Verbrannte Erde von Hrafna (Aus dem Leben eines Soldaten) ================================================================================ Kapitel 8: Akt.IV *** Gespenster der Gegenwart: Illusorische Katharsis ---------------------------------------------------------------------- Glossar: "kafteinn" bedeutet "Hauptmann" "herstjóri" bedeutet "General" "leiðtogi" bedeutet "Anführer" "ofursti" bedeutet "Oberst" Projekt X 2008: Verbrannte Erde Aus dem Leben eines Soldaten Akt.IV *** Gespenster der Gegenwart: Illusorische Katharsis „Hey.“ Nichts. „Eldsvoði.“ Keine Reaktion. „Wach.Auf.“ diktierte die nicht mehr allzu lieblich klingende Frauenstimme gefährliche nahe an seinem Ohr. Dennoch hörte sie sich für ihn noch etwas zu gefasst, zu mild an, als dass er in Erwägung gezogen hätte, sich aus seinem komatösen Rauschzustand empor zu kämpfen. Die Schwerelosigkeit, die ihn in ihre süßen Fäden wob, ihn lockte, mit zärtlichen Fingern liebkoste, verführte ihn aufs Neue und er dämmerte wieder in die Bewusstlosigkeit, die Wonne der Vergessenheit hinweg… Bis irgendetwas Hartes gewaltsam mit seinem Kiefer kollidierte, möglicherweise eine leere Tonflasche, und demzufolge ein ungesundes Knirschen durch seinen vernebelten Schädel dröhnte. Ob er um seine Zähne bangen sollte…? „Komm zu dir, du besoffener Penner!“ schallte es durch die gesamte Herberge, und er schlug gezwungenermaßen die Augen auf, keuchend und nach seinem lädierten Unterkieferknochen tastend. Die Faust des Zorns, zweifellos. Askas Signatur. „Was los…?“ lallte er halblaut, seine Zunge und Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Elende Verräter. „Elds-vo-ði!“ rügte sie ihn nachdrücklich, und erst in diesem Augenblick bemerkte er das Zerren an seinem Arm, und er hoffte halbherzig, dass Aska ihm damit nicht die Schulter auskugeln würde. Das wäre vergleichsweise schlecht. „Herrgott, Eldsvoði, muss ich deinen Namen ausbuchstabieren oder warum läuft’s nicht?!“ Nach ungefähr einer Stunde ununterbrochenem Schreien und Zetern ließ sich Aska erschöpft neben ihm auf den Boden sinken, trat die Keramikschalen zur Seite und stieß ihm misslaunig den Ellbogen in die Flanke. Sie kapitulierte. „Hörst du mich?“ Eldsvoði gab einen unbestimmten Laut von sich, rang mit der Übelkeit, die seinen Magen überwältigte. „Tee?“ fragte sie beinahe sacht nach, strich ihm zärtlich über die blasse Stirn und durchs Haar. Zu betrunken, um einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Oder er wandelte wieder auf einem seiner berüchtigten Drogentrips. Der Unterschied war verschwindend gering. So ein Idiot. *** Eldur hasste Missionsberichte. Der im Aufschwung befindliche Bürokratismus, ein Apparat geschaffen von der Heeresleitung zur Maximierung der Kontrolle, ein System, das Gesetze und Regeln über Rechte und Bedürfnisse, über das Wohlergehen des Individuums, gleich seiner Position, stellte; er zerstörte die ursprüngliche Dynamik zwischen Soldaten und deren Vorgesetzten, raffte das traditionelle Wesen des Clans und seiner Streitkräfte dahin. Eine bedenkliche Entwicklung, befand er im Stillen. Seufzend schlurfte der Heiler den halbseitig offenen Gang entlang, den sorgfältig gestalteten Garten nach japanischem Vorbild versonnen betrachtend. Das geruhsame Plätschern des kleinen Teiches und das Rauschen des Windes in den Ziersträuchern registrierte er am Rande seines Bewusstseins, in Gedanken versunken. Logis Rohheit beunruhigte ihn noch immer… Hinter der nächsten Biegung hielt er inne, klopfte zögerlich an die geschlossene Schiebetür. „Herein!“ Geneigten Hauptes trat Eldur ein, unwillig, steif, verbeugte sich förmlich. Als er niederkniete und anschließend aufblickte, staunte er nicht schlecht: auf dem Holzboden des sonnendurchfluteten Raumes saß, nachlässig im Schneidersitz, herforingi Fölskvi. Es war mehr als ungewohnt, ihn nicht in Militärstracht zu sehen, und die hellen, weiten Gewänder akzentuierten die für ihn ungewöhnliche Blässe seiner Züge. „Herforingi, Ihr…?“ Der Soldat begrüßte ihn lächelnd - vermochte damit jedoch nicht die gewichtige Müdigkeit zu verbergen, die sein Gesicht prägte. „Keine Sorge, ich bin nicht zum Beamten befördert worden. Zum Glück. Nur vorübergehend vom aktiven Dienst suspendiert“, erklärte Fölskvi kurzerhand und forderte ihn mit einem nonchalanten Wink auf, näher zu kommen. „Aus gesundheitlichen Gründen…?“ hakte er befangen nach. Dem Kompanieführer entging keineswegs der wache, analytische Blick seines Genossen, und eine flüchtige Warngestik seinerseits genügte, um ihm das Tabu um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen. Demgemäß verbat Eldur sich wohlweislich eine weitere Anmerkung in dieser Richtung. „Und? Wie ist’s gelaufen?“ verlangte der herforingi dann in einem lässigeren Ton zu wissen, die Hände in seinem Schoß gefaltet: „Die meisten haben darauf gewettet, dass du nicht einmal in einem Stück wiederkommst.“ Eldur legte den Kopf schief. „Wie meinen…?“ „Wie hat sich Logi während der Mission angestellt?