlich einem Phantomschmerz. Selbst wenn man keine oberflächlichen Narben davon trägt, auf der Seele lasten sie wie ein eingraviertes Memento.“ Stimmen, Bilder, Gerüche – Kleinigkeiten in der Erinnerung. Sie reichten aus, um jemanden tagelang, nächtelang zu martern und zu quälen, in die Schlaflosigkeit zu verdammen, Aggressionen zu schüren, die in Verzweiflung mündeten... Phantomschmerz...? Er durchlebte genau dasselbe. Entkräftet presste der Heiler seine Stirn gegen die gefalteten Hände. „Wieso gerade du...?“ fuhr er tonlos fort, die selbe, ewige Frage aussprechend, die sich nahezu alle vom Schicksal gebeutelten stellten. Wieso ich? „Das hat im Grunde nichts mit dir, nichts mit deiner Persönlichkeit zu tun, es ist oft nur Pech. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Zufall.“ Weil ich schlechter, unwürdiger, ein verdorbenes Individuum bin? Weil ich eine Sünde begangen habe, ohne es zu wissen? Es ging nicht um Logi. *** Verschlafen blinzelte Eldur in die viel zu hellen Strahlen der Morgensonne, nicht gänzlich sicher bezüglich seines momentanen Aufenthaltsortes, rieb abwesend über die unter den Fingerkuppen vage spürbaren Abdrücke, die die Falten in seinem Ärmel auf der Haut seiner Wange hinterlassen hatten. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wann oder wie er gestern Nacht überhaupt eingeschlafen war. „Gott, is' mein Nacken steif...“ jammerte er vor sich hin, ein undeutliches Nuscheln, das nicht wirklich an irgendjemanden gerichtet war. Gähnend setzte er sich auf, um sich der Richtigkeit der jüngsten Ereignisse in seinem Gedächtnis zu vergewissern. Mongolei. Auftrag. Logi... Ihre Pferde grasten in einiger Entfernung. Und seine Begleitung... Apropos steif – Logi wirkte ungefähr so entspannt wie ein gut gezurrter Stolperdraht, immer noch, nun aber mit der Hand an seinem Anderthalbhänder, und wenn der Heiler ihm jetzt zu nahe kam, musste er wohl um seinen Kopf bangen. Der Vormittag, getüncht in beidseitige Schweigsamkeit und Langeweile, aus verschiedenen Gründen, verstrich unangenehm schleppend und die stumme Spannung zwischen ihnen wurde unerträglich, während die Sonne über den makellos blauen Himmel wanderte. Eldur verleibte sich gerade die Hälfte seines Proviants mit einem überdurchschnittlich gesunden Appetit ein, als ihm ein eiskalter Schauer die Wirbelsäule hinab jagte, ihn unwillkürlich erschaudern ließ. Der Bissen Dörrfleisch blieb ihm sprichwörtlich im Halse stecken. Was zur Hölle...? Obgleich ihn der befremdliche Impuls lediglich gestreift hatte, nistete sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend ein, nachdrücklich, penetrant, das selbst nach mehreren Stunden nicht weichen mochte. Unheimlich. Ob Logi es ebenfalls wahrgenommen hatte? Dessen unantastbare Miene verriet nichts; wobei der Feldheiler das sowieso nicht als Maßstab in Betracht zog. Einbildung...? Dafür hatte es sich eigentlich zu real angefühlt. Seine Hände zitterten. Befangen hob Eldur den Kopf, momentan im rauen Gras der Ebene kniend, und ganz und gar nicht glücklich über die Gegebenheiten. Nervös blickte er umher, suchte den Horizont nach den winzigsten Anzeichen einer Bewegung ab. Die relativ frischen Hufspuren im Boden führten exakt in die Richtung, die auch sie einschlugen, implizierten durch ihre Größe und Tiefe eine akute Gefahrenquelle in nächster