Wöchentliche Schreibaufgabe von Karopapier (Die Ergebnisse des 24-h-WBs) ================================================================================ Kapitel 1: Der Kampf -------------------- Damien federte leicht auf der Stelle, während er auf seinen Gegner wartete. Sie hatten heute freie Waffenwahl, ein Umstand, der ihm nur recht kam. Während die gebräuchlicheren, modernen Waffen ihm nicht sonderlich lagen, war er auf dem Gebiet des Kampfes mit Dolch und Säbel ein hervorragender Kämpfer. Er baute weniger auf Muskelkraft als auf Tempo und Wendigkeit, und dabei waren große Waffen eher ein Hindernis als eine Hilfe. Sein Blick wanderte neugierig zu der sich öffnenden Tür. Marcel hatte sich für eine gezackte Sarazenerklinge entschieden, eine bösartig glänzende Waffe. Damien war nervös. Sicher, es war nichts weiter als ein Trainingsgefecht, aber trotz allem war ihm nicht gerade wohl. Der Kampf würde vorbei sein, sobald einer der Kontrahenten blutete, so weit so gut, aber es war nicht weiter ausgeführt, wie sehr der Gegner bluten musste – oder durfte. Und Marcel war ein mehr als angemessener Gegner. Damien drehte sein Finnmesser leicht hin und her, damit es besser in der Hand lag, während er mit langsamen Schritten vorsichtig Marcel näherkam. Er wusste, er musste in einem Winkel angreifen, in dem sein Gegner nicht seine volle Muskelkraft anwenden können würde, um sich somit einen Vorteil zu verschaffen, aber Damien wusste genauso gut, dass Marcel über seine eigenen Schwächen Bescheid wusste. Und hätte er es nicht gewusst, hätten die leichten, katzenartigen Schritte des anderen das ihrige getan, um ihn daran zu erinnern. Gegen einen bekannten Gegner zu kämpfen, hatte durchaus seine Vorteile, aber auch seine unbestreitbaren Nachteile. Vor allem dann, wenn die zwei Kämpfer vor langer Zeit Freunde gewesen waren und jeweils ihre schwache Seite geschützt hatten. Aber das war lange her... Blitzartig drehte sich Damien zur Seite, um einem Ausfall Marcels auszuweichen, und versuchte, mit einem Ruck dessen Ärmel aufzuschlitzen, doch Marcel war schneller und blockte die Bewegung mit einem Seitwärtsstreich ab. Ihr vorsichtiges und konzentriertes Umeinanderkreisen erinnerte Damien an zwei Wölfe, die die Rangordnung festlegten. Es war die Ruhe vor dem Sturm, aber in einer gewissen Art und Weise wünschte er sich fast, die Ruhe wäre schon vorbei. Die spannungsgeladene Stille, die den Raum zu elektrisieren schien, ließ ihn selbst den leisen und ruhigen Atem seines Kontrahenten hören, das ebenso leise Rascheln der Trainingshosen und das noch leisere Knarren des Bodens. Doch als der Angriff schließlich kam, war er dennoch unerwartet, und Damien stolperte einen Schrit rückwärts. Der Kampf hätte besser anfangen können, das wurde ihm klar, als er Hieb um Hieb des Angreifers abwehrte, und er spürte, wie nach einer Weile sein Arm leicht taub wurde. Doch schließlich schaffte er es, unter einem unvorsichtig platzierten Streich hindurch abzutauchen und zurückzuschlagen. Tänzerisch sprang er mal nach rechts, mal nach links, täuschte an und wich fahrigen Abwehrversuchen aus. Der Kampf lag in seiner Hand und er mühte sich, diese Kontrolle nicht zu verlieren. Als Marcel sich in die Ecke gedrängt sah, versuchte er, Damien mit einem Schlag, der auf die Rippen abgezielt war, zurückzutreiben, aber Damien hatte mit diesem Schritt gerechnet, parierte und setzte seinerseits zu einer leichten Drehung an, bei der er mit der Dolchspitze gefährlich nah an Marcels Brustbein kam. Ab dem Punkt wendete sich das Blatt. Marcel hatte genau diese Situation vorhergesehen, das wurde ihm klar. Er sah ihn noch, wie er sich zur Seite drehte und dem Dolch mühelos auswich, doch im nächsten Moment fühlte Damien sich bereits in der Defensive, wich aus, parierte und wich zurück, ohne seinerseits punkten zu können. Im Trainingsraum war nichts zu hören außer den Schritten, dem Rascheln der Kleidung und dem schweren Atem