“ Nachdenklich fuhr sich der Heiler durchs Haar, zauderte mit seiner Antwort, denn ihm war bewusst, was seine Worte anrichten konnten, wenn er sie nicht mit Bedacht abwog und wählte. „An seinen soldatischen Fähigkeiten zweifle ich nicht. Er ist flexibel, sehr ruhig, und… er tut, was man ihm sagt“, meinte er letztlich, die Respektlosigkeit des kafteinn in solchen Angelegenheiten vorsätzlich unterschlagend. Fölskvi durchschaute ihn augenblicklich, und die dunkelgrünen Iriden blitzten: „Soso. Hör zu, Eldur. Ich will keine Fragestunde veranstalten, und unter uns: du bist ein mieser Lügner. Ich will hören, was du über ihn denkst. Ernsthaft – ob er in der Lage ist, die Aufgaben, die sein Rang verlangt, weiterhin auszuführen oder ob er eine Gefahr für seine Umwelt darstellt.“ Missmutig presste der Feuerdrache die Lippen aufeinander, fügte sich aber gleichermaßen dem Befehl des Höherrangigen. „Ich denke, der Vorfall in der Mongolei belastet ihn ziemlich. Er sondert sich ab. Sein körperliches Wohl interessiert ihn überhaupt nicht, er ist unvernünftig und respektlos und vollkommen unkommunikativ. Zudem fürchte ich… dass er gefährlich ist, überdurchschnittlich gewaltbereit. Dabei psychisch labil. Die Sicherheit in seiner Nähe würde ich nicht unbedingt garantieren. Um ehrlich zu sein, ich würde ihn in ärztliche Obhut empfehlen.“ Abwesend begutachtete Fölskvi die Schattenmuster auf dem lichten Holzdielen, das karierte Spielfeld auf dem niedrigen Tisch vor ihm, darüber amüsiert, dass Eldur gerade die Gewaltbereitschaft des Frontsoldaten dergestalt unterstrich. Wie heillos naiv konnte man sein? Entzog es sich tatsächlich seinem Wissen, durch welche Verdienste und Leistungen man sich im Militär eine bessere Stellung zu sichern vermochte…? „Hat er eine Chance? Oder ist er ein hoffnungsloser Fall?“ richtete er sich wieder an Eldur, die Stimme träge und beschwert von seiner physischen Erschöpfung. „Mit viel Arbeit sehe ich für ihn durchaus Aussichten auf Erfolg“, erwiderte sein Gegenüber prompt, als würde er seine aufrichtige, aber negativ behaftete Einschätzung des kafteinn bereuen, „Er ist kein gestörter Meuchelmörder mit einem bis zur Unkenntlichkeit verdorbenem Charakter, er-“ Ich verdanke ihm mein Leben. Eldur brachte es nicht heraus. „Er hat sich seinen kameradschaftlichen Geist bewahrt.“ „Hm, verstehe. Gut. Viel Spaß!“ Verwirrt sah ihn der Feldheiler an: „Huh…?“ Vergnügt grinsend wedelte der herforingi etwas unbeholfen mit der schwarzen Springerfigur zwischen seinen Fingern, ehe er sie auf das Feld setzte. „Ärztliche Betreuung und so. Das kann ich bedenkenlos dir überlassen.“ Der Ausdruck des jüngeren Drachen entgleiste. „…“ „Auf eine Partie…?“ Die Tür zum Privatbereich des Zimmers war halbwegs aufgeschoben. Vor dem zerwühlten Lager stand ein Tablett mit zahlreichen, reichlich gefüllten Schüsseln und Schalen, die weitaus mehr entsprachen als der üblichen Tagesration eines Kriegers, und Eldur musste nicht zweimal hinsehen, um einen korrespondierenden Schluss daraus ziehen zu können. Fölskvi hatte die Mahlzeit nicht angerührt, und auch dem Papiertütchen neben seinem Kissen hatte er keine Aufmerksamkeit gewidmet. Als er den herforingi im letzten Spätherbst kennen gelernt hatte, blutüberströmt und fluchend, weil er sich im Gefecht den gesamten rechten Arm aufgerissen hatte, war ihm nichts dergleichen aufgefallen… Es fiel ihm ausgesprochen schwer, das Thema auszuschweigen und sich nicht besorgt dazu zu äußern. Allerdings hatte ihn die erbitterte Härte in den Augen seines Kameraden eines besseren belehrt – eine unmissverständliche Verwarnung. „Woher kennt Ihr ihn?“ „Wen…?“ Er räusperte sich, perplex, dass er laut gesprochen hatte. „Logi.“ Der schwarze Turm schlug den weißen Läufer. „Sein Bruder und ich waren im selben Regiment“, gab der Offizier zurück, „Ich habe ihn nach seiner Ankunft hier am Tempel gesehen und mich erkundigt. Die beiden ähneln sich sehr. Mit ihm sprechen durfte ich nicht, Hörvir hält ihn für einen Kollaborateur, paranoid, wie er zurzeit ist.“ Patt. „Ach, und Eldur, noch etwas…“ *** Auf dem Hof begegnete er Brigadier Kopar, und er salutierte verwundert, als dieser wortlos, und nach seinem unleserlichen Gesichtsausdruck zu urteilen, vergrämt, an ihm vorbei marschierte. Zerknirscht, und noch immer etwas konfus, machte Eldur sich auf den Weg zur Kaserne, obschon er ernstlich bezweifelte, dass er Logi dort antreffen würde. Die simple Frage, wohin der kafteinn nach ihrer gestrigen Rückkehr in die südliche Hauptstadt verschwunden war, konnte er nicht beantworten. Herforingi Fölskvi ahnte nicht, wie viel er von ihm verlangte. Womöglich zu viel, fürchtete Eldur insgeheim. Er allein sollte die Verantwortung für Logi und dessen psychische Genesung übernehmen? Dabei besaß der Feldheiler weder die notwendige Erfahrung auf diesem komplizierten Gebiet noch hatte er den Hauch einer Ahnung, wie er mit dem Soldaten im Allgemeinen umgehen sollte, besonders jetzt, nachdem er ihn in blutiger Aktion gesehen hatte, um die Problematik einer anständigen Therapie gar nicht erst anzusprechen. Logis Vertrauen zu gewinnen, sich mental dem stoischen Feuerdrachen anzunähern, sodass dieser es wenigstens tolerierte, und der dazu erforderliche Zeitaufwand, das klang in seinen