Nähe. Das Pferd musste ein riesiges Tier sein, beschlagen, und sicher kein gewöhnliches, vielleicht ein Dämon, sein Reiter jedoch bereitete ihm ärgere Sorgen: entweder waren es zwei, was er aufgrund der verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit wieder verwarf, oder es war ein über die Norm schwer bewaffneter Krieger. Was man mit sich herumtragen musste, um eine derart tiefe Spur zu verursachen, wollte sich Eldur nicht vorstellen. Auf eine Begegnung mit der verantwortlichen Person konnte er getrost verzichten, davon abgesehen, dass Logi jene Aufregung ebenso wenig verkraften würde. Und dann stand mit einem Mal die Zeit still. Die Pferde stoppten abrupt und rührten sich nicht mehr, die Nüstern gebläht und die Flanken schweißnass. Sie bebten vor Angst und schließlich erfasste die Woge der gewaltigen Feuerpräsenz auch Eldur, übermannte ihn regelrecht, bemächtigte sich seiner Muskeln, seiner Wahrnehmung. Wie gelähmt verharrte er, hörte nichts als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, den rasenden Herzschlag, der in seiner Brust widerhallte, seinen flachen Atem. Sein Verstand revoltierte. Weg von hier! Flieh, wenn du nicht sterben willst! Flieh, flieh! Du armseliger Narr. Vor seinem geistigen Auge versank die Welt um ihn herum im grellen Feuerschein eines höllischen Infernos, das jegliche Materie unersättlich verschlang, gefangen in den Klauen einer jahrhundertealten Macht, chaotisch, mörderisch, allumfassend. Feuer, das Feuer vertilgt. Panisch forderte sein Instinkt ihn zur Flucht auf, versuchte hartnäckig, ihn zur Raison zu rufen. Erfolglos. Nur eine Warnung. Entsetzt registrierte er, wie der kafteinn indessen von seinem Pferd stieg, sein Ausdruck distanziert und vollkommen verschlossen, und gefassten Schrittes weiterging. Was sollte das werden? Wohin...? Wollte er etwa...?! „...“ Sogar seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst, seiner zugeschnürten Kehle mochte sich kein Laut entringen. Er ist wahnsinnig, das ist glatter Selbstmord. Logi verstand nicht, was er im Begriff war zu tun. Oder warum. Nichtsdestoweniger hegte er weder Furcht noch Scheu, seine Unwissenheit beunruhigte ihn nicht, und er vermeinte die Empfindung wiederzuerkennen, die ihn unbarmherzig vorwärts trieb, entgegen aller Vorsicht – wie in Trance schritt er voran, im Bann des fremdartigen Einflusses, fernab jeglicher Rationalität. Jemand ruft mich, meinen Namen... Sein schier willenloser Gehorsam glich einem inneren Zwang, er musste sich jenem Impuls fügen und dem Klang der Stimme, deren Resonanz so vertraut seine Seele berührte, folgen. Formlos, gesichtslos, ohne konkrete Merkmale, und dennoch, das Gefühl, als kenne man ihren Ursprung bereits sein gesamtes Leben lang... Ehrfurcht beseelte seine Bewegungen. Alsbald hob sich in der Distanz, vor dem blassen Horizont, ein tiefroter Schemen ab, und je näher er diesem kam, je mehr die zunächst verschwommenen Konturen mit ihrem Hintergrund kontrastierten, desto intensiver erfuhr er die wellenförmigen Energien elementarsten Feuers. Dann hielt er inne, die Quelle des kuriosen Spuks in Sichtweite. Ein Feuerdrache. Und was für ein gewaltiges Exemplar eines solchen! Die wahre Gestalt des Feuerdrachen war mindestens doppelt so groß wie die eines gewöhnlichen, ausgewachsenen Artgenossen, der monströse Rumpf mit schwarz