der Kämpfenden, unterbrochen nur von dem Sirren und Klirren der Klingen. Damien merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Links, rechts, wieder links-... Mit letzter Anstrengung setzte er alles auf eine Karte und machte einen Ausfallschritt zur Seite. Das war das Letzte, mit dem Marcel gerechnet hatte, und er musste mit einem überraschten Aufschrei um sein Gleichgewicht kämpfen, während sich Damien mit einem gekonnten Sprung außer Reichweite des Sarazeners brachte. Noch bevor sich der andere wieder aufrappeln konnte, nahm Damien nun Anlauf und deckte ihn mit einer schnellen Folge von Stichen ein, die er nur mit Mühe abwehren konnte. Damien merkte, dass er nun leichtes Spiel haben würde. Er drehte sich, führte einen Scheinangriff auf Marcels linke Flanke aus und balancierte seinen Körper auf einem Fuß wieder in die andere Richtung, um mit einer erneuten Drehung zum entscheidenden Schlag auszuholen. Doch noch während er wie in Zeitlupe in der Luft hing, spürte er ein leichtes Brennen auf der Brust und ein leises Lachen schallte durch seine Mauer aus Konzentration hindurch. Verblüfft sah er an sich herab. Sein T-Shirt war quer über den Torso aufgeschlitzt und da, wo der Stoff breit auseinander klaffte, sog sich die Baumwolle langsam mit Blut voll. „Scheiße“, entfuhr es ihm, dann fiel ihm jedoch auf, dass der Boden bereits bedenklich näher gekommen war und er rollte sich gerade so noch ab. „Wie hast du das gemacht?“, fragte er später in der Umkleidekabine mit widerwilliger Bewunderung Marcel. Sie hatten seit dem Kampf kein Wort mehr gewechselt, aber so langsam hielt Damien das Schweigen und seine Ungeduld nicht mehr aus. Marcel lachte nur. „Du warst so konzentriert auf meine rechte Hand“, begann er mit einem schelmischen Glitzern in den Augen, „dass du den Dolch in meinem Gürtel übersehen hast.“ Er zeigte auf die Stelle, an der er eine weitere, etwas kleinere Scheide eingefädelt hatte. „Das war dein großer Fehler. Und als du so siegesgewiss warst, hast du auch nicht weiter bemerkt, dass meine linke Hand nicht mehr leer war.“ Urplötzlich wurde er ernst. „Hätte ich mich nicht diesem kleinen Trick bedient, hättest du auf jeden Fall gewonnen.“ Damien konnte es nicht fassen. „Du hattest zwei Waffen?“ „Ja“, gab der andere freimütig zu. „Das ist nicht verboten.“ „Du hättest es mir sagen müssen!“ „Ich hätte sie nicht verdeckt tragen dürfen, das war alles.“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Es war deine eigene Schuld, dass du dich so auf die Waffen in meiner Hand konzentriert hast und keine Augen mehr für meinen Gürtel hattest.“ Dann schnappte er sich seine Tasche und entschwand mit einem „bis dann“ aus dem Raum. Hinter sich hörte er nur noch ein lautes Krachen, als Damien wutentbrannt eine Bank umwarf. Als Marcel am nächsten Tag in die große Übungshalle kam, erwartete er, dass sich Damien ihm gegenüber noch immer wütend und abweisend verhalten würde, doch stattdessen kam er ihm mit einem Lachen auf dem Gesicht entgegen. „Auf dich habe ich schon gewartet“, begrüßte er Marcel. „Du bist nicht mehr sauer wegen gestern?“, erkundigte sich der Angesprochene verwundert. „Warum sollte ich?“ Damien grinste breit. „Es war schließlich meine Schuld. Beeilst du dich mit dem Umziehen?“ Jetzt war Marcel komplett verwirrt. „Umziehen? Aber das Training beginnt erst in einer halben Stunde!“ „Stimmt.“ Ohne auf seinen Protest zu achten, schob ihn Damien weiter. „Aber du schuldest mir noch etwas.“ Mehr stolpernd als gehend erreichte Marcel den kleinen Raum, der als Umkleidekabine diente. „Verdammt, Damien, mach es nicht so spannend, was willst du? Was sollte ich dir noch schulden?“ Hinter ihm schloss sich die Tür. Und alles, was er von Damien noch mitbekam, bevor er allein war,war ein einziges Wort, das dafür noch lange im Raum zu schweben schien. „Revanche.