Ohren bereits wie ein Ding der Unmöglichkeit. Wie sollte er das bitteschön anstellen? Was für eine Schnapsidee. Fölskvi überschätzte seine Fähigkeiten, maßlos, bürdete ihm einen Auftrag auf, eine Pflicht, die er kaum erfüllen können würde. Einerseits stieß es ihm sauer auf, diese Verfügung über seine Person und auch Logis, nach dem Gutdünken eines Einzelnen, der über sie entschied und sie im Grunde zu jeglicher Tätigkeit abkommandieren durfte, die ihm gegenwärtig sinnvoll erschien. Andererseits vermutete er, dass ihm die alternativen Vorschläge in diesem Punkt nicht gefallen würden, dass Fölskvis Motivation keineswegs seiner Spontaneität entsprungen war, sondern auf Kenntnissen gründet, die ihm selbst fehlten. Mit fundierten Auskünften hatte das nichts zu tun, doch es gab Gerüchte, und das zuhauf. Gerüchte über verantwortungslose Heiler, die eine barbarische Inquisitionsmethode entwickelt hatten und nun an Kriegsgefangenen praktizierten, Folter, um das Kind beim Namen zu nennen, die die Informationen aus dem Verstand ihres Opfers extrahierte, und den Betroffenen dabei durch die Hölle und zurück jagte. Der unweigerlich darauf eintretende Tod des Befragten war ein lästiger Nebeneffekt, aber nicht zu vermeiden. Im Sinne der Wissenschaft nahm man es schweigend hin. Ihm wurde schon bei dem Gedanken an sich übel. Als er das zentrale Quartiergebäude, die Unterkunft der niederrangigen Soldaten, erreichte, kam ihm postwendend eine junge Heilerschwester entgegen, sie hatte die dunkelgrüne Binde an seinem Arm entdeckt, ihren flehentlichen Blick der Hilflosigkeit eindeutig auf ihn gerichtet. Sie war am Ende ihres Lateins. „Ein Glück, dass du hier bist“, atmete sie erleichtert auf, sich des vertrauten Per du des Heilkunstordens bedienend, und verneigte sich vor ihm, ihre Stirn gefurcht von Stress, „du musst mir einfach helfen, ich schaff das nicht.“ Eldur lächelte, musterte das hübsche Mädchen gründlich vom Scheitel bis zur Sohle. „Was ist denn los?“ erkundigte er sich mit einem Achselzucken. Gewandt vollführte sie eine Kehrtwende, eine anmutige Bewegung, die ihre Robe bauschte und die schlanken Beine entblößte, und winkte ihn hinter sich her: „Komm mit.“ Nickend, wie in Trance, folgte er ihr, oder eher, ihrem wohlgeformten Rundungen, abgelenkt, und seine Augen nicht unbedingt an der rechten Stelle, und erhaschte während dessen nicht ein einziges Wort aus ihrem Mund. Weißes Rauschen, persistent wie das Meer, insignifikant. So weit, so gut. „Vielleicht hört er ja auf dich“, meinte sie abschließend, ehe sie stehen blieb und auf die Schiebetür des Waschraumes wies. Eldur blinzelte, verwundert von dem abrupten Halt und dem Auftauchen der hölzernen Barriere direkt vor seiner Nase, und rang mit seinem inneren Schweinehund, sich zwingend, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren. „Auf geht’s“, forderte die Schwester ihn mit gehobenen Augenbrauen auf. Dumm war sie nicht, ebenso wenig gutgläubig, sie hatte seine unsittlichen Blicke längst bemerkt. In Ermangelung einer Reaktion seinerseits stemmte sie verärgert die Hände in die schlanken Hüften und funkelte ihn an. „Hör mal, Don Juan“, belehrte sie ihn streng, „hier will sich jemand umbringen, und du verhältst dich wie ein notgeiler Bock. Mann! Tu was!“ „Tut mir leid, ich wollte nicht respektlos sein“, entschuldigte er sich sogleich, trotz der Verlockung einsichtig und sammelte seine Konzentration. „Die Schönheit einer Frau ist die Schwäche eines Mannes“, murmelte er und trat an ihr vorbei. Unschlüssig blickte sie ihn an, sowohl geschmeichelt als auch aufgebracht über seine Taktlosigkeit, und errötete, presste verlegen die Handflächen auf ihre Wangen. „G-geh einfach…“ stammelte sie und überließ ihm mit einer ausladenden Geste das Feld. Behutsam klopfte der Heiler an den Rahmen der Schiebetür. Es war ungewöhnlich, dass ein Soldat zögerte, gemeinhin hatte der verzweifelte Drache seinem Leben längst ein Ende bereitet, wenn das Rettungskorps samt Feldheilern eintrudelte. Zumal die Genossen oftmals über erschreckende anatomische Kenntnisse verfügten. Von wegen Dilettanten. „Hey, kannst du mich hören?“ rief er bedachtsam, um einen möglichst einfühlsamen Tonfall bemüht, „Wir können über alles reden. Bitte!“ Eine verbale Antwort erhielt er nicht, und er hoffte inständig, dass sich sein Kamerad in diesem Moment nicht die Pulsadern aufschnitt. Noch spürte er die Schwingungen seiner Feuerenergie, etwas unstet, doch intensiv, was einen gesunden Herzschlag implizierte. „Nichts kann so schlimm sein“, versuchte Eldur es erneut, nunmehr mit fester Stimme und schob die Tür einen Spalt breit auf. „Selbstmord ist doch keine Lösung!“ Dann stockte er unwillkürlich, erstarrte, als er in das Zimmer lugte. „Wer zur Hölle will sich denn hier verdammt noch mal umbringen?!“ schallte es ihm unwirsch entgegen, und der Heiler grub die Fingernägel in das helle Holz. „Logi?