geränderten Schuppen gepanzert und mit Dornen gespickt. Unlängst hatte ihn das Ungetüm bemerkt, beobachtete ihn aus violetten Iriden, nicht einmal bemüht aufzustehen, seine schlitzförmige Pupillen durch die Helligkeit starr und schmal. Unbeirrt bettete es den Schädel wieder auf das kurze Ebenengras, streckte die Flügel von sich und frönte wieder seinem ausgiebigen Sonnenbad. Offensichtlich klassifizierte es den kafteinn nicht als Bedrohung. Logis Blick weilte auf dem Körper des Monstrums, und er wusste augenblicklich, woher die nahezu weiße Färbung seines Rückens rührte. Narben. „Wer bist du?“ donnerte der tiefe Bass des männlichen Feuerdrachen, scheinbar desinteressiert, durch seinen Verstand und der kafteinn schrak unvermittelt zusammen. „Ich...“ Sprachlos, und es war nicht das erste Mal, dass ihm die Worte fehlten, dass er all den Gedankenfetzen und kurzfristigen Erkenntnissen in seinem Kopf verbal keinen Ausdruck verleihen konnte, was er als ausgenommen demütigend und frustrierend empfand. „Niemand“, presste er letztendlich hervor, hilflos, und ihm war, als würde der Feuerdrache daraufhin das Maul zu einem wölfischen Grinsen verziehen. Mokierte er sich über ihn? Selbst wenn, es spielte keine Rolle. Nicht für ihn, und was scherte Logi die spöttische Reaktion eines Unbekannten? Bedeutungslos, eine Nichtigkeit. Zudem vermittelte ihm das Wesen des Feuerdrachen simultan etwas gänzlich anderes: die mentalen Impressionen eines Zeugen vergangener Zeitalter, der die Jahrhunderte überdauerte, gezeichnet und gebrandmarkt, sein Leben war ihm auf den Leib geschrieben, erkannte der Soldat, und es handelte sich dabei nicht um eine schöne Geschichte. Logi schluckte, überwältigt. Fasziniert. Der unleugbare, der lebendige Beweis für die Ursprünge ihrer Rasse, einer der wenigen, die Helvítis Herrschaft, seinem Aufstieg und seinem Fall, beigewohnt hatten, sein Erfahrungsschatz unersetzlich, ein kostbares Relikt. *** Grasmücken pfiffen in den niedrigen Dornenbüschen, das einzige Geräusch in der weiten, stillen Ebene. Ruhe. Angst und Hoffnungslosigkeit. Betroffenes Schweigen herrschte unter den wenigen Männern und Frauen der kleinen Gruppe, Flüchtlinge, die hier, fernab von Straßen und Behausungen kampierten, vertrieben aus ihrer Heimat, den inneren Gebieten der Mongolei, und noch immer hing der Geruch von Kampf und Blut in der Luft. Noch immer mussten sie die Häscher des selbst ernannten leiðtogi der Feuerdrachen fürchten, der grundlos über ihre mongolischen Brüder und Schwestern hergefallen war. Ein Ereignis, das wohl keiner von ihnen bald vergessen würde. Der jugendliche Feuerdrache, der bis dahin reglos etwas außerhalb des Lagers gesessen hatte, in Rüstung und bewaffnet, hob mit einem Mal den Kopf, die verschleierten Iriden unfokussiert, und der Blick in eine unwirkliche Ferne gerichtet. „Da kommt jemand“, bemerkte er sachlich, woraufhin ihn eine seiner älteren Begleiterinnen besorgt musterte. Seit ihrer schicksalhaften Begegnung mit den Soldaten aus dem Süden war das Kind nicht wiederzuerkennen, nicht unbedingt verstört, doch... ... verändert. Teilnahmslos. „Was? Bist du sicher?