“ _______________________ Vielen Dank an dieser Stelle an den Patronizing Arts Zirkel und das Storysammlung Forum, die diese Initiative auf die Beine gestellt haben. Auch wenn ich nicht immer dabei sein kann: Es ist eine großartige Idee, um üben zu können und seine eigenen Grenzen auszuprobieren. Liebe Grüße an alle, die sich regelmäßig dieser Herausforderung stellen! Kapitel 2: Wie die Schnappschildkröte zu ihrem Namen kam -------------------------------------------------------- Lang, lang ist's her, da lebte einmal auf einer kleinen, süßen Insel eine kleine, süße Schildkröte. Wie die Schildkröte hieß habe ich vergessen, aber das interessiert hier glaube ich sowieso keinen. Damals war noch die Zeit, als Schildkröten entweder keinen oder absolut dämliche Namen hatten, und die Protagonistin bloßzustellen wäre kontraproduktiv. Diese Schildkröte jedenfalls lebte friedlich und glücklich in ihrem dortigen Gewässer, und sie lebte wohl auch heute noch friedlich und glücklich dort, wenn... ja, wenn nicht der Mensch gewesen wäre. Der Mensch tat die ganze Zeit recht freundlich, weswegen die Schildkröte auch nie einen Grund dazu sah, sich ihm gegenüber unfreundlich zu verhalten. Die beiden wurden gute Freunde und redeten miteinander, Stunden, nein, Nächte, ja sogar Wochen vergingen wie im Fluge, und während sie sich gegenseitig über ihr Herkunftsland ausfragten, Familienstand, Kinderwünsche, Heiratspläne, Verkupplungsversuche und was Menschen und Schildkröten sonst noch so beschäftigt wenn sie nichts zu tun haben, fiel ihnen langsam auf, dass die Früchte, die ihnen anfangs noch recht gut geschmeckt hatten, ihnen nach und nach immer mehr zum Halse heraus hingen. Was auch immer sie essen wollten, nichts war nach ihrem Geschmack, und während die Schildkröte mehr und mehr verzweifelte, hatte der Mensch eine Idee. Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass die Idee zunächst gar nicht so übel zu sein schien: Da der Mensch ja, klug wie er war, nicht ohne Vorräte auf die Insel gegangen war, hatte er zufälliger Weise noch einige Gläser Dosenwürstchen übrig, die er aufgrund des reichen Früchtevorkommens ja zunächst nicht gebraucht hatte. Nicht, dass die auch nur geringfügig genießbarer waren, aber nach so langer Zeit, in denen sich die beiden von Früchten ernährt hatten, erschien ihnen das Glas wie das Paradies auf Erden, das von Engel Gabriel auf seinen goldenen Schwingen-... Ich schweife ab. Nun, jedenfalls betrug es sich so, dass der Mensch auch der Schildkröte etwas von den Würstchen abgab, schließlich waren sie ja befreundet und Freunde teilen ja Freud und Leid und alles andere mit dazu, so zumindest der Mensch, aber da der unbestreitbarer Weise während seinem kurzen Leben insgesamt mehr Mist zusammenschwafelte, als im Meer seit Anbeginn der Zeit Fische gelebt hatten, werde ich das hier nicht weiter ausführen. Um es kurz zu machen, der Schildkröte sagte der Geschmack der Würstchen ebenfalls zu und zusammen schmausten sie und waren wieder friedlich und glücklich bis an ihr Lebensende... Oder zumindest wäre es so gewesen, wenn die Insel nicht die einzige Insel gewesen wäre, auf der diese Art von Schildkröten lebten, und natürlich wenn die Kokospalmen der Insel nicht zufälliger Weise alle gleichzeitig für die Insulanischen Spiele trainiert hätten. So jedoch kam es, dass der Mensch die Schildkröte mitsamt ihrer Familie, deren Familien und deren Familien, also kurz gesagt die gesamte Gattung dieser Schildkröten, mit zu sich nach Hause nehmen wollte, um ihnen eine Abwechslung von den langweiligen Früchten zu bieten und Würstchen, so viele sie nur essen konnten, denn der Mensch war außerdem Würstchenfabrikbesitzer und ein wenig profitgeil, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls waren die Schildkröten und der Mensch gerade dabei, das Schiff zu besteigen, als die Palmen anfingen, für die Disziplin des Nusswerfens zu trainieren. Viele Nüsse stürzten in die Fluten und ertranken, noch mehr starben den Tod durch Gefressenwerden... aber da es momentan nicht