“ Ein Grummeln drang aus der gegenüber liegenden Ecke, und Eldur schritt ohne Umschweife über die Schwelle, traute sich allerdings nicht, sich ihm auf mehr als zwei Schrittlängen zu nähern, gehemmt, die Erinnerungen an dessen berechnende Erbarmungslosigkeit zu präsent. Der kafteinn trug sein Schwert bei sich, hockte halbseitig kniend an der Wand, leicht nach vorne gebeugt, als wollte er seinen Rücken entlasten und war sichtlich nicht erfreut darüber, Eldur zu sehen; seine Haltung, sein Ausdruck sprachen Bände über seinen wohl erbitterten und gereizten Gemütszustand. „Sagst du mir, was los ist…? Oder eventuell, was du hier treibst?“ Logis Blick schweifte ab, und er nuschelte irgendetwas Unverständliches, das halblange rote Haar fiel ihm ins Gesicht, überschattete seine Züge. Ratlos schaute Eldur ihn an. Das verlangte Improvisation. Dementsprechend hielt er zunächst an seiner intuitiven Vermutung fest: „Schmerzen?“ Der Angesprochene brummte widerwillig, deutete ein vages Nicken an. Oder er bildete sich das ein. Jedenfalls besser als kein Hinweis. „Wo?“ spezifizierte der Heiler geduldig. „Keine Ahnung.“ Was hatte er auch erwartet? Mit einem dumpfen Seufzer machte er vorsichtig einen Schritt auf Logi zu und ging auf die Knie nieder, sich der rabenschwarzen Iriden gewahr, die ihn argwöhnisch taxierten. „Kannst du aufstehen?“ Er wich ihm hartnäckig aus, sträubte sich gegen seine Hilfe, wie ein sturer Esel, und als er ihm die Hand anbot, entzog er sich der Berührung ruckartig, zu unkontrolliert, und ein hässliches Knacken ertönte, gefolgt von einem derben Schmerzenslaut und diversen unseligen Flüchen. „Fass mich nicht an!“ schoss es ihm danach unverzüglich entgegen, erbitterte Worte, von tiefster Unsicherheit erfüllt. Risse in der rauen Fassade des Feuerdrachen. Flößte er ihm – so verquer und skurril es ihm erscheinen mochte - etwa Angst ein…? Oder schämte er sich für seine vermeintliche Schwäche? „Ich werd dir nicht wehtun, in Ordnung?“ versprach Eldur rücksichtsvoll, erntete für seine Anteilnahme lediglich ein undefinierbares Grunzen. Noch nicht, vervollständigte er seine wohlmeinende Beteuerung gedanklich. Sich der potentiellen Gefahr, in die er sich begab, bewusst, rückte er beiseite, manövrierte sich geschickt schräg neben den kafteinn, damit dieser seine angestrebten Tätigkeiten wenigstens aus den Augenwinkeln verfolgen konnte, und platzierte die linke Hand flach unterhalb der kantig hervorstehenden Schulterblätter. Die Muskeln darunter verkrampften sich reflexartig. „Weiter unten“, informierte Logi ihn harsch, und erst jetzt bemerkte Eldur den penetranten Alkoholgeruch, Schnaps oder Branntwein, vielleicht beides, der von dem Soldaten ausströmte. Er verdrängte jene unbedeutend anmutende Nebensächlichkeit, fuhr mit den Fingern die Wirbelsäule des Feuerdrachen entlang, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er unter dem doppellagigen Stoffhindernis den betroffenen Wirbel erfühlte. *** Es hatte Eldur einiges an Überredungskunst gekostet, Logi von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihn in sein Pensionszimmer zu begleiten, damit er sich seinen Rücken genauer ansehen konnte. Anstrengend beschrieb dieses Unterfangen nicht annähernd adäquat. Und über die dadurch verpatzte Chance bei der attraktiven Heilerschwester wollte er nicht nachdenken. Derweil entledigte sich der kafteinn seiner Oberbekleidung, warf diese achtlos von sich und legte sich, der Anweisung des Heilers gehorchend, bäuchlings auf dessen Nachtlager, recht unbeholfen, wie er sich eingestehen musste. Murrend kreuzte er die Arme und bettete sein Kinn darauf. Das alles gefiel ihm absolut nicht. Eldur krempelte seine Ärmel hoch, begutachtete kritischen Blickes die Schrammen und allmählich abheilenden Verbrennungen an Logis Schulter, sog die Luft mit einem Zischen durch die Zähne. Bedeutete das, er…? „Hast du dir etwa die Wunden selbst ausgebrannt?“ „Ja.“ „Wieso?“ platzte es ungehalten, fassungslos aus Eldur heraus, die reine Vorstellung jagte ihm einen eiskalten Schauer die Wirbelsäule hinab. „Ich hatte keine Zeit.“ Entgeistert starrte er den Soldaten an und schluckte, unfähig, seine Meinung darüber unmittelbar kundzutun. Sich selbst Schmerzen zuzufügen, sich das eigene Fleisch zu versengen, um eine verräterische Blutung zu stoppen… Kopfschüttelnd verbannte der Feldheiler die lebhaften Impressionen in die hintersten Areale seines Verstandes, und entschloss sich zu einem Themenwechsel, befürchtend, dass sich das nächste als ein ebenso leidiges entpuppen würde: „Es wäre einfacher, wenn du-“ „Denk nicht mal dran.“ Aus Scham, und falschen Schuldgefühlen – Eldur fügte sich nichtsdestotrotz, hütete sich, die Bandagen um den Torso des kafteinn zu lösen. Der schwache Schein einer Kerze erhellte das Quartier, die Nacht war bereits hereingebrochen, als er wieder erwachte. Im Fuchsbau. Kurz vor Mitternacht. Schläfrig wälzte er sich auf die Seite, erblickte besagten Heiler am Fußende des Bettes, auf dem Boden sitzend; Refur in seiner dunkelgrünen Heilerrobe mit dem weißen Sonnenzirkel auf der Rückenpartie, die Beine bis zu den Knien entblößt, barfuß. Schlanke Waden, die blassen Knöchel… Das helle, rote Haar fiel ihm offen über die Schultern. Er las. Logi verstand den Titel des Buches nicht, die schwarz geprägten Schriftzeichen auf dem Einband waren ihm fremd. „Hab ich dich geweckt?