“ meldete sich ein anderer Genosse zu Wort, ein ehemaliger Krieger der Streitmacht, der seine Skepsis freiweg demonstrierte. „Ich kann sie hören“, ergänzte der Jugendliche mit leiser Stimme, und die Umstehenden tauschten verunsicherte Blicke untereinander; zu widersprechen traute sich nach dieser Aussage niemand von ihnen. Der Pfeil, der um Haaresbreite den Kopf des Heilers verfehlte und lediglich seine Wange streifte, beendete dessen langatmige Anekdote über die Vorteile vegetarischen Alternativproviants auf dem Schlachtfeld, endlich, und Logi hätte erleichtert aufgeatmet, wäre ihm die Zeit dazu geblieben. Anstatt dessen übernahm sein Kriegerinstinkt die Kontrolle, aus den mannigfaltigen Erfahrungen seines langjährigen Soldatentums heraus, und er reagierte, das überflüssige Nachdenken aus Gewohnheit vernachlässigend. Und während er dem feindlichen Angriff durch einen gewagten Hechtsprung vom Pferd entrann, den abschüssigen Hang hinunter geschickt abrollte, rührte der naive Fuchs keinen Muskel, erstarrt wie ein verängstigtes Karnickel, ein unbewegliches, leichtes Ziel für ihre noch unerkannten Angreifer. Besaß dieser Idiot von Refur denn nicht einen winzigen Funken Überlebenstrieb...? Anscheinend nicht. „Runter vom Pferd!“ befahl Logi barsch, doch Eldur schien dies nicht erreichen zu können. Im anschwellenden Pfeilhagel saß er nicht ab, klammerte sich krampfhaft an sein nervös umher tänzelndes Reittier, und selbst, als es ihn in seiner Panik abwarf und davonstob, ging er nicht in Deckung. Erst, als sich einer der dilettantisch abgeschossenen Pfeile durch seine linke Schulter bohrte, begriff er den Ernst der Lage und kam letztendlich zur Besinnung. Behände sprang er auf, leistete nach kurzweiligem Zögern dem Wink des kafteinn Folge und stolperte ungraziös den sanft abfallenden Abhang hinunter, heraus aus der unmittelbaren Schusslinie der Amateurschützen. Keuchend sank er neben Logi ins Gras, bebend und mit schockgeweiteten Augen, brachte seine zitternden Finger an die verletzte Schulter. Blut benetzte seine Fingerkuppen, heiß und rot. Als er den Pfeil dann mit einem beherzten Ruck entfernte, konnte er ein Wimmern nicht zurückhalten. „Verdammter Dreck“, fluchte er atemlos, und der hölzerne Pfeilschaft entglitt seinem Griff. Logi würdigte das Geschoss eines Seitenblickes, und dieser reichte vollkommen aus: ein mongolischer Pfeil, schmal und lang, mit hoher Durchschlagskraft, wenn er von einem ihrer berüchtigten Reiterbögen abgeschossen wurde. Töten oder getötet werden. Ein Angriff ohne Provokation, und der Soldat wunderte sich nicht darüber, wenn er bedachte, was mit der Zivilbevölkerung der mongolischen Feuerdrachen geschehen war; auf wessen Geheiß jenes Blutbad angerichtet wurde, wusste er nicht genau, aber er bezweifelte nicht, dass dieses morbide Werk dem neuen leiðtogi oder einer militärischen Führungspersönlichkeit eines der anderen Reiche anzulasten war. Für Friedliebigkeit war der Clan der Feuerdrachen ohnehin nicht bekannt. Ihr Wesen glich dem des Feuers. Roh, aggressiv, zerstörerisch. Eldur fiel immer weiter zurück. Er schnaufte mittlerweile wie nach einem mehrstündigen Marathonlauf, Logi konnte das harsche Atemschöpfen hinter sich hören, er schwankte und lief Schlangenlinien als hätte er zu viel Reiswein intus. Entnervt von so wenig Kondition und Durchhaltevermögen, so wenig Willen, verlangsamte der kafteinn seine Schritte. Sie konnten sich mehr als glücklich schätzen, nicht verfolgt zu werden... „Was ist?