um das armselige Ableben der Kokosnüsse geht sondern um die Geschichte der Schildkröten und des Menschen, die ja noch immer dabei sind, das Schiff zu besteigen, muss wohl auch gesagt werden, dass einige Nüsse gerettet wurden und statt in ihren Tod auf die Köpfe der Schildkröten und des Menschen fielen. Nun waren es nicht viele Schildkröten und nur ein Mensch, aber Tausende und Abertausende Kokosnüsse, weswegen die Trefferquote recht hoch war. Die nun leicht geschädigten Schildkröten und der Mensch bemerkten von dieser Begebenheit allerdings nicht viel, da sie sich dank einer äußerst starken Gehirnerschütterung an nichts mehr erinnerten, und machten da weiter, wo sie gewesen waren, als wir sie das letzte Mal verließen, um umzuschwenken auf das Schicksal der armseligen, bemitleidenswerten, nun fast ausgerottete Art der Kokos-... Nun, der Mensch brachte die Schildkröten jedenfalls zu seiner Heimat. Während der Fahrt stellte sich jedoch heraus, dass sowohl die Schildkröten wie auch der Mensch nun so geistig verwirrt waren, dass sie Würstchen nicht mehr von Fingern und Zehen unterscheiden konnten. Das war nicht weiter schlimm, kein vernünftiger Mensch braucht heutzutage noch seine Zehen und Finger, und so kamen sie auch (fast) unbeschadet an Land. Wie es der Zufall aber nun wollte, bemerkten die Menschen an Land nicht die Schildkröten an Bord, da sie voll und ganz damit beschäftigt waren, den Mensch, der ihrer Meinung nach nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, womit sie nicht so ganz daneben lagen weil er seine einzige während der Schifffahrt versehentlich fallen gelassen hatte, wegzusperren, angeblich um ihn vor sich selbst zu beschützen. Die weitere Rolle der Schildkröten ist hier schnell erzählt: Als sie merkten, dass sich niemand mehr um sie kümmerte, gingen sie von selbst an Land, um nach diesen wundervollen Würstchen zu suchen, wegen denen sie gekommen waren... den Rest kann der Leser sich wohl denken. Und auch hier lässt sich nur die unglaubliche Dummheit des Menschen bemerken: Statt einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Würstchenfabrikant ohne Finger und Zehen und den scheinbar aggressiven Schildkröten, erklärten die Wissenschaftler den Mensch zu einem unheilbaren Irren und die Schildkröten zu einer neuen Art. Nun, wenn es sie glücklich macht... Und die Moral von der Geschichte: Wenn du eine Schnappschildkröte triffst, hau ihr eine Kokosnuss auf den Kopf – bewiesen ist nichts, aber vielleicht lässt sich das Ganze ja auch rückgängig machen...? (Oder auch im Volksmund: ein Schlag auf den Hinterkopf erhöht das Denkvermögen... ;D) Kapitel 3: Der Tag danach ------------------------- Ich hatte noch nie Angst vor dem Fremden gehabt. Wenn es etwas Neues auszuprobieren gab, war ich immer einer der ersten gewesen, die es wirklich getan haben. Und dementsprechend ist es auch nicht schwer, mich zu Neuem zu überreden. Ich weiß, was gestern passiert ist. Keine Blackouts, nur ein leichtes Gefühl von Irritation, etwas Nebliges, das die Ereignisse einhüllt, als wären es Träume. Aber dass es keine Träume waren, dafür brauche ich keine Bezeugungen von Außenstehenden. Vorsichtig und in Gedanken versunken reibe ich mir den linken Oberarm, um die Bissstelle zu befühlen. Sie fühlt sich heiß an und als meine Finder drüberstreichen, reißt die Kruste aus geronnenem Blut wieder auf, was mich zusammenzucken lässt. Ich hätte ihn nicht so sehr reizen sollen vielleicht hätte er sich dann etwas zurückgehalten. Ich hatte nur ein Muskelshirt und Shorts angehabt, Dinge, die die Wunde nicht einmal andeutungsweise verdecken würden. Andererseits war er genauso außer sich gewesen wie ich, nicht mehr Herr seiner Sinne und zweifellos wütender als ich - er hatte sicher die doppelte Portion gehabt wie ich. Mein Blick wandert in Richtung des Nachttisches, auf dem die Reste liegen. Die Reste von unserem "Kumpelsabend", genau neben dem Festsaal, in dem die anderen