“ fragte er tonlos, eine monotone Aneinanderreihung von Silben ohne Ausdruckskraft, und rührte keinen Muskel. Ob er zu sehr in seine Lektüre vertieft war, oder ihn tatsächlich auf Abstand zu halten beabsichtigte, konnte Logi zu diesem Zeitpunkt nicht beurteilen. Er verneinte knapp, rollte sich auf den Rücken, in eine bequemere Lage, verflucht dankbar, dass sein Körper ihm gehorchte und lediglich ein harmloses Ziepen ihn daran erinnerte, was ihm ein eingeklemmter Nerv, ein verschobener Wirbel, was auch immer, zuvor beschert hatte. Refurs Hände hatten Wunder gewirkt. „Tut mir leid…“ flüsterte der Feldheiler kaum vernehmlich in die nächtliche Ruhe, „Ich habe mich wie ein Idiot verhalten, die Mission beinahe zum Scheitern und dich unnötig in Gefahr gebracht. Und das nur, weil ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht habe.“ Ich wollte dich, deine geschundene Seele, schonen. Gute Intentionen reichten nicht aus. Es schmeckte bitter, sich seine Fehler einzugestehen, und offenkundig fiel es Eldur besonders schwer. Schuldbewusst senkte er den Kopf, die filigranen Finger in den Stoff seiner Robe gekrampft. „Ich habe mich nicht einmal dafür bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast…“ Die Angelegenheit hatte ihm Magenschmerzen bereitet, begriff der kafteinn, und er registrierte das Unwohlsein des anderen, dessen Distanzlosigkeit sich ihm gegenüber von jetzt auf gleich verloren hatte. Nun wusste er, warum. Nicht, dass es ihn störte, im Gegenteil. Leise schnaubend schloss er die Augen: „Vergiss es. Du bist mir nichts schuldig.“ Unter dem Strich waren sie quitt. Ohnehin empfand er es als groben Unfug, auf einen Gefallen zu bestehen, den er, zum einen, nicht verdiente und der, zum anderen, niemandem nutzte. Vorwiegend ihm nicht. Eldur atmete hörbar aus, legte den Buchband zurück auf den Stapel – ein penibel aufgeschichtetes Kunstwerk der Architektur, dem Turm zu Babel gleichend, und ebenso verwirrend, Logis Meinung nach. Fahrig strich sich der Fuchs die rötlichen Strähnen aus der Stirn, lehnte sich an den Bettrahmen und wandte den Blick zu Logi, der sich indessen über die gesamte Breite und Länge der Matratze ausgestreckt hatte. Das silbrige Mondlicht verfing sich in den verschiedenfarbigen Iriden, und den Soldaten verwunderte es nicht, dass sich die Intensität der Reflektionen minimal unterschied. „… wie hast du mich gefunden…?“ wisperte er atemlos. Der jähe Bruch des Kontextes irritierte den kafteinn: „Huh?“ Daraufhin drehte sich der Fuchs vollends zu ihm, stützte die Unterarme auf die Holzkante seiner Bettstatt, mit einem Male wieder so nah, dass er seinen warmen Atem spüren konnte. Draußen zirpten die Zikaden. „Das Lagerhaus lag abseits, und innerhalb der Stadt eine Spur zu finden, war bei der Nässe schlichtweg unmöglich…“ erläuterte er relativ sachlich, überzeugt, einen Mangel an Logik eruiert zu haben. Dabei war die Antwort banal. „Du riechst nach Opium“, entgegnete er gelassen, doch das unterschwellige Zusammenzucken des Fuchses beunruhigte ihn. *** Das wiederholte, ungestüme Klopfen - oder eher, das rabiate Einschlagen auf die Zimmertür, schreckte den herforingi jählings aus seinem dösigen Halbschlaf auf. Er besann sich rasch und setzte sich auf, von einer gewissen Ahnung beschlichen, wer so anstandslos auf das schutzlose Holz eindrosch, und gewährte leise Einlass. Wenig überrascht hob er fragend eine Augenbraue, als er die große, stämmige Gestalt im Türrahmen erkannte. Brigadier Kopar. Wer auch sonst…? Lax streckte der Kompanieführer seine müden Beine von sich, fing den eindringlichen Blick seines Gegenübers auf. „Ich bin nicht in der Stimmung für-“ Der männliche Feuerdrache schloss die Schiebetür hinter sich und fiel ihm unverwandt ins Wort: „Ich weiß.“ Dann erhellte ein verschmitztes Grinsen die definierten Züge, dreist, schamlos, und er fügte heiter hinzu, „Nur hier, um sicherzustellen, dass du dein Zeug nimmst.“ Fölskvi stieß ein gedämpftes Murren aus und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust, sein Ausdruck verhärtete sich. Wie er diese Angelegenheit hasste. Es war schlichthin beschämend für einen Soldaten seines Ranges. Und ihm stand absolut nicht der Sinn danach, über seine gesundheitliche Verfassung zu diskutieren. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht mit Kopar. „…“ Er konnte es einfach nicht, wollte es nicht können. „Tu's und ich halt sofort den Mund“, bot ihm sein Genosse kompromissbereit an, gemächlich den Raum durchquerend, ehe er vor ihm in die Hocke ging. Sonnenbrand verunzierte wie eine rötliche Bordüre auf bronzefarbenem Grund seinen Nasenrücken und die Halsbeuge, verlief vermutlich auch über seine Schultern und die sensible Haut im Nacken. Fahrlässiger Idiot. „Tust du’s nicht“, ergänzte er dräuend, sein Tonfall wesentlich ernster als zuvor, „helf ich nach.“ Auf dieser Ebene scherzte der Brigadier nicht, das wusste er mit Sicherheit. Verdrossen knirschte der herforingi mit den Zähnen, frustriert, jedweden Augenkontakt vermeidend und den Kopf abgewandt, wütend auf Kopar, auf sich, auf die Situation an sich. Er spürte nur zu deutlich, wie seine Haltung sich unterbewusst verspannte und zusammenkrampfte. „Dir ist geläufig, dass das Nötigung ist?