“ hakte er schroffer als beabsichtigt nach, und ihm schwante Übles, als der Heiler näher kam und beinahe vornüber kippte, der Soldat ihn – notgedrungen, und nicht frei von Vorbehalten – auffing, bevor er stürzte. „Hey“, setzte der Soldat unbeholfen an, versucht, den schlaffen Körper in seinen Armen einigermaßen aufzurichten. Dessen Blick ging geradewegs an ihm vorbei: „Lass los... ich-“ „Halt den Mund“, fuhr ihn Logi daraufhin an; der Feldheiler fieberte, bereits auf dem besten Weg ins Delirium, und dennoch wollte er seinen Zustand offenbar nicht wahrhaben. Damit half er ihnen beiden nicht - eher im Gegenteil, er verkomplizierte die Angelegenheit maßgeblich. Und sein Zustand verschlechterte sich rasch. Wenig später lag der Feldheiler, gemartert von Fieberkrämpfen und Schüttelfrost, im Gras der Ebene und rang kläglich um jeden Atemzug, schweißgebadet, Tränen der Pein bildeten sich in seinen Augenwinkeln. Alles in allem gab er ein erbärmliches Bild ab. Ein Anblick, den der kafteinn kaum ertrug. Logi erlebte sich abermals überfordert, unfähig, nur einen rationalen Gedanken zu fassen; er wusste nicht, was er tun sollte, scheiterte sogar an der Versorgung von Eldurs sekundärer Schulterverletzung. Konfus und mit zitternden Händen kauerte er neben dem Heiler unter einem unscheinbaren Felsvorsprung und verstrickte sich immer mehr in seiner Verzweiflung und Machtlosigkeit, erinnert an sein Nichtstun während des nächtlichen Vorfalls an der Grenze, das allen seinen Kameraden, ausnahmslos, das Leben gekostet hatte. Verantwortungslos. Wenn er es recht bedachte, war er derjenige, der sich hier erbärmlich verhielt, und nicht der Fuchs, der gegen die Übermacht des Pfeilgiftes kämpfte. In Logis Augen von Anfang an vergebens, der Kampf, den er ausfocht, war aussichtlos, Todeskampf, und dem eher schmächtigen Eldursdreki schwanden unlängst die Kräfte dahin. Lediglich eine Frage der Zeit. „Wieso...“ flüsterte der Soldat tonlos, in die Dunkelheit hinein, die seinen Verstand, seinen Geist, umgarnte. Hoffnungslos, verloren. Wieso traf es ihn? Hatte er mit seinem blutigen Lebensstil sein Recht auf Fairness verwirkt? War das die Strafe für seine Frevel? Er begriff nicht. Er verstand nichts mehr. Was sollte das? Wieso gerade er? Wann hatte ihn das letzte Quäntchen Glück verlassen, denn das, was ihm widerfuhr, konnte man doch mitnichten noch Zufall nennen - oder? Verstört raufte er sich das Haar, schüttelte immer wieder den Kopf, um die penetranten Impressionen der jüngsten Vergangenheit zu verscheuchen, die Augen fest vor der Wirklichkeit verschlossen. Logi konnte nicht mehr. Der Himmel schien über ihm einzubrechen, die Ordnung des Systems kollabierte, und er stieß einen animalischen Schrei aus, ehe er schluchzend in sich zusammen sank und dem Maelstrom der tobenden Agonie in seinem Herzen freien Lauf ließ. „Logi...“ Der Angesprochene spürte, wie Eldur seine Hand ergriff, die heiße, viel zu heiße Haut. Apathisch beschrieb Logis Zustand am adäquatesten. Seine stoische Ruhe war Fassade, und dahinter verbarg sich die reine Resignation. Er hatte sich nicht beruhigt, sondern gefügt, aufgegeben. Kapituliert. Nicht mehr lange. Unterdessen wurde Eldurs Atmung immer schwächer, versiegte allmählich. Der kafteinn hielt seine Hand, hatte den Kopf des Heilers in seinen Schoß gebettet. „Keilir war's.