Gäste gefeiert hatten, nur durch eine dünne Wand von ihnen getrennt. Wenn ich nicht wüsste, was das ist, hätte ich keine Ahnung, was wir da gestern gegessen haben könnten. Man sieht, dass es pflanzlichen Ursprungs ist, aber mehr auch nicht. Soll ich gehen? Soll ich ihn allein lassen? Meinen besten Freund hier liegen lassen in der Hoffnung, dass er mich zu den Halluzinationen zählt, die er hatte, die wir hatten? Denn die hatten wir wirklich, beide, mehr als genug. Anfangs waren wir uns noch bewusst gewesen, dass es wirklich nur Halluzinationen waren und nichts anderes, später war es schwer geworden, diese immer weiter verschwimmende Linie zwischen Realität und Illusion zu ziehen. Ich erinnere mich daran, wie wir den Göttern gegenüber standen, allen, ohne Ausnahmen. Die Götter waren zeugen gewesen, die einzigen Zeugen dessen, was wirklich und definitiv passiert war. Ein Schauer durchfährt mich, ein letztes Überbleibsel der Emotionen, die mich gestern geschüttelt hatten, genau im gleichen Moment, in dem ein klares Bild vor meinem inneren Auge entsteht: Seine Hand, wie sie mir hektisch, gierig über den Rücken fährt. Meine Hände, die ihn mit Gewalt auf den Boden pressen. Was hatte mich in diesem Moment dazu getrieben, mich so gehen zu lassen? Ich war wütend gewesen, auf ihn, auf mich, hatte aber auch Angst gehabt. Es hatte sich alles in einem Schlag entladen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, ziehe ich seine Bettdecke um einige Zentimeter tiefer. Da sind sie, blutig wie das bissmal an meinem Oberarm, tiefe Kratzer, die von menschlichen Fingernägeln herrühren. Sie geben seinem Oberkörper einen verruchten Touch, lassen den Beobachter nicht an die Schmerzen denken, die sicher mit ihnen verbunden sind. "Bist du dir sicher, dass sie uns nicht finden?", hatte ich gefragt. Ängstlich, abe auch äußerst erregt und mit einer Vorfreude erfüllt, wie ich sie selten erlebe. "Mann, die Tür ist abgeschlossen, was soll da passieren? Außerdem saufen die sich doch eh alle zu, meinst du, die merken das noch? Und Pilze sind gar nicht so anders als Alkohol, nur einfach ein Stück besser!" Ich hatte zugestimmt. Hatte mir von ihm eine Portion geben lassen. Und hatte sie geschluckt. "Wie heißt das Zeug?", hatte ich gefragt. "Keine Ahnung." Ich weiß noch, wie lustig er die Frage fand. Mit einem amüsierten Schnauben hatte er schließlich nachgesehen. "Dunkelrandiger Düngling." Er hatte die Augen zusammengekniffen, um auch die kleine Unterschrift lesen zu können. "Panaeolus subtalteatus... und dann ein paar komische Abkürzungen, keine Ahnung, was die bedeuten. Warum?" "Nur so", hatte ich gemurrt und skeptisch das Fruchtfleisch geschluckt. Zu meiner Überraschung hatte es erstaunlich mild und angenehm geschmeckt. "Auf Ex", hatte er mir noch zugeprostet, dann hatte auch er seine Portion geschluckt. "Und jetzt heißt es abwarten." Was danach kam? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, wie uns kalt wurde, wir näher zusammenrückten. Wie die Wände nachrückten, das Zimmer sich drehte. Wie es schließlich ganz verschwand und die Götter da standen. Und wie wir realisierten, wie gefährlich nah wir uns saßen... "Ich bin nicht schwul", entfährt es mir leise. "Ich auch nicht." Er sitzt, inzwischen wach, neben mir. Ich habe gar nicht gemerkt, wie er wach geworden ist. "Aber da wir zwei die einzigen Zeugen von all dem waren, brauchen wir es ja auch keinem zu erklären." Mein Mund wird trocken und ich nicke. "Uns... und den Göttern." Er überlegt, sein Blick wandert spekulativ über seine Brust, meinen Oberarm, verweilt auf den blauen Flecken und Kratzern, die wir uns heute Nacht zugefügt haben. Dann wird der Ausdruck seiner Augen berechnend. "Ich schätze, dann werden wir sie doch nochmal besuchen und ihnen das erklären müssen..." Ich sehe zurück auf den Teller und nicke. Es ist noch genug da. Ich hatte noch nie Angst vor dem Fremden gehabt. Wenn es etwas Neues auszuprobieren gab