“ presste er letztendlich nach einer schier unerträglichen Weile des friedlosen Schweigens hervor, denn das Missbehagen, verursacht durch jenen Druck zwischen ihnen, ertrug er nicht. Seine rhetorische Frage war lahm und einfallslos, das bestritt er gar nicht. „Stell dich nicht so an.“ seufzte Kopar daraufhin, verständnisvoll, aber dennoch bestimmend. Fölskvi schwieg. Du schikanierst mich. Und du weißt es. „Ich hasse das…“ Unterdessen lag Fölskvi auf der Seite, Kopar, der neben ihm saß, den Rücken zugekehrt und schmollte still vor sich hin. Anfassen verboten. Kindisch. Allerdings leugnete der Brigadier nicht, dass der jüngere Feuerdrache nicht gänzlich auf dem Damm war, ausgesprochen launisch, und die nächsten Tage wahrscheinlich besonders auf ihn nicht gut zu sprechen. „Hab Neuigkeiten“, versuchte er ihn zaghaft auf ein Gespräch einzustimmen. Der herforingi grummelte lediglich unverständlich, desinteressiert: „Hm.“ „Ist wichtig“, lockte er, überzeugt, die Attraktivität seiner Informationen somit zu betonen. „Aha.“ Jedoch vergebens. Langsam kam ihm die Geduld abhanden, doch Kopar beherrschte sich eisern. Es war nicht Fölskvis Schuld. Unter Umständen erging es ihm schlechter, als es den Anschein erweckte. „Hraunars Kurs hat sich geändert. Hat Hörvir mit einem Sonderregiment in den Osten geschickt, er selbst ist gestern abgereist. Alleine. Plant eine Art Kongress mit den militärischen Führern, natürlich unter strengster Geheimhaltung. Dass ich nicht lache! Außerdem gibt's da noch einen Ausschuss, der sämtliche alten Niederschriften wälzt und auf Teufel komm raus nicht verraten will, was er recherchiert…“ *** Mit gemischten Gefühlen beobachtete Eldur sein Gegenüber, welches derzeit lustlos in seiner Schüssel Reis stocherte und den gebratenen Fisch nicht eines einzigen Seitenblickes gewürdigt hatte, ganz zu schweigen vom Beilagengemüse. Es war deprimierend. Hunger hatte Logi definitiv, jedoch vermochte das seinen Appetit nicht anzuregen. „Schmeckt’s dir nicht?“ Logi reagierte nicht, und traktierte ungeachtet der besorgten Nachfrage des Heilers kontinuierlich sein wehrloses Mittagessen. „Du schadest dir nur selber, wenn du so weiter machst“, beschwor er den kafteinn, suchte, vergebens, nach Augenkontakt. Auf diesem Pfad kam er keinen Schritt voran, konstatiert er entmutigt, und er musste unwillkürlich an die gestrige Unterhaltung mit Fölskvi denken. Noch zögerte er, auf die Option zurückzugreifen, die der herforingi ihm eröffnet hatte, und er ermaß nicht das erste Mal die Risiken und Konsequenzen seiner spontanen Idee. Ob diese moralisch vertretbar war, stand auf einem anderen Blatt geschrieben. Verworfen hatte er sie nicht, doch sein Gewissen plagte ihn - durfte er Logi, um seines Wohlbefindens Willen, mehr oder minder erpressen? Zudem galt es einzukalkulieren, dass er, Logi oder Fölskvi dafür zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Welche Strafe auf einen solchen Ungehorsam folgte, blieb ungewiss. Eldur versank in fruchtloses Grübeln, argumentierte für und wider und vergaß darüber hinaus das Essen, die Stäbchen entglitten seinem erschlaffenden Griff. Dann straffte sich seine Haltung. „Ich biete dir einen fairen Handel an, Logi. Du sagst mir, was ich von dir wissen möchte, und im Gegenzug gebe ich dir… nennen wir es, eine inoffizielle Auskunft. Ist das akzeptabel?“ Der Angesprochene studierte apathisch die Maserung der Holzdielen, ignorierte das freundliche Angebot und das Mitgefühl, das sich dahinter verbarg. „Auch gut, hör mir zu“, lenkte Eldur ein, in Erwartung einer Migräneattacke und massierte seine schmerzenden Schläfen, „Es ist nicht gerade leicht mit dir. Also entspann dich und lass zu, dass ich dir helfe. Einmal.“ Strategieänderung. Fraglich, ob das die Konversation retten konnte – oder bloß seinen Monolog sinnlos verlängerte. „Ich habe nicht drum gebeten“, entgegnete Logi knapp und schob das Essgeschirr betont, schier angeekelt, von sich. Jene Aussage mit einem abgrundtiefen Seufzen quittierend, fuhr sich Eldur durch das zinnoberrote Haar: „Das ist das Problem. Aber darum geht’s nicht. Dass du nicht auf der Höhe bist, ist ein Faktum. Ich meine, es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst, ich hab das gesamte Ausmaß des… Schadens gesehen.“ Er pausierte, unsicher, ob er die Aufmerksamkeit des kafteinn gewonnen hatte oder nicht. Dessen Körpersprache verriet nichts. „Versuch nicht, es auszusitzen, das klappt nicht. Es zerfrisst dich. Aus manchen Situationen kommt man nicht mehr alleine heraus, glaub mir, ich will dir helfen, und keine Almosen verteilen, um mich zu profilieren oder mein Selbstwertgefühl aufzupolieren. Das hat mit geschenktem Mitleid nichts am Hut. Verstehst du nicht, dass es sich hier um dich dreht? Sei einmal ein Egoist und nimm an, was dir jemand aus freien Stücken in die Hand gibt!