“ Seine Lüge, sein Verdrängen der Wahrheit hatte ihn nirgendwohin geführt. Wieso er gelogen hatte? Dafür hatte er keine befriedigende Erklärung. Hatte er unterbewusst Keilir schützen wollen? Oder ausschließlich sich selbst, indem er die wahren Begebenheiten leugnete? Gleichgültig. Logi schwieg einen Moment, bevor er seine monotone Aussage murmelnd wieder aufgriff und erweiterte: „Er ist... war mein bester Freund, seit... schon immer. Mit ihm im Rücken habe ich mich sicher gefühlt, und jetzt, trotz allem... gerade er. Ironisch, huh...? Wegen dem dubiosen Versprechen eines Unbekannten über Ansehen und Geld und einen höheren Rang.“ Keilir und seine Kumpanen waren die Verräter, Kameradenschweine – nicht er. Es tatsächlich auszusprechen schmerzte, die Worte kamen ihm schwerlich über die Lippen, und dennoch fühlte es sich endlich, endlich richtig an. Jenes Gefühl der Befreiung, die Gewissheit, nun letztlich die Fakten zu erkennen, ohne Verwirrung und falsches Schuldbewusstsein. „Ich bin so ein verdammter Idiot...“ gestand er kaum vernehmlich. *** Im Nachhinein schalt er sich selbst für seine Kopflosigkeit. Er hätte es eigentlich bemerken müssen. Die Totlast, die er nunmehr auf seinem Rücken querfeldein durch die Einöde schleppte, und welche definitiv noch atmete, war der lebendige Beweis für sein persönliches Debakel. Nicht genug, dass er sich gehörig blamiert hatte, nein, jetzt hatte dieser Stümper zu allem Überfluss etwas Konkretes gegen ihn in der Hand, etwas, womit er ihn durch einen verkehrten Ton mühelos aufs Schafott bringen konnte. Sein Kopf würde eher über den Marktplatz rollen, als er Refur den Hals umdrehen und aus dem Land fliehen könnte... Zu Unrecht. Er hatte es nicht aus Bosheit getan. Wozu hätte er, wenn er sich dessen bewusst gewesen war, was ihm an Konsequenzen blühte? Als ob es nicht hinlänglich anstrengend und Nerven zehrend war, ohne eine Karte oder einen Kompass, ohne Ausrüstung durch die karge Wildnis der Mongolei zu wandern; nach einer Weile musste er sich, nachdem Refur wieder zu Bewusstsein gekommen war und festgestellt hatte, dass er noch unter den Lebenden weilte, zusätzlich dessen Gejammer anhören. Sätze wie „Logi, meine Schulter tut weh.“, „Logi, ich hab Durst.“ oder „Logi, wann sind wir da? Mir ist langweilig.“... Die Kopfschmerzen stellten sich von alleine ein. Ganz zu schweigen davon, dass der Heiler wesentlich mehr wog, als der kafteinn anfänglich angenommen hatte. Logi schluckte seinen Missmut hinunter, hütete sich davor, seine Beschwerde zu verlautbaren. Schlichthin nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Eldur behielt Recht: so schnell würde er ihn nicht loswerden. Selbst wenn er gewollt hätte. „Logi... Du musst mich nicht tragen, ich kann...“ murmelte Eldur halblaut zwischen Wachen und Schlafen, und die Muskeln in seinen Armen entspannten sich rasch wieder. „Du kannst was?“, grummelte der Soldat bissig, „Sei verdammt nochmal still.“ Widerspruch erhob der Heiler nicht, zu erschöpft, um sich auf ein sinnloses Wortgefecht mit dem missgelaunten kafteinn einzulassen, und gleichermaßen zu sehr einvernommen von der Wärme und der Sicherheit, die ihm eben dieser augenblicklich vermittelte. Das Schweigen stellte sich wie selbstverständlich zwischen ihnen ein. „Logi...?“ „Was.“ „Ich werd's nicht weiter erzählen. Ehrlich.“ *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)