war ich immer einer der ersten gewesen, die es wirklich getan haben. Und dementsprechend ist es auch nicht schwer, mich zu Neuem zu überreden. Erst recht nicht, wenn es dabei um einen Besuch bei den Göttern geht. Kapitel 4: Aus der Asche/Frühling --------------------------------- Sie hatte es sich vorgenommen, es nicht zu tun. Es war vorbei. Ihrer Familie war nichts passiert. Und doch fühlte sie, wie ihr eine einzelne Träne die Wange hinunterlief. Vor ihr stand, tot und schwarz, das, was von dem kleinen Einfamilienhaus übrig geblieben war, das ihrer Familie gehörte. Der Schnee war im Umkreis von mehreren Metern geschmolzen, der weiße Zauber zu einem grauen, schlammigen Alptraum verbrannt. Und in diesem Kreis war nichts, aber auch gar nichts von den gefräßigen Flammen verschont geblieben. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, warum sie weinte. War es Trauer? War es Glück? Oder gar Erleichterung? Nie hatte sie sich etwas sehnlicher gewünscht als diesem Alptraum entkommen zu können. Der täglichen Bedrohung, der immerwährenden Angst. Den Gong der alten Pendeluhr hatte sie gleichermaßen gefürchtet und herbeigesehnt, wohl wissend, dass er Schmerzen bedeuten würde - aber auch Erlösung von der Qual des Wartens, immer in der Gewissheit, dass sie ihrem Schicksal nicht entkommen konnte. Immer wieder hatte der Gedanke sie heimgesucht, die Uhr zu zerschlagen, das Kissen zu verbrennen, in das sie ihre zusammenkrampfenden Finger vergraben und das jede Nacht wieder ihre Schreie erstickt hatte. Die CDs ihrer Mutter zu zerbrechen, die ihr halfen, die Augen und Ohren vor dem Offensichtlichen zu verschließen. Sie hatte es genossen. Sie hatte glücklich, fasziniert und geradezu berauscht von der Schönheit des zerstörerischen Lichts zugesehen, wie der Rauch zum Himmel emporgestiegen war, wie eine Opfergabe, wie der Allmächtige selbst: So schwerelos... Dann hatte sie die Schreie gehört. Sie hatte sie nicht umbringen wollen. Sie wusste selbst nicht, warum sie niemanden gewarnt hatte. Sie wollte nicht, dass sie starben. Aber tief in ihr spürte sie, dass sie versucht hätten, das Feuer zu löschen. Und das wäre einfach nicht gegangen. Undenkbar, unvorstellbar, grausam. Sie waren entkommen, hatten es noch geschafft, aber es war so knapp gewesen... was, wenn das Feuer schneller gewesen wäre, nur einen Moment schneller? Alles wäre geblieben wie zuvor, die Uhr, das Kissen, ihr Vater, der Schmerz... der Schmerz. Nicht weit vom Haus entfernt stand eine alte Eiche, die schon der Großvater ihres Großvaters gepflanzt hatte, als er noch ein Junge gewesen war. Der Baum, auf dem sie als Kind so gerne gespielt hatte, der ihr Schutz, Zuflucht und Sicherheit garantiert hatte. Das Baumhaus in der Krone war nur noch Kohle und Asche, so wie das große Haus neben dem Baum auch. Sie war sechzehn und hatte schon lange nicht mehr hineingepasst, aber der Anblick hatte ihr doch wieder und wieder Mut gemacht, wenn sie während den nächtlichen Besuchen im Schmerz innerlich zusammengekrümmt aus dem Fenster gesehen hatte. Sie unterdrückte das Verlangen, wild zu lachen. Es war alles so unwirklich, wirkte so lustig und trotz seiner düsteren Ausstrahlung so urkomisch, so unwirklich, so lustig... Schmerz. Taumelnd drehte sie sich um und stoplerte auf die Grenze zu, die das Feuer in dem Schnee gezogen hatte, auf die Verbindung zwischen dem braun´-schwarzen Unrat und der glitzernden, weißen Schönheit. Es machte ihr nichts aus, dass ihre Spuren für jeden gut sichtbar waren. Sie bemerkte es nicht mal. Sie wurde von etwas fortgezogen, das stärker war als sie. Erst, als die Sonne den Horizont berührte, ließ sie sich in den kalten Schnee fallen und wartete auf ihr Schicksal. Als am nächsten Morgen das erste Tageslicht auf ihren toten Körper fiel, wandte sich neben dem Haus ein Schneeglöckchen aus der Asche empor, den Kopf dem Licht zugeneigt. Der Frühling kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)