“ Niemand verdient es zu leiden. Logis unfokussierter Blick schweifte durch den Raum, teilnahmslos, seine Finger zuckten flüchtig, ansonsten wirkte er gänzlich unbeeindruckt, und Eldur bezweifelte, dass seine Botschaft den Soldaten erreicht hatte. Zwecklos. Vergebliche Liebesmüh. „Ich weiß leider nicht, was in deinem Kopf vorgeht, deswegen…“ und der Heiler stolperte über die Formulierung am Ende seines Satzes, wählte kurzerhand die triviale Version: „Dein ofursti ist in der Stadt.“ Das hatte gesessen. Mit einem Schlag büßten Logis Züge ihre harten Linien der Unnachgiebigkeit ein, schmolzen förmlich zu einem weicheren, nahezu verzweifelten Ausdruck. Und es war gut so. Irgendjemand musste ihn aufwecken, gleichgültig, welche drastischen Methoden dies erforderte, denn solange Logi sich nicht mit der Realität auseinandersetzte, solange er sich selbst nicht verzieh, verbuchte Eldur keinerlei Erfolgsaussichten. Zwar hatte die Heeresleitung jegliche Interaktion zwischen dem ofursti und Logi verboten, ausdrücklich sogar, doch er weigerte sich im Zuge seiner ärztlichen Tätigkeit, diesen Befehl als gültig anzuerkennen. Gleichermaßen stellte sich Eldur ein Ultimatum. Sollte das Gespräch mit ofursti Múspell scheitern, keinen positiven Effekt erzielen, würde er die Folgen der Gehorsamsverweigerung auf sich nehmen und den kafteinn aufgeben… *** Der Geruch von Blut. Der Nachhall der panischen Todesschreie der Frauen und Kinder. Der ungebrochene Wille der mongolischen Krieger, die sich eher selbst getötet hatten als unter einem Fremden zu dienen. In seiner langen Karriere als Soldat und herstjóri hatte Hörvir keine vergleichbare Schlacht erlebt, und eine morbide Mischung aus Faszination und Entsetzen hielt seinen Verstand in ihrem eisernen Griff. Er war sprachlos - und das wollte schon etwas heißen. Das Sonderregiment hatte die Mongolen ausgelöscht, buchstäblich annihiliert, ohne Gnade, sie grausam vom Erdboden getilgt, mehr ein Abschlachten als ein Kampf, ein bestialisches Gemetzel. Grundlos. Sie hatten ein Blutbad angerichtet; das war Genozid, kein Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner oder das Eindämmen einer potentiellen Bedrohung für das neue Reich. Unschuldige zu ermorden, um Erbarmen winselnde Minderjährige zu meucheln, das ging selbst ihm zu weit, und die Ungerechtigkeit des jüngst Geschehenen appellierte an seine Ehre. Irrsinn. Hraunar bedachte ihn mit einem undurchsichtigen Blick, ehe er den Rest seiner Ration gierig hinunterschlang und sich an Hörvir wandte. Ob er etwas von seinen Zweifeln ahnte…? Seine indifferente Mimik wahrend, kniete er sich höflich in das raue Gras der Ebene. Auf den Hügeln weideten Ziegen. „Was ist der primitivste Weg, eine zerstrittene Gemeinschaft zu einen…?“ fragte er ihn frei heraus, und mitnichten so zufällig, wie er es vorzuschützen gedachte. „Ein Problem zu finden, das alle betrifft?“ riet Hörvir auf gut Glück und zuckte ahnungslos die Schultern, „Etwas, das jeden bedroht und mit dem sich jeder identifizieren kann…?“ Das diabolische Grinsen des jüngeren Feuerdrachen vertiefte sich. „Exakt.“ Irritiert runzelte der hochrangige Soldat die Stirn: „Huh? Wie…?“ „Bevor Helvíti fiel und die Einheit des Clans zersplitterte, gab es einen äußeren Feind“, erklärte der leiðtogi bereitwillig, die Augen von einem Feuer erhellt, maßlos und boshaft, das aus den Untiefen seiner Seele drang, und als hätte er heimlich darauf gehofft, auf Unverständnis zu stoßen, „Roks Clan, die Luftdrachen in Europa.“ Rok…? Er hatte die alten Geschichten immer für Legenden, Rok und die Erzählungen um Helvíti für Kindermärchen gehalten, mit einem wahren Kern aber ohne Anspruch auf eine vergangene Realität. Ahnenkult, meine Fresse. „Auf was wollt Ihr hinaus, leiðtogi? Die Luftdrachen sind seither verschollen.“ „Nein, bloß ausgeflogen“, versicherte Hraunar schmunzelnd, und ein abgründiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Hörvir schwante Übles: „Was habt Ihr vor?“ Mit einer umfassenden Gestik umschrieb der Drachensouverän das Panorama der Mongolei, führte die gewölbten Handflächen wieder zusammen, und der herstjóri rätselte, was genau er damit veranschaulichen wollte. „Es ist, wie ich sagte, primitiv, Hörvir. Wir malen den Teufel an die Wand, auch wenn wir uns die Gegebenheiten dafür etwas zurechtlegen müssen.“ Zufrieden verschränkte der Drachensouverän die Finger ineinander, lächelte wie ein Kind, das sich der lobenden Worte seiner Eltern gewiss war. „Propaganda?“ entfleuchte es ihm skeptisch, und Hraunar nickte bestätigend: „In der Tat. Ist dir geläufig, was der Sonderausschuss zusammenträgt?“ Überfragt schüttelte Hörvir den Kopf. „Sobald er die Listen komplettiert hat, gehen alle verschwundenen Soldaten auf das Konto der Luftdrachen“, säuselte der leiðtogi euphorisch, von der Unfehlbarkeit seiner perfiden Taktik überzeugt, „Und alle Beteiligten werden beseitigt.“ Als unauffällig konnte man dieses Vorhaben nicht gerade bezeichnen. „Aber-“ „Es ist keine Lüge“, unterbrach Hraunar ihn abrupt, unbarmherzig, „Die Wahrheit ist flexibel. Ein Wort zu jemand anderem, und…“ Seine eigenwillig gefärbten Iriden funkelten, als er die Innenkante seiner rechten Hand betont über seine Kehle zog. „Ich verstehe, leiðtogi.“ Effizienz garantiert. Die wahrhaft Schuldigen würden selbstverständlich Stillschweigen bewahren und brav mit dem Strom schwimmen. Ein gefährliches Spiel, das er da wagt… *** Kies knirschte unter Ledersohlen. Jeder Schritt kostete ihn Überwindung. Sein Herz raste, schlug beinahe schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, und sein Gedächtnis verschwamm im Angesicht der quälenden Erinnerungen an einen schwarzblauen Sternenhimmel über der mongolischen Einöde. In seinem bisherigen Leben hatte er niemals eine ähnliche Unsicherheit verspürt; eine lähmende Angst beherrschte seine Glieder. Die Scham und Gewissensbisse, der Hass auf sein vermaledeites Unvermögen stiegen abermals siedend heiß in ihm hoch, unerbittlich, verzehrend wie das Fegefeuer, und er verdiente es. Was er ofursti Múspell sagen, wie er sich vor ihm rechtfertigen sollte, er wusste es nicht. Es war zu spät, um für seine Dummheit um Verzeihung zu bitten. i]Wie ein geprügelter Hund, der zu seinem Herrn zurückkriecht… Vom Lauf der Geschehnisse gedemütigt und verspottet, eine elende, miserable Gestalt zwischen den Mühlsteinen der Zeit. Erbärmlich. Vielleicht sollte er seinen ehemaligen Mentor anflehen, dieser Misere ein Ende zu bereiten… Er kannte die Mehrzahl der Soldaten, die sich vor und in der Herberge herumtrieben, offensichtlich angespannt und sich der prekären Situation ihres ofursti durchaus bewusst. Scheele Blicke verfolgten ihn über die Korridore, sein Gesicht war ihnen ebenfalls nicht unbekannt, und nach einer Weile lasteten die Geringschätzung und die Abscheu seiner Genossen aus dem Osten wie bleierne Gewichte auf seinen Schultern. Der Gang zu seinem höchstpersönlichen Schafott, gerichtet und verurteilt, und wenn ofursti Múspell Nachsicht walten lassen würde, so würden seine einstmaligen Kameraden ihn lynchen. Dafür, dass er ihren Befehlshaber in Verruf gebracht, dessen Vertrauen und Wohlwollen dermaßen schändlich missbraucht hatte. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Seine Nerven schienen ihm taub vor unsäglicher Pein, als würde es sein Innerstes zerreißen wollen, die schmerzenden Narben ein ehernes Memento an zerschmetterte Knochen und zerfetzte Organe, an Verrat und Einsamkeit, und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren übertönte die Wirklichkeit. Wispernd geisterten die Schatten der Toten jener Nacht um seine Seele, ein Wirrwarr heiseren Flüsterns voller Klage und Leid, das sein Bewusstsein, wachend und im Schlaf, marterte und plagte. Rastlose Gespenster der Unterwelt, die ihn umschwirrten wie die Motten, doch noch immer mit dem Diesseits verbunden, durch Ambitionen, Träume und das Bedauern ihres frühzeitigen Ablebens. Es war eine Tortur. Zerschlagen zwang er sich vorwärts, die Hände zu Fäusten geballt und die Knöchel blutleer, einen flatterhaften Atemzug nach dem anderen schöpfend. Múspells ruhige, und desgleichen machtvolle Präsenz war allgegenwärtig, tünchte die Atmosphäre nachhaltig, und heuchelte eine vertraute Geborgenheit aus alten Tagen. Eine Illusion, die ihn einzulullen drohte, ihn das Anklopfen vergessen ließ und schließlich in blanke Verzweiflung ausartete, als er die Tür des Nachtquartiers aufschob. Gesenkten Hauptes verharrte er im Türrahmen, keuchend vor Anstrengung und der Agonie, die in seinem Herzen tobte, brach unvermittelt in die Knie und verneigte sich so tief wie nur möglich, presste die Stirn auf die Holzdielen. Múspell, der gegenwärtig am Fenster weilte und seine Gedanken zu ordnen versuchte, wohnte dem schweigend bei, überfordert und gewissermaßen ärgerlich über die Störung, als er jedoch das unterdrückte Schluchzen seines nächtlichen Besuchers vernahm, wurde ihm bewusst, wer ihm da einen Besuch abstattete und um was es ging. Verdammt. Im Endeffekt hatte er Recht behalten, sein Verdacht hatte sich bestätigt, und das verhieß nichts Gutes. Sämtliche Berichte über den Grenzüberfall in der Mongolei stapelten sich neben einem niedrigen Arbeitstisch, Personalakten und Profile, ob klassifiziert oder nicht. „Logi…“ „Es ist meine Schuld“, antwortete der prompt, die Stimme gebrochen von den Tränen, die ihm nunmehr bedingungslos über die Wangen rannen. Es tut mir leid. In all den Jahren hatte er ihn nicht weinen sehen. Man hatte ihm mitgeteilt, dass Logi überlebt hatte, allerdings nicht über seine zerrüttete Verfassung aufgeklärt und der Anblick traf ihn wie ein Peitschenhieb ins Gesicht; es tat weh, seinen ehemaligen Schützling anzublicken. „Logi“, sprach er dem heftig zitternden kafteinn beruhigend zu, während er sich neben ihn kniete und die Hand auf dessen Rücken legte, „ich habe dich um Rat gebeten, als Soldat und Genosse. Es war meine Entscheidung, und ich trage die Verantwortung. Da selbst du es nicht ahnen konntest, beweist, dass es nicht zu verhindern war. Und sie waren bereits verschwunden, als ich sie zu mir rufen wollte. Du hast nichts Falsches getan.“ Gib dir nicht die Schuld für etwas, das du nicht kontrollieren konntest, für das, was unausweichlich geschehen musste, wenn man die Abgründe und das geheime Streben des Einzelnen bedenkt. „Hör auf dir selbst Vorwürfe zu machen.“ *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)